Mittwoch, 15. Oktober 2008

Alfred Schnittke und die Ziehharmonika Präludio in memoriam

Als der russisch-deutsche Komponist Alfred Schnittke Anfang August 1998 starb, hatte ich gerade erst meinen Posten in Moskau angetreten. Die österreichische Botschaft entsandte mich in meiner Funktion als Kulturrätin zur offiziellen Trauerzeremonie ins Konservatorium. Für mich sollte das mein erster derartiger Auftritt als Repräsentantin der Republik sein und ich war leicht nervös, war doch meine Beziehung zu diesem Komponisten mehr als lose.
Am Vorabend nahm ich mir in aller Eile die wenigen CDs in meinem Besitz vor, die ich bis dahin nicht einmal geöffnet hatte, durchflog die Klappentexte mit Kurzbiografien und Werkverzeichnissen.
Eigentlich war ich zu keiner Rede eingeladen, aber man konnte bei den Russen nie sicher sein, ob sie einen offiziellen Vertreter nicht spontan auf die Bühne holen würden. Und ich wusste schon, dass die Russen die besten Rhetoriker waren, die immer die schönsten Worte des Lobes, des Dankes und der Verehrung fanden, sei es bei Geburtstagen, Preisverleihungen oder Begräbnissen. Sie verstehen es, die wie auch immer Ausgezeichneten mit edlen Kaskaden zu übergießen, mit gedrechselten, gefühlstriefenden Sätzen, scheinbar immer spontan, immer das Wesen des Menschen treffend, nie aufgesetzt, nie gestottert oder vom Zettel gelesen. Eine bewundernswürdige, aber gefährliche Eigenschaft, weil sie uns untalentierten Westler damit einschüchtern und beschämen, auch wenn die gleiche Lobesflut von uns gar nicht erwartet wurde.

Schon auf der Alexander-Herzen-Straße vor dem Konservatorium herrscht an diesem August-Vormittag ein dichtes Gedränge, als sei eine Demonstration im Gange. Viele Menschen sprechen mich an, betteln und flehen, sie wollen eine Eintrittkarte ergattern, sie sind in Trauerkleidern und tragen Blumen mit sich. Im Großen Saal empfinde ich die Menschenansammlung als lebensbedrohlich, obwohl ich sofort zur ersten, für Promis reservierten Reihe geleitet werde. Der offene Sarg ist vor der Orchesterbühne aufgebaut wie ein Altar, die Blumengebirge ragen jetzt schon zwei Meter hoch darüber auf, in der mit vielfach gerafftem Satin ausgeschlagenen Edelholzkiste ist der Tote bis zur Brust zu sehen, zu Kopf liegen die schuppigen Plastikkränze mit Schleifen, Bändern und Sprüchen der Staatsvertreter. Schnittkes langes Haar ist sorgfältig über Stirn und Wangen gelegt, das Gesicht ist bleich, aber scheint doch nur in tiefem Schlaf versunken. Die Bühne füllen ein Chor und ein Orchester, von den Seitenwänden schauen Bach und Mozart, Beethoven und Tschaikowski mit strengen Augen aus ihren stuckumflorten Konterfeis auf das halblaute Gewurle herunter. Musikstücke aus Schnittkes reichem Werk werden von Reden abgewechselt: aus seinem „Peer Gynt“, aus der Filmmusik zu „Meister und Margarita“ und aus den „Liedern vom Krieg und Frieden“, dazwischen die Ansprachen von Freunden und Musikerkollegen- würdig und persönlich, von Kulturfunktionären- lobhudelnd und endlos scheinend. Nur die engsten Freunde umringten den Sarg in einer Ehrenwache. Viele Besucher in den Sitzreihen werden vom Weinen geschüttelt, als hätten wären sie es, die einen Freund und Verwandten verloren haben.

Der große Moment für die Trauernden kam aber erst, als die vorderen Seitentüren aufgingen und die Menschen in dicht gedrängten Schlagen von links nach rechts an dem Sarg vorbei defilieren durften. Man hatte das Konservatorium offenbar nun auch für die Menschen von der Straße geöffnet, in den seitlichen Wandelgängen, in den Nebensälen, in den Stiegenhäusern, Garderoben, Kassen- und Eingangshallen standen die Menschen in dichten Wolken bis auf den Platz hinaus mit dem Tschaikowski-Denkmal . Menschen jeden Alters, dabei auffällig viele Jugendliche und viele schlecht gekleidete und schlecht ernährte Pensionisten, denen es oft nur zu einer einzigen roten Nelke gereicht hatte.

Die öffentliche Trauer, das ungehemmte Weinen, das Ausrufen von Klagelauten, Seufzen, Stöhnen und ekstatische Schluchzen – der Große Saal des Tschaikowskij-Konservatoriums hallte davon wider. Jeder schien einen großen Verlust erlitten zu haben, jeder wollte sich persönlich verabschieden. Beim Sarg angekommen, streichelten sie die Wangen des Leichnams, küssten ihn ungehemmt auf den Mund, warfen sich über den offenen Sarg, verweilten kurz mit dem Gesicht auf seiner Brust, steckten ihm ihre Blumen zwischen die gefalteten Hände und beschmusten das schwarz drapierte Fotoporträt auf den Altarstufen wie eine Ikone, bis die Nachrückenden kräftig weiterdrängten. Aber jedem wurde doch seine kurze Trauerzeit gegönnt, auch wenn die Russen ansonsten, obwohl geübt, miserable Schlangensteher sind.
Vom Balkan und von griechischen Inseldörfern waren mir die Klageweiber nicht unbekannt, aber mitten in der modernen, aufgeklärten Mega-City Moskau gerann mir dabei das Blut in den Adern und die Gedärme rebellierten. Nach dem Glauben der orthodoxen Welt verlässt die Seele nicht sofort den Toten, sondern bleibt noch 40 Tage zwischen Himmel und Erde, in der Aura zwischen dem Verblichenen und den Hinterbliebenen. Die Seele kann noch empfänglich sein für die über dem Grab ausgeschütteten Liebesbeweise, Tränen und Klagen. Der Tod ist noch nicht endgültig, und in dieser Hoffnung lassen sich die Trauernden zu Exaltationen hinreißen. Wenn zuerst Scheu und Entsetzen über diese für mich typisch sowjetische Eigenschaft der Idolisierung überwogen, war doch der Anblick des Rituals unsagbar bewegend und traurig. Vielleicht auch tröstlicher als die nüchterne, nach innen gewandte Trauerarbeit im Westen. Rätselhaft blieb mir aber bis heute, warum gerade Alfred Schnittke, nach sowjetisch/russischem Standard in jeder Hinsicht ein Hybrid, zu dieser Ehre kam: als Abkömmling eines Deutschen und einer Wolga-Deutschen, ein (1993 in Lockenhaus) zum Katholizismus übergetretene Orthodoxe mit jüdischen Wurzeln, früh als Komponist einer „musica non grata“ abgestempelt und schließlich auch noch ein Republiksflüchtling, der es nie in den Kanon des sowjetischen Massengeschmacks gebracht hat. Die einfühlsamste und plausibelste Erklärung war, dass Russen nun mal gerne trauerten und dies so gut könnten. Und auch feiern: Sein Freund und Mentor über 30 Jahre, Gidon Kremer, verabschiedete sich von ihm „mit einem sich in der totalen Einsamkeit auflösenden Solotango von Astor Piazzolla“ 1), bei dem auch ich meine Tränen im rot-weiß-roten Blumenstrauß verstecken musste.
Wie hätte dieses Klagekonzert rund um seinen Leichnam wohl in Schnittkes Ohren geklungen? Oder hat er dergleichen vielleicht schon gehört und dann sein Oratorium „Dies irae“ geschrieben? Oder in die „12 Bußpsalmen“, die „Agonie“ oder seinen „St. Florian“ für Anton Bruckner eingeflochten?
Wenn ich etwas beizutragen gehabt hätte, wäre es vielleicht eine kleine Wiener Melodie auf einer Ziehharmonika gewesen, das Instrument, das ihn am meisten mit Wien verbindet.

Der 1934 in der Wolga-Kleinstadt Engels geborene Schnittke kam 1946 mit seiner Familie nach Wien. Sein Vater Harry Schnittke, ein aus Frankfurt stammender Kommunist, war als Lokalreporter zur „Österreichischen Zeitung“ berufen worden, einem von der sowjetischen Besatzungsmacht herausgegebenen Organ. Die Familie - Mutter und zwei Geschwister - wohnte von 1946 bis 1948 im 4. Stock der Singerstraße 27, einer arisierten Großbürgerwohnung, die bis vor kurzem der Herr Parteigenosse Puppini bewohnt hatte.
Alfred erinnert sich, dass aus einer Mansarde über ihnen immer Klavierspiel zu hören war und wie ihn die Vorstellung beglückte, dass das Mozart sei, der über seinem Kopf komponierte und übte. Einmal traf er auf der Treppe mit einer etwa 36jährigen Frau zusammen, schlank, dunkle Augen, schwarzes Haar, ein zartes, scheues Wesen, immer allein. Was für eine Enttäuschung, nicht WAM spielte Klavier, sondern das Fräulein Charlotte Ruber, bei der der musikalische Alfred später den ersten Unterricht bekam. 37 Jahre später wird sie noch erleben, wie ihr ehemaliger Schüler in Wien die ersten Triumphe feiert. Auf einem nostalgischen Streifzug durch die Singerstraße kommt er auch an jenem Gasthaus vorbei, in dem er immer für seinen Vater einen Krug Sturm kaufen musste. Er entdeckt mit Freuden vor der Tür ein Schild, das besagt, dass Franz Schubert hier zu den Stammkunden gezählt habe. Den grünen Fayence-Krug hatte Schnittke in seiner Moskauer Wohnung stehen und zeigte ihn gerne seinen Gästen: Daraus habe er seinen Wiener Schubert - Sturm getrunken und den ersten Rausch bekommen.

