Mittwoch, 7. Dezember 2016

Der Bärenaufwecker von Kittsee

Wikipaedia machts möglich. Spontan nachgeschlagen nach Hofers Sager vom aufgeweckten Bären:
"Bären sind eine Säugetierfamilie (Mammalia) aus der Ordnung der Raubtiere (Carnibora). Die Familie umfasst acht Arten und zählt zur Familie der Hundeartigen."
Wikipaedia war gestern. Gestern ist eine neue Art hinzugekommen - der Burgenlandbär - Ursus burgenlandensis. Er wurde am Barbaratag in den tropischen Regenwäldern um Kittsee gesichtet und vom WWF sofort als bedrohte Art anerkannt. Er hat angekündigt, zu seinem Schutz rund um Kittsee ein weitläufiges Reservat einrichten zu wollen, den ersten "Kittseer Bärenpark".
Damit soll vorgesorgt werden, dass es zu keinen Problembären kommt und die Gegend keinen Bärenanwalt oder Bärenbeauftragten braucht.
Da die Raubtiere von den Germanen oft als Feind angesehen wurden, verwendeten sie statt dem offen ausgesprochenen Wort Bär das Tabuwort "Der Braune". Auf dasselbe Motiv, die Angstbewältigung, geht die Verniedlichung zu Meister Petz, Petzi oder Teddy zurück. Andere Kulturen sahen in ihnen vor allem Honigdiebe, daher heißen die Bären in allen slawischen Sprachen medved (med=Honig).
Das althochdeutsche Epos "Beowulf" macht den Honigdieb in Wolfsgestalt zu seinem Helden. Weit zurück in die Mythologien der Menschheit reicht die Gestalt des "Werwolfs", ein Mensch, der sich in einen Wolf oder Bär verwandeln kann und vor allem in Vollmondnächten über die Menschen herfällt.
Nach ersten, noch unbestätigten Berichten des WWF weist der ursus burgenlandensis einige Besonderheiten auf. Er ist ein Allesfresser und hat ein besonders großes Maul, das er gern voll nimmt, vorlieblich mit Honig, Fischen aus den Karpfenteichen bis zu Weintrauben und Äpfeln. Es wird angenommen, dass seine Fähigkeit, die Bärenstimme wie Kreide klingen zu lassen, von den kreidehaltigen Böden des Rosalien- und Leitha-Gebirges- die Ufer des Pleistozän-Meeres- herstammen. Weiters hat er die Fähigkeit, sein Bärenfell aussehen zu lassen wie ein Schaffell, er hat sozusagen ein Wechselfell. Er kann lange blöken, und dann plötzlich im 2-Minuten-Takt grunzende Laute wie Lügekommunistspion auszustoßen- Üeouio- oder umgekehrt. Hauptsache Brüll.

Genau vor dieser optischen wie akustischen Camouflage warnt der WWF die Umwohner von Kittsee, die vielleicht in Kontakt mit diesem neu entdeckten Ursus burgenlandienis kommen könnten. Denn ein mutwillig aus dem Winterschlaf geweckter Bär ist auch für Menschen gefährlich. Gefährdet sind vor allem Kinder und Jugendliche, die von solchen Wesen bisher nur von Harry Potter aus Hogart`s Castle gehört haben.
Zu einer weiteren Gruppe von Gefährdeten zählt der WWF die männlichen, besorgten dauersitzenden Wutbürger in den Wirtshäusern, die die regionale Wirtschaft mit ihrem Konsum im völkischen Kreislauf halten.
Was der WWF näher erforschen will, das sind die Folgen des gerade erst gesichteten, zu früh aus dem Winterschlaf aufgeweckten ursus burgenlandensis.
Die Flüsse und Teiche sind zugefroren, die sind Honigbienen ausgestorben oder ins Rift-Valley ausgewandert.
Die Kindergärten und Schulen von Kittsee sind daher jetzt von Mauern umgeben, und Rollen mit NATO-Zäunen sichern die Wege in die Wirtshäuser und Kellergassen ab.
Das große Rätsel ist laut WWF, dass sich ein einziger Bär der nun achteinhalb Arten der nördlichen Erdhälfte an einem 4. Dezember aufwecken lässt. Um diese Zeit sind sie so satt und angefressen, dass sie nur verdauen und schlafen. Den Kreislauf haben sie auf ein Minimum heruntergeschraubt. Damit schaffen sie es, nur noch dreimal in der Minute einatmen zu müssen. Geht ja auch nicht anders, in so einer kleinen, geschlossenen Bärenhöhle.
(Mir gefällt immer ganz besonders der russische Ausdruck für eine absolute Unordnung: Da siehts ja aus, geht es zu, riecht es wie in einem "berlog"- eine Verballhornung des deutschen Bärenlagers.)
Ein Berlog wird es in Kittsee oder im FPÖ-Klub nicht geben, obwohl, manche Düfte, Blutundbodengerüche wehen da schon herum. Bären sind bekanntlich Einzelgänger, die ihr Territorium nur mit eigenen Körpersäften markieren.

Mein Volk, unser, mein Österreich, unsere Kinder , von einer Partei, die gerade noch Österreich als eine nationale Missgeburt bezeichnet hat. Schon vergessen?
Strache oder Hofer haben ihr Volk?
Die Österreicher sind ihr Volk?
Hofer hat gestern, mindestens 8mal gesagt, das Volk hat immer recht, ihre, eure Stimmen sind die Wahrheit. Ich will keine Leute, die nur eine einzige Wahrheit haben und sie für sich beanspruchen.
Ich bin nicht irgendwessen Volk, und wenn, dann will ich das selbst bestimmen.

Das Volk hat immer recht“: Hitler gewann in einer demokratischen Abstimmung. 70 Jahre propagierte die Sowjetunion "den Willen des Volkes", die KPÖ hatte ihre „Volksstimme“, und bis heute benützen alle Usurpatoren, von Tadschikistan bis Ghana, den sogenannten Volkswillen für ihre diktatorischen Gelüste. Genauso primitiv wie Trump schreit: "It`s you, the people!", wenn er sich meint.

Der Bärenanwalt des WWF entwarnt: Es ist unwahrscheinlich, dass der Ursus bugenlandensis aus seinem Bärenlager hervorkriechen und unsere Honigbäume und Karpfenteiche plündern wird.


