Mittwoch, 16. Juni 2010

Russen im Wald

Obwohl es keinen zwingenden Zusammenhang gibt, muss ich doch vom letzten Muttertag reden, um meine Geschichte los zu werden.
Dieser 9. Mai war einer der wenigen Sonnentage im kalt-verregneten Horrormonat des Jahres
2010, der mich schon so lange und schmerzhaft von der Gartenarbeit angehalten hatte. Von den ersten Sonnenstrahlen an grub ich die feuchte Erde um, jätete Unkraut, setzte Samen und Pflanzen, hantierte mit Spaten, Rechen, Kralle und Setzholz, und gönnte mir nur kurze Pausen. Einmal richtete ich mich auf, um die sich in den Bäumen jagenden Eichkatzerl zu beobachten, ein andermal, um den hysterischen Eichelhähern in den Erlenwipfeln nach zu blicken, und am Teichrand sah ich eine Taube Wasser trinken. Auf meinem einsam gelegenen, rund herum vollkommen zugewachsenen Waldgrundstück ist kaum jemals ein menschlicher Laut zu hören, ausgenommen vielleicht samstags die Geräusche eines nervtötenden Rasenmäherterroristen, eines kreischendes Mopeds oder eines notorischen Kläffers von unten aus der Hinterbrühl herauf. Tief in meine Gärtnerarbeit versunken, das irische Volkslied „Down by the Sally gardens“ aus der letzten Chorprobe als Ohrwurm im Kopf – 3 Strophen sollen wir auswendig können für unser 1. Konzert –dringen da am frühen Nachmittag Frauenstimmen in mein Bewusstsein, so laut und so nahe, als würden sie sich in meinem Garten befinden, ich bin irritiert, das hat es noch nie gegeben, so eine eklatante Ruhestörung. Erst versuchte ich sie zu ignorieren. Aber allmählich schwoll der Redestrom jenseits des Waldes so an, dass ich aus meiner „Sally-gardens“-Meditation… „my love and I did meet“ aufgeschreckt wurde. Das machte mich neugierig auf die Stimmenquelle. Ich ging näher an den Zaun heran, hinter dessen Grünstreifen eine Wiese liegt, eigentlich nur eine verwilderte Weinriede mit einer Bank am oberen Rand, wie ich von meinen Spaziergängen wusste, eine Wienerwald-Idylle.
Da der Frühling in diesem Jahr spät gekommen war, hatten Bäume und Unterholz erst spärliche Blätter angesetzt. Das durchsichtige Grün der Ahorne, Akazien und Goldregenbüsche erlaubte mir eine gute Aussicht auf die Wiesenbank. Keine 10 Meter von mir entfernt entdeckte ich zwei Frauen: die alte in einem geblümten Kleid saß still auf der Bank, die andere, vielleicht 40jährige, sehr dicke in prallem T-Shirt und Leggings, lief aufgeregt vor ihr auf und ab und redete dabei auf die Sitzende ein. Was sage ich, sie schrie in Überlautstärke, sodass ich deutlich verstehen konnte, dass sie sich auf Russisch unterhielten. Was heißt unterhielten! Ein handfester Streit zwischen Mutter und Tochter, brach die Junge doch mit jedem Atemzug in ein „Maam“ aus, sie schrie es, kreischte, drohte, bellte und flüsterte dieses „Maam“ in ihre Sätze hinein und drosch damit auf ihre Mutter ein wie auf einen punching ball. Ich kauerte in den Büschen auf meiner Seite des Wäldchens und hatte Gänsehaut am warmen Nachmittag. Ging es doch um nicht mehr oder weniger als um Sein oder nicht –Sein, wer sein, wo sein, was sein, um Hierbleiben oder Auswandern, um Leben und Überleben. Es war eindeutig, die beiden Frauen sprachen russisch, waren Russinnen, Moskauerinnen, jüdische Russinnen, offenbar seit einiger Zeit Asylwerberinnen in Österreich; die Mutter wollte weiter nach Israel auswandern, die Tochter in Österreich bleiben und um ihr Asyl kämpfen. Aber welche Geschütze wurden da aufgefahren, welches Ringen! Die ganze Palette des jüdisch-sowjetisch-russischen Diskurses rollten sie vor mir auf, durch den Wald und durch die Büsche, als Speerspitze immer das gleiche trompetenartige „Maam“ und in Variationen das leisere, flehende „Zhenja-Zhenka-Liebling-Täubchen-Töchterchen“ von der Bank her.


Maam, um Gottes Willen, was willst du in Israel? Was sollen wir dort?
Zhenja-Täubchen, da leben wir unter unseren Vorfahren, wir kommen in unsere Heimat zurück.
Maam, was hast du denn mit denn immer mit den Vorfahren? Deine Vorfahren sind aus Weisrussland, aus dem Städtl, und die von Pap aus Odessa. Und kommen tun die überhaupt nicht mehr von irgendwo, weil sie in Auschwitz und Treblinka geblieben sind. Maam, und du, du und deine Familie überhaupt, ihr seid aus Taschkent, Maam, ihr habt wahrscheinlich mehr usbekisches als jüdisches Blut in euch!
Die Mutter sackt wortlos in sich zusammen, als hätte sie einen Stoß vor die Brust bekommen. Ich habe Mitleid mit der alten Frau, die sich jetzt ihr zerknülltes Taschentuch an die Augen drückt. Ich verstehe, dass die Eltern im Krieg mit ihren Betrieben in diese zentralasiatische Republik evakuiert worden waren und erst nach der Wende nach Moskau zurückkehren konnten. Die Tochter, unbeeindruckt vom Zustand der Mutter, setzt ihre Argumentation fürs Hierbleiben unvermindert fort. Im Gegenteil, sie wird noch lauter, heftiger, wütender, je mehr sich die Mutter unter ihren Worten windet. Obwohl ich mit allen Pros und Contras in der russischen Debatte übers Auswandern oder Dableiben seit langem vertraut bin, ist mir meine Position als Horcher – nicht am Schlüsselloch, nicht an der Wand, sondern im Wald furchtbar peinlich. Aber sie sind so laut, dass ich mich ohnedies nirgendwohin retten könnte. So breiten sie- vermeintlich allein - immer mehr Intimitäten vor mir aus. Haben sie sich doch sicher auf dieses einsame Waldplätzchen zurückgezogen, um sich endlich einmal und vielleicht endgültig aussprechen zu können, was ihnen auf dem Herzen lastet und in der Seele brennt.
Zhenka-Liebling, du bist so hart, ich vertrag das nicht. Sei nicht so streng mit mir, ich bitte dich, das geht an mein Herz.
Maam, ausgerechnet du willst nach Israel, Maam, das ist lächerlich. Du hast dir nie etwas aus dem Judentum gemacht, du weißt nicht einmal viel darüber, und das Wenige hast du immer abgelehnt, wie die Feiertage oder die Essensgebote. Du wolltest immer nur eine gute, unauffällige Sowjetbürgerin sein. Maam, du und Pap habt mich auch so erzogen. Ich habe keine Lust auf dieses komische Land, das ist dort der reinste Orient und noch dazu dauernd im Krieg. Ich will in Europa bleiben. Wenn wir irgendetwas sind, dann sind wir Russen und somit Europäer. Ich will frei reisen können und nur normal leben wie jeder andere Europäer auch. Ich habe diese ewige Sonderstellung so satt, immer das Anderssein, das Ausgeschlossensein, das wer Besonderer sein, so oder so, besser oder schlechter, von der einen oder der anderen Seite aussortiert zu werden. Maam, du kennst das ja auch, hast du es vergessen? Maam, ich flehe dich an, hör auf mit diesem Unsinn von Israel zu träumen, das ist dumm, kindisch, du hast deine fünf Sinne nicht mehr zusammen, Maam, Maam, hör auf mich!

Das kam jetzt mehr wie ein Schnauben denn als eine familiäre Anrede. Und obwohl sich Zhenka wie ein Berg vor ihrer Mutter aufbaute und auf die kleine, gekrümmte Gestalt herunterredete, machte diese doch immer wieder einen tapferen Versuch, ihre Tochter zu überzeugen. Sicher hatten sie seit Jahren schon alle Für und Wider durchgekaut, aber jetzt stand vielleicht eine Entscheidung an, war meine Vermutung. Vielleicht ist wieder ein negativer Asylbescheid herein geflattert und es musste ein Beschluss gefasst werden. Ich wollte doch langsam auf meine unsichtbare Zeugenschaft aufmerksam machen und räusperte mich, damit sie mit ihren Geheimnissen etwas vorsichtiger umgingen. Aber die beiden Frauen waren zu sehr mit sich beschäftigt, die Tochter so laut und wütend, die Mutter so sorgenvoll und verzweifelt, dass sie meine Anwesenheit im Waldstreifen nicht bemerkten. Außerdem wähnten sie sich offensichtlich an diesem Ort in der Waldeinsamkeit absolut sicher, darum hätten sie ihn ja wohl aufgesucht, dachte ich hier auf meiner Seite des Zaunes. Von ihrer Seite sah der Wald ja nur wie eine grüne Wand aus, Garten, Teich, Hütte, Mensch blieben für sie unsichtbar.
Maam, trompetete jetzt wieder Zhenja, hör auf Maam, Maam, du willst noch immer nicht die Augen aufmachen und die Ohren. Schau dich um, wo du bist, Maam! Hast du vergessen, was uns Tanja und Anatolij geschrieben haben, wie es ihnen ergangen ist nach ihrer Ausreise nach Israel, in ihr Traumland? Zuerst Lager, Lager, nichts als Lager in der Wüste, dann eine Schuhschachtelwohnung an der Mauer, wo die Palästinenser jeden Tag Raketen herüber schießen, wie verloren sie sich fühlen und Heimweh nach Russland haben, wie schwer es ihnen fällt, hebräisch zu lernen in ihrem Alter, von einer winzigen Staatshilfe leben, ein Gnadenbrot für die armen Einwanderer, und mit rassistischen Russen müssen sie zusammen leben, auf der Straße fürchten sie sich, im Bus haben sie Todesangst und in die Geschäfte trauen sie sich kaum, für Restaurants haben sie eh kein Geld. So sieht der Albtraum vom gelobten Land aus, so und nicht anders, Maam. Willst du das auch, Maam, ja willst du das? Ich nicht, ich gehe dort nicht hin, um keinen Preis der Welt.
Zhenka, Töchterchen, ich weiß, ich weiß, aber hier sind wir im Land von Hitler und der Massenmörder, im Land der Täter, und da sind noch immer alle Nazi, da sind der Gajdar und der Schtrachow –
Maam, du bringst alles durcheinander, wie oft habe ich dir schon gesagt, du bist jetzt in Avstrija, das sind andere hier, der Gajdar war Jelzins erster Ministerpräsident, selbst ein Jude, und er hats nicht einmal gewusst, bis ihn unsere guten Russen liquidiert haben mit ihren antisemitischen Argumenten.
Zhenja-Täubchen, versteh mich, das hört doch nie auf hier.
Maam, du hast eine Paranoia, immer schon gehabt, genauso wie Paap. Immer waren überall die Verräter, die Feinde, die Gegner hören immer mit, ihr habt mir damit das Leben vergällt und vergiftet, halb irre gemacht. Ich will endlich normal leben, leben ohne Feinde, verstehst du das?
Zhenja, du wirst hier immer Feinde haben.
Maam, warum soll ich Feinde haben, Maam, ich brauche keine Feinde, hier brauchen wir keine Feinde, weil sie wir nicht brauchen, verstehst du? Ich halte das nicht mehr aus, ihr mit eurer Paranoia habt mir mein ganzen Leben verdorben, immer schon, früher in der Sowjetunion waren es die Verräter und Volksfeinde, dann die Kapitalisten und Demokraten, jetzt sind es die Antisemiten aller Länder.
Zhenjenka, hast du vergessen, dass du als Jüdin nicht dein Wunschstudium wählen durftest, du wärst doch so gerne Philologin geworden…
Ja, Maam, du hast recht, sie haben mich zum Chemiestudium gezwungen, aber damit bin ich letzten Endes gut gefahren, habe ein Job, bin nicht brotlos geblieben wie du und Paap, ich habe damit die ganze Familie ernährt und werde auch hier eine Arbeit finden.
Liebchen, aber du wirst hier immer die Ausländerin und Jüdin bleiben, in Israel wären wir unter uns…
Eine Explosion aus breiter Brust und tiefem Bauch erfüllt den Frühlingswald und die Wiese:
Maam! Unter uns?! Was hast du gemeinsam mit den Juden, nie hattest du etwas damit auf dem Hut, du hast mich nicht so erzogen, du hast dich nie an irgendwelche jüdische Regeln
und Gesetze gehalten, du warst nie eine Jüdin, du hast mir nichts davon erzählt, ihr wart nur brave Sowjetbürger, Maam, pass auf, was du sagst, das ist so dumm. Deine Schwestern sind Mascha und Galina, dein Bruder ist Mischa und mein Vater ist Ivan, wir haben kein einziges Salomonowitsch der Avramowitsch im Vatersnamen.
Zehnka, schau dir doch die Situation realistisch an, man will uns hier nicht, wir werden nie ein Asyl bekommen, sie haben uns doch schon dreimal geschrieben, dass es für uns hier keinen Asylgrund gibt, weil wir in Russland nicht verfolgt werden, sie werden uns sicher bald abschieben, wenn wir nicht schnell nach Israel gehen, freiwillig.
Maam, wer unrealistisch ist, das bist du! Dass ich nicht lache, die wollen uns in Israel? Der Rassist Libermann will uns als Stimmvieh, ja der will uns, aber sonst niemand, und die
Armee will die Jungen, ja die auch, als Kanonenfutter und damit sie noch mehr Araber umbringen können….
Zhenka-Täubchen, du versündigst dich, flehte die Mutter, du wirst dort eine gute Arbeit bekommen, in einem modernen Labor arbeiten, du bist gut ausgebildet, Experten können sie immer brauchen, wir werden einen Pass bekommen und reisen können, die Welt anschauen, nach Russland auf Besuch fahren, in die USA…
Maam, hör zu, unterbrach sie die Tochter, ich brauche keine USA und auch kein Moskau mehr, ich will in Europa bleiben, das ist unsere Kultur, überall sonst sind wir fremd, punktum. Ich will nicht nach Asien, in den Orient, wir gehören dort nicht hin und wenn wir zehnmal Juden sind. Du hattest schon einmal einen jüdischen Pass, den roten sowjetischen mit dem Jot in der 5. Zeile (Jewrej = russ. Jude in der Zeile für Nationalität, V.S.) Hast du das vergessen? Irgendwann werden wir einen europäischen Pass haben und wie normale Menschen leben. Unser Platz ist hier, hier, hier!
Und dabei stampfte sie mit dem Fuß so fest auf die Erde, dass die Mutter auf der Bank ängstlich ihre Arme vor der Brust verschränkte, als fürchte sie Schläge.
Maam, die Leute von der Gemeinde werden uns helfen mit den Österreichern, sie werden einen Weg finden, dass wir dableiben können. Es sind nicht alle für die Ausreise nach Israel, du wirst schon sehen, vertrau mir, ich mache alles, aber du musst es auch wollen, wir müssen an einem Strang ziehen, sonst sitzen wir bald in der Wüste Negev oder im Bunker unter palästinensischen Raketen. Da hätten wir ja gleich nach Grosny gehen können.

