Freitag, 19. Dezember 2014

Unbestimmte Liebesfülle

Zwischenruf zu Peter Handkes „Geschichte des Dragoljub Milanovic“ im Presse-Spectrum vom 5.8.2011

Da steht einer auf der Kanzel und klagt, dass er keine Kirche hat und keine Zuhörer, dass er zum Chorgestühl, den Betschemeln und dem leeren Opferstock predigen muss, vielleicht sogar nur zu sich selbst. Ich habe kein Gegenüber, greint er, niemand will meine Geschichte hören, sie ist doch so dringend, stark und wahr. Dabei ist das Gotteshaus gut gefüllt und die willig Lauschenden zu seinen Füßen wundern sich: sind wir etwa nicht die Richtigen, die gekommen sind? Und dass ausgerechnet der wahrhafteste und demütigste aller Prediger, Meister Eckhart, als Zeuge für eine solche Epistel herhalten muss, das haut dem Weihwasserfass den Boden aus.

 „Was mich zum Schreiben gezogen hat, war ein Gefühl überwältigender Liebe, wobei ich nicht wusste, was ich damit anfangen sollte. (...) Aus unbestimmter Liebesfülle hat es mich hingezogen zur Schrift. (...) Man möchte jemanden umarmen, und dieses Umarmen ist dann das Schreiben.“( Interview A. Müller, 1989) Im Spectrum hat Peter Handke,  wie immer liebend,  nicht aber wie sonst die Welt umarmt, sondern diesmal bekommt die unbestimmte Liebesfülle  ein gewisser Dragoljub Milanovic ab, derzeit einsitzend im Gefängnis von Pozarevac, Nordost-Serbien. Ein Belgrader Gericht hat den früheren Direktor des staatlichen serbischen Fernsehens RTS (in Handkes Poetologie: staatlichserbisch)  verantwortlich gemacht für den Tod von 16 Menschen und ihn zu 10 Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er gegen besseres Wissen das Fernsehgebäude nicht räumen ließ und die Angestellten bei Androhung der Kündigung zur Arbeit zwang. In der Nacht vom 22. auf den 23. April 1999, mitten im Kosovo-Krieg,  zerstörten zwei NATO-Raketen das Belgrader Fernsehgebäude:16 Angestellte starben, 16 wurden verletzt, drei davon schwer. Was soll heißen: gegen besseres Wissen? Ganz Belgrad wusste von der Bombenwarnung gegen RTS, sie war öffentlich bekannt gemacht worden, die Bewohner der umliegenden Häuser zogen aus, CNN hatte am 21. April seine Studios verlassen. Die damaligen Mitarbeiter des ORF-Belgrad erfuhren noch am selben Abend über Reuters von der bevorstehenden Bombardierung. Sie sollten Vizeregierungschef Vuk Draskovic interviewen, der ebenfalls informiert war: „Sind Sie wahnsinnig geworden oder lebensmüde? Doch nicht im RTS!“ Um 19h montierte und überspielte der ORF-Cutter noch einen Beitrag für die Zib 2, Raimund Löw kommentierte. Um 2.06h früh stand das Gebäude nicht mehr, 16 Mitarbeiter tot, 16 verletzt, 3 davon schwer, (ich wiederhole es!), weil Direktor Milanovic die Evakuierung verweigert hatte. Er selbst war nicht anwesend in der Aberdareva-Straße im Belgrader Stadtzentrum. Seine Beweggründe hat er im Prozess nicht enthüllt. Das Gericht stellte 2002 fest, dass der TV-Direktor gemäß den Sicherheitsregeln der Regierung die Mitarbeiter nach Hause hätte schicken müssen, dies aber aus ideologischen Gründen nicht getan habe, um die Zahl der zivilen Opfer zu erhöhen und damit die NATO zu diskreditieren.