Veronika Seyr
5.12.16

Die Insel Freedom

Das Schiff "Joy of Freedom" mit etwas mehr als hundert Flüchtlingsfamilien an Bord brach nach Australien auf, erreichte aber nie seinen Bestimmungsort. Kein Bericht von einem Überlebenden oder einem zum Schiff gehörenden Gegenstand gelangte je in die Welt. Der Kapitän und der größte Teil der Mannschaft ertranken bei einem Unwetter, viele Frauen und Kinder starben an den Strapazen der ersten Woche auf hoher See, in kleinen Booten oder auf den Planken. Aber etwa hundert Menschen erreichten eine kleine Insel vor der Westküste Australiens. Diese Überlebenden siedelten sich auf der Insel an, die sie natürlich Freedom tauften. Das war auch das einzige gemeinsame Wort, denn die Kolonisten kamen aus den verschiedensten Ländern: Rohyngia aus Myanmar, Minderheiten aus Thailand, den Philippinen, Indonesien und anderen asiatischen Gebieten wie etwa den noch immer namenlosen Inseln in der Molukken-Straße.

Zuerst bauten sie Hütten, dann eine Schule, eine Kirche, einen Tempel, ein Rathaus, sogar ein Theater, eine Bibliothek und auf der Erhebung des höchsten Hügels einen Leuchtturm. Sie gaben ihren Gebäuden Namen aus ihren früheren Heimaten. So hieß zum Beispiel die Schule Rangun, die Kirche St. John, der Tempel Bali, das Rathaus Borneo, das Theater Goa, und den Leuchtturm nannten sie aus unerklärlichen Gründen La Puta, wahrscheinlich weil sich das Wort für alle gleich leicht aussprechen ließ. Später hieß die ganze Insel einfach nur noch Laputa.
Entgegen der Schrecken der Reise fanden sie auf der Insel günstige Bedingungen vor. Es herrschte ein gleichmäßig mildes Klima, es gab reichlich Wasser, keine wilden Tiere bedrohten sie, der reiche tropische Wald mit Früchten und Kleingetier konnte sie ernähren, und die Insel war umgeben von fischreichen Gewässern. So begannen sich die Kolonisten zu vermehren und eine laputianische Gemeinschaft zu bilden.
Doch dann erschütterte ein Ereignis die Insel. Sie verloren ihre besten vierzehn Männer, die sich mit einem roh gezimmerten Floß nach Osten aufmachten. Ob die letzten Erinnerungen an das ursprüngliche Ziel der "Joy of Freedom" sie zu dem Wagnis verleitet hat, einen Ausbruchsversuch zu machen? Oder die Vision einer Küste, die manchmal bei Sonnenaufgang am Horizont vor Laputa auftauchte? In Laputisch nannten sie diesen Sehnsuchtsort Palmibarbi nach den heimischen Palmen, andere sagten lieber Luggnagg, nach dem besten Fisch in ihren Gewässern.

Niemand kann sagen, was mit den Auswanderern geschehen ist. Aber eines Tages wurden einige behauene, ausgebleichte und vom Wasser ausgehöhlte Palmenstämme am Strand angetrieben. Gleichzeitig mit ihnen kamen die Riesenmolche auf die Insel, die es nur in Australien gab. Danach wagte lange niemand mehr, die Insel zu verlassen, und die Außenwelt geriet allmählich in Vergessenheit. Sogar den Leuchtturm ließen die Insulaner verfallen und fütterten das Feuer nicht mehr. Allerdings erwiesen sich die Molche als gelehrig und eigneten sich hervorragend als Gehilfen der Muscheltaucher. Das Muschelfleisch galt den Insulanern als Delikatesse, wobei sie die Schalen und Perlen als Abfallprodukte den Kindern zum Spielen gaben.

Am 30. Dezember des Jahres .....04 landete ein Schiffbrüchiger auf Laputa, ein finno-lettischer Seemann, der lange in einem offenen Boot getrieben war. Er war ungewöhnlich groß, hatte eine weiße Haut mit blauen Adern und bräunlichen Flecken, keine Haare auf dem Kopf, dafür aber einen mächtigen roten Bart.
Die Insulaner wunderten sich nicht sonderlich über sein Aussehen, hatten sie doch selbst einige Besonderheiten aufzuweisen. Sie waren nicht größer als fünfzehn- jährige Pygmäen, ihre Köpfe waren alle entweder nach rechts oder nach links geneigt; eines ihrer Augen war nach innen und das andere senkrecht auf den Zenit gerichtet. Sie liefen immer nackt herum, sodass man sie nur an ihren körperlichen Unterschieden auseinander halten hätte können. Die lange Isolation und die Inzucht hatten sie aber so abgeschliffen, dass sie einander glichen wie eine Kokosnuss der anderen. Zusätzlich erschwerend war es, dass sie offenbar keinen König oder Königin hatten, keinen Führer oder Führerin, keinen Häuptling oder eine Zauberin, also nichts an sich hatten, an dem man eine Rangordnung ablesen hätte können.

Es brauchte viele Jahre, bis der Fremde ihre laputische Sprache halbwegs erlernte und den Freedomianern etwas von seiner „Welt da draußen“ erzählen konnte: Verschwommene Berichte von Ländern am Rande eines Ostsee genannten Meeres, wo es acht Monate Winter mit Eis und Finsternis gab und das Meer zufror, wovon sie aber keine Vorstellung entwickeln konnten. Dabei waren sie neugierig und offensichtlich gelehrig.
In den Gegenden, von denen der Fremde zu ihnen sprach, wurde einem gewissen Obamaputintrump geopfert, offenbar einem dreiköpfigen Häuptling. Von einer EU und einem IS erzählte er, einer UNO und Opec, einer EFTA, WHO, WLO, NASA und VRChina. Er verwirrte die Insulaner sehr mit all diesen Grexit, Brexit, Öxit und Schottixt, Katalanixt, Baskixt, Kosovonixt und Republikasrpstkixt. Sosehr sich der lettische Riese auch bemühte, sie verstanden nix. Danach tauften sie ihn Letnix, was sich bald zu einem Nix verkürzten. Das einzige, was ihnen gefiel, was sie offenbar unmittelbar ansprach, was sie sofort verstanden und nachahmten, war seine Art zu singen und zu tanzen. Er nannte das Tango. Tan-go, das war auch ein Wort, das sich gut ins Laputische fügte. Ihre Sprache bevorzugte langgezogene a-, o- und u-förmige Vokale, so wie sie es beim Blasen des Tritonhornes, der angebohrten Kokosnuss oder des Bambusrohres hervorbrachten.
Vielleicht lag die Unverständlichkeit auch daran, dass der Seemann sehr lange unterwegs gewesen war und die Verhältnisse in der nördlichen Welt auch nicht mehr gut kannte. Auf jeden Fall erholte er sich nie wieder ganz von den Strapazen seines Schiffbruchs und siechte dahin. Vielleicht bekam ihm aber die karge und einseitige Inselkost nicht, es kann auch die südliche Sonne gewesen sein oder der Kummer darüber, dass er seinen Rettern die "Welt da draußen" nicht erklären konnte. Bis zu seinem letzten Atemzug lagerte er am Strand und zeichnete für die Insulaner eigenartige Kringel in den Sand, für die Zuschauer unverständliche Gebilde, die einen kreisrund, die anderen tropfenförmig oder dreieckig, große zusammenhängende oder einzelne, lang gezogene runde wie die thailändische Schrift. Die Laputaner begruben den Nix unter der Palme auf dem Hügel, nicht weit vom verfallenen Leuchtturm.