Das Streitgespräch dauerte nun schon an die zwei Stunden, es drehte sich immer schneller im Kreis, ich glaubte, genügend gehört zu haben, um die Lage zu durchschauen; jetzt war wieder die Sicherheit dran, und die Mutter verbiss sich wieder in ihre Nazi-Angst vor den Österreichern, ihren Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit.
Steht ja alles in den Zeitungen, Zhenka, das kann man doch jeden Tag lesen hier.
Alles schmetterte die Tochter jedoch ab mit dem Kriegszustand im Nahen Osten.
Maam, in Israel kommst du nicht einmal aus dem Bus lebendig heraus, ist dir das lieber als ein paar dumme Bemerkungen oder schiefe Blicke, ja, ist dir das lieber, Maam?
Die Mutter hatte keine Chance gegen die Übermacht der Tochter, nicht nur argumentativ, sie war jung, kräftig, gebildet, kämpferisch und willensstark, sie würde sich und ihre Pläne durchsetzen, vermutete ich. Außerdem sollte ich wieder an meine Arbeit gehen, Wolken waren inzwischen aufgezogen, bald würde es wieder Regen geben in diesem schrecklichen Mai, und ich hatte doch noch so viele Pflanzen zu versorgen. Da mein Räuspern und Husten nichts gefruchtet hatten, verfiel ich auf den Gedanken, mich mit einem russischen Kinderreim bemerkbar zu machen. Mit diesem lernen Russisch-Anfänger in der1. Lektion das schwierige harte y und das stimmlose sch auszusprechen.
TYSCHE MYSCHE, KOT NA KRYSCHE! (Stille Mäuschen, die Katze ist auf dem Dach!)
Ohne viel nachzudenken fand ich das eine unschuldige und sogar recht witzige Idee. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und legte sie in die Stimme, als ich hoch aufgerichtet und lautstrak in den Wald jenseits des Zaunes hinein rief: Tysche mysche, kot na krysche!
Da geschah etwas völlig Unerwartetes: Wie vom Blitz getroffen, sackte die alte Frau auf der Bank in sich zusammen und kippte zur Seite. Ich glaubte sogar, einen Seufzer gehört zu haben. Dieses Unglück, hatte sie doch mit ihrer Sowjetparanoia recht behalten haben?
Die Tochter sprang wie ein wildes Tier links und rechts von der Bank hin und her, schaute unter und hinter sie, riss ihren Kopf zum oberen und seitlichen Waldrand (meinen, aus dem die Stimme gekommen war) hin und drehte sich dann wieder ins Tal, zur Wiese, die völlig frei und offen vor ihr lag, keine Menschenseele weit und breit, nur die sonnige Frühlingswiese und seitlich die hellgrünen Weinrieden, die die ersten Triebe angesetzt hatten, ganz durchsichtig lagen sie da in ihren schönen Reihen den Hügel hinunter. Jetzt zerrte sie ihre Mutter von der Bank hoch, nahm sie am Arm und zerrte sie den leichten Abhang hinunter, sich immer wieder nach allen Seiten umwendend und wie rasend den Kopf schüttelnd. Sie verstand die Welt nicht mehr. Sollte die Mutter wirklich das bessere Gefühl haben für dieses Land, in dem sogar noch im unschuldigsten Frühlingswald und zwischen den jungen Weinstöcken russische Spione sitzen, die sie, die Auswanderer, belauschten? Großer Gott, welche schreckliche Welt!
Jetzt verschwanden die beiden Frauen, den Hang hinunter stolpernd, aus meinem Blick, Zhenja zog die ihre Mutter mehr hinter sich her, wie diese sich kaum auf den Beinen halten konnte. Und ich stand da zwischen meinen Salatpflanzen, Bohnenstangen und Rosenbüschen mit rasendem Herz, es sprang mir fast aus der Brust und mir wurde heiß. Erst im Schock über die Reaktion der Frauen schoss mir die zweite Bedeutung des Kindersprüchleins für gelernte Sowjetbürger in den Sinn, dass mit diesem „Tysche mysche“- den Finger am Mund – eine wichtige Warnung gemeint war, in der Stalinzeit und auch noch später, dass man nicht sprechen dürfe, weil jemand mithören könnte, in der Wohnung, am Korridor, in der Metro, überall. Welche Panik muss ich bei diesen Frauen ausgelöst haben, dachte ich reuevoll und beschämt, und: wie mag wohl ihre Entscheidung ausgefallen sein? Diese Frage beschäftigte mich nun mehr als die weiteren Textzeilen der Sally gardens.



Wien bei Gießhübl, 9. Mai 2010

Über Peter Demant

Der älteste österreichische GULAG-Insasse Nr. 3-1-504

Die russische Pelzmütze ist tief in die Stirn gedrückt, die Ohrenklappen baumeln über den hohlen Wangen, aus dem totenkopfartigen Gesicht ragen eine schmale, leicht geschwungene Nase und ein markantes Kinn hervor, auch der dicke Stoffmantel kann die erschreckende Magerkeit des Körpers nicht überdecken, so steht er da, leicht vorne über gebeugt und trotzdem aufrecht, dabei hält er sich an einem Geländer fest und blinzelt in die Sonne, den Blick auf die gleißenden Bergketten nach Süden gerichtet. „Schön“, sagt er fast ohne Atem –
„Innsbruck ist schön.“ Das ist mein letztes Foto von Peter Demant, aufgenommen an einem strahlenden Märztag Anfang 2005 auf der Bergstation des Hafelekar hoch über Innsbruck, seiner Geburtsstadt. (Foto von V.S.) Eine Rückkehr nach 85 Jahren. Der verlorene Sohn ist eine Woche lang Ehrengast von Bürgermeisterin Hilde Zach.

Ich lernte Peter Demant 1998 in Moskau kennen, einen beständigen und eifrigen Besucher der Österreich-Bibliothek und Zuhörer bei den Lesungen von österreichischen Schriftstellern. Wegen seiner Schwerhörigkeit saß er immer in der ersten Reihe, direkt gegenüber dem Autorentisch, er hielt zum besseren Verständnis seine Hände hinter die riesigen Ohrmuscheln seines kahlen Kopfes, sodass sie über seinem gekrümmten Rücken Trichter bildeten. Aber auch ohne diese Haltung wäre er aufgefallen. Dieser alte Herr war immer besonders gepflegt und ausgewählt gekleidet, mir fiel seine in Moskau unbestimmbare Extravaganz auf, die ich keinem bekannten Stil, keiner Zeit und keiner Gesellschaftsschicht zuordnen konnte. Ein turgenjewscher oder tschechowscher Landadeliger vielleicht, der sich auf den Weg in die Stadt macht? Er war charmant und warmherzig, aus den Runzeln strahlten immer noch die bergführerblauen Augen, und trotz seines dürren, eingefallenen Körpers schien eine große Kraft von ihm auszugehen; Leben, Alter und Schicksal hatten nicht ganz auslöschen können, was man früher Schönheit genannt hätte. Seinen Hemden, Sakkos, Krawatten und Schuhen sah man bei aller bemühten Gepflegtheit die Herkunft aus viel früheren und sehr anderen Zeiten an. Wie ein eingefrorener Posthornton, altmodisch, zeitlos und rätselhaft. Alles an ihm schlotterte, der Hemdkragen zu weit, die Schultern zu breit, eine goldene Kette verschwand in der rechten Brusttasche, Uhr oder Lorgninon? Das seidene Gilet unter dem karrierten Sakko war extra mit einem Gürtel zusammen geschnürt, die Hosen mit hohen Stulpen, sogar die immer blanken Schuhe mussten dicke Socken ausfüllen, und bei seiner lebhaften Gestikulation drohte der schwere Siegelring immer vom knochendürren Finger weg zu fliegen. Besonders bewunderte ich seine abwechslungsreichen Strickkrawatten, die immer ein gesticktes Edelweiß, einen Enzian oder sonst ein alpines Signal trugen. Und das war noch nicht das Augenfälligste an ihm. Er nahm lebhaft teil am üblichen Frage-Antwort-Spiel nach Lesungen und Vorträgen, mit einer leisen Stimme sprach er klar strukturiert, fast druckreif, und er erfasste die Themen mit der kühlen Logik eines Wissenschaftlers. Aber Tonfall und Stil seines perfekten und immer gewählten Deutsch konnte ich nirgends einordnen: Prager- oder Budapester-Deutsch? Und dann war da noch ein leichter Tiroler Einschlag, bei allem klang etwas Altes, Halbfremdes-Halbvertrautes mit. Später, als wir besser miteinander bekannt wurden, wagte ich die Frage zu stellen: das sei das Bukowina-Deutsch. So könnten Paul Antschel und Rose Ausländer geklungen haben, Bruno Schulz und Gregor von Rezzori. Dieser alte Herr erwies sich als glühend interessiert an allen Fragen über Österreich und äußerst belesen in klassischer wie in neuester österreichischer Literatur, war er doch selbst schriftstellerisch tätig und gleich gut zu Hause in acht (8!) Sprachen.

Peter Demant wird am 18. August 1918 in Innsbruck in eine k.u.k. Adelsfamilie geboren, sein Vater ist der Generalstäbler Sigmund von Demant, eingesetzt an der italienischen Front, seine Mutter entstammt einer Wiener Großbürgerfamilie, sein Taufpate ist der Schriftsteller und Verleger Ludwig von Ficker. 5 Jahre irrt die Familie Demant mit wachsender Kinderschar durch die Reste der Donaumonarchie, bis der Vater bei der neu geschaffenen königlichen Armee Rumäniens als Instruktor anheuert. Wie schon in Tirol ist er dort zuständig für die Gebirgsausbildung, und die Familie siedelt in den Nordwesten über. Nicht weit von dort, in Czernowitz besucht Peter das deutsche Gymnasium, zwei Klassen unter ihm sitzt ein gewisser Schüler Antschel, der später als Paul Celan zu Ruhm kommt. Sie kennen sich nur von ferne. Peter studiert in Aachen und Brünn Maschinenbau und kehrt nach dem Abschluss 1939 nach Czernowitz zurück- eine schicksalsschwere Entscheidung, wie sich bald zeigen sollte. Als die Sowjetunion 1940 Rumänien besetzt, werden die Demants als feindliche Ausländer in sowjetische Arbeitslager verschleppt. Peter muss bei Tomsk im Südural in der Landwirtschaft und in einer Papiermühle Zwangsarbeit leisten, die Geschwister entkommen nach Westeuropa, seine Eltern kommen in verschiedene andere Lager, von ihrem Tod erfährt er erst 30 Jahre später. Schon nach dem Kriegsende, am 27. Juli 1945, wird Peter Demant denunziert, ein österreichischer Spion soll er sein. Das Militärtribunal der Tomsker Garnison verurteilt ihn ohne Prozess nach Artikel 58 – 1a, 10, 11, 14 (Vaterlandsverrat, antisowjetische Propaganda, Gruppensabotage) des sowjetischen Strafgesetzbuches zu 13 Jahren GULAG. Die Nummer 3-1-504 wird er von nun an auf seinem Sträflingsanzug tragen. Jetzt folgt Zwangsarbeit in Blei- und Goldminen, in den Zinnaufbereitungsanlagen von Kolyma und Magadan, den schrecklichsten Orten im Fernen Osten. Fast gelingt ihm einmal die Flucht, bis er knapp an der chinesischen Grenze aufgegriffen und ins Lager zu verschärfter Haft zurück geschafft wird, zwei seiner Kameraden sterben an Erschöpfung, einer wird zu Tode geprügelt. Bei minus 50-60 Grad muss er in einer Kalkbrennerei arbeiten, im Freien und in erbärmlich dünner Häftlingskleidung. Da erkrankt er an der schrecklichen Silikose, der Staublunge, die ihn nie wieder loslassen sollte. Er magert zum Skelett ab, der über 1,80 große, sportliche Mann wiegt nur noch 45 Kilo. (Foto aus Wikipedia)
Wie und warum hat er überhaupt überlebt? „Wenn es nicht der höhere Ratschluss war, mich am Leben zu erhalten“, erzählt mir der 87 Jährige beim Abendessen im Goldenen Dachl mit verschmitztem Lächeln, „dann war das die spartanische Erziehung durch meinen Vater und unsere gemeinsame Liebe zu den Bergen. In den 1920er und 1930er Jahren haben wir fast jeden Gipfel Europas bestiegen oder mit Schiern befahren. Ich dachte nicht, dass mir das einmal das Leben retten würde.“ Und noch etwas muss für ihn lebenserhaltend gewesen sein, zieht er in Erwägung: Er erhielt eine profunde klassische Bildung und wusste viele literarische Texte auswendig; so konnte er seine Mithäftlinge unterhalten, die Erzählung eines Shakespeare-Stückes oder einer Tiroler Sage, des Kampfes von Andreas Hofer gegen Napoleon oder einer Schiller`schen Ballade für eine Brot- und Grützeration eintauschen, und darüber verlor er nie die Hoffnung. „Wenn das passiert, ist man schneller tot als eine Fliege“. Bis zum Ende seiner GULAG-Zeit muss er als Träger malochen. Einmal hat er ausgerechnet, dass er mit schweren Lasten auf dem Rücken eineinhalb Mal den Äquator umrundet und dabei wahrscheinlich die Hälfte der Erdkugel geschleppt hat. Im August 1953, 6 Monate nach Stalins Tod, wird er aus dem GULAG entlassen, bleibt aber in Verbannung in Sibirien. Das Tomsker Urteil beinhaltet auch das Verbot, sich in Städten des europäischen Teils Russlands nieder zu lassen (nicht anders als es den Dekabristen nach 1825 erging), sodass er erst 1978 nach Moskau kommt; zusammen mit seiner russischen Frau Irina Wetschnaja (russ. die Ewige!) bezieht er eine herrschaftliche Wohnung im Zentrum, eine Erbschaft von Irinas Vaters, der unter Stalin ein hoher Militär war und wie durch ein Wunder alle Säuberungen überlebte. Wenn er diese Geschichte erzählt, beginnt Peter Demant zu strahlen, die Falten glätten sich und das Gesicht leuchtet auf wie in einem Sonnenkranz, nicht nur weil er in Irina seine große Liebe, treue Gefährtin und strenge Lektorin gefunden hat, sondern er amüsiert sich köstlich über die Ironie des Schicksals: welcher andere Ex-Häftling hat schon eine Generalstochter geheiratet und ist aus dem GULAG in eine Generalswohnung übersiedelt? Von jetzt an arbeitet er fieberhaft an seinen Erinnerungen und veröffentlicht unter dem Pseudonym Vernon Kress sieben Bücher: über seine Jugend in Czernowitz, über sein Lagerleben, historische Romane a la Walter Scott und Kinderbücher a la J. F. Cooper. Gleich nach der Wende beantragt er einen Auslands-Reisepass und macht sich auf in die weite Welt, von der er mehr als 50 Jahre lang abgeschottet gelebt hatte; in ausgedehnten Reisen besucht er Europa und die USA und schreibt darüber drei Reisebücher. Er engagiert sich bei „Memorial“, der russischen Organisation zur Aufarbeitung des Stalinterrors, und bereist Russland mit Vorträgen über seine Lagerjahre. Zu seinen bittersten Erfahrungen gehört es, dass das Interesse an der jüngsten Vergangenheit gering ist: „Russland ist noch nicht bereit, sich selbst in den Spiegel zu schauen“, stellt er einmal fest, „das ist schwer zu ertragen und wie eine zweite Verurteilung.“ Schon in der ersten Demokratisierungs-Welle unter Boris Jelzin wird er 1991 offiziell rehabilitiert.
Bei den Gesprächen mit Peter Demant, die ich entweder in seinem bis unter die hohe Decke mit Büchern angefüllten Arbeitszimmer (Foto von V.S.) oder im Cafe de Vienne am Patriarchenteich im Zentrum Moskaus führte, fiel mir immer seine Fröhlichkeit auf, die unerschütterliche Gelassenheit gegenüber seinem Schicksal und die vollständige Abwesenheit auch nur eines Hauches von Bitterkeit. Er hätte die Sowjetunion verlassen können, als seine Verbannung aufgehoben wurde, nein, er blieb und wurde Staatsbürger des Landes, das sein Leben zerstörte. Aber nicht doch, protestiert er, so dürfe man das nicht sehen, die Menschen in der Sowjetunion sind die ersten und größten Opfer des GULAG-Regimes, er kann und will sie nicht beschuldigen, Schuld sei immer nur konkret und persönlich. Er habe in den Lagern und in der Verbannung die Hölle kennen gelernt, aber auch die wunderbarsten Menschen, er fühle sich reich beschenkt und müsse nichts bedauern.
Als er entlassen wurde, verfasste er für die zurück gebliebenen Kameraden ein Liederbuch, dem er ein Gedicht von Francois Villon voranstellte (Foto von Memorial auf Wikipedia).