Wien war für den Zwölfjährigen aus dem Provinznest Engels von der mittleren Wolga mit seinen wenigen Straßenzügen aus primitiven Holzhütten eine neue Welt voller Musik, das Himmelreich auf Erden. Die erste Orgel hörte er, als er an einem Sonntagvormittag mit seinem jüngeren Bruder Viktor aus der Singerstraße spazierte und über die Seilerstätte und die Weihburggasse streunte. Als er um die Ecke bog, hörte er die Orgel aus den offenen Türen der Franziskanerkirche, das Brausen einer nie gehörten Musik überwältigte seine Scheu und zog ihn hinein. Ein einsamer Priester vor dem Altar, im Halbdunkel der Kerzen einige Besucher und über dem Eingang vom Chor dieses Dröhnen und Wogen – das war also ein katholisches Gotteshaus. Fremd und berauschend, eine Initiation für den Sowjetjungen, der noch nie in einer Kirche gewesen war.

Eines Tages brachte der Vater eine Ziehharmonika nach Hause, eine kleine, einfache Hohner mit nur 24 Bässen. Alfred brachte sich das Spiel selbst bei, es gab nichts, was er nicht nachspielte: russische Lieder, die Schnulzen der frühen Nachkriegszeit, Wiener Walzer und englische Hits. Er spielte alles, was er hörte und alles flog ihm zu:
„Mariandl, -andl, -andl, du hast mein Herz am Bandl, Bandl, und lasst es net los“ 2), oder „Bella, bella Donna Marie, bleib mir treu“, oder „What a beautiful girl“, die Straßenmusikanten vom Graben an der Pestsäule, gleich daneben im OP-Kino die ersten amerikanischen Filme und Wochenschauen und der Zirkus Rebernigg auf den unbebauten Scala-Gründen in Favoriten. Und da waren noch viel mehr Lieder, die der junge Schnittke im sowjetischen Offiziersclub in der Hofburg oder in der sowjetischen Schule auf der Prinz-Eugen-Straße hörte: „Mein russisch Mutterland, so hold, so wunderschön, des Herzens Freud, mein trautes Heim“. Auch von blühenden Gärten und wogenden Feldern wurde gesungen, von der großen Freiheit Russlands und vom ewigen Sieg. Er liebte damals Josef Wissarion Stalin – Onkel Pepi, wie man ihn in den Wiener KP-Kreisen zu nennen pflegte- genau so wie den Wolferl, den er sich in die Mansarde über seinem Kopf hineinträumte. So wurde Schnittke sehr früh mit zwei widersprüchlichen Welten konfrontiert und blieb beiden treu.
Als im Jahre 1948 die sowjetische Schule schloss, übersiedelten die Schnittkes wieder nach Moskau, wo Alfred seine klassische Musikausbildung aufnahm.

Der Vater Harry hat nie etwas mit Musik im Sinne gehabt, das Akkordeon hatte er als Prämie von der Redaktion der „ÖZ“ im Globus-Verlag geschenkt bekommen. Wem von seinen Vorgesetzten oder Kollegen war es wohl eingefallen, ihn auf diese Weise auszuzeichnen? Und wer wagt schon zu behaupten, dass ohne diese kleine Hohner Alfred Schnittke kein Komponist geworden wäre?


1) Gidon Kremer: „Zwischen Welten“, Piper Verlag, S 328
2) Die Zitate basieren auf den Erinnerungen von Viktor Schnittke

Zwei Brownings für Fidel Castro und Nikita Chruschtschow

Jekaterinburg I, ein Besuch zum 90. Jahrestag des Zarenmordes

Von Veronika Seyr

Wahrscheinlich wäre das Haus jetzt keine mindere Attraktion als die Eremitage oder der Rote Platz. Sicher wäre es umstellt von Souvenierständen mit Devotionalien, Büchern, Ansichtskarten und Videos, T-Shirts, Kappen und Kopftüchern, belagert von Touristen, umschwärmt von Fotografen und Bettlern. Davor stünden die langen Reihen der Kassabuden, am Eingang würden sich lange Besucherschlangen drängen, dahinter aufgereiht die Autobussse aus dem ganzen Land. Ständig würden offizielle Delegationen eintreffen und wieder abreisen, der Altpräsident, der regierende, der designierte, Erzbischöfe, Archimandriten und einfache Popen.

Die Touristenführer würden die Normalsterblichen unentwegt zum Weitergehen aufrufen, dabei nicht zu drängen, nichts zu berühren, nichts zu fotografieren und nicht laut zu sprechen. Schließlich würden sie die Besucher fast flüsternd dazu auffordern, die 23 Stufen ins Kellergeschoß hinab zu steigen, in einen kleinen Raum mit kahlen Wänden, an denen vielleicht noch die Spuren von 108 Kugeleinschüssen zu sehen wären.

So, ja so ähnlich könnte es sein, wenn das Haus noch existierte. Aber es hat nie einen solchen Ruhm erlebt, das Ipatjew-Haus in Jekaterinburg, das letzte Gefängnis des russischen Zaren Nikolaus II. und seiner Familie. Die Bolschewiki nannten es „das Haus zur besonderen Verwendung“, sie hatten es erst am Vortag des Mordes von dem Geschäftsmann Nikolaj Ipatjew beschlagnahmt. Ob sie dabei bedacht haben, dass im Jahre 1613 nach einer langen Zeit der Wirren eine Bojarenversammlung den Mönch Michail Romanow aus dem Kloster Ipatjew bei Kostroma an der Wolga zum ersten Zaren ganz Russlands beriefen, hat uns die Geschichte nicht überliefert. In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 wurden hier die 7-köpfige Zarenfamilie und ihre 5 Bediensteten vom Erschießungskommando des Ural-Gebietssowjets hingemetzelt. Im Jahr 1975 ordnete der damalige KP-Chef von Swerdlowsk, Boris Jelzin, die Schleifung des Ipatjew-Hauses an, derselbe Jelzin aus eben jenem Jekaterinburg/Swerdlowsk, der 1991 zum ersten frei gewählten Präsidenten des neuen Russland gewählt wurde. An seiner Stelle steht seit den Perestrojka-Jahren eine kleine Holzkirche mit Zwiebeltürmchen. Am vernachlässigten Holzzaun liegen immer frische Blumen und Tannenzweige. Erst seit kurzem wird es mehrfach überragt von der monumentalen Gedächtniskirche „Am Blute“ mit der monströsen Hässlichkeit neureicher Architektur. Sie übertrifft nicht nur mit der Rekordbauzeit von nur 2 Jahren, sondern auch mit allen anderen Parametern alle sibirischen Bauprojekte: die höchsten Türme, die meisten Kuppeln, die teuersten Steine, die schwerste Ikonostas, die größten Luster, die dicksten Kerzen, die meisten Kirchenchöre und Ikononen-Malschulen. An der Außenseite der Kathedrale hat die russische Gigantomanie die 23 Stufen und die Figuren der 12 Opfer in Bronze gegossen, unter den Blumenhaufen kaum noch als Denkmal zu erkennen.

In der Krypta der Kathedrale ist das Mordzimmer des Ipatjew-Hauses nachgebaut. Das mit rotem Teppich ausgelegte Podest wird von dicken Kordeln eingefasst, vor denen sich die Menschschlangen drängen. Immer nur in kleinen Gruppen werden die Besucher auf das Treppchen vorgelassen, über das man das Zimmer wie eine Theaterbühne erreicht.