Ohne sagen zu können, wer damit begonnen hatte - die Insulaner gingen immer häufiger zum Grab des Letnix, legten Blüten, Früchte und Muscheln, getrocknete Erbsen, Bohnen, Kiesel und Perlen auf den Hügel. Bald stellte jemand eine Hütte aus Palmblättern darüber auf, jemand ebnete das Gelände rundum ein, andere breiteten Bastmatten aus, damit die Besucher bequem um die Hütte lagern oder lettischen Tango tanzen konnten.
Im Theater Goa, aber auch in der Kirche St. John und im Tempel Bali feierten sie zu seinen Ehren gemeinsame Feste mit reichlich Kokosmet, wobei sie eine übergroße Figur aus Palmblättern herumtrugen und Letno-Tango tanzten.
Die Kinder spielten mit Nix-Puppen aus Bast, und die Jugendlichen bekamen zur Initiation im Rathaus Borneo Nix- Amulette, geschnitzt aus Muschelschlaen und Tritonshörnern, um den Hals gehängt. Es gab keinen Mann, der sich nicht auf irgendeinen Körperteil einen Nix tätowieren ließ.
Die Frauen hatten es schwerer; ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich das Haar zu einer Glatze zu scheren, um des verstorbenen Nix zu gedenken.
Und trotzdem lässt sich nicht behaupten, dass sich der Nix-Kult zu einer Religion entwickelte. Die Freedomianer begingen alle diese Riten eher spielerisch, mit Ernst, aber ohne Tiefgang. Sie huldigten weiter der wichtigsten der großen Weltreligionen, dem Unglauben.

Aber zu dieser Zeit bemächtigte sich der ganzen Insel eine Leidenschaft zur Erforschung der „Außenwelt“. Da sie ihre früheren Sprachen vergessen hatten und sie ohnedies nur notdürftig lesen und schreiben konnten, erfanden sie eine Kringelschrift für das Laputische, so wie sie es beim lettischen Seemann im Sand gesehen hatten. Einigen Frauen gelang es, aus Bastfasern einen Papierersatz herzustellen, auf denen die Kinder von Rangun, der Schule, das Schreiben erlernten. Das Rechnen hatten sie schon früher mit Kokosnüssen und Kaffeebohnen geübt. Auf diese Wiese bildete man amtliche Schreiber aus, die die Basttafeln beschrieben und in der in Balts umbenannten Bibliothek sammelten.
Aber sie betrieben ihr Sammeln nicht wie Johannes seine Offenbarung, in der er alles verbarg, was er wusste, sondern wie die Nordmänner die Philosophie, wie eine Strecke, die sich aus vielen Wegen zusammensetzt und vom Nirgendwo ins Nichts führt.

Immer mehr Insulaner widmeten sich in der Freizeit nun dem Sammeln von alten Sagen über ihre Flucht, die sie zu einer Pilgerfahrt umdichteten, über die Tauf-, Hochzeits- und Sterberiten, über die Geografie ihrer Herkunftsländer, die Tierwelt, Getreidesorten, Gerätschaften und Gedichte. Bald wurde ein junges Talent entdeckt, das hunderte von baltischen Balladen schuf und mit dem Langepos von der Welteiche ein Star wurde. Dann tauchte ein begabter Musiker auf, der Lieder erfand und viele Instrumente baute, sogar solche, die der Letnix selbst nicht kannte: Zimbeln, Flöten, Trompeten, Harfen, Gitarren und Cembalos. Ihr Lieblingsinstrument schien aber eine einheimische Art von Windorgel zu sein. An einen kurzen Stock waren wie auf einen Dreschflegel luftgefüllte Fischblasen geheftet, in denen Kichererbsen und Perlen rasselten, wenn sie den Stock durch die Luft schwangen. Die schönsten ergaben sich, wenn die Musiker mit ihrem Stock den Umstehenden auf Mund und Ohren schlugen, auf den Rippen und Bäuchen ergaben sich die lieblichsten Laute, so wie sie das Meer macht, wenn es in Felshöhlen schwappt.
Eine junge Frau konnte nicht genug davon kriegen, Kreise, Dreiecke und Quadrate, Ellipsen und Trapeze in den Sand zeichnete, sodass sie mit der Zeit ein Geschlecht von Mathematikern zur die Welt brachte, die die ersten Bücher des Euklid nachschrieben. Das Schicksal wollte es, dass ihr ältester Sohn, Kapitän Laput genannt, gerne am Leuchtturm saß und aufs Meer und in den Himmel schaute. Nach jahrelangen Beobachtungen leitete Laput daraus den Lauf der Sterne ab und schrieb die letzten Bücher Euklids neu. Wie er immer länger so dasaß und schaute, kam er zur Überzeugung, dass dort Hunderte, ja Tausende Wesen in Behausungen von außerordentlicher Größe und Schönheit lebten.
Laput träumte davon, einen Weg zu dieser Welt zu finden und von der Möglichkeit, dass sich
Freedom zu so einer Welt entwickeln könnte. Seine Mutter seufzte und schüttelte den Kopf: „ Lass solche Gedanken, das sind Flausen, wir wissen es nicht, ob jene Welt noch vorhanden ist und ob sie besser oder schlechter ist als unsere. Und werden es auch nie erfahren. Wir sind nicht dafür geboren, wegzugehen. Das Beste, mein Sohn, was wir tun können, uns nicht den Kopf unnötig zu zerbrechen, sondern unsere Pflichten im Hier und Jetzt zu erfüllen.“