Deutlich erinnere ich mich an das Silvester-Programm von RTS rund ums Neujahr 1994/95.  Die Lage war dramatisch, da NATO-Schläge angekündigt waren,  nachdem die UNO die serbischen Belagerer von Sarajewo und sechs anderen bosnischen Städten aufgefordert hatte, die schweren Waffen aus einem Umkreis von 20 Kilometern abzuziehen. Obwohl Radovan Karadzic diese UNO-Resolutionen unterschrieben hatte,  rief er  seine Anhänger dazu auf, sich auf  Straßen und Brücken im Protest zu versammeln und den NATO- Bomben zu trotzen. Ratko Mladic steuerte das Seine dazu bei: er ließ rund 400 UNO-Soldaten entführen und kettete sie an Brückengeländer und Masten, in dem Sinne: kommt nur und bombardiert eure eigenen Leute. Bizarr? Nein, damals Alltag in RTS, rund um die Uhr und live, TV-Direktor war Dragoljub Milanovic.  Zur Schande für den später  ermordeten Zoran Djindzic, stand auch er damals  Hand in Hand mit Karadzic auf der Autobahnbrücke von Pale und betete die NATO-Bomben herbei, die  erst sechs Monate später kamen. Das scheint mir das Vorleben zu Handkes „Geschichte“ von Dragoljub Milanovic und seinen Abzugsbildern zu sein: Ich lasse meine 120 Mitarbeiter im Gebäude, dann werden „Bill und Tony“ (Clinton und Blair) nicht bombardieren, oder wenn doch, dann stehen sie als Mörder in der internationalen Öffentlichkeit am Pranger, so wie Handke vom Sieg der „Westmächte“ (ein altes Kommunisten-Wort übrigens) über das kleine, unschuldige, in der Geschichte immer richtig liegende, vom Westen mutwillig auseinander gebombte Serbien spricht. Und wieder kein Wort, kein einziges, zu den Kosovo-Albanern, wie schon damals im November 1995, als er - wohlweislich nach dem Krieg- einen halben Fuß über die Drina setzte und die bosnischen Opfer aus seiner Wahrnehmung aussparte oder verhöhnte (die “Leidensposen und Martermienen“ der bosnischen Lagerhäftlinge, Gerechtigkeit für Serbien S 41).  Noch einmal: 16 Getötete, 16 Verletzte, drei davon schwer. Schrecklich. Amnesty International stuft dieses Ereignis als „ungesühntes Kriegsverbrechen“ ein, und ich stimme zu. Es muss untersucht und vor den internationalen Gerichtshof gebracht werden, wie es zur Schreckensnacht vom 23. April 1999 kam. Das wird aber nur eine demokratische Regierung Serbiens innerhalb des europäischen Verbandes leisten können, mit Hoffnung auf beides. Handke erzählt in diesem Vorabdruck seines neuen Buches, wie er Milanovic zweimal im Gefängnis besucht, einmal mit einer internationalen Delegation und einmal allein mit seinem Übersetzer. Er geht mit all seiner dichterischen Liebe vor diesem Märtyrer in die Knie, umarmt ihn mit Worten, erfühlt seine „Kindlichkeit jenseits von Schuld und Unschuld“, legt ihm tröstend die Hand auf und tauscht Verse mit ihm aus. Gruß von Elfriede Jelinek: „Das nenne ich Dichtung! (...) Ohne sich zu zügeln, sagt einer etwas. Er wird nicht bestraft.“ (O Wildnis, o Schutz vor ihr.) Und auch an Kafka: „Schriftsteller schreiben Gestank“ (Tagebücher aus dem Jahr 1910). Wenn das nicht nach Kriegspornographie stinkt, dann nach Kriegskitsch. Wer Handke mit Fakten kommt, den verspottet er als „Realitäts-Tümler“ und „Seins-Nichtse“ (Kindergeschichte), Handke ist ja ein Dichter, die Politik ist ihm pfui, die Illusion ist ihm rein und wahr, nur die Wirklichkeit stört die Wahrheit. Darum kann er auch behaupten, Milanovic sei der einzige wegen des Kosovo-Kriegs Verurteilte. Die Generäle der JVA (Jugoslawische Volksarmee) Nebojsa Pavkovic und  Momcilo Perisic sitzen für den Massenmord an Kosovo-Albanern mit langen Haftstrafen zwar nicht „im eigenen Land“ wie Milanovic ein, sondern in Scheveningen. Wer ist Dragoljub Milanovic, für dessen Freilassung Handke seit einem Jahr eine internationale Kampagne betreibt und diesem nun ein ganzes Buch (90 Seiten) widmet? ( am 28. Aug. bei Jung&Jung) Der aus dem Kosovo stammende Milanovic studiert in Pristina