In ehrwürdigem Flüsterton erzählt die Führerin die Details der Mordnacht nach: wie die Zarenfamilie aus ihren Betten geholt und in den Keller geführt worden sei – angeblich zu ihrer Sicherheit, weil die Tschechische Legion und die Weiße Armee Koltschaks die Stadt umzingelt hätten. Wie die Bolschewiki die 5 Bediensteten freigelassen hätten, diese aber zur Zarenfamilie zurückgekehrt seien, um „das Schicksal ihrer Herrschaften zu teilen“, wie um 1h30 nachts der Jekaterinburger Tscheka-Chef Jakow Jurowski dem Leibarzt des Zaren, Dr. Jewgenij Botkin, befahl, die Gefangenen zu wecken, dass Nikolaj noch nicht geschlafen, sondern in Tolstojs „Krieg und Frieden“ gelesen hätte, wie dann Nikolaj den kranken Zarewitsch in den Keller trug, gefolgt von Alexandra Fjodorowna und den vier Töchtern, die Ikonen und Spitzenkissen mit sich trugen, die jüngste, Anastasia, ihren King-Charles –Spaniel Joy auf den Armen. Die Delinquenten waren völlig ahnungslos, man erklärte ihnen, es gebe Schießereien in der Stadt. Das Exekutionskommando bestand aus 5 Russen und 6 Ungarn (in der Literatur fälschlicherweise oft Letten genannt). Der Plan sah vor, dass jedem der 11 ein bestimmtes Opfer zugewiesen war. Es war befohlen worden, auf das Herz zu zielen, um größere Blutlachen zu vermeiden und schnell fertig zu werden. Es stellte sich aber heraus, dass sie nicht den entsprechenden Personen gegenüberstanden. Außerdem war der Raum viel zu klein, Mörder und Opfer traten einander buchstäblich auf die Füße. Zwei Stühle für das Zarenpaar wurden aufgestellt, alle anderen mussten stehen bleiben. Jurowski verlas das Todesurteil gegen die „Bürger Romanow“: „Angesichts der Tatsache, dass Ihre Verwandten fortgesetzt Anschläge auf Sowjetrussland verüben, hat das Ural-Exekutiv-Komitee verfügt, Sie zu erschießen.“ Der Zar blinzelte und verstand nicht, er bat um eine Wiederholung: „Was ist? Was ist?“ fragte er und drehte sich zu Alexej um. Jurowski spulte seinen Satz hastig noch einmal ab und gab dann seinen Tscheka-Männern das Kommando, das Feuer zu eröffnen.

Was folgte, war das reinste Chaos, das Gemetzel dauerte 20 Minuten. Die meisten Schützen ballerten von der Tür her in den Raum. Der Kommandant schoss aus nächster Nähe auf den Zaren, der sofort umstürzte wie ein Baum, gleich darauf auch seine Frau. Aber die Kinder, eine Hofdame und der Arzt lebten noch. Sie hatten sich im Schreck zu Boden fallen lassen. Die Schüsse prallten an den Wänden ab, die Kugeln sprangen wie Hagelkörner durch das Zimmer und pfiffen den Schützen um die Ohren, einige Exekutoren wurden von Querschlägern verletzt, einige Schüsse gingen in die Decke, zwei Ungarn weigerten sich, auf die Mädchen zu zielen. Die Schießerei wurde immer hektischer, weil alle Getroffenen zu schreien begannen. Alexej hockte wie versteinert auf dem Boden, einer der Tschekisten setzte ihm die Pistole an den Kopf. Die Korsetts und die mit Gold und Juwelen ausgestopften Kleider der Frauen hielten den Schüssen einige Zeit stand, daraufhin drangen die Mörder mit den Bajonetten auf sie ein, die sich aber zu stumpf erwiesen. Die Hauptarbeit erledigten schließlich 2 Browning-Pistolen. (Bericht nach den Aufzeichnungen von Jakow Jurowski von 1920, zitiert aus Alexander Jakowlew „Mein Jahrhundert“).

Die Führerin in der Krypta erzählt faktenreich und einfühlsam von der „letzten Nacht des Heiligen Russland“, aber doch mit der professionellen Routine, die Russland-Besucher auch aus den Puschkin-, Tolstoj- und Tschechow-Museen kennen.

Ich stehe zwischen einer Gruppe von russischen Mittelschülern und alten Pilgerfrauen: die einen gelangweilt und desinteressiert Kaugummi kauend, die Baseballkappen verkehrt herum aufgesetzt, die anderen schluchzend, betend, sich bekreuzigend und mit rot geweinten Augen unter den geblümten Kopftüchern. Dann besteigen die Reisegruppen wieder ihre Autobusse, die Bettlermönche klappern unermüdlich mit ihren Holzbüchsen und murmeln Segenswünsche über die milden Spender, Fotoapparate klicken vor den posierenden Schülergruppen, und dann treibt der scharfe, sibirische Frühlingswind nur noch die leeren Pepsi-Dosen vor sich her, die scheppernd über den Kirchenplatz rollen. Noch höher am Abhang ragt über den Kuppeln der „Blut-Kirche“ der Pionierpalast empor, gekrönt von einer vielfärbig blinkenden Samsung-Reklametafel. Die Ural-Metropole modernisiert sich rasant, ohne seine Geschichte zu verleugnen: auf dem zentralen Platz, der noch immer „Platz der Revolution“ heißt, stehen zwei gigantische Statuen von Lenin und Swerdlow, einander den Rücken zukehrend und mit weit ausholenden Gesten in verschiedene Richtungen zeigend.

Noch in der Mordnacht wurden die Leichname auf Lastwagen geworfen, mit Planen bedeckt und in die Bergwerksschächte von Ganina Jama abtranspotiert. In die Eingänge warf man zur Sicherheit noch Handgranaten. Höchste Eile war geboten, schließlich stand die Weiße Armee vor den Toren Jekaterinburgs. Weil sich die Schächte aber als zu seicht erwiesen und die Bolschewiki eine Entdeckung fürchteten, grub man sie am nächsten Tag wieder aus und führte sie tiefer in den Wald. Dort blieben zuerst die Wagen im Morast stecken. Dann hob man Gruben aus, die aber im Morast immer wieder zusammen stürzten, schließlich versenkte man die Leichname in den Uralsümpfen, überschüttete sie mit Benzin, Kalk und Schwefelsäure und belastete sie mit Baumstämmen, das Gelände wälzte man mit Panzern platt und pflanzte später Bäume auf den kahlen Flächen. Vor alledem aber plünderten die an dem Mord beteiligten Tschekisten noch die Kleider und Korsetts der adeligen Damen.

Wie viele Todesarten? Karabiner, Bajonette, Pistolen. Dann für die schon Toten Grubenschächte und Handgranaten, Benzin, Kalk, Schwefelsäure und wieder Bajonette und Messer, in welcher Reihenfolge? Sumpf, Moor, Balken und Panzerketten. Dann kommt die Natur von selbst mit ihrem Unterholz, den Farnen, Brennnesseln, Glockenblumen und Vergissmeinnicht.

Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Knochenreste entdeckt und in Großbritannien einer DNA-Analyse unterzogen, die den eindeutigen Beweis erbrachte, dass sie den Romanows gehörten. Im Juli 1998 wurden sie in Anwesenheit des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin in der Peter-Pauls-Kathedrale zur letzten Ruhe gebettet. In einer bewegenden Ansprache fand Präsident Jelzin Worte der Entschuldigung für den Zarenmord.

Die offizielle Mitteilung über Hinrichtung des letzten Romanow erschien am 19. Juli 1918 in der Iswestija, allerdings scheuten sich die Bolschewiki einzugestehen, dass sie auch die Zarin, die Kinder und die Bediensteten hinrichten hatten lassen. Augenzeugen berichten, dass die Bevölkerung diese Nachricht mit der denkbar größten Gleichgültigkeit aufnahm. Das Sowjetregime hat bis zuletzt die Entscheidung über den Zarenmord dem Jekaterinburger Sowjet in die Schuhe geschoben. Neueste Archivforschungen brachten vielfältige Beweise ans Tageslicht, dass der Mordbefehl von der Moskauer Partei, also von Lenin, Trotzki und Swerdlow ausging. Am 18. Juli 1918 erschossen die Bolschewiki im Nordural noch weitere 6 hochrangige Mitglieder der Romanow-Dynastie. Der rote Terror rollte.

Die neuesten Fakten steuerte Alexander Jakowlew, Gorbatschow-Berater und Erfinder der Perestroika, in seiner Autobiographie von 2003 bei. Darin schildert das langjährige ZK-Mitglied, wie ihm Chruschtschow 1964 den Auftrag gab, die „Wahrheit über den Zarenmord“ herauszufinden. Chruschtschow trug sich damals mit dem Plan, einen postumen Prozess gegen „den Henkersknecht auf dem Zarenthron“ zu inszenieren; eine typisch Chruschtschow`sche Schnapsidee, meint Jakowlew, hat doch schon Trotzki 1917 einen Prozess nach dem Vorbild der französischen Jakobiner verworfen. Neben dem Zweifel, ob Nikolaj einen gerechten Prozess zu erwarten hätte, tat sich noch ein grundsätzlicheres Problem auf: allein schon den abgesetzten Monarchen vor Gericht zu stellen, setzte die theoretische Möglichkeit seiner Unschuld voraus (wie das auch schon Saint-Juste beim Prozess gegen Ludwig XVI. feststellen musste.) Jakowlew fand in den KGB-Archiven die Namen der Zarenmörder; von denen damals drei noch am Leben waren. Er interviewte sie und legte ein ausführliches Protokoll an. Dem KGB-Dossier lag auch das Testament des am Mord beteiligten Bolschewiken M.A. Mendelejew bei, der seinem Sohn in einem Brief die genaue Schilderung der Mordnacht hinterließ. Der Nachlass enthielt auch zwei Brownings, die nach dem Wunsch des Mendelejew-Sohnes Fidel Castro und Nikita Chruschtschow bekommen sollten. Der Massimo Leader hatte gerade in Begleitung von Chruschtschow der Sowjetunion einen rauschenden Besuch abgestattet und war ein populärer Held. Nach Jakowlews Meinung liegen die Mordwaffen bis jetzt in den KGB-Archiven. Kurz danach wurde Chruschtschow gestürzt und hat seinen kubanischen Freund nicht mehr getroffen.