Laput ließ sich aber damit nicht abspeisen. Weil er wegen seiner Euklid-Interpretation großes Ansehen auf der Insel genoss, konnte er einige Männer dazu bewegen, den Leuchtturm wieder aufzurichten und das Notsignal auf dem Berggipfel instand zu setzen.
Als er eines Tages seine Kinder zu Bett gebracht hatte und schon alle Insulaner in ihren Hütten schliefen, machte Laput seine Runde durch Freedom und stieg schließlich auf den Hügel. Er setzte sich unter die Palme beim Leuchtturm und schaute auf das Meer hinaus. Unter dem Sternenhimmel sann er über das Schicksal der Kolonie nach, das ihn an diesen Platz gebracht hatte.
Und er dachte an die kommenden Zeiten, wenn seine Kinder ihn überlebt haben würden. Wie er so saß und sann und sann, schob sich ein seltsames Bild vor seine Augen. Ein riesiges Schiff, höher als der Hügel, kam langsam um das Vorgebirge herum, behangen mit Lichtern in drei Reihen übereinander, vom Vorder- bis zum Achtersteven. Zwei beleuchtete Turmskelette ragten in den Himmel und schienen die Sterne aufzuspießen. Musik klang zu ihm herüber und der Ton menschlicher Stimmen in der stillen Luft. Der Anblick war wunderschön, aber schrecklich und beängstigend.
Kapitän Laput sprang auf und dachte einen Augenblick daran, die Kirche St. John in Brand zu stecken, um auf sich aufmerksam zu machen. Ein großes Freudenfeuer zu entzünden, dass er in eine andere Welt wechseln könnte.
Aber er setzte sich wieder nieder und ließ das Wunder in der Ferne vorüberziehen. Da nahm er schattenhaft wahr, dass sich die Laputaner hinter ihm versammelt hatten, auf das Meer hinaus starrten, zitterten und schweigend in ihre Hütten zurückgingen.

Nachtrag der Universität Dublin
Der Schiffbrüchige war kein weder Finne noch Lette und auch kein einfacher Seemann, sondern der weltberühmte Anthropologe, der irisch-stämmige Finnbar McLoughlin aus Limerick, ein anerkannter Forscher und Autor vieler Bücher über die Kulturen Polynesiens, Dozent an der Universität Dublin. Er gilt seit dem Tsunami von 2004 als verschollen. Seine Aufzeichnungen sind vor kurzem in einer bei Limerick angeschwemmten Kokosnuß entdeckt worden. Experten studieren seither die Bastrollen, die mit unbekannten Zeichen bedeckt sind. Auch das Jonathan-Swift-Institut in Irland und die Thornton-Wilder-Stiftung in den USA wurden mit der Erforschung der Schriften beauftragt, die von der Stadt Limerick finanziert wird.

Veronika Seyr
3.12.16

Anfang und Ende oder: Was die Welt beheizt

Ein provisorischer Einspruch gegen Kafkas aphoristische Behauptung „Die Welt ist nicht geheizt“.

Das Erzählen dieser Geschichte hat einen großen Vorteil: Es kann mir niemand widersprechen. Denn wer von Ihnen war schon auf den Kurilen oder kennt jemanden, der diesen 1200 Kilomenter langen Inselbogen zwischen Hokkaido und Sachalin bereist hat? Gut, bezweifeln kann jeder immer alles, aber wer kann mit Gegenbeweisen das Gegenteil von dieser Erzählung behaupten?

Nein, ich selbst war auch noch nie auf den Kurilen, leider. Dafür aber mein russischer Freund Lew Nikolajewitsch G. - seine Freunde nannten ihn Lewnik oder Grof = Graf wegen seiner gleichlautenden Initialen mit Graf Tolstoi. Von Beruf war Lew Pilot beim sowjetischen Atomministerium gewesen. Er transportierte aber keine Passagiere, sondern die geheimsten Frachten für die Atomindustrie quer durch die Sowjetunion, von Uranbergwerken, Uranlagern, Aufbereitungsanlagen, Raketenfabriken und Atomkraftwerken - was soll ich wissen, wenn er es er nicht weiß - zu den verschiedenen Anwendungsorten. Von dieser ministeriumseigenen Fluglinie wusste niemand im Land, die Angestellten durften nicht einmal zu ihren Familien über ihren Arbeitsplatz und die Einsätze sprechen, auch nicht von den Orten, die sie anflogen. Diese lagen prinzipiell in den hunderten von geschlossenen Regionen, die keine Namen hatten, nur Nummern. Die Piloten bekamen immer erst kurz vor dem Abflug die Koordinaten genannt. Gorki zum Beispiel, Nishnij Nowgorod, ein Zentrum der Waffenproduktion, wo Andrej Sacharow exiliert war, hieß auf dieser ungeschriebenen Landkarte Nummer 108. Und selbst die Piloten hatten nur eine vage Ahnung, was sie in ihren Flugzeugen transportierten. Lew flog die größten Transportmaschinen von Tupolew kreuz und quer über dieses Sechstel der Erdoberfläche, vom Baltikum nach Wladiwostok, vom Eismeer in den Kaukasus. Sie flogen noch ohne Radar, nach Sicht und Berechnungen, und außer dem Kopiloten waren noch mindestens vier Techniker an Bord.
Lew war ein zweifach höchst ausgezeichneter Pilot, er war „Held der sowjetischen Arbeit“ und hatte den Lenin-Orden bekommen, zweimal hatte er durch seine rasche Reaktion eine Katastrophe verhindert: Einmal einen Zusammenstoß mit einem fehlgeleiteten Wetterflugzeug über Moskau und danach über dem Ural eine Kollision mit einem Verkehrsflugzeug. Niemand will sich vorstellen, was passieren hätte können mit dem radioaktiven Material an Bord. Die Welt hätte es auch damals nie erfahren.