südslawische Literaturen, arbeitet dann als Journalist bei TV-Pristina und Politika Ekspres in Belgrad, beide aggressive Trommler der Anti-Albaner-Politik des Slobodan Milosevic. Kurz vor seiner Auflösung wird er 1989 zum Parteisekretär des Bundes der  jugoslawischen Kommunisten gewählt (BdKJ), zu Beginn des Bosnienkriegs 1992 Chefredeakteur, 1995 TV-Direktor, eine der wichtigsten Machtpositionen im Milosevic-Regime und die flächendeckende Kriegstrommel des Landes. Milosevic brauchte kein Propaganda-Ministerium, er hatte RTS. Eine einzige richtige Aussage enthält der Handke-Text: „Der Sender war ein Symbol, stärker als Slobodan Milosevic“, weil seine nationalistischen Einpeitscher schärfer waren als der Auftragsgeber selbst. Wegen des Zusammenbruchs des Zeitungsmarktes und der Knebelung der Oppositionsmedien war RTS mehr als ein Jahrzehnt die einzige „Informationsquelle“ für 99% der Bevölkerung und neben Polizei und Geheimdiensten die mächtigste Stütze für Milosevics Machterhalt. Den unabhängigen Sender B-92 konnten gerade mal 300 000 Belgrader sehen, die  oppositionelle Tageszeitung „Nasa borba“ (Unser Kampf) und das Wochenmagazin „Vreme“ (Die Zeit) hatten zusammen eine Auflage von maximal 130 000. RTS instrumentierte nicht nur die nationalistische Hetze gegen andere Ethnien, es organisierte auch immer diensteifrig Milosevics Wahlbetrügereien, Bankenabzocke und Hyperinflation. Dagegen nie gezeigt hat RTS Bilder von der Zerstörung Vukovars, der Einnahme von Knin, der ethnischen Säuberungen in der Krajina, Ostslawonien und Bosnien, von der 1250 Tage dauernden Belagerung Sarajewos mit 11 000 Toten, von den Flüchtlingsströmen der Krajina-Serben, die nicht nach Belgrad gelassen, sondern in den Kosovo abgeschoben wurden, von der Ermordung der 8000 Bosniaken aus Srebrenica, von der hungernden und frierenden Bevölkerung in Serbien während der Stromabschaltungen in den kalten Wintern 1993 und 94, von den Streiks der zwangsbeurlaubten Arbeiter von Kragujevac, von den Blockadebauern der Wojwodina, von den rund 300 000 jungen Serben, die lieber  überallhin in die Welt emigrierten, als sich in den Krieg schicken zu lassen, meistens die Elite, von den Mafiastrukturen der Geldwechsler und Nachtclubbesitzer, der Benzin-, Zigaretten- und Autoschmuggler, von den Zehntausenden traumatisierten Kriegsteilnehmern und Invaliden, die der Staat in ihrem Elend allein ließ, von den trauernden Eltern, deren Söhne in den Kriegen verheizt wurden - kein Bild, kein Wort. Wenn das Elend der eigenen Bevölkerung vorkam, dann wurden die UNO-Sanktionen, die „Westmächte“ die NATO,  die BRD („das 4. Reich“ in der Propagandasprache von RTS), der Vatikan, die kroatischen Ustaschen, die deutschen und österreichischen Außenminister Genscher und Mock,  die „Mudschaheddin“  vulgo die „Türken“ (in der Hasssprache von RTS für Bosniaken, die Handke „Muselmanen“ nennt) dafür verantwortlich gemacht, selbstredend nie das Regime. Vuk Draskovic prägte – nach seiner reuigen Abkehr vom Nationalismus - den Begriff vom „TV-Bastille“ für das staatliche Fernsehen. In seltener Einigkeit rannte die Opposition mit zahllosen Demonstrationen und Belagerungen erfolglos gegen TV-Bastille an als die Speerspitze des künstlich erzeugten Nationalitätenhasses und der Volksverdummung. Die nicht-nationalistischen Milosevic-Gegner forderten schon lange vor Gründung des Haager Tribunals Gerichtsprozesse gegen die Schar der Schreibtischtäter und Kriegsprofiteure vom Schlage des Herrn Milanovic. So stellte etwa die Dramaturgin Borka Pavicevic ihren Theaterbetrieb aus Protest gegen Milosevic ein und gründete in einem Belgrader Hinterhof das „Zentrum für kulturelle Dekontamination“ oder demonstrierten die „Frauen in schwarz gegen den Krieg“ jeden Mittwoch um 15h am Platz der Republik in Belgrads Zentrum, wo sie von Leuten wie Milanovic beschimpft und angespuckt wurden. 