In den Wäldern der Gräberfunde ist in den letzten Jahren das Sühnekloster „Ganina Jama“ entstanden. Etwa 20 Kilometer östlich von Jekaterinburg, tief in den Ural-Hügeln, liegen 7 Kirchen – eine für jedes Familienmitglied – über ein weites Areal verstreut. Alle sind aus hellem Holz in altrussischer Tradition, mit kunstvollen Schnitzereien und ohne einen einzigen Nagel, zusammengefügt. Ihre grüngoldenen Kuppeln und Türmchen glänzen zwischen den weißen Birken- und den schwarzen Föhrenstämmen hindurch. Ende März liegen noch hohe Schneeberge zwischen den Gebäuden. Die Besuchermassen schieben sich ohne Unterlass durch die Klosteranlage, die Grubeneingänge sind überschüttet mit Blumen und Kerzen, in tiefem Ernst wird das Schweigegebot eingehalten, es herrscht Totenstille, der Schnee ist schon weich und verschluckt die Schritte, nur die Dohlenschwärme schreien ungebührlich laut hoch in den Wipfeln. Ab und zu dringt helles Glockengebimmel durch den Wald, dann eilen die Mönche zum Gebet in ihre Kirchen, in ihren schwarzen Kutten flattern sie wie Krähen zwischen den Bäumen. Seit reiche sibirische Geschäftsleute der orthodoxen Kirche das neue Kloster schenkten, ist seine Anziehungskraft ständig gewachsen: bei der Eröffnung 2001 zogen 4 Mönche ein, nun sind es schon fast hundert, immer mehr Brüder, Schwestern oder einfache Zivilisten siedeln sich an, um ihr Leben ganz in den Dienst des Gebetes und der Sühne zu stellen. Vladimir, ein 44jähriger Arzt, hat seine Familie verlassen und lebt seit 2 Jahren als Laienbruder in Ganina Jama:

„Von hier ist Russlands Unglück ausgegangen, alles, was Russland erdulden musste, hat seinen Anfang im Zarenmord. Vor hier soll auch die Heilung Russlands ausgehen.“

Den letzten Zaren als Märtyrer darzustellen, ist nicht nur in der orthodoxen Kirche wieder populär geworden. Gerne vergisst man 90 Jahre danach, dass nach Nikolajs Abdankung niemand den Monarchen retten wollte, nicht sein englischer Vetter König George V., schon gar nicht der andere, der „geliebte Billy“ in Berlin wollte etwas für „ den lieben Niki“ (die verwandtschaftliche Anrede in ihrer Korrespondenz vor dem Krieg) tun, und auch keine der adeligen oder bürgerlichen Parteien, und von monarchistischen Verschwörungen zur Befreiung der kaiserlichen Familie weiß die Geschichte nichts zu berichten.. Nikolaj war eine so traurige und diskreditierte Gestalt, dass ihn nicht einmal die Weißen, die gegen die bolschewistische Revolution kämpften, als Symbolfigur wollten. Mit den Romanows und ihrer autokratischen Monarchie war kein Staat mehr zu machen.

Warum ging die Ermordung der Romanows trotzdem über die Bedeutung des Todes von einigen wenigen Personen hinaus, während Krieg und Revolution schon Millionen Menschenleben verschlungen hatten? Wahrscheinlich, weil von nun an klar war, dass das einzelne Menschenleben nichts zählte: „Man muss für immer Schluss machen mit dem Popen- und Quäkergeschwätz über den heiligen Wert des menschlichen Lebens“, sagte Trotzki einst.

Ich stehe benommen im Schnee zwischen den Birken von Ganina Jama, habe Schweigen, Schüsse und Glocken im Ohr, das ewige russische Orchester, immer Schüsse und Glocken, Glocken und Schüsse. So starre ich auf meine Stiefelspitzen im Schnee und entdecke, dass er dicht gesprenkelt ist mit Flecken von geronnenem Blut. Ein Gespinst aus roten Äderchen kriecht durch den groben Firn. Bin ich an diesem Ort etwa schon blutblind geworden? Eine Besonderheit des Ural-Frühlings, bekomme ich erklärt, es ist der rote Saft der sibirischen Birken, den ihre Knospen verspritzen, bevor sie platzen.

Trauerkulturen

Zum öffentlichen Tod des Jörg Haider

Auf dem Weg zum Begräbnis eines engen Freundes am Zentralfriedhof wurde ich heute Ohrenzeuge mehrerer Gespräche über den Tod des Kärntner Landeshauptmannes. Zuerst zwei junge Männer im 6er, die sich lautstark darüber ausließen, dass der Jörgl am besten Weg gewesen sei, „ganz Österreich zu fressen“ und bedauerten, dass seine Nachfolger wahrscheinlich noch zu jung und unerfahren seien, um die „Verbrecherbagage von ÖVP und SPÖ“ zu verjagen. Jörg Haider, das Raubtier. Später eroberte ein Rentnerpaar die Oberhoheit über die Passagiere in der U3, in dem sie laut und ungehemmt über „das rote, schwarze und grüne Gsindl“ herzogen, denen es „der Jörg wieder einmal gezeigt habe, fast hätte er sie wieder aufgschnupft in seiner Pfeifn“. Jörg Haider, der Rächer. Mir fiel dabei auf, dass ich derartige Gespräche mit so offensichtlicher Vernichtungsfreude und Menschenverachtung für den politischen Gegner früher nie in öffentlichen Räumen gehört habe. In einer Runde Gleichgesinnter am Wirtshaustisch mit viel Promille im Blut vielleicht, aber einen U-Bahn oder Straßenbahnwagen füllend – das hat erst Jörg Haiders „Politik“ hoffähig gemacht. Hat ja er und seine Entourage ebenso gesprochen, warum sollen das die Simmeringer Arbeitslosen und Pensionisten nicht dürfen?

Dann fragte ich mich, was diese denn von „ihrem Jörgl“ so alles bekommen haben mögen? Eine tolle Ausbildung vielleicht, einen gut bezahlten Job, eine günstige Wohnung, einen Heizkostenzuschuss oder eine Pensionserhöhung? Nichts von alldem, war er doch nicht einmal in der Lage, Kärnten vom letzten Platz aller Bundesländer in allen sozialen, wirtschaftlichen und bildungspolitischen Parametern herunter zu holen, trotz der Geldflüsse, die Haider, oft am Budget vorbei, für Kärnten aus dem bösen Wien herbeischaffte. Haider hat das gesamtösterreichische und speziell kärntnerische Bedürfnis nach Ressentiments, nach Nennung und Kriminalisierung der vermeintlich Schuldigen an der persönlichen Misere befriedigt und öffentlichkeitsfähig gemacht. Es war wieder erlaubt, Feinde zu haben, Feinde zu machen, sie zu benennen und ihnen alles Böse zu wünschen. Haider war ein Hassprediger und die Journalisten mit wenigen Ausnahmen seine allzu willigen Wasserträger, die in Faszination vor ihm auf der Tacken lagen und ihm aus der Hand fraßen, die sie fütterte. Er müsste wegen „Volksverhetzung“ zur Verantwortung gezogen werden; ob „Volksverdummung“ eine inkriminierbare Handlung ist, muss ich erst recherchieren. Von islamistischen Hasspredigern weiß ich nur aus den Medien, kann sie wegen ihrer Muttersprache nicht verstehen. Die jugoslawischen Hassprediger verstand ich zumindest sprachlich, auch wenn ich keinen Zugang zur Psyche dieser hochgebildeten Personen fand: Tudjman war Historiker und General, Karadzic Psychiater und Schriftsteller, Biljana Plavsic, seine Stellvertreterin, doppelte Doktorin in Medizin und Biologie, Mirjana Markovic - Soziologieprofessorin, Nikola Koljevic, der bosnisch-serbische Vizepräsident, war Anglistikprofessor, Schriftsteller und Shakespeare-Übersetzer, Milorad Pavic und Momo Kapor haben früher wunderbare und international anerkannte Romane geschrieben, und das serbische Hassprogramm haben 200 Mitglieder der Akademie der Wissenschaften verfasst. Wie große Potentaten und Weltverbrecher a la Hitler und Stalin, Pol Pot und Saddam Hussein hatte auch H.J. die Fähigkeit, sich eine blinde und treu ergebene Gefolgschaft zu schaffen, die sich mit ihrem Anführer identifizierte, zum Glück nicht dieselben Möglichkeiten. Die Gefolgschaft lebt für IHN und durch IHN, jedes einzelne, kleine miserable Menschlein ist durch IHN mehr als es allein wäre, so wie die beiden Arbeitslosen in ihren ausgelatschten Schuhen und grindigen Trainingsanzügen, den Doppler im Hofer-Sackerl, als sie sich zu der Männerrunde beim Branntweiner vor dem 2. Tor des Zentralfriedhofs gesellten, am helllichten Dienstag um halb elf. Und die Pensionisten in der U3 schnupften lautstark in ihre Taschentücher und wiederholten die Zauberworte vom Lebensmenschen, vom Robin Hood, von der Sonne, die vom Himmel fiel und den Uhren, die am Samstag stehen blieben. Sogar die wahnwitzigen Verschwörungsvermutungen plapperten sie nach: „Nichts haben sie ihm gegönnt, dem Jörgl“, flennte die zahnlose Alte in ihr Taschentuch. Dabei hatte ich immer den Eindruck, dass dieser Mensch alles geschenkt bekommen hat, ihm alles zugeflogen ist oder er sich genommen hat, was er brauchte. Sogar VW mit ihrem „Fätton“ (war übrigens auch auf Ö1 von einer Moderatorin des gestrigen Mittagsjournals so zu hören, Pha:eton, der 1. Amokfahrer der Weltgeschichte) verdächtigen sie, manipuliert gewesen zu sein, weil ihr Jörgl doch nicht einfach so banal abtreten kann, eine Kruzifixteufeleini-Himmelfahrt mit 140 Sachen. Volkes Seele dürstet nach Mythos. Wann haben die beiden Alten zuletzt so geweint? Als ihr Rollmops das Zeitliche segnete? Oder bei den letzten Abschiebungen von vermeintlich straffällig gewordenen Asylwerbern in die Sonderanstalt auf der Saualm? Mit Blaulicht und Sonderbegleitschutz.