Man schlage ihnen ihre Fresse ein
Mit schweren Eisenhämmern.
Im Übrigen will ich vergessen
Und bitte sie, mir zu verzeih`n.

Die 3 Bände seiner Lager-Aufzeichnungen „3-1-504 – Das Dekameron des XX. Jahrhunderts“ hat er allen Menschen gewidmet, die so wie er unschuldig in den „großen Fleischwolf“ – so nannten die Häftlinge das GULAG-System“ - gerieten.

Nicht nur, dass ich Peter Demant nie ein schmähendes Wort über die Sowjetunion äußern hörte, war er emotional so diszipliniert, stark und weise, dass er je dem Verlust seiner beiden Heimaten, Österreich und Rumänien, nachtrauerte.
Obwohl das Thema zwischen uns nie berührt wurde, meinte ich heraus spüren, dass er gegen die Zuerkennung der österreichischen Staatsbürgerschaft nichts einzuwenden hätte. Also stellte ich im Namen des Botschafters bei der Tiroler Landesregierung einen entsprechenden Antrag, der von einem Referenten kurz angebunden abgelehnt wurde: Herr Demant habe keinerlei Verdienste um die Republik Österreich vorzuweisen und könne daher nicht in den Genuss einer österreichischen Staatsbürgerschaft kommen, was ja auch vollkommen der Wahrheit entspricht.
Die Einladung der Innsbrucker Bürgermeisterin im März 2005, die er noch schwer krank als 87-Jähriger absolvierte, empfand er als freundlich, tröstlich und hat ihn tief gerührt. Glücklich war er über das große Interesse seiner zahlreichen Zuhörer an seiner Lebensgeschichte, der Studenten an der Uni, der Besucher im Kulturgasthaus und der örtlichen Medien. So wurde sein Besuch zu einer richtigen Heimkehr, auch ohne österreichischen Pass. Jelzin war da auf seine Weise schneller.
Peter Demant verstarb am 11.Dezember 2006 und ist auf dem Moskauer Neujungfrauen- Friedhof beigesetzt. Die 5000 Bände seiner Bibliothek vermachte er der ukrainischen Stadt Cernivci.

Kaviar im Pelz

Ob es das Etui war oder die Brille, weiß ich nicht mehr so genau. Beide lagen auf dem Nachttischchen der Juri-Andropov-Suite des Hotels „Präsident“ und gehörten Hofrat Professor Doktor B.S., einem der Preisträger des „Ordens für verdiente Kulturarbeit“.
Ich erinnere mich nur noch daran, dass mich die verschmierten, kunstledernen Wischtücher ebenso anzogen wie die verführerisch nach Ohrenschmalz duftenden Brillenbügel, sodass mir die Wahl schwer fiel, worauf ich mich zuerst stürzen sollte. „Das Präsident“ - wie sein Bewohner nicht ohne Stolz sagen, ist erst seit wenigen Generationen meine Heimstatt und trotz meiner Anwesenheit eine der nobelsten Adressen in der Hauptstadt. Vorher war ich im Hotel Lux, im Metropol und im National abgestiegen. Das Präsident ist ein protziger Ziegelbau zwischen dem Lenin-Prospekt und der Steinernen Brücke über die Moskwa und wurde im poststalinistischen Stil mit byzantinischen Elementen als ZK-Hotel der KPdSU erbaut. Nach einer moderaten Modernisierung durch den 1. demokratisch gewählten Präsidenten Russlands ist es in „Das Präsident“ umbenannt worden. Alle 579 Zimmer tragen die Namen unbestrittener Persönlichkeiten des sowjetischen Lebens, angefangen bei Michail Kalinin bis, auch wenn nicht alle wirkliche Präsidenten waren, sondern anderweitig verdiente Persönlichkeiten wie die Schriftsteller Maxim Gorki, Pasternak und Scholochov, die Generäle Schukow, Suslow und Frunze, die ZK-Vorsitzenden Chruschtschov und Breschnew, Kosmonaut Jurij Gagarin und Raketenbauer Koroljov oder mein derzeitiger Gastgeber Jurij Andropov, der KGB-Chef und nachher der letzte Gensek vor Gorbatschov. Viele wirklich wichtige Namen der letzten 80 Jahre sind natürlich nicht vertreten, weil sich das demokratische Russland noch nicht – oder nicht mehr - über ihre ewige Bedeutsamkeit für die Weltgeschichte einigen konnte. So werden Besucher vergeblich nach einer Josef-Stalin-Suite, einer Trozky-, Kirov- Bucharin-, Kamenov-, Berija- oder Ordschonikidse-Suite suchen, auch wenn viele gerne einmal eine romantische Nacht unter dem Namen Molotov verbracht hätten, dessen Cocktails früher zur Berühmtheit gelangt waren. .
Die Armeen der staatlich beeideten Kammerjäger , hier Sanitätsbrigaden genannt, hat versucht, mich und meine Sippschaft auszurotten und aus dem Präsident zu vertreiben. Aber wir sind so alt und widerstandsfähig, dass uns die chemischen Keulen nichts anhaben können, weder das sowjetische Gegenstück zu DDT, noch das neueste japanische Modell der euphemistisch genannten „Cockroach-Motels“. Die KGB-geschulten Schädlingsbekämpfungsmeister haben schon längst die chemischen Keulen und den nach Lotosblüten und Mandelholz duftenden Mikrofilm in diesen bunten Papphäuschen gegen in Wodka getränktes Rattengift ausgetauscht – das bewährte Hausmittel, mit dem sie sich gegenseitig umzubringen versuchen -, das uns Ureinwohnern dieses Landes aber gar nicht so unangenehm war. Schließlich erzählt man sich in unserer Verwandtschaft, dass unsere Familienmitglieder sogar die Atombombenversuche auf dem Bikini-Atoll heil überstanden haben sollen.

Als der zukünftige Ordensträger B.S. im Andropov-Badezimmer - übrigens kaum kleiner als ein Pferdestall- das Licht andrehte, verzog ich mich schnell unter das Vileda-Wischtuch und konnte gerade noch an seiner Unterseite den grünen Aufdruck „Melitta-Kleemann-Optik-Wien“ – MKOW- erkennen. Licht an, das bedeutete Alarmstufe rot für unsereins, auch wenn Badezimmer und Toiletten nie zu meinen Lieblingsrevieren gehört hatten. Ich machte mir einfach nichts aus Nivea, Pitralon, Axe oder Schwarzkopf-Produkten der Ausländer, schon gar nicht aus Vim, Chloral, Mister Proper und Danchlor, die jetzt die neurussischen Sanitätsbeamten vermehrt gegen uns einsetzten. All das befand sich in gefährlicher Nähe zu unserem einzigen wirklichen Feind, dem fließenden Wasser von Dusche und Wasserklosett. Ich wollte zwischen MKOW und Ohrenschmalzbügeln abwarten, bis der Zimmerkellner das zweite Frühstück servierte und mir einige Brösel eines französischen Croissants oder eines altrussischen Pirogen einverleiben, auch wenn mir, ehrlich gestanden, die harte Kruste eines ordinären Schwarzbrotes immer noch am besten schmeckten. Ich bin in meinem Geschmack sehr konservativ und bodenständig. Bei den vielen Neumodischkeiten bin ich manchmal zutiefst überzeugt, dass meine Stammesgenossen und ich die letzten Hüter der wahren russischen Tradition innerhalb und außerhalb des Präsident sind. Ihnen darf ich es ja gestehen, dass mir die direkten Abfälle, die menschlichen, noch immer am liebsten sind: Schnipseln von Nagelbetten, Fußsohlenharthaut, Schuppen, Nasenpopel oder Fingernägel zum Beispiel. Da weiß ich, dass wir unverbrüchlich zusammen gehören: die Menschen und die Kakerlaken. Zu meinem Leidwesen werden sie aber immer seltener, da die neueste Generation von wasserdamfbetriebenen Klopfstaubsaugern sehr leistungsstark sind und kaum mehr etwas von diesen Köstlichkeiten übrig lassen.
Dove-Duschgel-, Gilette-Rasierschaum, - und Axe-Behandlung waren vollbracht, da zog der feine Duft von Colgate-Zahnpasta durch meine Nüstern. Die liebe ich von allen Rückständen am meisten und hoffte, dass ich davon einiges wieder finden würde. Der Juri-Andropov-Suite-Bewohner, der zukünftige Preisträger des allrussischen Ordens für verdiente Kulturarbeiter, Hofrat Professor. Dr. Sigmund Berger, warf in die Schale eines guten schwarzen Smokings (Bekleidungsvorschrift der Einladung in den Kreml) und verabredete sich telefonisch mit seinem Kollegen L. H., der einen Korridor-Kilometer weiter in der Tschernenko-Suite residierte. Sie beschlossen, den Weg zum Kreml zu Fuß zurückzulegen, obwohl das Ordenskomitee eine nostalgische Flotte von schwarzen Zil- und Tschaika-Limusinen bereit gestellt hatte.
Die Professoren S.B. und L.H. gehörten zur unverbesserlichen Sorte von Russland-Romantikern, die auch noch im 7. Jahr des 21. Jahrhunderts nichts von ihrer seligen Studentenzeit der 60er Jahre aufgeben wollten, als sie uns Tag und Nacht in ihren Zimmerlöchern der MGU jagten, ihre respektablen, mit österreichischem Semperitgummi besohlten Hausschlapfen, ihre Oljoschin-, Kaverin- oder Majakovskij-Bücher nach uns schleuderten oder trotz eigener Gefährdung DDT- und Strychnin-Pulverstraßen in die Zimmerecken und um die Bettenfüße streuten. Wenn sie nur gewusst hätten, welche köstlichen Nachspeisen sie uns damit bereiteten, hätten sie nicht all die Schmuggelmühen auf sich genommen, denn der illegale Import dieser westlich-imperialistischen Chemikalien in die Sowjetunion war strengstens verboten. Aber noch viel mehr lachten wir über die Castro- und Ho-Chi-Minh-Sandalen oder gar die Tito- Opanken aus Stroh, mit denen die jeweiligen Austauschstudenten uns zu jagen versuchten. Meistens fraßen wir diese Naturprodukte zur Gänze auf, Zuckerrohr, -Bananen, – Reis- oder Haferstroh, wir fraßen uns bis ins Delirium. Herz, wenn wir eines hätten, was willst du mehr!
Ich erinnere mich noch gut an die Dissertation von. S.B. – im Jahre 1967 residierte ich noch an der MGU – in dem ich immer wieder etwas Frugales für mich fand. Zwischen den geistreichen Ausführungen zu Kaverins „Nord-Ost-Passage“ fand ich Krümel von österreichischem Kletzenbrot und Milka-Schokolade. In L.H.`s Dissertation über den literarischen Vergleich der „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ mit dem „Nachtasyl“ Gorkis ergötzte ich mich an seinen großzügigen Nasenpopeln und Haarschuppen. Übrigens war das Kellerloch mein absoluter Lieblingstext von F.M. Dostojevskij, das bei unseren Historikern als die biologische und geistige Urheimat bezeichnet wird. Es war das ein Roman über uns, die uralten, autochthonen Bewohner des Landes, ungeliebt, verfolgt, gejagt, verbannt, und doch unausrottbar wie die Altgläubigen. Die beiden Studenten plagten sich mit verschiedenen Deutungen zwischen bürgerlicher und sozialistischer Literatur, aber auf die naheliegendste kamen sie nicht, weil sie uns nicht zuhörten, sondern mit ihren Schlapfen nach uns warfen, wo immer wir auftauchten. Unbelehrbar, wie alle liebenden Russlandreisenden. Dabei ist alles auf der Hand gelegen, um nicht zu sagen auf den Fühlern.
Eine besonders unangenehme Erinnerung habe ich an Sigmund Bergers damalige Freundin Traude, die schöne Tochter eines Weinbauern. Sie hielt nichts von DDT, Strychnin oder anderen Hausmitteln, sondern setzte einen Weinviertler Flaschenwaschel als Hauptwaffe gegen uns ins Gefecht. Noch die Spitzen des Weinreisigs waren so sauer, dass ich persönlich eine Chlor-Spülung vorgezogen hätte. Offiziell beschäftigte sich die Traude mit ihrer Dissertation über einen Vergleich der Lyrik von Anna Achmatowa und Marina Zvetajeva. Sie blieb leider unvollendet, sie hat sich mehr der Ausrottung meiner Sippe gewidmet als ihrer Dissertation. Ich muss zugeben, dass Traudes Wirken in der MGU meine Familie fast zum Umziehen bewogen hätte. Aber ich bin immer noch da, und sie heiratete kurz danach einen lokalen ÖVP-Funktionär, gebar ihm 4 Kinder, wurde eine perfekte Mutterhausfrau und hat ihr ausgezeichnetes Russisch nie wieder angewendet. Sicher hat sie ihren Weinflaschen-Waschel gegen ihres- und meinesgleichen auch bei sich zu Hause angewendet, wenn es da meinesgleichen gibt.