Jeder Leser des Handke-Pamphlets – so auch ich- möchte den Schriftsteller fragen, was ihn schon so lange Jahre fasziniert  an diesem verbrecherischen Regime, warum er freundschaftliche Kontakte zu dessen abscheulichsten Vertretern hegt und pflegt. Was ist es, das Sie nicht los lässt, Herr Handke? Warum fühlen Sie sich so angezogen von dem jetzt zum Glück der Vergangenheit angehörenden Unrechtsregime und seinen Handlangern? Warum gelten Ihr Mitleid und Ihr Gerechtigkeitssinn immer den falschen Leuten? Und wenn einmal die Zeit kommt- hoffentlich bald-, in der auch die letzten Milosevic-Schergen, die Karadzic- und Mladic- und Hadzic-Verstecker, die Djindzic-Mörder und Draskovic-Attentäter, die Journalisten-Entführer und -Verprügler, die orthodoxen Waffen-Segner und die Jungen-Männer-an-die-Front-Verschlepper entlarvt sein werden oder ihnen das Geld ausgeht, dann werden auch diese Frage geklärt sein.

 Könnten Sie Ihrer Kollegin Herta Müller in die Augen schauen und ihr die Hand geben (was sie wahrscheinlich nicht tun würde), wenn sie sich öffentlich entsetzt, trauert und ihren Schmerz zeigt über den Verrat von Oskar Pastior? Oder gar die Vorstellung, Herta Müller spazierte mit den Schergen des Ceaucescu-Regimes durchs schöne, arme Rumänien und schriebe ein Buch nach dem anderen darüber? Aber halt, Herta Müller ist ja ein Opfer, Handke ist ein Nutznießer. Serbien sells. Wie verräterisch Sprache doch ist!  Genau wie RTS apostrophiert Handke in seiner Milanovic-Verteidigung Blair und Clinton mehrmals als „Tony und Bill“: die Ansprache mit den Vornamen gibt eine Vertrautheit mit den Personen vor, die man dann getrost als persönliche Feinde hassen darf; gleichzeitig werden sie wegen ihrer vermeintlichen Banalität herabgewürdigt und des politischen Gewichts beraubt  - eines der typischen Kennzeichen für die menschenverachtende Sprache der Kriegsmedien, so wie der bosniakische Präsident Izetbegovic vom RTS als „Alija“- ein eindeutig moslemischer Name -  immer nur die tiefste Verachtung abbekam.