Lew war ein leidenschaftlicher Pilot und erzählte gerne von seinen Flugabenteuern. Ich weiß nicht, ob er das durfte. Aber mit der Wende war das Atomministerium aufgelöst und er in Pension geschickt worden. Er fristete mit einer Minirente sein Leben und fuhr mit seinem schwarzen Wolga- ein Nachbau des Opel Kapitän - schwarz Taxi. So habe ich ihn kennengelernt, den schönsten und sanftesten Mann meines Lebens. Meine Freundin Marina, eine gefeierte Schauspielerin, selbst mit Schönheit ausgestattet und immer von Schönheit umgeben, flüsterte mir beim ersten Zusammentreffen ins Ohr:
Oh Gott, was hat Hollywood bloß ohne ihn gemacht?“
Mit seinen Erzählungen und Erklärungen heilte er mich schließlich von meiner lebenslangen Flugangst. Fast ganz. Auf seinem ersten Flug mit der AUA von Moskau nach Wien musste ich den Piloten anbetteln, dass er ihn ins Cockpit ließ und einige Zeit an seiner Seite sitzen ließ. Lew freute sich wie ein kleines Kind, er war ja noch nie in einem westlichen Flugzeug gewesen.
Zu Lews angenehmsten Erinnerungen gehören seine Flüge auf Kamtschatka, Sachalin und die Kurilen. Er war sehr oft dort, denn im Fernen Osten befanden sich besonders viele nummerierte Geheimorte.
Es nützte nichts, weiter in ihn zu dringen, er wusste es einfach nicht, ob er Atomraketen oder Uranstäbe an Bord hatte. Es belustigte ihn, als ich ihm erzählte, dass bei uns kein Pilot fliegen darf, wenn er nicht genau weiß, wer oder was er an Bord hat. Verkehrte Welten.
Während man Kamtschatka und Sachalin teilweise bereisen konnte, waren die Kurilen absolut geschlossene Territorien und sind es noch bis zum heutigen Tag.


Wenig bekannt ist, dass Stalin 1941 mit Japan einen Neutralitätspakt schloss, den er am 8. August 1945 aufkündigte, wenige Tage vor der Kapitulation, und umgehend mit der Eroberung der Kurileninseln begann.
Es besteht bis zum heutigen Tag kein Friedensvertrag zwischen Russland und Japan, das nach wie vor die Rückgabe seiner „Nordterritorien“ fordert.

Zu den fast vergessenen Kapiteln des 2. Weltkrieges gehört, dass die Sowjetunion keinen einzigen Schuss gegen Japan abgegeben hat und nur den USA im Rahmen des sogenannten „Hula-Projekts“ den Kampf gegen den japanischen Faschismus erlaubte. Von den gegenüberliegenden Aleuten aus bekämpften die USA Japan. Die Russen schauten zu und ließen sich gut bezahlen. Die Amerikaner lieferten der Roten Armee schweres Gerät für den Kampf im Westen.

Innerhalb von zwei Wochen eroberte die SU die vier großen Kurileninseln, von der südlichsten ….. kann man auf Hokkaido hinüberspucken. Lew erinnert sich an seine kuriose Vision: „Ich war fast in Japan.“
Die 17 300 Bewohner, Japaner und einheimische Ainu, ließen die Sowjets nach der Einnahme in verschiedene sibirische GULAGS transportieren. Alle kamen um.

Vielleicht war meinem Freund Lew die Liebe zum Fliegen schon mit seinem Geburtsdatum 8.8.45 in die Wiege gelegt, der Tag, an dem die sowjetische Invasion der Kurilen begann, allerdings weit weg von dort, in der Wolga-Stadt Samara, die damals Kuibyschew hieß.

Lew ist der einzige lebende Mensch, den ich kenne, der die Kurilen gesehen hat. Er konnte lebhaft davon erzählen und endlos schwärmen. Einmal hatte er zwischen Ankunft und Rückflug soviel Zeit, dass er von einem Stützpunkt auf der Hauptinsel Iturup einen Ausflug nach Shikotan machen konnte, für ihn die schönste der vier großen Inseln. Ich brauchte einige Zeit, um ihm zu glauben, dass die Kurilen das Paradies auf Erden sei. Immer wieder behauptete er das. Der Anfang der Welt, von dort kommt alles und endet.
Ich nahm ihm seine Schwärmerei einfach nicht ab, hatte er als Sowjetmensch doch bis zur Wende nie einen Schritt aus dem Arbeiter- und Bauernparadies heraus getan. Was wusste so einer schon von irdischen Paradiesen? Hawai, Neuseeland, Alaska?
Lewnik kam mit mir im Jahre 1999 zum ersten Mal nach Westeuropa. Als ich ihm mit meinem anglophilem Besitzerstolz die Kreideklippen von Dover zeigte, brach er in unbändiges Gelächter aus. Ich verstand nichts.
Und so was nennt ihr Klippen? Ein Strich in der Landschaft.“ Lew war nicht überheblich, aber er war andere Dimensionen gewohnt.
Mit mir war er zum ersten Mal im Bolshoi-Theater, im Tschaikowski-Konservatorium, in der St. Petersburger Eremitage und außerdem kannte er Tschechows Erzählung „Dame mit dem Hündchen“ nicht. Ich musste ihm im Schnelldurchgang auf dem Weg zum Moskauer Jugendtheater eine Inhaltsangabe geben, damit er etwas von dem dramatisierten Stück mitkriegte. Mit Lew hatte ich ein spätes, aber authentisches Exemplar des von Stalin proklamierten „Ingenieure der Seele“ kennengelernt, wie Stalin die Schriftsteller und Künstler benannt hatte. So definierte er „die stinkende Nummer 9“, die Intellektuellen ihren Platz im ersten 5-Jahresplan 1931.

Lew war zwar oft in den Hohen Norden geflogen, an viele Punkte der nördlichen 18 000 Kilometer langen Küste, wusste aber nie, ob es die Halbinsel Kola, Nowaja Zemlja (Franz-Josephs-Land) oder Tschukotka war.
Einmal war er sich sicher, dass er sich am Nordende des Ural befand. Unter den Schneemassen fanden sie noch Wald, Bäume. Seine Mannschaft und er gruben sie aus, sägten und deckten sich für Neujahr - Väterchen Frost- das sowjetische Ersatz-Weihnachten, mit Fichtenbäumchen ein. Auf diesem leeren Flug kannte er die ganze Fracht, sechs Fichtenbäumchen und eine Gruppe von Polarforschern, die er angewiesen wurde, zurück nach Moskau zubringen.
Einmal hatte er noch größere Gewissheit:
Auf einem frachtlosen Rückflug von Charkow nach Moskau hat er seine Pilotentasche ausgeräumt und mit den herrlichsten ukrainischen Herzkirschen angefüllt. Juni 1975, die Familie war glücklich. So etwas Köstliches, Frisches, gab es in Moskau nicht. Diese Erinnerung gefällt ihm selbst am besten.