Jetzt wanderten die zukünftigen Preisträger des Kreml-Ordens für verdiente Kulturarbeiter – beide in ihren frischen Sechzigern - über den Kamennij Most dem Kreml zu und schwelgten in Jugend- Erinnerungen an der MGU, mit Kaverin, mit Oleschin, mit Majakovskij und dem guten, alten Dostojevskij. Die Erinnerungen an die schöne Weinbauerstocher Traude und ihren Weinflaschenwaschel bekamen einen besonderen Platz in der Mitte der Brücke, als die Freunde gleichzeitig zwei 5-Kopekenmünze in die Moskva fallen ließen, eigentlich nur auf das Eis, denn die Moskva ist jetzt zugefroren . Das alles sehe ich durch die Ritze des Brillenfutterals in der äußeren Manteltasche meines persönlichen Preisträgers, gut gebettet in die fetten Tüchlein der WKOWW. Es stiegen noch die kleine, süße Natascha und die rassige Tanja aus der Geschichte heraus und belebten Geist, Herz und Glieder. Ach, wie schön war es doch in der Jugendzeit mit den Russinnen! Unkompliziert, skrupellos und wie sie waren, kamen sie immer schnell zur Sache und trieben es sehr wild mit den kleinbürgerlichen Söhnen des kapitalistischen Westens. Nie stellten die Nataschas und Tanjas Fragen, waren anspruchslos und dankbar. So glauben es die beiden bis heute. Nur ich weiß, dass sie KGB-Spitzel waren und alles feinsäuberlich der Abteilung 9 ihren Arbeitgebern in dieser ehrenwerten Organisation berichteten.
Wir drei waren auf dem Weg in den Kreml.
Rechts das Baltschuk- Kempinski-Hotel, links die halbabgerissene Ruine des Hotels Moskva. Ich zitterte, wenn er jetzt das Etui herausgenommen hätte, um die neue Baustelle näher zu betrachten, wäre ich auf die Eisschollen gefallen und hätte mich um eine neue Heimstatt kümmern müssen: Gottlob erwärmten meinem Preisträger die Studentenzeitreminiszenten so sehr das Herz, dass mir in meinem Futteral in der linken Brusttasche fast heiß wurde. Fast am Alexander- Garten angekommen, braust an uns der Präsidentenkonvoi vorbei und durch die 9 Meter dicken Tormauern in den Kreml hinein.
An der Ecke des Manege-Platzes könnten wir durch das Troizkij-Tor in den Kreml einbiegen. Aber meine Preisträger entscheiden sich für einen Spaziergang die Tverskaja hoch bis zum Puschkin-Platz, wo schräg gegenüber seiner Statue mit dem geneigten Kopf der 1. MacDonalds-Palast Moskaus sehr viel mehr thront als der verehrte Dichterfürst.
Wohl eingedenk der Banketts, die Kaiser Franz Josef I. in der Hofburg abhielt, bei denen fast alle Gäste hungrig weggingen, füllten sie sich die Mägen mit einem Doppeldecker Hamburger und Pommes. Da es ja ihre erste Einladung in den Kreml war, konnten sie nicht wissen, dass der Präsident die gegenteilige Taktik verfolgte: seine Gäste mit einem Überangebot einzuschüchtern und mundtot zu machen. Zurück zum Manegen-Platz, zum Denkmal der Heroenstädte mit Wachwechsel, ewiger Flamme und fotografierenden Hochzeitspaaren erreichen sie, vorbeihastend am Leninmausoleum das Spasski-Tor. Hier, bei der ersten Wachta innerhalb der Kreml-Mauern, wurde es für mich zum ersten Mal wirklich kritisch. Die Professoren mussten den diensthabenden Soldaten die Einladung vorweisen, sich mit ihren Pässen identifizieren und alle Taschen leeren. Mein Preisträger legte sein Brillenfutteral auf den Tisch, ein Soldat öffnete so rasch, dass mich der kalte Windhaus glatt heraus geweht hätte, wäre ich nicht tief in einer Falte des Wischtuches gelegen. Nur ein paar Meter weiter im Kontrollraum der Kreml-Miliz die gleiche Prozedur, nur dass die Preisträger hier auch noch ihre Mobil-Telefone abgeben mussten, was mir jetzt schon gleichgültig war. Einen Schock erlebte ich noch, als an der dritten Kontrollstelle, die von FSB-Beamten in Zivil gehalten wurde, stellte sich mein Professor – wahrscheinlich war er schon leicht genervt von den vielen Kontrollen – so ungeschickt an, dass er zusammen mit der Einladung auch das Brillenetui auf den Boden fallen ließ. Er hob es schnell wieder auf, weil die Geheimdienstler die Gästelisten durchsahen und den S.B. nicht sofort finden konnten, meinte er, ihnen behilflich sein zu müssen und setzte dazu seine Brille auf. Zu meinem Glück, ohne sie zu putzen oder einen Blick ins Innere zu werfen. Nun, diese Hürden überwunden waren, fragte ich mich, ob mein Wirt die Brillen in der Garderobe lassen oder in den Bankett-Saal mitnehmen würde.
Meine Vorfahren lebten seit Tschingis Khans Zeiten in den Kellern, Küchen und Garderoben des Kremls, aber unsere Familienchronik berichtet nichts darüber, dass es je ein Kakerlak in den Katherinen-Saal geschafft hatte. Viele glaubten noch immer das Ammenmärchen, dass Erdöl, Gas, Diamanten und Gold der Untergrundmotor der russischen Kultur seien. Sie leugneten beharrlich, dass mein Geschlecht es war und ist, das den Boden immer wieder neu aufbereitet. Mit mir und meinesgleichen stand das Reich an einer Zeitenwende, vergleichbar nur mit Jurij Gagarins Eroberung des Weltalls. Wir sind so unausrottbar und widerständig, dass uns die Goldene Horde, die Opritschniks, die Ochrana, die alten ZK-Vorsitzenden und die neuen Präsidenten sowenig ausmachen konnten wie die Atombombenversuche auf den Bikini-Atolls. Im Hotel Präsident hatte ich zuletzt 5 Frauen, jede von ihnen bringt mindestens 200 Kinder auf die Welt, und wenn sie nicht erjagt, vergast, verklopfstaubsaugert oder unter Absätzen zertreten werden, habe ich allein pro Jahr 1000 Nachkommen. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 200 Jahren zählt allein meine Nachkommenschaft – hochgerechnet wohlgemerkt - 20 000 Mitglieder. Und jetzt stand ich am Sprung in eine neue Dimension – ich würde der erste meiner Sippe sein, der einem regierenden Präsidenten in seine grünen Augen blicken würde. Das Glück dieses Tages verließ mich nicht: mein Preisträger entnahm seiner Mantelbrusttasche das Etui und steckte es- nein, nicht nach innen, sondern in das seines Smokings, sodass ich durch den Spalt an der Rückkante eine gute Sicht auf die neue Umgebung hatte. Die internationalen Kulturarbeiter – überblicksmäßig etwa 500 – wurden nun von einer Schar goldbetresster, himmelblauer Uniformträger in eine lange Wandelhalle gewiesen, die Fensterfront mit dicken Wolkenstors verhangen, von der Decke alle 10 Meter ein Luster, die Wände mit Fresken, Goldgirlanden und Stuck dekoriert. Während des Wartens sehe ich halbnackte Göttinnen, Nymphen und Musen, die sich an Bächlein, in Hainen und Tempeln tummeln. Aus unsichtbaren Lautsprechern dudelt in Endlosschleife die Freude, schöner Götterfunken, bis ein voller Gong ertönt, so tief, als würde Gott zur Erschaffung der Welt gerufen. Es war nicht Gottvater, sah ich, als die Flügeltüren aufgingen und den Blick auf den Katharinen-Saal freigaben. Was heißt hier blick: die frische Goldpracht blendete derart meine lichtempfindlichen Augen, dass ich sie erst einmal wieder schließen musste. Den meisten Preisträgern erging es genau so. Wie Hampelmänner rissen sie ihre Arme hoch und bedeckten ihre Augen. Wegen der kollektiven Blendung kam es zu einem Gedränge vor den Saaltüren, das aufzulösen den Kremllakaien durch geschicktes Manövrieren schnell gelang. Meine Artgenossen und ich sind von alter und Kontinuität her die wahren Stadthistoriker und natürlich auch mit der Kreml-Geschichte bestens vertraut. Der Katharinen-Saal ist ein klassizistisches Gesamtkunstwerk in Blattgold, Schwanenweiß und Lindgrün. Das Riesen-Oval mit seiner hohen Kuppel atmet die Weite des Imperiums und die Nähe der alten und neuen Zaren. Vor den haushohen Spiegelwänden stehen mit Edelsteinintarsien verzierte Tische, darauf goldene Kandelaber und Standuhren.
Wenn ich nicht der lebende Gegenbeweis wäre, würde ich behaupten, dass sich in eine solche Pracht noch nie ein Kakerlak verirrt hatte. Geschichte schrieben hier andere. Molotov lud am 14. April 1955 zum großen Bankett und teilte der österreichischen Staatsvertrags-Delegation mit, was als „April-Wunder“ erinnert wird und das Glück auf den Gesichtern von Schärf, Raab, Figl und Kreisky für immer in die Spiegel eingekerbt hat. Als hier im August 1990 der deutsch-sowjetische Vertrag unterzeichnet wurde, meinte Willi Brandt sogar, den „Mantelsaum Gottes“ durch den Saal rauschen zu hören; und Helmut Schmidt war und blieb der einzige Mensch, der es je wagte , eine Zigarette anzuzünden. Gorbatschow gab an dieser Stelle den Weg zur deutschen Einheit frei und Kohl dankte für das „Wunder von Moskau.“
Lenin, Stalin und alles Nachfolger machten sich wenig aus den Prunksälen im Kreml, bis Jelzin sie aus dem Dornröschenschlaf weckte. Er vergab an die Schweizer Firma MABETEX Millionen-Aufträge für die Restaurierung und blieb mit dem Schwarzgeld, das dabei für ihn selbst und seine Familie geflossen sein soll, jahrelang in den Schlagzeilen.
Unter den Lustern mit den ausmaßen von Weltumrundungsballons standen in langen Reihen gedeckte Tische, nummeriert von 1 – 50, an der Stirnseite ein Tisch mit der Nummer 0 war mit der russischen Fahne geschmückt – das war der Präsidententisch. Die blaulivrierten und goldbetressten Lakaien wiesen die Preisträger ihren Tischen zu, meiner bekam einen Platz an der Nummer 1, ist Postweite des Präsidentensessels. Wieder ertönte der strenge Gong mit dem Nachhall wie aus den Tiefen des Universums. Aber nur unsereins weiß noch, dass er den Geheimnissen der altmongolischen Metalllegierungen entspringt. Jetzt betritt mit raschen und federnden Schritten der Präsident den Katharinen-Saal und nickt zur Begrüßung ernst-huldvoll nach allen Seiten. Tosender Applaus steigt auf, endet aber abrupt, als sich Vladimir Vladimirowitsch auf seinem Platz niederläßt, seine Sitznachbarn sind der amtierende Kulturminister, der Erziehungs- , Atom- und der Außenhandelsminister, ein greiser Raketenkonstrukteur, ein noch älterer tschuktschischer Volksschriftsteller und die drei jungendlichen Gewinner der Russisch-Olympiade. Ich kann mich glücklich schätzen, meine Sicht auf den Präsidententisch ist nicht schlechter als aus der Zarenloge im Bolshoj. Da im Ordenszuerkennungsdokument alle Verdienste der Geehrten aufgezählt werden, hält sich der Präsident bei keinem einzeln auf. Alle 500 haben sich die Verbreitung der russischen Kultur im In- und Ausland verdient gemacht, sodass sie ab jetzt den Titel „verdienter Kulturarbeiter“ tragen dürfen. Die meisten sind Lehrer, Professoren, Übersetzer, Wissenschafter, Chorleiter, Organisatoren, Museumsdirektoren, Verleger, Schriftsteller, aber auch Sportler, Schilehrer und Fitnesstrainer. Eingedenk der Vorgeschichte des Präsidenten als Geheimdienstoffizier haben sich seine Redenschreiber an das schöne Wort von Stalin über die Schriftsteller als „Ingenieure der Seele“ (1935) erinnert und ihm für die ausgezeichneten die „Ingenieure der Sprache“ ins Redemanuskript geschrieben. Es geht nichts über eine ungebrochene Tradition, das kann ich am besten verstehen und goutieren. Gleich folgt noch eine Adelung: „Mensch – das klingt stolz“ sagte Gorki 1929 über den neuen Sowjetmenschen. Nicht ganz nachvollziehbar ist der unvermittelte Sprung zu Blaise Pascal (1655), der den Menschen als „ein denkendes Schilfrohr“ bezeichnete. Dieses Zitat sollte wohl des Präsidenten kritische und aufgeklärte Gesinnung zum Ausdruck bringen.
Mein Professor wurde ausgezeichnet für seine Bemühungen um die Ausbildung der österreichischen Hotellerie und Gastronomie im Sinne des umfassenden Wohlbefindens der russischen Touristen. Er verfasste Russisch-Lehrgänge für Kellner und Stubenmädchen, für Köche und Speisekartenverfasser, für Schilehrer, Chauffeure, Reisebüroangestellte und Verkäuferinnen, für Bürgermeister und Polizisten. Und umgekehrt bekamen die russischen Gäste in ihren Unterkünften einen „Kurzen Lehrgang der österreichischen Gastlichkeit“, ein „Kleines Russisch-Tirolerisches Wörterbuch“ und einen Führer „Alles zwischen Bar und Piste“, die „Kleine Geschichte des Wilden Kaisers“, „Kultur in Kitzbühl“, um nur einige zu nennen. Die Titel waren so zahlreich, dass sie die des seit 1950 schreibenden tschuktschischen Schriftstellers bei weitem überflügelten. Ich persönlich hielt den Chirurgen Gawril Ilisarov für die interessanteste Persönlichkeit an unserm Tisch. Er hieß auch der „Knochenbrecher von Kurgan“ .Der kleine, weißhaarige Greis wurde von seinem unscheinbaren, bürokratischen Assistenten Andrej Popkov begleitet. Professor Ilisarov war während des Afghanistan-Krieges zu Berühmtheit gelangt, als er durch ein von ihm entwickeltes Verfahren zerbrochene und zersplitterte Knochen wieder einrichtete und damit Amputationen vermeiden konnte. Nach dem sehr langwierigen und schmerzhaften Heilungsprozess stellte sich heraus, dass seine Patienten gewachsen waren. Internationalen Ruhm gewann er, als er einem kleinwüchsigen arabischen Offizier, der sich kränkte, bei Paraden immer in den hinteren Reihen stehen zu müssen, mit einer Operation zu 10 Zentimeter längeren Beinen verhalf. Seither sind die „Beine von Kurgan“ der heißeste Schrei unter jungen Frauen, die sich durch Beinverlängerungen einen Traumjob als Model oder bessere Heiratschancen erwarten.