 Der serbische Schriftsteller Aleksandar Tisma hat auf meine Frage über Peter Handkes erstes
Serbien-Buch „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“, Suhrkamp 1996)  weise lächelnd geantwortet: „Über Narren spricht man nicht.“ Und nachdem Handke Jahre später darauf aufmerksam gemacht worden war, dass er neben dem nationalistischen Schriftsteller Milorad Pavic, mit dem er 1995 eine Reise ins südserbische Kloster Studenica (ebd. S 76ff) unternahm, vielleicht sich auch mit dem international angesehenen Tisma sehen lassen sollte, drängte er sich bei ihm ins Haus. Tisma darüber resigniert: „Was sollte ich machen? Man hat ihn mir gebracht. Es war ein Überfall.“ Und warum hat Tisma in seinem Roman „Der Gebrauch des Menschen“  dem schrecklichsten KZ-Wärter der gesamten Literatur den Namen Handke gegeben, fragte ich ihn: „Das müssen Sie schon selbst heraus finden.“

Vielleicht wird Aleksandar Tisma auch nicht mehr umarmt. Vielleicht wurde ihm die „unbestimmte Liebesfülle“ entzogen, ist er ein „Unnützer“ geworden, so wie Thomas Bernhard in der Kleinen Zeitung am 14.8.2011 von Handke hingerichtet wird: „Thomas Bernhard ist Sand. Mit Thomas Bernhard kann man nichts bauen. Der ist Sand. Unnützer. Treibsand.“  Ein Seins-Nichts. Ein Unnützer muss beseitigt werden. Treibsand ist tödlich. So funktioniert Hass-Sprache.





Conny Hannes Meyer


Conny Hannes Meyer

abseits der wunder
Ein Gedicht
Verlag Bibliothek der Provinz

Artikel für website von Conny Hannes Meyer

Es muss etwas passiert sein, etwas Schreckliches, eine Katastrophe.  Die Welt ist zerstört und unbehaust, ein Schlachthof, die Menschen sind unmenschlich, ein Abschaum wie aus Rattenlöchern,  die Sonne ist  gefesselt, der Himmel vergittert und flirrend  von Fleischfliegen. Ein Mensch wandert durch diesen Trümmerhaufen und schleudert seinen stummen Hass gegen die verschlossenen Türen. Das hohle Tock-Tock des Einbeinsoldaten mit Krückstock schallt durch die versifften Hinterhöfe. Da kehrt einer zurück aus der Apokalypse in eine unerträgliche Gegenwart. Das große Morden ist gerade erst vorüber.  Er ist jung und voll Hass auf alles Althergebrachte. Dieses Ich ist aber keineswegs stumm, wie es von sich behauptet, sondern wortgewaltig, wortgewalttätig.

„Friedlich hinter bunten butzenscheiben
niedlichen wachsfigurengrippen
bauernkrügen steinmadonnen elfenbeinkönigen
eisernen streitkolben leiderpeitschen reiterpistolen
krummschwertern brustpanzern kettenringhemden dolchen (...)
grünspanige totschlägerorden metzgermedaillen
mordauszeichnungen mit staatswappen
die deckt kein seidenfächer zu
keine gesangsvereinsfahne
zinnerne würfelbecher damenkämme aus japan und zigeunerketten (...)
auf grünem biedermeierstuhl steht steif
die abschiedsbriefkassette
im sanften holztruhmoder weihrauchruch verrostet
und das habt ihr uns hinterlassen
zinnsoldaten und massenmord
negerpuppen und rassenhass (.)“

So sieht die Welt des Heimkehrers aus. Aber anders als der Borchardt`sche Beckmann
hadert er nicht mit der Welt und mit Gott, sondern nennt die Schuldigen beim Namen, nennt die, die in die Katastrophe geführt haben und danach nichts davon wissen wollen, nichts einsehen und nicht bereuen,  weitermachen und sondern so tun, als wäre nichts geschehen.  