Wann habe ich bewusst das erste öffentliche Massentrauern wahrgenommen, die Kerzenlichter- und Blumenmeere wahrgenommen, die vor den Gittern niedergelegten Teddys, Herzen und Briefe? Ach ja, vor 11 Jahren bei Diana, dem Tod der Märchenprinzessin, der Königin der Herzen. H.J., der König der Kärntner Herzen? Diana, auch so eine von den Medien gemachte Figur, picksüß und verlogen, aber politisch weit weniger grauslich als die südost-österreichische. Menschen mögen Märchen, sagte damals eine Journalisten-Kollegin weise, gib dem Affen Zucker, meinte ich weit weniger romantisch.

Die jüngsten Ereignisse erinnern mich an die Geschichte meiner Freundin Dora, Tochter von jüdischen KP-Emigranten, wie bitterlich sie als Fünfjährige geweint habe, als Stalin gestorben war, wie sie sich von da an jeden Abend vor ihr Bett gekniet und für den „Onkel Joschi“ gebetet habe. Sie weiß es bis heute genau, dass sie damals glaubte, nicht weiter leben zu können, so finster und hoffnungslos sah die Welt rund um sie aus. Einer meiner russischen Freunde war bei Stalins Tod 10 Jahre alt. Als Lew am 5. März 1953 in die Schule kam, saß seine geliebte Lehrerin Anna Iwanowna mit verheultem und geschwollenem Gesicht an ihrem Tisch vorne in der Klasse und stützte sich schwer auf beide Arme, vor Schluchzen konnte sie nicht sprechen und kaum atmen. Lew meinte, dass sie einen engen Verwandten verloren haben muss, ihren Mann oder ihre Mutter vielleicht, und wunderte sich, dass sie an diesem Tag nicht zu Hause geblieben war. Und Stalin hatte immerhin 29 Jahre in absolutem Totalitarismus ohne die geringste Alternative regiert, den Feind aus dem Land gejagt, halb Europa erobert und die Sowjetunion zur Supermacht ausgebaut. In Russland ist es üblich, die Verstorbenen in offenem Sarg aufzubahren und zu verabschieden. Die Trauernden werfen sich über den Leichnam, küssen Gesicht und Hände, streicheln die Haare, stecken Blumen und Kerzen zwischen die Finger, weinen und schluchzen in aller Öffentlichkeit. So unterscheiden sich Kulturen und Gebräuche. Mir graust jetzt schon vor den Bildern der Begräbnisfeierlichkeiten in Klagenfurt am Samstag; da werden wir zu sehen bekommen, welcher alter und neuer brauner Abschaum Abschied vom H.J. nimmt.

Als Kaiser Franz Josef II. im Jahr 1916 nach 48 persönlichen Regentschaftsjahren und 600 seiner Familie Habsburg starb, gab es noch kein Fernsehen, die Trauer war weniger öffentlich, es wurden keine weinenden Minister und Kabinettssprecher, keine klagenden kärntner oder tschechischen oder bukowinischen oder kroatischen oder salzburger oder slowenischen oder rhutenischen oder serbischen Untertanen ins Wohnzimmer geliefert, die ihre Liebe zum verblichenen Herrscher aller seiner Völker unter Tränen herausstammelten.

„I hob einfoch doher kumman miassn, dem Jörgl pfiat Gott sogn“, habe ich eine Kärntner Rentnerin mit Steirerhut und tränen erstickter Stimme sagen aus dem TV-Kastl gehört.

Die Filmaufnahmen vom Begräbnis Franz Josefs, seinem Zug durch die Stadt und den Stephansdom zeigen uns stumme, in Würde trauernde Menschen an den Straßenrändern, als der Katafalk von den 16 schwarzen Rössern an ihnen vorbeigezogen wird.

Die Berichte aus Kärnten erinnern mich an die Erzählungen von Jugoslawen aller Nationalitäten, wie ungeheuer fassungslos die Menschen bei Titos Tod gewesen seien, wie übergroß die Trauer, das Gefühl, den allernächsten Menschen verloren zu haben, ihren Lebensinhalt, ihre Gegenwart und ihre Zukunft; mit Tito seien alle Hoffnungen gestorben, vater- und heimatlos hätten sie sich gefühlt, einsam und verlassen, jeder für sich allein. Das ganze Land war gelähmt im Schock und gefangen in einer so abgrundtiefen und lang andauernden Zukunftsangst, dass sie sich einige Jahre später in den Kriegen entlud – meiner Ansicht nach einer der Gründe in der komplexen Kriegsursachenstruktur. Wie sie sich als kleinen Trost an die Slogans geklammert hätten: Tito lebt, Tito-mit dir in Ewigkeit oder einmal Tito – immer Tito. Jaja, da war eine Sonne vom Himmel gestürzt. Die wenigen Gegner, die Tito 1948 auf die KZ-Insel Goli Otok geschickt hatte, schwiegen und trauerten ebenfalls, um ihr eigenes Leben. Der Personenkult war in Titos Jugoslawien zu einer perfekten Maschinerie ausgebaut, aber was hatte Josip Bros Tito nicht alles für sein Land getan und erreicht in den 40 Jahren seines politischen Wirkens an der Spitze? Dieses kollektive Gefühl, einen Überlandesvater verloren zu haben, kann ich bei aller Propaganda verstehen und auch respektieren.

Wie sich die Hagiographie, die Heiligenverehrung von totalitären Regimen und Kirchen doch ähneln – ohne die Metaphysik und Transzendenz der letzteren zu besitzen. Erschreckt war ich und zunehmend erstarrt beim Anschauen der jüngsten Dokumentation von „Menschen und Mächten“ am Sonntag im ORF, eine zusammengeschluderte, speichelleckerische Heilgenvita und Mythenschleuder. Wie kommt so ein Machwerk in einen öffentlich-rechtlichen Sender, für den ich gar nicht wenig bezahlen muss? Kein Millimeter Distanz zum bejubelten und bewunderten Objekt. Haben am Küniglberg nur noch blaue und orange Parteikader das Sagen? Wo sind die kritischen, unabhängigen Redakteure der früheren Zeiten? Alle schon untergetaucht in vorbeugendem Gehorsam vor der großen blau-orangen Säuberungs- und Postenbeschaffungsorgie? Wohin kann man noch schauen und hören? Lesen kann man in diesen Tagen nur noch den Standard und ausländische Zeitungen. Auf den Falter von morgen warte und hoffe ich noch.

Denk ich an Österreich in der Nacht, bin ich um meinen Schlaf gebracht.

Veronika Seyr, 14. Oktober 2008

Dienstag, 27. Mai 2008

Pinselunterhaltungen am Traumbach

Zum Buch „Allegorien des Blicks“ von Leander Kaiser mit Texten von Mechthild Podzeit-Lütjen, Verlag Brandstätter, Wien 2008

Veronika Seyr, Pfingsten 2008-05-12

Der chinesische Schriftgelehrte Shen Kuo verfasste im 11. Jahrhundert einen Text über die Methode eines gewissen Bi Sheng, der mit beweglichen Lettern experimentiert haben soll:

Meng Xi Bi Tang nannte er sie, „Pinselunterhaltungen am Traumbach“. Der Text führt noch an, dass sich diese Methode vorläufig nicht durchsetzen konnte. Wie wir aus der Geschichte wissen, sollte es erst der Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, sein, der mit seiner Druckerpresse die Menschheitsgeschichte revolutionierte. Die erst Druckerei öffnet 1458 in Strassburg, die zweite 1462 in Wien, erst dann folgen die anderen in Basel, Köln, Augsburg, Mainz und viele andere im Rest der Welt.