Einmal hat der hochdekorierte Pilot beim Verlassen seines Hauses vergessen, den Müllsack in den Gully zu stecken, so transportierte er ihn drei Tage lang durch die Himmel über der Sowjetunion. Das war im Mai 1988, gerade als Präsident Reagan das Reich des Bösen besuchte.
Lew, eine absolute Ausnahme unter den russischen Männern, die ich kennengelernt habe. Er rauchte nicht, trank nicht und schaute auf seinen Körper, ohne eitel zu sein. Er war immer auf Wacht, immer dienstbereit, in bester Verfassung und dem Zustand. Sogar nackt hielt er die Uniform hoch und an.
Er machte das aber nicht eitel, für irgendwen oder was, sondern es war seine Natur. Diszipliniert, organisiert und immer rundum verantwortlich.

Er kichert fast, als er sich erinnert, dass nur Kosmonauten wie ein Gagarin höher bezahlt waren als er als Bomben-Pilot. Dreimal so hoch wie offiziell die Mitglieder des Obersten Sowjets. Mehr bekamen nur die Kosmonauten. Lew lag knapp unter ihnen.
Als die ersten russischen Forschungsreisenden in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts den Fernen Osten und die 1200 Kilometer lange Inselkette erreichten, nannten sie sie Kurilen, vom russischen kuritj= rauchen. Sie sahen nur himmelaufragende rauchende Schlote. Auf den 40 Inseln befinden sich 68 Vulkane, 36 davon aktiv und fast 100 submarine Vulkane. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine derartige Dichte an atmenden Bergen und Meeren. Mit 10 542 Metern unter dem Meeresspiegel liegt auch der tiefste Punkt der Erde in dieser Region, irgendwo zwischen Etorofu und Paramushir.
Was macht die Kurilen so besonders, fragte ich ihn immer und immer wieder. Es sind die vom Vulkanismus beeinflusste Geologie und Vegetation, meinte Lew, der wie gesagt, kein Naturwissenschafter, sondern Pilot und Augenzeuge war. Shikotan zeichnet sich durch eine Küste aus leuchtend weißen Kreidefelsen mit bizarren Formen aus, hunderte Meter hoch und steil wie ein gestärktes Tischtuch, nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Magnolienbäume und undurchdringlich dichte Wälder aus Kurilenkirschen, die weiten Wiesen sind mit hüfthohem, metallisch glänzendem Gras bedeckt, mit wilden rosa Wicken und gelber Schafgarbe, und über allem liegen Wolken von Wermutsduft. Wenn nicht plötzlich Nebel einfällt, kann sich das Auge an dem tief azurblauen Pazifik weiden. Die unterirdischen Vulkane im Ochotskischen Meer spucken ohne Ende Wasserfontänen und Rauch aus.
Wenn man Glück hat und viel Geduld, kann man die Geburt einer neuen Insel beobachten, die sich langsam aus dem Meer herausarbeitet. Es zischt und brodelt, es rauscht und stinkt, bis dann ein Lavahügel auftaucht, wie ein aus dem Ozean ragendes Ofenrohr.
Eine Besonderheit sind die kreisrunden, mehrfach gestaffelten Wolkenreifen über den Spitzen der Vulkane, wie riesige weiße Pudelmützen.
Was den praktischen Lew aber am meisten beeindruckte, waren die fischreichen Flüsse, von denen Shikotan durchzogen ist.
Stell dir vor, du stehst mit den Füßen im seichten Fluss und um dich brodelt und kocht es vor lauter Fischen, Lachse und Dorsche. Du kannst sie mit den Händen fangen. Sie kommen von der ganzen östlichen . Halbkugel zum Laichen auf die Kurilen. Die andere Hälfte schwimmt in Alaska den Yukon hoch. Kübelweise haben wir sie zum Flugzeug geschleppt. Im tiefen Wasser wimmelt es auch von Riesenkrabben und Hanasaki-Krebsen, die in Japan als heilig gelten.“

Lew war davon überzeugt, dass sich dort der Nabel der Welt befindet, der Anfang oder das Ende der Welt.
Warum, was machte ihn so sicher?
Einmal fiel Nebel ein, wir waren gerade mit einem Schiff zwischen Shikotan und Iturup unterwegs, da wurde der Himmel immer niedriger, bis er schließlich steil ins Meer abfiel, wie eine riesige, grünliche Wand aus dickem Glas. Es vermischten sich Nebel und Feuer, Tag und Nacht, Meer und Himmel. In diesem Augenblick wussten wir, dass wir das Ende der Welt gesehen haben, oder den Anfang. Wir waren bis zu diesem Punkt gelangt, wo sich die Wellen an dieser
Glaswand brachen, und dahinter war nichts, nur Leere.
Wir hielten mit dem Schiff unmittelbar an dieser Wand und berührten sie mit den Händen. Das Grauen vor dieser letzten Grenze schüttelte uns so, dass wir kein Wort sagten. Die Wand stand über uns in einer endlosen Wölbung und reichte in die Tiefe des Meeres, so weit man sehen konnte, und da...“
Lew hielt inne, er konnte lange nicht weitersprechen, er sah mich seltsam an, als überlegte er, ob ich ihm glauben oder wenigstens sein Geheimnis hüten würde.
Und da?“ fragte ich ungeduldig und spürte einen kalten Schauder, ohne zu wissen, warum.
Da sah ich ganz eindeutig, wenn auch wegen der Dicke der Wand und der Lichtbrechung etwas verschwommen, hinter dem Glas ein gewaltiges Menschenantlitz. Es war so groß wie die Hälfte unseres Buges, seine Augen wie zwei riesige aufgehende Monde.“
Wie sah es aus, dieses Gesicht, sah es jemandem ähnlich?“
Lew wich aus: „Immer wird behauptet, die Erde sei rund, aber das bedeutet nicht, dass die Welt kein Ende hat. Ich bin einmal ans Ende der Welt geraten.“
Ich ließ mich nicht ablenken und bohrte weiter nach dem Gesicht.
Am ehesten hätte man es neugierig nennen können“, meinte Lew sich erinnern zu können, „so wie ein Kind Ameisen beobachtet. Aber darin kann man sich leicht täuschen. Das einzige, was ich sofort folgerte und ich zuverlässig wusste, dass das nur das Antlitz Gottes sein konnte...“
Lew, jetzt mach aber einen Schlusspunkt! Warum denn Gott? Warum nicht der Tod oder der Teufel?“
Lew, aufgewachsen unter den sowjetischen Anti-Gottesbeweisen, dass kein Pilot oder Kosmonaut im All je Gott oder Engel getroffen hätte, war er religiös geworden?
Wer sonst kann am Anfang oder am Ende der Welt sein außer Gott?“
Was hast du gemacht, als du die Grenzen der Welt entdeckt hast?“
Ich habe gebetet“, sagte er so kurz wie einfach, als wollte er nicht mehr weitererzählen, als hätte ihn meine Ungläubigkeit gekränkt. „Und seither bete ich zu ihm. Ich kenne ihn.“ Irgend etwas machte mir angst. Wird er senil? Ich muss Geduld mit ihm haben.
Ich wollte es wieder gut machen und fragte noch einmal:
Wie sah es aus, dieses Gesicht, wie war es? Sah es jemandem ähnlich, würdest du es wiedererkennen?“
Er musterte mich lange, schweigend, plötzlich greisenhaft blicklos. Lews Gesicht schmolz vor meinen Augen zu einer Maske, Tropfen unzähliger Kerzen schienen in Jahrhunderten auf diesem Gesicht erstarrt zu sein.
Wenn du mich schon fragst“, sagte er und wog jedes Wort, „am ehesten sah es meinem Gesicht ähnlich.“ Und seine Stimme war getränkt von Traurigkeit, als bedauere er, mir sein Geheimnis anvertraut zu haben.