Wie ein Klappmesser im dunkelblauen Armani-Anzug, knapp wie ein Hakenknallen, setzt sich der Präsident nach seiner Ansprach auf den für ihn bereitgestellten eine wenig nur höheren und ein bisschen reicher verzierten Stuhl (nein, nicht Thron!), worauf die 500 Preisträger auf ihren Plätzen einknicken. Vor ihnen steht eine Reihe von 6 angefüllten Gläsern, von rechts außen an Wodka, Wasser, Sekt, Saft, Weißwein und Rotwein, nach links je ein leeres für Bier, Whisky und Kognak. Jeden schirmt eine solche Gläserbarrikade vom Nachbarn und Gegenüber ab, dazwischen auf goldglänzenden Untersätzen eine Pyramide von Tellern und Schüsseln, deren weißes Porzellan mit lindgrünen Bordüren die Farben des Katharinen-Saales wieder aufnahmen. Mit einer gänzlich unprofessoralen Geste riss nun mein Preisträger das Wischtuch aus dem Etui und fuhr sich damit über die Augen. Nur mit der in Jahrhunderten antrainierter Akrobatik konnte ich mich gerade noch in der Ritze zwischen Metall und Velour-Füllung halten. Wenn so etwas wie ein Herz in mir gewesen wäre, hätte es jetzt einen Stillstand erlitten. Die Kreml-Gäste ging es nicht viel anders: sie waren von der Gegenwart des Präsidenten so gelähmt, dass sie anfangs zu nichts anderem imstande waren, als zwischen ihren Fingern Brotstücke hin- und herzuwälzen, wobei auch einige Krümel in mein Versteck fielen. Jetzt begannen die Lakaien in endlosen Reihen die Gerichte aufzutragen: Die Speisefolge war so lang wie die Liste der Verdienste.
Goldfarbene Pirogen gefüllt mit Pilzen, Kraut und Fleisch, Schinken- und Käsetörtchen standen schon auf dem Tisch, von den 6 Schinken- und Wurstsorten, den 5 Salaten, den 4 Suppen (Gurken, Löwenzahn, Brennnessel und Farn) ging es weiter zu den Rindfleisch- und Heringssülzchen, Pilzgelee, Entenleber, Fluss- und Meereskrebs, Fische geräuchert, gesalzen, luftgetrocknet und roh unter Bergen von Gemüse und Kräutern, Muscheln, Räucherlachs, roter Kaviar, Riesengarneelen von den Kurilen. Ich habe bekanntlich ein schlechtes Verhältnis zum Wasser und war daher an der Fischfolge nicht interessiert. Aber eine Speie erregte doch meine Aufmerksamkeit: der „Kaviar im Pelz“, eine neue Kreation der Kreml-Köche. In eisgekühlten, von Kälte beschlagenen Kristallschalen liegen Berge von glänzendem Kaviar, dekoriert mit Strömen goldgelber Souce hollandaise und mit roten Paprikaschoten, grünen Gurkenscheiben, orangen Karotten und gelben Zitronen dekoriert und mit einem Ring aus Hühnereihälften gekrönt. Jede Schüssel ein Meiserwerk in perfekter Proportion, Form- und Farbgestaltung. Das schwarze Gold stammt von 3 Fischarten: vom Beluga, Ossjotr und Sevruga- besseres hat Russland nicht zu bieten. Wenn die Preisträger in der Gegenwart des Präsidenten gewagt hätten auszuatmen, wäre jetzt ein Stöhnen und Raunen durch den Katharinen-Saal gegangen, auch eine Art „Mantelsaum Gottes.“
Der Kaviar im Pelz wurde gerahmt von Fischen aus allen Teilen Russlands, aus Flüssen, Seen und Meeren: Forelle, Thun, Hecht, Karpfen, Zander, Wels, Lachs, Hering, Stör, gebraten, gebacken, in Buttersauce, unter Mandeln oder in Aspik. Mir war gerade ein großer Brocken von russischem Schwarzbrot in die Ritze gefallen, über die ich mich sofort hermachte, als ich meinen Professor etwas sagen hörte. Ohne Anflug von Schüchternheit und gesund respektlos, wie mir scheint, grüßt er zum Präsidenten hinüber, gratuliert ihm zu den eben gewonnenen Parlamentswahlen und wünscht ihm und seiner Familie Gesundheit. Dieser nickt zurück, klappt die grünen Schildkröten- Augen auf und zu und antwortet laut und deutlich: „Danke, das gleiche Ihnen!“ Die 9 Tischnachbarn des Präsidenten und die 9 meines Professors erstarren, fallen vor Schreck fast in Ohnmacht und lassen ihr Essbesteck zwischen Teller und Mund stehen. Das scheint meinen Ordensträger noch mehr anzufeuern, dass er sich an die ihm am nächsten Sitzenden wendet: eine alte Lehrerin, die seit 40 Jahren den Kindern der in Novaja Zemlja stationierten Militärangehörigen russische Sprache und Kultur näher bringt, ein walisischer Gelehrter, der die 2000 Seiten von Tolstojs „Krieg und Frieden“ ins seine Muttersprache übersetzte hat (4000 Seiten in 6 Bänden) und ein russischer Biochemiker, der aus den Fäkalien der Kamtschatka-Rotkragenmöven ein vom Staat anerkanntes lebensverlängerndes Elixier entwickelte. Er müsse zugeben, dass es ihm hier im Kreml sehr viel besser schmecke als bei Macdonalds, sagt er gar nicht leise in die Runde, dass es auch an den Nachbartischen gehört werden kann. Eine Majestätsbeleidigung, ein Sakrileg, die russischen Kulturarbeiter verfallen in Angst- und Schüttellähmung, der altehrwürdige Kamtschatka-Möwenforscher verschluckte sich und kann mit Narsan-Mineralwasser gerade noch vor dem Erstickungstod bewahrt werden. Auch der Präsident hat den Satz aufgeschnappt, er hob sein Glas auf meinen Preisträger und sagte wohlgelaunt in seine Richtung: „Ponjal, ich habe verstanden, danke Ihnen für das Kompliment.“
Nun marschierten die Kellner in langen Reihen herein und balancierten riesige Platten mit den Fleischgerichten über sich auf den Schultern: Wiener und Milaner Schnitzel, Huhn, Ente, Truthahn, Fasan, Kalbsmedaillons in weißrussischen Herrenpilzen, Rehrücken in Rotkraut mit moldawischen Edelkastanien, Rinderfilet mit geschmorten Schalotten und Kartoffelkroketten, Beef Stroganoff mit kirgiesischem Himalaya-Reis, ukrainische Sarma unter einem Gletscher von Sauerrahm, buttertriefende Kiewer Koteletts, kaukasischer Lammrücken im Speckmantel, georgischer Schaschlik auf Knoblauchbutterbett und sibirisches Bärentatzengulasch in Schamanensouce. Ungefähr beim 13. Gericht hörte ich mit dem Zählen auf, weil auch mein Preisträger die Annahme von weiteren Speisen verweigerte. Dabei ging es noch weiter mit den Deserts, die ich aus meinem Schlitz nicht genau ausmachen konnte: schätzungsweise 15 Eis- und Sorbet-Sorten, Fruchtsalate, Beerenmischungen aus dem ganzen großen Reich, Kuchen und Torten, deren Namen ich leider nicht alle kenne. Nur so viel konnte ich erkennen: Esterhazy- und Sachertorte, Stefanie- und Kardinalschnitten, Schokoladerehrücken, Mohnguglhupf und geeiste Kaiserschnitte, dazwischen noch sehr viele Fantasietorten mit fetten Cremen und buntem Zuckerguss – aber leider reichten weder meine Sichtweite noch meine Küchenkenntnisse weiter. Seien Sie versichert, es waren sehr, sehr viel mehr Desert-Kreationen, die aus den Küchenverliesen des Kreml angeschleppt wurden. Dazu natürlich noch Kaffee, Tee, Kognak und Whisky und all das überflüssige Zeug. Über-flüssig, Sie wissen ja schon, dass ich eine tiefe Abneigung gegen alles Wasser, aus dem Wasser stammende und mit Wasser sich verbindende habe: Danchlor, Klopfdampfstaubsauger, Kaviar, Fische, Salate, Getränke und das Eis. Die Kreml-Strategen wussten sehr gut, wie man gleicherweise Freund und Feind ausschaltete. Warum ist noch niemandem der Gedanke gekommen, diese Methode einmal gegen mich und meine Verwandtschaft einzusetzen?

Übrigens bin ich noch am selben Tag umgezogen. Nein, nicht etwa in den Kreml, wo, wie Sie ja schon wissen, es mir nur begrenzt gefiel und ich daher nicht meine langfristige Zukunftsperspektive sehen konnte, sondern ich ergriff die erstbeste Gelegenheit zur Übersiedlung in eine andere renommierte Moskauer Lokalität. Die kam für mich völlig unerwartet und wie ein Geschenk des Himmels: mein Trägerwirt, der frisch gebackene verdiente Volkskulturarbeiter der Russischen Föderation B.S. begab sich nach dem Bankett in die kremelnahe Starokonjuschennij-Gasse, an deren Nummer 1 sich die österreichische Botschaft befindet. Ich persönlich habe ja keinerlei Beziehung zu diesem Ort, nicht einmal eine negative, wenn man, wie ich weiß, dass diese Gasse sich mit der nach einer nahen Aufbahrungshalle “Totengasse“ kreuzte und in unserer Geschichte einen prominenten literarischen Konnex hat. Graf Lev Nikolajewitsch Tolstoj siedelte an dieser Adresse das entscheidende, dramatische Ereignis in den 1200 Seiten der Liebe zwischen Natasche Rostowa und Fürst Andrej Bolkonskij an. Die junge, schöne, aber sehr naive und gefühlsverwirrte Natascha weilte gerade bei ihrer Tante ????? ……… zu Besuch, als sie plante, sich von dem betrügerischen Filou Denissov???………… von dieser Adresse entführen zu lassen, um ihn geheim zu heiraten. B.S. aber hatte über sein vielleicht vorhandenes literarisches Interesse oder sogar Wissen hinaus eine Beziehung zur Mjortvych-Gasse. Er wollte seiner jüngeren Schwester einen Besuch abstatten, die damals gerade das ÖKF leitete, als Kulturrätin dem „Österreichischen Kulturforum“ vorstand. Als ältester lebender Stadthistoriker wusste ich natürlich sehr gut, dass die Österreicher eine der schönsten Jugendstil-Villen der Moskauer Altstadt besaßen. Ein weitläufiges, cremfarbenes Gebäude mit einer dorischen Säulenapsis an der runden Ecke, in deren klassizistischem Kapitell neun schöne Musen ihren leicht beschürzten Reigen tanzten, den Blicken nur einigermaßen entzogen durch eine imposante Gruppe von 7 sibirischen Blautannen, die sich entgegen die schwierigen Luft- und Bodenbedingungen in der Moskauer Erde so gut eingewurzelt hatten, dass sie nun schon mit ihren Wipfeln nach dem zweiten Stockwerk griffen. Die hohen Fenster, die festen Mauern und die schmiedeeisernen Zäune trotzten schon lange mit altmodischem Trotz den in dieses Viertel gesetzten Ziegelbauten für ZK-Mitglieder wie eine alte hölzerne Segel-Fregatte einem Panzerkreuzer, ein Kampfplatz, eine permanente Herausforderung und Demütigung. Dieses und ein paar andere Baujuwelen sind seit den brutalen Breschnew-Jahren eingekreist von 8, 10 und 12 stöckigen Büro-Ziegel- und Plattentürmen, die die niedrigen Villen und Palais des 19. Jahrhunderts wie aus dem Himmel mit Krätze ersticken, abtöten und auffressen. Die Gehsteige sind auch hier im ausgeprägtesten Botschaftsviertel krumm, mit zahlreichen Fallen übersät wie tiefe Löcher, hervorragenden Regenrinnen und niedrigen Vordächern; Und überhaupt die Stufen – das ist ein eigenes Kapitel, Ach was könnte ich alles darüber erzählen, Als Tarakane mit meinen sehr beweglichen 6 Beinen bin ich ja nicht direkt auf gerade, regelmäßige Stufen und Treppen ausgewiesen, aber abgesehen von unseren ewigen Konkurrenten en Menschen: sie brauchen sie viel eher al wir für die schnelle und ungehinderte Fortbewegung. Fort ich mir die Frage, sind die Europäer höher gewachsen oder gehen die Russen nur mit eingezogenem Kopf herum, haben die Häuserbauer hier keinen Meterstab oder sind sie beim Ausmessen immer nur besoffen? Fragen über Fragen, wer stellt sie sich schon? er mehr, groß- und kleinweis.
Das sage ich nur als ein alter, wissender und neutraler Stadthistoriker, meine persönliche Passion ist eher egoistischer Natur: wo kann ich ankommen, überleben und mich fortpflanzen.
Sehr schnell erkannte mein Blick aus dem Futteral- oder habe ich das schon frührer gewusst? – die österreichische Botschaft Ecke Starokonjuschennij – Mjortvych pereulok hatte eine in Moskau seltene Eigenheit: sie verfügte über ein tiefes Kellergeschoß. Das sah ich sofort, als wir dort ankamen. Ob das eine Eigenheit der besonderen russischen Kultur am Beginn des 19. Jahrhunderts war oder der österreichischen Architektur geschuldet ist, leider, ich muss Sie enttäuschen, ich weiß es einfach nicht. Aber der Anblick dieses tief gelegenen, mit verliesgleiche ausgestatteten Fenstern ausgestattete Untergeschoß ließ mein Herz- hätte ich eines- höher schlagen. Die zaussigen Fliederbüsche entlang der Längsfront des österreichischen Palais beeindruckten mich nicht sonderlich, wirkten eher bedrückend auf mich, weil ich doch aus Erfahrung wusste, dass Flieder unserem Geschlecht nicht gut bekommt, sie sind Gift für uns. Flieder, Lilac und Sirenj, Aber das weiß niemand, nur mit Flieder könnte man uns bekämpfen und ausrotten. Zum Glück, wissen sie nicht, dass Flieder für unsereins tödliches Gift sind. Nicht DDT, nicht ihre Dampfklopfstaubsauger, sondern einfach nur Flieder.
Mit einigem Schrecken musste ich feststellen, dass es die sieben hohen, sibirischen Blautannen vor dem runden Salon nicht mehr gab. Einfach umgeschnitten, ratzputz weg, wie nackt und kahl glotzte jetzt das neoklassizistische Halbrund auf die plötzlich dumm gewordene Kreuzung von Starokonjuschennij und Mjortvych. Geradezu obszön, abscheulich diese Halbkaryatiden unter ihren spätkorinthischen Kapitellen, fand ich, sieht das denn niemand außer mir? Wo haben die Menschen nur ihre Augen und Fühler? Ist alles so schnell verloren gegangen, was unsere Stadt groß und berühmt gemacht hat? Unter uns haben wir dafür nur einen Ausdruck: nekulturno! Der neue Botschafter und seine sehr kultivierte Frau meinten, dass die sibirischen Riesen zu wenig Licht auf ihre Empfänge fallen ließen, dafür im Garten umso mehr Mist; als ob Tannennadeln Mist sein könnten. Herrgott, woher kamen denn diese Barbaren, dass sie sibirisches Moos, Flechten und Nadeln für Unrat hielten? Sie hatten keine Ahnung davon, dass es Jahrzehnte gedauert hatte, bevor sich diese Fremdlinge in der kargen Moskauer Erde verwurzelten und über die platten Karyatiden hinweg in die lichten Höhen des 2. Stockwerks wuchsen, wo wir unsere Freundinnen vom Übersetzerbüro beheimatet wussten. Eine große Enttäuschung, ein tiefer Schmerz, dieser Anblick. Auf die Baumstümpfe wird dieser Botschafter im nächsten Frühjahr Gipsstatuen der neun Musen (zwei Postamente werden baumstammmäßig in Beton nachgebildet) stellen lassen, die im Sonderangebot eines ihm befreundeten Kärntner Baumarktes auf Republikskosten bezogen hat und um ebensolche nach Moskau transportieren ließ.