2008 – genau 546 Jahre später - hat der Verlag Christian Brandstätter in Wien eines der eigenartigsten Bücher herausgebracht, einen Hybrid, der am Beginn des Projektes ziemliches Misstrauen bei mir hervorrief. Ein Katalog des Malers Leander Kaiser mit Texten und Gedichten von Mechthild Podzeit-Lütjen; „Allegorien des Blicks“ heißt es. Und nun gestehe ich ein, dass es eines der schönsten, vielleicht das allerschönste Buch ist, das ich je in Händen gehalten habe.

Ohne auf die Bilder und die Texte eingehen zu wollen – das haben Peter Weiermeier, Irene Prugger und Carla Babini als Kunstgeschichtler und Biographen schon meisterhaft gemacht – versuche ist meinen Superlativ zu begründen, aus der subjektiven Perspektive einer Konsumentin (im Sinne von consumere = lat. gemeinsam haben).

Ich will das Buch als Buch, als Gegenstand, als Objekt, als in eine bestimmte Form gebrachte Ansammlung von Materialien beschreiben.

Für einen Kunstkatalog ist es nicht besonders groß und umfangreich, 24 mal 28 cm und mit gerade mal 110 Seiten auch nicht besonders dick. Obwohl mit diesen Maßen weit entfernt davon, ein Taschenbuch zu sein, habe ich den Eindruck, es doch immer und überall hin mitführen zu können und zu müssen. Mit welchem Maßstab, welcher Goldwaage haben die Buchmacher dieses Idealmaß gefunden, das genau richtig in der Hand liegt. Es ist eine Körperempfindung, die durch die Hände geht, ohne dass ich die Augen öffnen muss. Ähnliche „blinde“ Gefühle ruft das Papier hervor: es ist weich und fest zugleich, es spürt sich an wie Seide und Duchesse, und auf der Haut der Fingerkuppen entsteht der Eindruck von Seife. Lasse ich die haptischen Erlebnisse hinter mir und öffne die Augen, schlägt mir vom Schutzumschlag hauptsächlich ein Scharlachrot entgegen, auf dem Pappband darunter ein Hellorange und auf den Vorsatzblättern im Inneren das wärmste Hellbraun unter allen Lachstönen. Die Seiten haben elfenbeinfarbenes Papier, das den greifenden und tastenden Fingern wie Samt entgegen kommt. Der Schrifttypus ist für mich nicht eindeutig einordbar, Antiqua –artig schätze ich, mit ziemlich ausladenden Serifen.

Aber was mich viel mehr beeindruckt, ist die nicht ganz schwarze und auch nicht graue Farbe der Buchstaben, die sich wie Nebenschwaden über die Seiten angeordnet haben. Wer mag diese Farbe ausgesucht und komponiert haben? Der Drucker, der Grafiker oder der Maler?

Andere habe schon viel Kluges und Schönes über den geglückten Reigen von Maler und Dichterin umeinander geschrieben, über ihren Rollentausch, die Bilder zu lesen und die Gedichte zu sehen. Aber mir gibt das Buch noch etwas anderes.

1. Quelle: Kraft und Trost. Ein Buch wie die „Allegorien des Blicks“ (man kann nicht leicht sagen, in der Tasche) zu haben, bedeutet gerade in unglücklichen Zeiten nicht weniger als das: eine beglückende, andere Welt mit sich zu führen. Seit jeher ist mir das bloße Vorhandensein eines gern gelesenen oder betrachteten Buches ein Kraft- und Trostspender. Man könnte es auch als „Fluchtburg“ bezeichnen. Es tut gut, sich für eine Weile aus der Unbill des Daseins in eine andere Realität, die eines Buches zu flüchten. Und ich werde dabei immer darauf bestehen, dass es sich keine fiktive, erfundene, erdachte Welt im Buch handelt, sondern um eine andere.

2. Quelle: Das Buch als Bessermacher. Ein Buch wie dieses macht wohl auch deshalb so glücklich, weil wir uns einbilden, dadurch an einer besonderen Welt teilzuhaben, eine besondere geistige Tiefe zu erlangen, die uns vor uns selbst als ein besserer Mensch erscheinen lässt. Bei der Beschäftigung mit dem Buch ist das Bewusstsein nicht ganz bei der Sache, sondern es flüstert uns aus einem unbekannten Winkel heraus zu, bei welch tiefer intellektueller und ästhetischer Tätigkeit wir uns doch befinden, und es beglückwünscht uns zu diesem exklusiven „Weltwissen“, das anderen nicht zugänglich ist.

Ein Teil unserer Aufmerksamkeit schweift ab und wandert vom Buch zum Tisch, zur Lampe, zum Garten, in dem wir es uns gemütlich gemacht haben, oder zur Aussicht auf das Meer mit dem Sonneuntergang, der sich eben so besonders schön ereignet, weil wir uns mit dem Buch beschäftigen. Das Buch vermittelt mir die Idee davon, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich anders mit den Dingen umgehen und anders denken könnte. Jeder kann sich auf seine Weise in dem Buch entdecken.

3. Warnung. Ich finde es aber falsch, die Schaulust beim Lesen des Bildes und die Leselust beim Schauen der Texte in Konkurrenz oder gar in Feindschaft treten zu lassen. Sie sind einander Brüder und Schwestern, Freunde, Übersetzer, Fährleute und Reisebegleiter. Sie öffnen die inneren Augen und lassen eine Welt entstehen, deren Teil, ja sogar Schöpfer wir sind. Davon geht dieses geheime Glücksgefühl aus, dieses geheime Glücksgefühl macht, dass wir dieses Buch nicht mehr entbehren können und wollen. Das Glück des Malens und das Glück des Dichtens münden in das Glück des Schauen und des Lesens.

Was ich an diesem Buch so schätze? Es ist die Offenheit, die interdisziplinäre Offenheit als Programm. Der Maler Leander Kaiser ist über die Grenzen des künstlerischen Bewusstseins von seiner Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit hinaus gesprungen und hat die Dichterin Podzeit-Lütjen, eine keineswegs allen bekannte Schriftstellerin, an Bord seines Katalogs geholt – oder war es vielleicht umgekehrt? Sie hat ihn als erste angeregt, über seine Bilder lyrische Texte zu verfassen. Es kann aber auch eine gegenseitige Initiation gewesen sein, an der sie immer mehr Gefallen gefunden haben, daran sich nicht satt sehen- und hören konnten, und damit einen kongenialen Verleger überzeugen konnten. Einen Verlegers, der aus einer guten Tradition kommt , aber nun auch nur noch mit Ess-, Wellness- und Fussballbüchern einigermaßen über die Runden kommt. Darum auch ihm ein großes Lob, dass er dieses Buch verlegt hat, das ihm sicher keine finanziellen Reichtümer einbringen wird; aber dafür umso mehr Respekt der Geschichte und der Menschen, die schöne Bücher mögen, einfach mögen, Bücher, die gut tun in den Unbilden der Lebenslagen.

Halte es in der Hand, und dir geht es besser! Ein Wellness-Schlager der anderen Art. Das neue Programm des Verlags, aber mit diesem Buch auf höchstem Niveau.

Veronika Seyr

23.5.08

Incidente sul fare del giorno oder Zwischenfall im Morgengrauen

Meditation über ein Bild von Leander Kaiser

(Die Königin von Saba)

  1. Vorgeschichte:

Als ich das Bild zum ersten Mal im Jahr 2001 sah, wusste ich sofort, dass ich es haben musste. Es sprang mich an, es sprach zu mir, es krallte sich in meinen Augen fest, das war mein Bild! Es ist ein großes Bild und dem entsprechend hoch der Preis. Ich durfte es in zwei Tranchen bezahlen. Aber das war das geringste Problem. Ich wohnte damals schon 3 Jahre in Moskau und hatte keine Möglichkeit, es dorthin zu transportieren. Also bleib es vorläufig in Wien, bis ich nach etwa einem halben Jahr die Gelegenheit bekam, es mit der Übersiedlung eines Kollegen einer Spedition mitzugeben. Dann stand es sicher noch ein halbes Jahr im Keller meiner Firma, weil es für jedes mir verfügbare Auto zu groß war. Endlich fand ich einen Kleintransporter und zwei starke Männer, die den Transport in meine Wohnung für mich machen wollten. Die beiden Helfer hätten es mir auch gleich aufgehängt, ich aber hatte keine geeigneten Haken und keine Wasserwaage. So stand es, widerspenstig an die Wand gelehnt, ein paar Monate im Salon. Die Stelle war so ungünstig, dass ich es mehrmals verschob, es umdrehte und sogar in dem wenig benützen Gästezimmer versteckte, obwohl ich es gerne als mein Gegenüber gehabt hätte. Als das Bild bei mir am Kutusowskij Prospekt 7/9 ankam, hatte es eine längere und weitere Reise hinter sich, als die weiße Frau mit ihrer Sänfte. Ich meinte, sie seit Urzeiten zu kennen, und doch war sie gerade eingezogen. Gerne hätte ich sie angesehen und mich mit ihr eingelassen, aber ich spürte einen Widerstand. Kam es davon, dass das Bild seinen richtigen Platz zwischen Möbeln, Pflanzen, Lampen, Katzen, Hunden und Bildern noch nicht gefunden hatte? Warum bleibt ein Bild an einem falschen Platz ohne Wirkung? Warum wird es sogar zum Ärgernis? Bin ich ordinär oder speziell, mit einem feinen Geschmack oder geschmäcklerisch? Warum braucht jedes Bild sein eigenes Biotop? Ich nehme mir vor, einmal Leander zu fragen, ob er weiß, wie andere Liebhaber seine Bilder benutzen.