Anders als Beckmann, den sogar das Wasser, in das er geht, wieder ausspuckt  (Gott will seinen Selbstmord nicht annehmen), den seine frühere Geliebte vor die Tür setzt (ein Einbeiniger ist kein Mann), wehleidig und jammernd nicht in die Gesellschaft zurück findet,  will der Rückkehrer des Gedichts einen Neuanfang mit Kehraus, setzt seine Jugend, seine Kraft und seinen Erkenntniswillen gegen die ressentimentgeladene und weinselige Nachkriegsbarbarei. Er will sein Leben in die Hand nehmen; Lehrlingsausbildung und Studium sind dem elternlosen Nobody verschlossen, er versucht sich als Bauhilfsarbeiter, Textilvertreter, Konsumneuling, Politadepte, Armeerekrut. Wegzugehen aus diesem Land, weit weg, irgendwohin auch nur eine Flucht, erkennt er trotz aller Versuchungen,  feig wie die der Alten. Er durchschaut die Scheinwelten- und Alternativen und rettet sein kleines Leben in die Phantasie, ins Kino, ins Tanz- und Rausch- und Sportvergnügen. Es wird ihm klar, dass er da überall fehl am Platz ist. 

„bleibe allein
alle lachen ich lache mit
aber ich bin nicht froh
alle singen ich singe mit
aber es klingt nicht richtig (...)
gummiwülste auf der zunge
so geh ich zurück
weiß
jetzt habe ich mich entschieden
entschieden
statt zu jammern zu handeln (...)
ab heute will ich misstrauisch sein
fragen und lernen wie nie (.)

Der Heimkehrer ist noch nicht angekommen, aber er hat ein Ziel gefunden
„eine Zeit kommt
mit kammerkonzerten wilden fragen und gebeugtsein über bücher
voll wissenwollen bildgalerien
taumelnde farben formen ernste gespräche
und das irdische paradies findet noch nicht statt (...)
und keine fahne wird aufgezogen
keine jubelhymne angestimmt aber
die dummheit wird zum todfeind erklärt und
die unwissenheit zur schande (...)
dass die asche der ermodeten verbrannten nicht schreit
und die gekreuzigten nicht immer wieder
immer wieder an das kreuz geschlagen werden
der bombenangstflut wird ein damm gesetzt
und dem schicksal ein denkmal:
hier ruht es
denn wir
wir sind an seine stelle getreten (.)

Das 57 Seiten-Gedicht ist ein langer, großer, wilder Aufschrei, Trommelwirbel, Marschgedröhn mit der tock-tock-Untermalung des Einbeinigen und der kratzenden Geige des ausgehungerten Hinterhofsängers, sich überstürzende Wort- und Bildexplosionen, eine Symphonie von Feuerwerksraketen,  Kaskaden von verräterischen Kleinbürgeraccessoirs in tollkühner Zusammenstellung – das Heinkehrer-Ich registriert alles und zertrümmert alles, voll Hass und Abscheu,  aber ohne jemals des Wunsch nach einer anderen Welt aus den Augen zu verlieren mit einem angemessenen Platz darin für sich selbst, bis er ihn gefunden glaubt – im Lernen, Kennenlernen und Nichtvergessen. Dieser Platz wird für den Rest des Lebens das Theater sein. Das ist der Ort, „wo er mitlacht und singt und alles richtig klingen wird.“

Der Entwicklungsroman ist schon lange als Genre eingeführt, ein Entwicklungsgedicht, der Werdegang eines Ich in Gedichtform ein modernes Wagnis, das C.H. Meyer gelungen ist, mit schonungsloser Offenlegung der Nachkriegs- und Wiederaufbaugesellschaft. Übertragbar aber auf jede Epoche, in der die nachstürmende Jugend etwas Neues will, ihren Platz sucht und den alten Moder zerreißt.

Wien, März 2011