Was die Botschaft aber für mich noch immer attraktiv machte, war die Küche im Keller, oder genauer: die Königin der Köchinnen in der Küche im Keller. Galina hat den Ruf, dass sie uns, die Tarakany, die Kakerlaken, die Küchenschaben von Herzen liebt, dass sie sie hielt so wie andere ihre Haustiere: Hunde, Katzen, Meerschweinchen, Ratten oder Wellensittiche. Und nicht wie die übrigen Menschen es mit ihren Kühen, Schweinen, Schafen, Hasen, Gänsen und Hühnern machten: pflegen, füttern, streicheln oder sogar mit ihnen in ihrer Sprache sprechen. Aber wenn ihnen die richtige Zeit gekommen zu sein scheint, wenn sie gerade rund, fett oder richtig mager sind, dann peng, wumm, schlachten sie ihre lieben Tierchen, nehmen sie aus, zerteilen sie in alle verwertbaren Teile, füllen sie verwurstet in Gedärme, hängen sie in Räucherkammern, tieffrieren sie als Hälften, Schenkeln, Rücken oder Steaks. Das Beste essen sie frisch, vor allem die zentralen Teile wie herz, Hirn, Nieren und Leber lieben sie aufzubrutzeln oder in rohem carne. Galina war da ganz anders. Wo andere der Ekel packte, da schaute sie erst recht hin. Sie hätschelte und verwöhnte uns aus vollem Herzen, stellte kleine Schüsselchen mit Brotkrumen, Milch, Käse und Honig in dunklen Winkeln auf, versteckte und beschützte uns vor wütenden Putzfrauen, Sanitärbrigaden und primitiven Aushilfsköchinnen, die zwar nicht kochen konnten, aber so taten, als hätten sie es dafür umso mehr mit der Reinlichkeit. Mochten sie auch selbst noch so schmutzig und unordentlich sein, hielten sie uns doch für die allgegenwärtigen, sichtbaren und unausrottbaren Ausgeburten des Schmutzes, der Unordnung, ja für das was Russland wirklich ausmachte. Ich konnte ihnen das nicht einmal übel nehmen, meine ich ja selbst, dass wir das Älteste, Tiefste und Echteste und Beständigste sind, was Russland je hervorgebracht hat. Wo sind denn die heldenhaften Rjurikiden, die Kiever Rus, die Romanows oder Bolschewiki? Alle versunken und verloschen im Ozean der Geschichte, nur mein Geschlecht bleibt und bereitet von unter immer wieder frischen Boden auf.
Warum konnte sich Galina gegen alle anderen durchsetzen und ihrer Tatakay-Leidenschaft fröhnen? Sie war nicht nur groß und dick und hatte einen Bartflaum auf der Oberlippe- wegen ihrer lauten, tiefen Stimme für den Kasernenhof wurde sie von allen Generlscha genannt - sie konnte auch wirklich gut kochen, die war nicht nur firm in der russischen Küche, hatte früher bei den Deutschen und den Schweizern gearbeitet, kannte sich also auch in der französischen und italienischen Küche aus, und was die Österreicher betraf, so lernte sie sehr schnell die Schnitzel-, Gulasch-, Apfelstrudel- und Vanillekipferlrezepte, dass der Salat mit einer Brise Zucker mariniert wurde, der Liptauer nur mit mildem Paprika zubereitet werden darf, der Gugelhupf Rosinen enthalten muss, die Sachertorte nur mit hausgemachter Marillenmarmelade gefüllt wird und noch ein paar Besonderheiten, über die die Botschafter –Gattin streng wachte. In Galinas Reich war ich gut aufgehoben, es war eine standesgemäße Bleibe für den ältesten Stadthistoriker und sicher wie Abrahams Schoß. Denn russische Köchinnen ändern ihre Leidenschaften nicht oft. Was mich am meisten für sie einnahm, war aber es bei ihr nicht nur das russische Schwarzbrot gab, sondern auch viele Arten von österreichischen Bäckereiprodukten, die einmal in der Woche frisch eingeflogen wurden.
Ein rascher Blick durch meine Sehspalte im Brillenetui ließ mich kurz zögern: der Botschafter hatte offenbar auch den Innenwänden ein neues Aussehen verpasst, indem er sie mit einem lindgrünen – wo anders würde man es vielleicht pistaziengrün nennen- Ölanstrich versehen ließ. Es war nicht ganz so schlimm wie das klassische Erbsengrün der russischen Schulen, Spitäler, Ministerien, Kasernen und Gefängnisse, aber doch trieb mir die Erinnerung an diese Orte einen kalten Schauder über den Rücken, als mein Preisträger mit mir den Korridor zum Kulturforum in den zweiten Zwischenstock hochschritt. Es war klar wie Wodka: an diesen glatten, kalten, ölbestrichenen Wänden würde nicht einmal ich, der beste Fassadenkletterer Moskaus, Halt finden. Ich musste auf schnellstem Wege in den Keller unter die Fittiche der Generalscha Galina gelangen. Auf dem Boden des Kulturforum nahm ich sehr schnell die Kabelkanäle für Strom, Telefon, Internet, Interkom und sonstige Elektronik wahr, durch die unsereins gefahrlos in alle Stockwerke des Gebäudes gelangen konnten. Wie sehr liebte ich doch die moderne Technik, mit der uns kein Stiefel, keine in- oder ausländische Giftkeule, kein Dampfklopfstaubauger und kein Weinviertler Flaschenwaschel etwas anhaben konnten. So sitze ich also jetzt im hintersten Winkel der diplomatischen Speisekammer und schreibe beim dämmrigen Licht der Kühltruhenkontrolllämpchen meine Aufzeichnungen auf, meinen glorreichen Weg vom Hotel Präsident über den Kreml ins russische Herz Österreichs. Links von mir die Regale mit heimischem Ziegelbrot, rechts von mir österreichisches Schwarzbrot, Kanten von Kärntner Speck, Tiroler Hartwürste, Rundkanister mit Mauther-Markhof``scher Majonnaise, Waldviertler Honig und feinster Teebutter. Neben Galina ist die Botschafter-Gattin Ursula meine zweite Göttin: ihrer Sparsamkeit ist es gedankt, dass sie auch noch die letzten Brösel von Weihnachtsgebäck, Osterkuchen, Tortenböden, Canapees und Kaisersemmeln in Blechdosen aufbewahrt. Wäre ich gläubig, müsste ich meinen, dass es ein Himmelreich auf Erden gibt. Aber auch W.W. Putin muss ich hochleben lassen: hätte er nicht in B.S. den verdienten Kulturarbeiter erkannt und ausgezeichnet, wäre ich wahrscheinlich nie ins Paradies gelangt. Jetzt muss ich nur noch eine Artgenossin finden, und Russlands Zukunft wird auf immer gesichert sein.

Donnerstag, 4. Februar 2010

FAZIL

GOOD NEWS sind manchmal (viel zu selten) einfach nur GOOD NEWS
Die Integrations-Geschichte eines Neu-Österreichers, ganz am Anfang

Neulich auf einer Vernissage in der Wollzeile lernte ich einen jungen Mann kennen, Fazil*)
Name geändert, ist ein 28jähriger syrischer Kurde, der gerade politisches Asyl in Österreich erhalten hat. Bei einem Glas nach der Eröffnung kam ich mit ihm ins Gespräch. Sein Deutsch ist noch nicht wirklich gut, aber für eine Unterhaltung mit Erstinformationen reicht es schon. Seit einem Jahr hat er einen österreichischen Pass, den grauen, den Flüchtlingspass, in dem zwischen vielen österreichischen Stempeln und Siegeln gedruckt steht: „Für alle Staaten der Welt außer Syrien“. Ich blättere, drehe und wende das Dokument, ungläubig staunend, die Fälscher sitzen im Kopf - nicht 5, 7 oder 12 Jahre hat er gewartet - sondern nur 2 Monate, und das Asylverfahren war positiv abgeschlossen! Ich denke an seine Eltern, seine Geschwister, stelle mir seine sorgenvolle Mutter vor. Und jetzt, einmal im Monat ein Anruf ihres Sohnes, eines Verbrechers, eines Staatsfeindes, eines Flüchtlings in einem Land, dessen Namen sie vielleicht nicht einmal kannte. Sie liebte schon immer Strauss-Walzer, erzählte mir Fazil, wusste aber nicht, woher diese kamen. Ob sie ihren Sohn jemals wieder sehen und in ihre Arme schließen kann?
Als anerkannter Flüchtling erhält gesetzesgemäß Sozialhilfe und ist Besitzer eines Kulturpasses, damit besucht er fünfmal in der Woche einen dreistündigen Deutschkurs an der Uni, daneben jobbt er geringfügig in einer Pizzaria. Fazil stammt aus dem Nordosten Syriens, in dem die Kurden konzentriert leben. Er studierte in Damaskus Malerei und Literatur, hat einen Lyrik-Band in arabischer Sprache veröffentlicht, in Galerien ausgestellt und sogar schon Bilder verkauft. Neben der arabischen Staatssprache und seinem privaten Kurdisch kann er noch Farsi und Türkisch. Eine europäische Sprache hat er nicht gelernt.
Und was machte ihn auf einmal zum Staatsfeind, der flüchten musste? Und was brachte ihn zu uns nach Österreich? Zusammen mit mehreren Künstlerfreunden veranstaltete Fazil in Damaskus eine Ausstellung, in der sie Bilder mit Elementen aus der kurdischen Kultur zeigten: Männer in kurdischer Tracht, den typischen Kopfbedeckungen, Kaffeekännchen und Pfeifen, dazu lasen die jungen Künstler aus ihren Gedichten in arabischer Sprache, aber es war offenbar doch zu deutlich kurdische Poesie – und die ist verboten in Syrien. Es dauerte nicht lange, bis die syrische Polizei die Galerie stürmte und Fazil und seine Freunde ins Gefängnis warf. Denn in Syrien sind die Kurden als Volksgruppe nicht anerkannt, fast alles Kurdische ist per Gesetz als staatsfeindlich verboten, die Sprache darf nur privat gesprochen werden und wird in Schulen nicht unterrichtet. Dabei machen die Kurden mit 10% der Bevölkerung rund 2 Millionen aus, von denen noch einmal mehr als 10% ihre Staatsbürgerschaft verloren haben und so zu Ausländern, zu Unpersonen im eigenen Land wurden. Vertreibungen, Umsiedlungen, keine kurdischen Namen, keine Geschäfte, keine Schulen, keine Kultureinrichtungen. Die humanitäre Lage in Syrien ist so schlimm, dass Kurden sogar in die nicht gerade kurdenfreundliche Türkei flüchten. Das alles sind Fakten und Daten, erhoben von UNO, Human Rights Watch, Amnesty International und der Gesellschaft für bedrohte Völker.
Nach vier Hunger-, Krankheits- und Foltermonaten gelingt Fazil die Flucht aus dem Gefängnis, Nach einer osteuropäischen Odyssee findet er Zuflucht in Österreich, wo ihm schon nach nur 2 Monaten der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird. Etwa 700 Kurden aus Syrien leben derzeit als anerkannte Flüchtlinge in Österreich, so klar und schrecklich ist die Menschenrechtslage in Syrien.
Als ich Fazil im Oktober kennen lerne, schläft er schon 2 Monate auf Bänken rund um die Westbahnhof-Baustelle, ein, zwei Stunden, bis die Polizei kommt und ihn und andere Schicksalsgenossen aufscheucht. Dann lange Spaziergänge, Wien bei Nacht für einen Neuankömmling. Fazil ist ein außergewöhnlich gut aussehender junger Mann mit großen Mandelaugen und wallenden Locken, er hat ein fröhliches, offenes Wesen und spricht zu schnell ein nicht immer sofort verständliches Deutsch, ist aber inständig um Kommunikation bemüht, fragt einen Löcher in den Bauch über Österreich und ist an allem und jedem interessiert. Ganz besonders gefällt ihm die städtische Architektur in Wien, oft unterbricht er den gemeinsamen Spaziergang über den Ring, um Skizzen zu machen. Dabei ist sein viel zu magerer Körper nur von dünnen Gewandfähnchen bedeckt, den steifen Novemberwind mit Regenschauern ignoriert er. Sein ganzes Eigentum steckt in einer Umhängetasche, angefüllt mit Skizzenblöcken, Schreibutensilien und Wörterbüchern. Immer und überall fliegt sein Bleistift übers Papier, in der U-Bahn, im Kaffeehaus, beim Reden, beim Rauchen und beim Essen, Porträts von Zufallsgegenübern: Frauen, Männer, Tiere, Häuser, er ist kein gläubiger Moslem, für ihn gilt kein Bilderverbot. Zwischen Pizzeria und Deutsch-Kursen klappert er Museen, Galerien, Ausstellungen und Dichterlesungen ab, sogar eine kleine Schau mit seinen Bildern ist ihm schon gelungen- mit zwei verkauften Bildern. Studieren möchte er und malen, zeichnen, schreiben und ausstellen, derzeit arbeitet er an einem Roman, die Liebe ist sein Thema, und die Gedichte fließen aus ihm heraus wie schon immer seit seiner frühesten Jugend.
Aber vor all dem ist klar, dass Fazil eine Wohnung braucht. Seine neuen österreichischen Freunde begleiten ihn zu einem Makler und aufs Sozialamt. Er hat ein günstiges Angebot in einem zentrumsnahen Bezirk bekommen. Bei einem schnell fixierten Termin mit seiner Sozialarbeiterin geschieht - nach seiner geglückten Flucht und der Asylzuerkennung das dritte Wunder – oder ist es doch die Normalität bei uns? Ich kann nicht entscheiden, ob Fazil bei seiner Geburt von den Göttern geküsst wurde oder ob diese Beamtin einen Narren an ihm gefressen hat – sicher im Rahmen der geltenden Gesetze- oder ob er einfach nur Glück hatte.
Die Begleitung, die Übersetzung, mit einem Wort: die Patenschaft hat ihm geholfen, steht für mich fest und die Vermutung, dass Fazil nicht nur eine Begabung für Auge und Ohr hat, sondern auch eine fürs Glücklichsein. Hinter geschlossenen Türen kämpft die Beamtin bei ihren Vorgesetzten um die Wohnung für Fazil, mit Erfolg: Das Sozialamt übernimmt die erste Monatsmiete, die Kaution und die Vermittlungsgebühr, alles zusammen legt sie ihm vor unseren Augen die beträchtliche Summe auf den Tisch. Keine milde Gabe, sondern so sind die Bestimmungen bei uns. Die Rechtslage versteht er trotz der freundlich-bemühten Erklärungen der Beraterin nicht ganz, scheint mir, sie ist zu weit entfernt von seiner sozialen Wirklichkeit; wiederholt versichert er, dass er alles zurückzahlen werde, sobald er mehr Geld verdiene. Beim Arbeitsamt sei er schon gewesen und habe Aussicht auf eine Stelle als Koch. Kochen könne er gut, das habe zu Hause gelernt. „Jajaja, ist schon ok. Alles Gute für die Zukunft! Kommen Sie wieder.“ Die Beamtin- ein zartes Persönchen mit liebenswürdiger Ausstrahlung-steht auf, kommt hinter ihrem Schreibtisch hervor und reicht ihm mit einer leichten Verbeugung die Hand. Ich habe den Eindruck, dass auch sie sich freut und stolz ist auf ihren Erfolg. Hat sie vielleicht verstanden, dass sie eher für Ute Bock arbeiten sollte oder Picasso vergessen und Fazil denken soll?
Als wir das Büro verlassen, kann Fazil vor Glück nicht mehr an sich halten. Gleich vor der Tür beginnt er sich um sich zu drehen, zu tanzen und zu kreiseln auf engstem Platz, Tasche, Schal und Kappe wirft er nach einander in die Luft, die Beine wehen um ihn und die Locken um den Kopf. Die Wartenden im engen Sozialamtsgang taxieren uns schweigend mit befremdeten oder fragenden Blicken. Hat da einmal jemand Glück gehabt? Oder nur nach dem Buchstaben des Gesetzes sein Recht bekommen? Mit immer schnelleren und komplizierteren Schritten wirbelt Fazil um sich selbst, sein dürrer Körper verwandelt sich in eine oszillierendeSäule. Ein tanzender Derwisch ist bei uns angekommen. Dabei trällert er immer wieder von den höchsten bis in die tiefsten Töne: „Österreich ist guut! Österreich ist guut! Gutgutgut, Österreich!“ Sein erstes Gedicht auf Deutsch. Genügend deutsch für so viel Freude hat Fazil schon gelernt.