Er hat Anhänger, Fans, Sammler, aber sind die alle so wie ich Benutzer? Oder davon, dass ich mir seinen richtigen Titel einfach nicht merken konnte? Es wurde vom Künstler „Zwischenfall im Morgengrauen“ genannt, italienisch „Incidente sul fare del giorno“. Mir fiel aber dazu immer nur „Die Dämmerung“ ein. Mehrmals kam es deswegen bei Gesprächen mit Leander zu Missverständnissen über den möglichen Transport, als sprächen wir von verschiedenen Bildern. Ich sprach von der Dämmerung, er verstand nicht, Dämmerung? Dämmerung? Ich habe keine Dämmerung. Das ist das Bild mit der Frau vor der Sänfte. Ach, du meinst den „Zwischenfall im Morgengrauen“, wurde ich korrigiert. Ich stellte fest, ich hatte etwas anderes in mein Hirn übersetzt, als der Maler gemeint hatte. Ich war bei Bildern und Büchern immer schon extrem egoistisch und subjektivistisch, das störte mich nicht mehr, ich stand dazu: ich bin eine Konsumentin, eine Benützerin, eine Nutznießerin von Talenten, die etwas von mir und meinem Leben ausdrücken können. Ich habe keine verehrerische oder kunsthistorische oder sammlerische Haltung zur Kunst, sie ist für mich praktisch. Ein Lebensmittel, ein besonders, aber ansonsten Punkt um.

Erst als mir mein handwerklich begabte Katzen- und Hunde-Sitter Anatolij nach allen Regeln der Kunst das Bild am richtigen Platz aufhängte (mit Wasserwaage und den passenden Haken), kam ich dem Rätsel auf die Spur: ich hatte eine tiefe Abneigung gegen das Morgengrauen, viel mehr gegen das „Grauen“, das in ihm steckte.

Dieser Name war mir zu nahe an dem Kriegsgrauen, den stalinistischen Gräueln, dem Morgengrauen, wenn zwischen 3 und 4Uhr früh, wenn der Schlaf am verwundbarsten ist, die Gestapo oder die Tscheka oder der NCHWD seine Opfer abholen kommen, die Duelle und Abschiebungen wie die von Omafuma geschehen im Morgengrauen, der häufige Tod vor dem Morgengrauen, das Morgengrauen der Menschheit und der Vernunft, die verbotene Liebe, die Revolution vor dem Morgengrauen, die heimkehrende Nachtschicht oder die beginnende Morgenschicht, die Dämonen und das böse Erwachen im Morgengrauen. Das Blaulicht, die Razzia, die Steuerfahndung, das böse Erwachen aus den Albträumen, der müde Radio-Chat im Morgengrauen. Die Nachricht aus dem TV-Gerät: Saddam Hussein wurde im Morgengrauen gehängt. Nicht einmal der Tanz, das Spiel oder das Lesen bis zum Morgengrauen sind eindeutig positive Erlebnisse: das eine mit ungewissem Ausgang, das andere mit qualvollen Verlusten und das dritte eine Notlösung in einer schlaflosen Nacht- alle drei ohne Erlösung. Es war das Grauen überhaupt, das sich im Deutschen so tragisch mit der scheinbar harmlosen Farbe grau mischt. Wie schön, harmlos und unschuldig klingen dagegen das Italienische „sul fare des giorno“.

die griechische Eos oder die römische Aurora in unseren Erinnerungsohren. Die Engländer haben noch etwas viel Schöneres: Twilight, Midnight- Sun oder Milkman.

Die frische Milch und die Zeitung vor der Tür im Sunrise. Gar kein Grauen. Dawn ist wie Aurora ein Mädchenname, zugegeben etwas altmodisch, aber mit angenehmen Assoziationen versehen. Mit dem Schuss von der russischen Aurora soll sogar das „Morgenrot der Menschheit“, der proletarischen Revolution, ausgebrochen sein. Zumindest könnte es „Zwischenfall in der Dämmerung“ heißen, das wäre kein großer Unterschied, aber viel gnädiger.

Ich ging in meinem Salon um mit einem ungerechtfertigten Groll, obwohl das Bild nichts damit zu tun hatte. Ich gestand mir ein, dass das Bild unschuldig war, die Ungerechtigkeit lag in meinem Blick und in meiner Taubheit für das „Morgengrauen“. Warum hatte er denn nicht die milde Morgenröte oder die verhüllende Dämmerung gewählt? Ich haderte mit meiner neuen, fremden Freundin, ich verstand sie nicht unter dem Titel Morgengrauen. Da stellte ich das Bild wieder einmal für viele Tage gegen die Wand. Ich erschrecke: wie das klingt das, gegen die Wand stellen: in meinem derzeitigen Gastland sollte man nichts und niemanden mehr gegen die Wand stellen! Und noch etwas machte mich wütend: dieser perverse Anspruch von Bildern, immer da zu hängen, ich möchte doch auch nicht immer dieselbe Musik hören oder dasselbe Buch lesen!

  1. Rast

Eine Reisende macht Halt. Sie gebietet dem Chauffeur, an den Straßenrand zu fahren, damit sie aussteigen kann. Wir wissen es nicht: will sie die Landschaft betrachten oder will sie in die Büsche gehen? Will sie eine besonders schöne Aussicht fotografieren, einen Schluck Wasser nehmen aus einer Quelle, oder sich einfach nur die Füße vertreten nach einer langen, beengten Reise?

Ich weiß es nicht und sonst auch niemand. Sicher ist nur, dass sie aus der Sänfte ausgestiegen ist und um sich schaut, selbstbewusst, unabhängig ist ihr Blick, die Füße in kleinen weißen Schühchen hat sie fest in den Boden gestemmt und die Arme entschlossen vor der Brust verschränkt. Warum leuchtet der Boden unter ihr auf? Auf dem Weg ins Tal ist die Nacht noch nicht vorbei, die Laterne neben ihr brennt hell wie ein Gestirn. Fragen, nichts als Fragen. Jeder Gedanke dazu öffnet ein neues Rätsel. Warum ist ihre Kleidung perfekt weiß und faltenlos, ihr Tunika-artiges Obergewand und ihre weite Hose fallen locker um sie. Sie müssten doch nach der langen Reise in der engen Sänfte zerknittert sein. Bei jeder Frau, in jedem Gefährt. Aber bei dieser Reisenden ist alles anders. Denn sie ist keine gewöhnliche Reisende, keine gewöhnliche Frau. Woran das zu erkennen ist, das sind der Blick und die Haltung. Sie sieht mich gerade heraus an, fast herrisch, sicher aber selbstbewusst. Sie sieht mich an wie nur ein Mensch ohne Nöte und Sorgen blicken kann. Mit Sternenaugen durchdringt sie die Dämmerung. Dabei sieht sie etwas, was ich nicht sehen kann, und sie weiß etwas, was ich nicht weiß, sie sieht in die Zukunft und kennt die Vergangenheit. Vielleicht ist sie doch Eos, die Tochter des Hyperion und der Theia, die Schwester des Helios und der Selene, Gemahlin des Titanen Asträos, dem sie die vier Winde und den Morgenstern gebar. Eos, wie sie die Dichter schildern, eine herrliche, schöngelockte, rosenarmige, rosenfingrige Göttin, das Abbild der belebenden Morgenröte. In aller Frühe erhebt sie sich aus dem Lager des Okeanos und schirrt, mit safranfarbigem Mantel umhüllt, ihre Rosse Lampos = Glanz und Phaeton = Schimmer an den goldenen Wagen. Glanz und Schimmer – wie schön wäre doch dieser Name und wie passend! Die aufgehende Sonne wirft die ersten roten Flecken auf die Felsen und färbt den Himmel rosig, in dem das Grau noch nicht ganz gelöscht ist. Wie

Palimpzeste oder wieder entdeckte Fresken in den Badehäusern von Herculanäum.