1.12.16

Das georgische Kreuz

Ein Medaillon um den Hals, eine Ikone vor der Brust, ein Flachmann, vielleicht Knoblauchzehen, ein Bild der Geliebten, ein Poesiealbum mit getrockneten Blüten und Haarsträhne dazwischen, ein metallener Mantelknopf - Geschichten über lebensrettende oder lebensverlängernde Amulette gibt es viele. Meist ist es der unverbrüchliche Glaube an diese Helfer, die Segnungen und guten Wünsche von Müttern oder Geliebten, immer im Abschied unter vielen Tränen, die damit verbunden sind und nicht der tatsächliche Schutz, die sie wirkungsmächtig machen. Denn dafür wären schusssischere Westen und Helme besser geeignet, früher waren es Rüstung und Schild. Ich hatte nichts davon.

Ein Kreuz ist von der Natur ausersehen, dass es das unpraktischste Format unter all diesen Gegenständen hat. Nicht rund, nicht quadratisch, nicht flächendeckend, ein Nichtraum. Da kreuzt sich etwas, dazwischen ist nichts, ein Nichts von übereinander gelegten Balken. Zwei oder vier Teile, mehr ist ein Kreuz nicht.
Und trotzdem besitze ich ein solches Kreuz, ein georgisches Kreuz.
Geschenkt hat es mir Korneli, ein Freiwilliger der Tiflis-Bürgerbrigade, im Februar 1991, als ich für den ORF Moskau nach Georgien reiste, um die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit und den sich abzeichnenden Bürgerkrieg zu beobachten. Die Demonstrationen für und gegen den damaligen Präsidenten Swiad Gamsachurdia nahmen immer gewalttätigere Ausmaße an, und die Fronten waren aus der Ferne nicht mehr zu überblicken. Es war noch die Sowjetunion, in der sich Journalisten nicht frei und unbegleitet bewegen durften. Daher bekamen wir im Informationsministerium- einer Abteilung des KGB- einen Chauffeur und einen Begleiter zur Seite gestellt und wurden zu einer Reise nach Gori verdonnert, den Geburtsort des größten Sohnes des Landes, Josif Dschugaschwili alias Stalin. Ich wäre gerne in der Stadt geblieben, die summte von Demonstranten und hätte am liebsten sofort ein Interview mit dem neugewählten Staatsoberhaupt Gamsachurdia geführt. Unser Glück dabei war, dass man uns als Englisch-Dolmetsch, den jungen, smarten Ghia, genannt Gigi, zuordnete, obwohl weder Wolodja, der Moskauer Kameramann, noch ich einen Dolmetsch brauchten. Gigi hatte Anglistik und Amerikanistik, studiert, schrieb Gedichte und erzählte ziemlich früh frei heraus, dass er in die Schweiz auswandern und bisnismen werden wolle, indem er seine KGB-Beziehungen spielen lassen würde.
Wenn in der welligen Ebene um Tbilisi mit den vielen heißen Quellen schon die ersten Anzeichen der Frühlings zu sehen waren, herrschte in den Kaukasus-Bergen noch König Winter. Der Fahrer Ivan schraubte den robusten Lada-Jeep die schmalen Straßen immer höher hinauf und zwischen mannshohen Schneehaufen durch, die gnädigerweise die tiefen Schluchten links und rechts verdeckten.
Gori ist ein hässliches Riesendorf sowjetischer Prägung, in dessen Mitte der Stalin-Tempel thront, der über der ebenfalls künstlich nachgebauten Geburtshütte errichtet worden war, mitsamt all den erbarmungswürdigen Devotionalienläden und andächtigen Wallfahrern.
Wolodja gelangen einige schön-bizarre Aufnahmen und mir einige Interviews, keineswegs nur alte Stalin-Nostalgiker, sondern auch Schulklassen und Hochzeitspärchen, die sich vor dem Tempel ablichten ließen. Auch auf dem Rathausplatz ein Getümmel aus diesem Nostalgie-Gemenge, vor dem Stalin- Monument, so hoch wie das Gebäude selbst. Junge, glückliche Gesichter, Sekt in Plastikbechern auf eine lichte Zukunft! Wie die durchnässten, weißen Kleidersäume schlapp über banale Winterstiefel in den Februar-Matsch hängen, das ist das Bild, das ich mitgenommen habe.
Nachdem wir den Gori-Ausflug pflichtschuldig hinter uns gebracht hatten und uns schon der Hauptstadt näherten, peitschten plötzlich Gewehrsalven durch die Landschaft. Ivan reagierte blitzschnell und legte eine Vollbremsung hin. Schlitternd kam der Lada zum Stehen, zum Glück zum Hang hin. Ivan riss die Tür auf und warf sich auf die Erde, Gigi und ich taten es ihm nach, Wolodja gelang es noch geistesgegenwärtig, die Kamera an sich zu reißen. So lagen wir mit dem Kopf nach unten im Gatsch des Straßenrandes, platt am Boden und versuchten zu erlauschen, woher die Schüsse über unseren Köpfen kamen. Es ratterte ohne Pause, also Kalaschnikows. Ich konnte den drei Sowjetmännern vollkommen vertrauen, hatten sie doch alle mindestens drei Jahre Armeedienst hinter sich. Ivan war wahrscheinlich ein ehemaliger Afgantschik, ich sah aus seinem Hemdkragen ein tätoviertes O herausragen, O für Orjol – Adler – das Kürzel für die Afghanistan-Kämpfer. Ich dagegen war seit den jugendlichen Räuber- und Gendarmspielen in solchen Körperertüchtigungen nicht mehr geübt. Einmal wagte ich, den Kopf ein paar Zentimeter zu heben, da sah ich, wie Wolodja sich salamanderartig zur Seite bewegte, die Kamera mit einer Hand hochhaltend. Er stieß einen leisen Pfiff aus und eine Kopfbewegung bedeutete mir, es ihm nachzutun. Ivan und Gigi blieben im Schutz des Lada liegen, während Wolodja und ich uns tiefer in den Weingarten hineinrobbten. Wären Rebstöcke schon mit dem vollen Sommerlaub nicht der großartigste Wall gewesen, so waren sie jetzt in ihrem entlaubten Zustand nicht mehr als ein Wald von Zahnstochern, zwischen die sich die Kugeln leicht verirren konnten. Und weit und breit kein Haus, kein Zaun, keine Hecke, sondern sanfte Rebhügel, soweit das Auge reichte, die berühmte Weinlandschaft von Kachetien, die ein paar Monate später wieder die herrlichsten Säfte liefern würde.
Natürlich dachte ich in diesem Moment nicht an den zukünftigen Wein. Blöd gelaufen, klassisch, zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie schossen sicher nicht auf uns persönlich, sondern wir waren irgendwo dazwischen geraten. Aber die Sowjetunion zeigte sich in einem Zerfallszustand, in dem nicht einmal eine KGB-Begleitung vollkommene Sicherheit garantieren konnte, noch dazu mit einem Agenten, der am Absprung in den Kapitalismus war.