Jüdisches Museum 29.10.09

Vortrag zu Malach-Buch

Sehr geehrte Damen und Herren!
Lieber Isaak Michailowitsch!

Es ist eine große Freude und Ehre für mich, Ihnen das Buch von Isaak Michailowitsch Malach vorstellen zu dürfen. Als mich Konstantin Kaiser vor einem Jahr fragte, ob ich eine deutsche Fassung – nach seiner langwierigen Bearbeitung - und das Nachwort zu einem russischen Kriegsmemoiren-Buch übernehmen würde, fiel ich zuerst fast in einen Schockzustand bei so viel Zufall oder - Schicksal? Denn es war genau 40 Jahre her, seit ich auf der Wiener Slawistik als Dissertationsthema über die Memoirenliteratur zum „Großen Vaterländischen Krieg“ zu arbeiten begann. Bald stellte sich jedoch heraus, dass damals in der Sowjetunion noch zuwenig offizielle Literatur zur Verfügung stand und ich von Wien aus zum Samizdat nur schwer Zugang fand, so dass ich später ein anderes Thema zu Ende führte.
Es existierte damals fast nur die so genannte Generalsliteratur, die Triumphliteratur von oben. Die kritische Auseinandersetzung mit dem 2. WK wie etwa von Vassilij Grossman, Lew Kopelew, Alexander Solschenizyn, Anatolij Rybakow, Ilja Ehrenburg oder Natalija Ginzburg hatte noch nicht das Licht der Welt erblickt, lag in den Verliesen des KGB oder in den geheimen Schubladen der Autoren. Manches wird auch mit ihnen in die Gräber gesunken sein.
Auch die Literatur von unten, die so genannte Leutnants-Literatur, die Erinnerungen der einfachen Soldaten, der Panzerfahrer, der Kampfpiloten und der Lazaretthelferinnen kam erst viel später.
Seit der Gorbatschow`schen Glasnost ab Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist die Flut an Titeln unüberschaubar geworden, wurden Dissidenten neu oder erstmals aufgelegt, von der Leningrader Belagerung bis zum letzten Schützengraben blieb fast nichts unbehandelt.
2 Themen scheinen mir allerdings bis jetzt ausgespart zu sein: Kindheit im Krieg und der sowjetische Antisemitismus.
Es ist ein großes Verdienst des Isaak Michailowitsch Malach, dass er sich der Mühe - ich würde sagen - der Tortur des Erinnerns unterzog.
Jahrzehnte nach der eigenen Kindheit, in denen so vieles passiert ist erlebt und erlitten wurde, in denen Weltreiche eingestürzt und Landkarten verändert wurden, in denen sich tiefe Einschnitte im persönlichen Leben aufgetan haben und viele Abschiede überlebt wurden.
Das Erinnern, jedes Erinnern ist ein komplizierter Prozess; die Erinnerungen können verblassen, sich verändern oder sich – nach Karl Kraus- ganz entziehen, je näher man hinschaut. Nur eines lässt nie nach und bleibt immer deutlich: der Schmerz des Verlustes.
Malach hat die Methode gewählt, das Kind Issja von vor mehr als 60 Jahren, als er 5, 6, 7 und 8 Jahre alt war, noch einmal an die Hand zu nehmen, sich mit ihm einzulassen, nachzusehen und nachzufühlen, wie es diesem Kind damals ging. Er tut dies auf Augenhöhe mit seinem Kind, ohne vor ihm in die Knie zu gehen. Der große Vorzug dieser Methode liegt darin, dass ein Kind die Welt zum ersten Mal sieht und es aus der Kindperspektive Dinge sagen kann, die sich anders nicht oder kaum darstellen lassen. Das Grauen des Krieges wird durch den unwissenden, „unschuldigen“ und unverstellten Kinderblick nicht verniedlicht, sondern im Gegenteil noch unheilvoller, eindringlicher, verstörender.

Isaak Michailowitsch Malach wird 1936 in einer jüdischen, angepasst-sowjetischen Familie in der westukrainischen Kleinstadt Tschundnow geboren.
Den deutschen Überfall auf die Sowjetunion erlebt er als 5-Jähriger an der vordersten Front. Der Vater wird eingezogen, der Mutter gelingt mit ihren 2 Kindern die entbehrungsreiche Flucht in den Osten, zuerst nach Aralsk, später weiter in die usbekische Wüste, wo sie bis Kriegsende bleiben.
So genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind. Wir versuchen, die Wirklichkeit wieder zu geben, aber je angestrengter wir es versuchen, desto mehr drängt sich uns das auf, was auf den historischen Theaterbühnen von jeher zu sehen war: hin und her wallende Schlachtfelder, ein sterbender Infanterist, der noch einen anderen niedersticht, das brechende Auge eines Pferdes, ein brennender Panzer, der unverwundbare Führer.
Unsere Beschäftigung mit Geschichte ist eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, auf die wir andauernd starren, während die Wahrheit irgend wo anders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt.
Issja wird ein Bild nie vergessen- und der Leser seines Buches auch nicht: das Bild vom Sarg der geliebten kleinen Schwester Lolja, die unterwegs an Unterernährung und Lungenentzündung stirbt: ein gleichgültiger Totengräber verscharrt das Holzkistchen im fliegenden Sand der Wüste. Kurz tanzt noch eine kleine Sandhose über der Mulde, aber schon nach wenigen Augenblicken ist die Stelle verweht und die Spur der Schwester für immer von der Erdoberfläche verschwunden. Auch das ist ein Gesicht des Krieges, abseits von den großen Schlachten. In solchen Momenten öffnet sich der ganze Abgrund einer Kriegszeit, und Malachs Erinnerungen werden zu großer, bleibender Literatur.

Hunger, Durst, Krankheiten und Schwerarbeit können nicht quälender sein als die Ungewissheit über das Schicksal der in den besetzten Gebieten Zurückgeliebenen. Als die Familie nach Kriegsende in Lemberg wieder zusammen findet, ist es Gewissheit: die gesamte Familie der Mutter wurde schon in den allerersten Kriegstagen von erschossen, und auch auf der väterlichen Seite fordert der Krieg noch Jahre später seine Opfer: durch Sucht, Selbstmord oder Wahnsinn.
Issja ist ein hoch begabtes Kind, vor allem sein gutes Gedächtnis und seine schöne Stimme fallen auf, einer Sängerkarriere scheint nichts im Wege zu stehen. Aber immer wieder trifft er auf unerklärliche Hindernisse für sein Weiterkommen: eine falsch behandelte Krankheit wirft ihn aus der Sängerlaufbahn, ein ungeliebtes Technikstudium wird gegen seinen Willen erzwungen.
Hier endet – muss enden – die Kindperspektive, denn das Kind kann nichts wissen von den antisemitischen Kampagnen Stalins, angefangen von der Zerschlagung des jüdischen antifaschistischen Komitees, der Ermordung seines berühmtesten Repräsentanten Solomon Michoels bis zur Ärztekampagne kurz von Stalins Tod. Die Trauer darüber blieb privat und unausgesprochen, der Massenmord an den Juden auf dem Gebiet der Sowjetunion war tabu und ist es bis heute mehr oder weniger geblieben. Denn unter Stalin herrschte die Maxime: es gibt nur ein Opfer, das sowjetische Volk; Stalin ließ keine Erwähnung, kein Gedenken und keine Ehrung von Gruppen- oder Separat-Opfern zu. Das an Denkmälern so reiche Russland hat bis jetzt keines für seine jüdischen Opfer, keine Gedenkstätte und mit Not angebrachte Gedenktafeln werden nach kürzester Zeit zerstört. Der übergroße Anteil sowjetischer Juden am Befreiungskampf – vom einfachen Soldaten über todesmutige Kampfpiloten bis in die höchsten Ränge der Armee, in der Kultur und der Wissenschaft – blieb unerwähnt oder wurde gar geleugnet. Begriffe wie „Holocaust“ oder „Shoa“ waren noch im gewendeten Russland der 90er Jahre unverständliche Fremdworte. Der erwachsene, wissende Erzähler hadert zu Recht mit dieser sowjetisch/ russischen Praxis der Geschichtsfälschung, entfernt sich damit aber weit von der Erinnerungsposition des Kindes. Der Autor verlässt das enge Spektrum des authentischen Erinnerns und schildert, wie er sich schon früh und unter gossen Schwierigkeiten ein Privatwissen über den Holocaust aneignete. Aber damit stellt er die großen Zusammenhänge her, die seinem Thema angemessen sind. Diesen Perspektiven-Brüchen begegnet der Autor mit der Einführung eines „running gag“ und der aus dem Film entlehnten Techniken von Schnitt, Rückblende und Überblendung.

Nach seiner Emigration 1972 nach Wien arbeitet Malach als Ordner im Jüdischen Museum, in dem gerade eine Ausstellung über den Holocaust gezeigt wird. Er schreitet einen Saal ab, 30 Schritte vorwärts, 30 Schritte zurück, von einer Wand zur anderen: Nie stehen bleiben, nie niedersetzen, immer freundlich antworten, auf Provokationen nicht reagieren, dabei das Geschwätz der Schulklassen und ihrer Lehrer im Ohr, und immer gleichzeitig konfrontiert mit den Totenmasken von Opfern, die sich in den Spiegeln ins Unendliche zu vervielfältigen scheinen. Sind das vielleicht die Gesichter seiner ermordeten Verwandten? Es werden immer mehr, sie kommen einfach daher, dringen durch die geschliffenen Spiegel, als wären sie nicht tot, er hat keine Kraft, sie abzuwehren, sie drohen ihn mit zu reißen. Dazwischen tauchen die Gesichter der Angeklagten im Nürnberger Prozess in seinem Gedächtnis auf, Fratzen, die eitel ins Scheinwerferlicht lächeln, vor Langeweile Nasen bohren oder an ihren Goldbrillen rücken, sich als unschuldig, abhängig oder nur Befehlen gehorchend verteidigen. 30 Schritte vorwärts, 30 Schritte zurück. Ein grausamer, quälender Film in Endlosschleife. Mit solch kinematografischem Erzählen geht er den Geschehnissen auf den Grund. Ein Tip für Drehbuchautoren: ich meine, Isaak Malach hat schon ein Drehbuch für einen Film geschrieben.
In Rückblenden drängen dann wieder die ersten Kriegstage im Juni 1941 herauf: die deutschen Kampfflieger fliegen so tief, dass das fünfjährige Kind ihr Lächeln, ihre Abzeichen und Kappen in den gläsernen Kanzeln erkennen kann, oder die mit naiver Freude betrachteten Leuchtraketen, wie sie in aller Pracht im Abendhimmel verglühen, oder die vertrauten Lieder der Kinder im Bunker, bis er die Todesangst der Eltern, der Nachbarn und der panisch flüchtenden Rotarmisten wahrnimmt, mitfühlen und verstehen lernt. Der Krieg hat viele Gesichter. So wächst das Kind allmählich in das Grauen hinein. Das sind dichte Momentaufnahmen eines unvorstellbar schweren Lebens, das den Namen Kind-heit nicht verdient.
Dann: das mühsame Überleben in der usbekischen Wüste unter den eben erst zu Kolchosbauern gezwungenen Nomaden. Das offenbar intelligente und aufnahmebereite Kind Issja hat ein scharfes Auge für die großen zivilisatorischen Unterschiede zwischen den Flüchtlingen aus dem europäischen Teil und dem sowjetischen Osten. Zuerst gibt es nur das zweifache Sterben, das an den Fronten, von dem die Flüchtlinge nur wenig erfahren, und das alltägliche im Hinterland, an Entbehrungen, an Krankheiten, durch Mangel an Ärzten, Medikamenten und Transportmitteln, der allgemeinen Unterentwicklung und der lebensfeindlichen Natur Zentralasiens. Aber bei aller Armut und Primitivität erinnert er auch Freundschaften, Solidarität und Hilfsbereitschaft.
Malach zeichnet ein eindringliches Bild davon, dass der deutsche Überfall auf die Sowjetunion abseits von den bekannten Schlachtfeldern in allen Familien, in allen Landesteilen von Lemberg, Leningrad, Kursk und Stalingrad bis in die usbekischen Wüsten unermessliche Opfer gefordert hat. Von da nach dort und mittendrin, Issja, ein Kind des Krieges.

Von dem dritten großen Sterben – dem Massenmord an den sowjetischen Juden in den eroberten Gebieten- dringt kein Laut, kein Wort in Wüsten Usbekistans.
Ein Museumswärter geworden, 30 Schritte vor, 30 Schritte zurück zwischen den eleganten Spiegelwänden und dem Stuck an den Decken, die Füße schleifen über das blanke Parkett im Wald der Totenmasken seiner ermordeten Familie; hier ist Issja wieder ganz da in seiner Kindheit, allein mit seinem Erinnern, seinem Wissen und seiner Vergangenheit, die nie aufhört zu vergehen. Dazwischen baut der Autor seinen Text dicht und kunstvoll zusammen, wie eine Fuge, wie ein menschliches Weberschiffchen webt er seinen Teppich aus Schmerz und Trauer, von Spiegel zu Spiegel, angekettet im Käfig der Erinnerungen, und doch vielleicht erlöst durch sein erinnerndes Schreiben.

Dass Isaak Malachs Schaffen ein breites Spektrum hat, zeigen die Gedichte im zweiten Teil des Buches; darüber hinaus schreibt Isaak Malach Erzählungen und Essays in russischer Sprache. Er ist auch Vertoner seiner eigenen Verse. Die vielen persönlichen Fotos reichern das Familien- Buch an zu einem Buch über eine gemordete Epoche.