3. Rätsel

Die Königin von Saba macht Halt auf dem Weg nach Jerusalem – oder ist sie schon am Rückweg? Sie hat die Wagenladungen mit Gold und Edelsteinen bei König Salomo abgeladen und ihm das Wertvollste, den Samen des Weihrauchbaumes, geschenkt. Sie hat seinem Werben widerstanden und den Heimweg angetreten. Bei Josephus Flavius ist sie die Göttin des Südens, die aus Erzählungen von Salomos Weisheit erfahren hat und zu ihm reist. In der 27. Sure des Korans wird sie selbst zur Königin der Weisheit, und die kanaanäische Tradition macht sie zur Liebesgöttin. Am Runden Tisch von Evas meistgeliebten Töchtern feiert sie die Heilige Hochzeit, die Verbindung der Engel und Dämonen, von altem und neuem Testament, von Bibel und Koran, von Vergangenheit und Gegenwart. Die Mythen sind nicht tot, nur versunken und vergessen, aber hebbar wie alte Schätze. Welche Geschichte erzählen die beiden nackten, schattenhaften Gestalten hinter der Königin? Eine Frau und ein Mann stehen vor der Sänfte und sind dabei, das Paradies zu verlassen, ohne dass wir den Racheengel zu sehen bekommen. Obwohl die Rast noch nicht zu Ende ist, halten die vier blutroten Träger die Tragestangen der Sänfte weiter auf ihren Schultern. Alles ist fraglich und in Schwebe. Welche Erzählung ist die wahre? Das größte Rätsel gibt aber der wehende Vorhang an der Sänfte auf: woher kommt dieser Luftstoß, wenn sonst rund herum alles in absoluter Unbeweglichkeit verharrt? Die Träger haben mit einem so heftigen Ruck die Sänfte hoch gehoben, dass der Vorhang ins Schwingen gerät: sie reisen ab ohne sie, sie bleibt in der Einöde zurück, weil sie nach dem gerade Erlebten nicht mehr zurückkehren kann in ihr Saba und sonst auch nirgends wohin. Sie ist nun eine Ausgestoßene. Das ist das Wissen, das sie uns schlafwandlerisch voraus hat. Es war weder vorausgedacht noch geplant, nur eine plötzliche, unumstößliche Wahrheit: sie musste in dieser Ausgesetztheit und Einsamkeit bleiben, sie würde sich nie wieder mit jemandem über ihre Lage im entferntesten verständigen können. Und genau das verleiht ihr klare Umsicht und Festigkeit des Standpunkts. Sie befindet sich mit diesen Vorkommnissen in einer neuen innerlichen Lage und ist also gleichsam ganz in diese Reise eingeschlossen, die mit dem Abschied von Salomo von hinten herandrückte; jetzt verschwang sie wie ein Vorhang, durch den man getreten war und dessen beruhigte Falten nun wieder senkrecht und reglos hingen.

Veronika Seyr

Moskau 2004

Vor 20 Jahren: Ronald und Nancy Reagan im „Reich des Bösen“

Am 28. Mai 1988 kam am Moskauer Kutusowskij Prospekt der Verkehr zum Erliegen. Auf dem breiten Mittelstreifen der 8-spurigen Stadtautobahn raste ein langer Konvoi von schwarzen amerikanischen Limousinen in atemberaubendem Tempo stadtauswärts nach Südwesten, eingerahmt von Blaulichteskorten, voran und hintennach nummernlose Zils und Taschaikas des KGB. Die Miliz zwang alle anderen Verkehrsteilnehmer zum Anhalten, sie stiegen aus ihren Moskwitschs, Schigulis und Wolgas, aus den Taxis, Bussen und Trolleybussen und reihten sich winkend ein ins dichte Spalier der Schaulustigen. Die First Ladies, Nancy Reagan und Raissa Gorbatschowa, waren unterwegs in das Dichterdorf Peredelkino, wo Boris Pasternak auf seiner Familiendatscha gelebt und den „Doktor Schiwago“ verfasst hatte. Unter Diplomaten heißt so etwas leicht abfällig „Damenprogramm“.

In den letzten Maitagen vor 20 Jahren ereignete sich eine geheime Revolution, wie die ersten kleinen, kaum wahrnehmbaren Erschütterungen tief im Inneren eines Vulkans, die genauen Beobachtern einen Ausbruch ankündigen. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan kam ins „Reich des Bösen“, wie er die Sowjetunion noch ein Jahr zuvor genannt hatte, und traf mit dem Zentralsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow zusammen. Der erste öffentliche Auftritt war ein Triumphzug für Reagan. In den Straßen um die Manege, die zum Roten Platz und in den Kreml führt, hat sich das Moskauer Volk versammelt, aber nicht nur die wie früher immer bei Staatsbesuchen abgeordneten fähnchenwachelnden Schulklassen und Fabriksbelegschaften, sondern Freiwillige, Neugierige, begeisterte Bürger. Reagan hat dem sowjetischen Protokoll mit seinen spontanen Aktionen sicher einen Kurzzeit-Albtraum bereitet, aber Gorbatschow lässt ihn gewähren. Der amerikanische Präsident steigt aus der Limousine und geht locker und breit lächelnd auf die Stars-and –Stripes-Fähnchen schwingenden Menschen zu, er wirkt von Minute zu Minute mehr von sich selbst überzeugt, die lachenden und klatschenden Menschenmassen scheinen ihn zu beflügeln. Solch ungetrübten Jubel kennt er nicht einmal von zu Hause. Im dichten Gedränge streichelt und küsst er die ihm zugereichten Babys, schüttelt die entgegengestreckten Hände, überwindet die Barrieren der beiderseitigen Geheimdienste, dringt, gezogen von der Sympathiewelle, ungerührt der Abschirmungsversuche, tief ins Spalier ein, winkt und applaudiert zurück in die Menge, die ihn mit „Ronny-Ronny“ –Sprechchören umfängt. Alles Gesten der Universalsprache der Massenhysterie. Wo hatten die Russen das gelernt? Doch nicht bei Besuchen eines Schivkov, eines Honecker oder eines Fidel Castro. Ein Präsident zum Anfassen. In den Schulen schreiben die Kinder später Aufsätze: „Der erste Amerikaner meines Lebens.“ Die Herzen fliegen ihm zu, zusammen mit roten Nelken, Tulpen- und Fliedersträußen, rote Luftballons stiegen in den blauen Moskauer Himmel, ganz Moskau ist verliebt in den obersten Imperialistenchef, den amerikanischen Präsidenten. Reagan wirkt absolut natürlich, als hätte er das immer schon so gemacht, als wär`s ein Heimspiel. Ein politisches Naturtalent, dieser Hollywood-Schauspieler auf dem Präsidentenstuhl. In Russland kommt er an. Welcher verrückte Regisseur hat das hier inszeniert? Aber es passierte ganz einfach, die Zeit war reif dafür. Gorbatschow und Raissa halten sich immer dicht an seiner Seite, steif und säuerlich lächelnd, keiner der Zurufe gilt ihnen. Man kann Mitleid haben mit den beiden, als wohlmeinenden Verkannten. Das war der erste, kollektiv-individuelle Ausbruch von Gefühlen, Sympathien und spontanen Meinungsäußerungen der Sowjetbürger, lange bevor ganz Deutschland von Gorbi-Gorbi-Rufen widerhallte. Wer von den Russen damals dabei war, erinnert sich daran als historischen Moment. Erschütterungen im Inneren eines Vulkans, die ersten feinen Haarrisse an der Oberfläche.

In Peredelkino bricht Nancy Reagan auf ihre Art das Eis. Beim Rundgang durch die Dichter-Datscha gesteht sie, dass sie Pasternak verehrt, aber in Omar Sharif verliebt ist, den Dr. Schiwago fünfmal gesehen hat, weil sie sich an seinen Augen nicht satt sehen kann: „He is so sweet, with his dark, soft eyes, I could feel the russian soul“, wird sie nicht müde, der Philosophie-Professorin Raissa Gorbatschowa und den Mitgliedern des Damenprogramms zu versichern. Was Nancy Reagan wahrscheinlich nicht wusste, war, dass die Russen den verfemten Roman erst seit gut einem Jahr in Händen halten können, dass sie ihn viel weniger schätzen als die Gedichte und dass sie die Verfilmung für ein übles Hollywood-Machwerk ansehen würden, wenn sie sie im Jahr 2 von Glasnost und Perestroika überhaupt schon gekannt hätten. Aber welch weiter Weg war seit 1958 zurückgelegt worden, als Pasternak den Nobelpreis nicht annehmen durfte, dafür aber mit einer der primitivsten und bösartigsten Hetzkampagnen überschüttet wurde. „Volksfeind“,“Verräter“, „Agent des Imperialismus“. Im Dezember 1989 wird sein Sohn Jewgenij Borisowitsch stellvertretend nach Stockholm reisen und nachträglich den Nobelpreis für Literatur 1958 in Empfang nehmen.

An der Wand des Pasternak`schen Esszimmers ist ein Foto zu sehen, das den Dichter im Kreise seiner Familie und der engsten Freunde zeigt, in jenem glücklichsten Moment, als er die Nachricht von der Zuerkennung des Nobelpreises erhält. „Der Preis ist nicht für mich, sondern für mein Land“, wird als sein Kommentar überliefert. Pasternak hat danach nicht mehr lange zu leben, sein Lungenkrebs ist weit fortgeschritten, er verweigert jede Behandlung und begibt sich bewusst in seine Todeskrankheit hinein. Er stirbt auf dem schmalen Diwan in seinem Arbeitszimmer, mit dem Blick durch das Fenster auf seinen geliebten Obstgarten hinaus.

Es war auf den Tag genau 28 Jahre später, dass Nancy Reagan Pasternaks Sterbezimmer stand. Ein Bad in der Menge und ein Besuch beim Dichter – auch das kann große Politik sein.