Ich wünsche dem Buch viele interessierte und einfühlsame Leser, und Ihnen, Isaak Michailowitsch, viel Erfolg und eine lange, gute Gesundheit! Vam, mnogouvashaemi Isaak Michailowitsch, uspechov i dolgowo, choroschewo zdorovja!


Und wenn ich schon mal hier stehe, möchte ich noch einen Wunsch äußern, oder vielleicht ist es eine Vision: dass es genügend Energie und Mittel geben möge, eine russische Version herzustellen, für einen Re-Import, eine Remigration sozusagen. Denn ein solches Buch fehlt bis jetzt in Russland.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Bogdan Bogdanovic

Der verdammte Bürgermeister oder vom Unglück in den Städten
Kulturnotizen aus Belgrad


Was ich jetzt vorhabe, gleicht am ehesten der Überquerung eines Minenfeldes: dass die Explosiva eingegraben sind und hochgehen können, das weiß ich, nicht aber, wo, welche, und wie sie hochgehen. Nach längerem Abwägen habe ich entschieden, dass ich da durch muss, es weder einen Weg aussenrum gibt, noch ein Stehenbleiben oder ein Umkehren.

Bei meinem jüngsten Besuch in Belgrad erzählte ich in einer Runde von Freunden – allesamt Anti-Nationalisten, Kriegs- und Milosevicgegner der ersten Stunde, von denen aber keiner emigriert ist - von der Ausstellung über ihren alten Landsmann, den Architekten und Schriftsteller Bogdan Bogdanovic mit Wohnsitz in Wien seit 1993. Es ist sicher keine Belgrader Spezialität, dass die Daheimgebliebenen die (erfolgreichen) Emigranten mit skeptischer Aufmerksamkeit beäugen oder sie gerne rupfen wie eine eifersüchtige Rabenschar. Wir kamen auf den Medien-Hype um Bogdan Bogdanovic, als Architekt, Essayist, Schriftsteller, Urbanologe, Poet, Mythologe, getaufter Surrealist und Humanist hoch gelobt, die Veranstaltungsreihen, die Buchpräsentationen, die TV- und Radiosendungen, die Vorträge und die Artikelflut. Er wird in den Medien weit über Österreich hinaus in den höchsten Tönen gelobt und mit so gleich lautenden Epitheta wie: ideologie- und pathosfrei, anti-sozrealistisch, originell oder unkonventionell bedacht, als hätte ein Klappen-, Reden- und Katalogtexter vom anderen abgeschrieben einschließlich aller Fehler oder ein einziger sie alle verfasst.
Beim Gespräch über B.B. kommen noch zwei Facetten hinzu: ihm wird von den Belgradern erstens der Emigrantentitel abgesprochen, und zweitens die neue Liebe der Österreicher für die Serben in Zweifel gezogen. Meinen Freunden - zum Großteil dem liberalen Zirkel des „Belgrader Kreises“ nahe stehend oder alte, echte, immer schon, auch zu Titozeiten selbstverständliche Europäer- schwellen die Zornesadern an, haben sie den B.B. nicht so sehr als Denkmalbaumeister- und Architekturprofessor oder gar als Widerstandskämpfer gegen den Milosevic-Nationalismus in Erinnerung, sondern als kommunistischen Bürgermeister von Belgrad der Jahre1982 – 1987, der sich mit mutwilligen Stromabschaltungen ins Gedächtnis der Bürger eingeätzt hat. Auf eine Diskussion über die künstlerischen Qualitäten seiner 20 antifaschistischen Denkmäler, Partisanengedenkstätten und Kriegsfriedhöfe im ehemaligen Jugoslawien will sich hier niemand einlassen; die Frage, ob sie wirklich anti-sozrealistisch, überideologisch, unpathetisch, phantasievoll, unkonventionell, fortschrittlich, surrealistisch uswusf. seien, belächeln meine höflichen Freunde milde, Mumpitz, Schnee aus vergangenen Jahren, darum geht es doch gar nicht, sondern um Politik und Moral. Sie sind streng und geradlinig, meine Belgrader Freunde, schütteln, je nach Temperament, zornig oder lächelnd die Köpfe über die naiven Westler wie auch schon beim Fall Handke.
Milan, ein Journalist, erinnert sich an des Bürgermeisters Fernsehansprache mitten in einem besonders kalten Winter, als er, in einen lächerlichen Schal gehüllt, den Mitbürgern den Stromsparrat gab, den Kühlschrank abzustellen und die Lebensmittel auf dem Balkon oder auf dem Fenstersims aufzubewahren. Ebenso verbot er das tägliche Bad, einmal in der Woche oder noch seltener sollte genügen, damit Warmwasser gespart werden könne. Er verlangte, dass die Nachbarn, die sich nicht daran hielten, bei der Miliz zu denunzieren seien, ebenso die, bei denen keine Plastiktüten auf Balkonen und Fenstern zu sehen seien, bedeutete dies doch, dass diese Übeltäter den Kühlschrank nicht ausgeschaltet hätten. Die Leute seien damals durch stockfinstere Straßen und Stiegenhäuser gestolpert und in kalten Wohnungen gesessen. Und nie hat er sich danach bei den Mitbürgern entschuldigt, der Herr Emigrant, erzürnt sich Milan immer noch. „Soll er doch einmal versuchen, bei Kerzenlicht eine kalte Dusche zu nehmen, wenn es draußen minus 20 hat“.
Djordje, der 80jährige Filmemacher, erinnert daran, dass jemand, der so viele Staatsaufträge bekam und praktisch ein antifaschistisches Denk/mal/bau/monopol hatte, nur ein absolut treuer Vollstrecker der Parteipolitik gewesen sein kann. Als Bürgermeister war B.B. automatisch auch Mitglied des städtischen und Republikskomitees der kommunistischen Partei (Bund der Kommunisten Jugoslawiens), ereifert er sich, er hat die Politik von Milosevic lange mitgetragen, und dieser hat vom älteren Parteigenossen gelernt, wie man in stalinistischer Tradition die Bevölkerung quält, vor allem die des bürgerlichen Belgrad.

Die Dramaturgin Vesna ärgert sich über die ignoranten Westler, die aus jedem Milosevic-Gegner gleich einen Demokraten machen: das sei vollkommener Unsinn, es gab doch auch noch andere Gründe, zum Beispiel die Konkurrenz oder aus anderen nicht-demokratischen Motiven gegen Milosevic zu sein, wie etwa die Altstalinisten den Kurswechsel zum Nationalismus nicht mitmachen wollten. Milosevic kam 1985 durch einen internen Putsch als Belgrader Stadtparteichef an die Macht, erst 13 Jahre später übersiedelte Bogdanovic nach Wien, was heißt denn hier Widerstand? Ja, es gab Schmierereien an den Mauern seines Wohnhauses, vielleicht hat er auch unangenehme Anrufe bekommen, räumt Vesna ein, aber die galten dem verhassten Bürgermeister und nicht seiner angeblichen Milosevic-Gegnerschaft. Er habe seine Wohnung immer behalten, ihm und seiner Bibliothek sei kein Härchen gekrümmt worden. Aber natürlich lebt es sich feiner in Wien, wo man nicht mit Stromabschaltungen rechnen muss, giftet Vesna, die damals ihre alte, kranke Mutter kaum durch die Kälte brachte. „Ich kann diesen Unsinn einfach nicht mehr hören, dass ihn die Nationalisten vertrieben haben und er nach Wien flüchten musste.“ Dieses unbedingte Festhalten am Nicht-Wissen-Wollen treibt Vesna auf die Zimmerpalme. Als würde man noch immer behaupten, die Erde sei eine Scheibe, und dass die Scheinemigranten nicht die Kugel propagieren werden, ist wohl sonnenklar.
Aber eines freut Vesna: dass man seit kurzem die Gespräche über den Alt-Bürgermeister aus den Niederungen von Gerüchten und persönlichen Erinnerungen herausführen kann ans Licht der historischen Dokumentation. Die Belgrader Kulturhistorikerin Irina Subotic hat kürzlich einen umfangreichen Dokumenten-Band über die jugoslawische Avantgardistenbewegung „Zenit“ aus der Zwischenkriegszeit herausgebracht. Die Zenitler bezeichneten sich als „Kinder von Kandinski, Malevic, Schiele, Ilja Erenburg, El Lisizki, Max Ernst und Gropius“, die die Moderne in den jungen Staat brachten. Ihr gehörten die bedeutendsten jugoslawischen Künstler wie Milos Crnjanski, Vinaver, Dedinac, Petrov, und Poljanski an - die Liste lässt sich lange fortsetzen. Als Irina Subotic 1983 im Belgrader Volksmuseum eine Ausstellung über die Zenit-Künstler einrichtete, startete der damalige Bürgermeister eine Hetzkampagne in allerschlimmster stalinistischer Manier, besonders bösartig und lächerlich die Verspätung, meint Vesna, 30 Jahre nach Stalins Tod! Darum mag man hier nicht über den angeblichen „Surrealisten“, „Modernisierer“, „Versöhner“ und „Friedensaktivisten“ B.B. debattieren, als der er sich jetzt feiern lässt. Und ob er aus Überzeugung gehandelt habe oder im Auftrag der kommunistischen Partei, interessiert diese auch Runde nicht, er hat schändlich gehandelt und damit basta! Ein Buch wie das von Irina Subotic, das sei die wahre„Architektur der Erinnerung“, meinen meine Freunde, und dass Autorin und Herausgeber Ljubomir Micic zur Präsentation nach Zagreb eingeladen wurden. Ein Gast fehlte allerdings in Zagreb, spottet die Runde, die Hauptperson ist im schönen Wien geblieben.

Sonja, eine ehemalige, von Milosevic relegierte Universitätsprofessorin und Studienkollegin des Architekturstudenten B.B., bringt den „originellen Kulturkämpfer“ der frühen Tage ein: Jeans waren bei der Jugend de frühen 50er Jahren äußerst beliebt und ein rares Westgut, der Nomenklatura dagegen waren sie als Symbol des amerikanischen Imperialismus und der westlichen Dekadenz ein Dorn im Auge. Als ganz besonders unproletarisch galten die damals modischen superengen Röhrenhosen. Sonja schildert, wie der Parteiaktivist B.B. zusammen mit als Studenten getarnten Geheimdienstlern Jagd auf die Jeansträger machte, diese verprügelt und ihnen die unmoralischen Hosenbeine aufgeschlitzt wurden. Es sei bekannt gewesen, dass an seiner Fakultät besonders viele Studenten denunziert und relegiert worden seien. Lächerlich? Nein, das war damals höchste Parteikulturpolitik. „Wie viele Leben und Karrieren hat dieser furchtbare Stalinist vernichtet“, die feine, alte Dame verliert fast ihre Kontenance, „aber es gab damals so viele davon.“ Ist das ein Trost? „Nein, aber sie sollten sich doch irgendwann entschuldigen, solange sie noch können und nicht neue Lügen verbreiten.“ Was sie damit meint? Diese Bücher, die er in Wien schreibt, schöne Titel erfindet er dafür: „Die Stadt und der Tod“, „Der verdammte Baumeister“ und „Vom Glück in den Städten“. Die Freundesrunde bricht in sarkastisches Gelächter aus, der weiß, wovon er spricht; sie haben die Bücher schon längst umbenannt: Der verdammte Bürgermeister. Vom Unglück in den Städten. Der Kommunist und der Tod.

Warum scheint denn Wien ein so fruchtbarer Boden für Geschichtsfälschungen, Ausblendungen und Halbwahrheiten zu sein, will ich von diesem erlauchten Kreis wissen. Was meinen sie zu diesem Abjubeln und schallenden Schweigen? Da gehen die Meinungen auseinander. Die einen halten das schlechte Gewissen an der Mitschuld für den Zerfall/die Zerschlagung Jugoslawiens für den Grund, also eine Art von Wiedergutmachung, andere die effektive Arbeit der in Wien tätigen serbischen Geheimdienste, also die beliebten Balkanverschwörungsmythen. Ob denn die Schwierigkeiten im Umgang mit der Vergangenheit eine Gemeinsamkeit sein könnte? Da wiegen sie die Köpfe, darüber müssten sie erst noch nachdenken.

In der Belgrader Presse lese ich in den Tagen meines Besuches das Interview eines alten Partei-Funktionärs der Markovic-Ära. Miloje Popovic war ein prominenter Journalist, Mitarbeiter von Ministerpräsident Stambolic und in der Jugend mit den Brüdern Milosevic befreundet. „Nach Titos Tod gab es zwar keinen Krieg, aber in Serbien herrschte ein schrecklicher allgemeiner Mangel an wichtigen Artikeln des täglichen Lebens. Wir hatten keinen Strom, und sicher erinnern sich viele an jene grausamen Stromabschaltungen. Es gab allgemeines Entsetzen, als bekannt wurde, dass sogar dem Generalstab der Strom abgedreht wurde. Der Belgrader Bürgermeister wandte sich an die Öffentlichkeit mit den Worten; wenn ihr irgendwo Licht brennen seht, zeigt eure Nachbarn an. Einige Politiker haben sogar dazu aufgerufen, die beleuchteten Fenster mit Ziegelsteinen einzuwerfen.“
Noch interessanter ist, dass auch von der Jugend an Bogdanovics Bürgermeisterjahre erinnert wird. Anlässlich des 6. Jahrestages des Mordes am ersten nicht-kommunistischen Bürgermeister Zoran Djindjic (später Ministerpräsident) schreibt ein junger Dragan in einem Blog des unabhängigen Radio B92: „Was hat denn Bogdanovic Nützliches für Belgrad getan? Er gab unseren Eltern den zynischen Ratschlag, wenn sie denn unter der Kälte so sehr litten, sollen sie doch einen Pullover mehr anziehen. Und die Nachbarn anzuzeigen, könne auch das Herz erwärmen“.
Ein anderer Blogger, Mladen 21, schildert eine Episode, die ihm sein Vater erzählte: Dieser sei während der Stromabschaltungen einmal durch die stockdunkle Knez Mihajlova (Belgrads Fussgängerzone) getaumelt, als er Ohrenzeuge eines intimen Gespräches einer Kollegin, die er verehrte, mit ihrem unsichtbaren Liebhaber wurde. Nur an der Stimme habe er sie erkannt und zur Kenntnis nehmen müssen, dass er bei ihr keine Chance habe. „Ich wünsche Bogdan Bogdanovic alles Mögliche, aber nicht die Qualen, die mein Vater erleiden musste“, schließt Mladen, 21.

Und warum sich freiwillig ins Minenfeld begeben? Ich persönlich habe doch nicht unter B.B.s Stromabschaltungen gelitten, nur ein Jahrzehnt später unter denen des Slobodan Milosevic, während der ich auch Zeugin wurde, dass man S.M. immer zähneknirschend mit B.B. verglich; und ich habe erlebt, mit welcher Freude, Begeisterung und Erleichterung Zoran Djindjic nach den heiß umkämpften Kommunalwahlen im Jänner 1997 als erster nicht kommunistischer Bürgermeister gefeiert wurde. „Belgrad hat sein Herz zurückbekommen“, hieß es damals, denn das weltoffene, multinationale, liberale Belgrad behauptete von sich, nie mehrheitlich kommunistisch gewählt zu haben.

Minenfeld? Sicher! Aber vielleicht bin ich es meinen Belgrader Freunden schuldig.