Dazu würde ich Gamsachurdia im Interview befragen müssen, wenn wir da je wieder herauskamen. So ungefähr sah es in meinem Hirn aus, als ich am Boden liegend, Nase und Augen tief hielt und die Wurzeln der Rebstöcke studierte. Ich weiß nicht, wie lange, in solchen Situationen erstirbt das Zeitgefühl. Aber nie die Erinnerung an den Geruch.
Bei uns sagte man, der Geruch, wenn die Erde aufgeht, aber nicht wie der Mond aufgeht, sondern die Erde geht auf wie ein Germteig nach dem Winter unter Schnee und Frost. Sie Entlässt ihre Düfte und Dünste, die Fermentierung ihrer Tiere, Pflanzen und all der anderen Zwischenwesen, Pilze, Flechten, Wurzeln, Knollen, Sporen, Regenwürmern und was sie alles miteinander getrieben haben unter der Erde, unter dem Schnee bis jetzt zum Auftauen, zum Aufgehen.

Da tippte mir jemand leicht auf die Schulter, und als ich herumfuhr, sah ich über mir einen Mann mit Kalaschnikow stehen, der mir zuzwinkerte und seinen Zeigefinger an die Lippen hielt. Pssst!
Er bedeutete mir, dass ich mich in die Halbhocke aufrichten und hinter ihm in Halbhocke tiefer in den Weingarten hineinlaufen sollte. Hinter einer Holzhütte, wahrscheinlich ein Geräteschuppen, wartete schon Wolodja und empfing mich mit Nicken und einem Zucken der Mundwinkel. In einer anderen Situation hätte man Lächeln gesagt.
Unser Retter war Korneli, ein Kämpfer der Bürgerbrigade des Präsidenten Gamsachurdia. Das erfuhren wir aber erst später, nachdem er uns in ein Dorf mit festen Häusern gelotst hatte, wo seine Einheit stationiert war. Sie waren eine Freiwilligeneinheit von Paramilitärs, die gegen die moskaugesteuerten „Fledermäuse“ kämpften. Wir waren in ein Geplänkel geraten, dem uns später Korneli und zwei seiner Männer zurück nach Tbilisi führten. Im grandiosen Hotel Rustaveli vereinigten wir uns glücklich mit Ivan und Gigi, die selbständig zurückgekommen waren. Als Entschädigung für den Schreck lud uns Korneli auf ein Abendessen ein, ein Argonauten-Mahl, bei dem ich mich auf das heilsame Borschomi-Mineralwasser beschränkte, weil seit dem Weingartenerlebnis meine Gedärme rumorten. Mir als Dame wurde das ausnahmsweise gestattet, nicht ohne den Hinweis, dass auch in Jalta Stalin den magenkranken Roosevelt mit in Borschomi aufgelöstem Weinbrand traktiert hätte. (Ob deswegen in Russland die Weinbrandschenken Traktir heißen?) Nach ungezählten Gläsern mit rotem Kindzmarauli, weißem Zinandali, armenischem Cognak Marke Ararat mit 5 Medaillen, nach den nicht enden wollenden Toasts auf Heimat, Völkerfreundschaft, Liebe und die Frauen - das ist in der geregelten Abfolge der Toasts immer der dritte, riss Korneli plötzlich seine schwarze Uniformbluse auf und zog ein Kreuz hervor, das er mit einem Lederriemen auf der Brust trug. Er will, er muss es mir schenken, das hat er sich im Weingarten geschworen. Er hielt es mit der einen Hand hoch über seinen Kopf und sah ein bisschen wie die Freiheitsstatue aus, wenn da nicht in der anderen Hand der rubinrote Kindzmarauli im bokal, dem bauchigen Kristallglas geschwankt hätte. Es hat seinem Vater gehört und schon ihn beschützt, als er im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft und mit der Roten Armee meine Heimat, Avstrija, befreit hat. Geschnitzt hat es sein Großvater aus einem alten Wurzelstock, als er im Bürgerkrieg 1918 für das unabhängige Georgien kämpfte. Ich protestierte heftig, das könne ich nicht annehmen, aber gegen die georgische Gastfreundschaft ist kein Kraut gewachsen. Was ein Georgier anbietet, muss man annehmen, und sei es die Großmutter oder der eigene Sohn.
So kam das georgische Kreuz zu mir. Es ist aus dem Holz eines Rebstockes geschnitzt, in einem Stück, etwa 20 Zentimeter lang, rötlich-braun, an den Seiten abgeflacht und poliert. Die Querbalken zeigen leicht nach unten, sodass es eine Ähnlichkeit mit einem Mann-Piktogramm hat, das die Arme sinken lässt. An der Vorderseite verlaufen fein ziselierte Messingleisten in alle vier Äste, die sich zu kleinen Kugeln verdicken. Nicht zu übersehen, dass die Verzierungen der mäandernden georgischen Schrift nachempfunden sind. Vielleicht haben sie sogar etwas zu bedeuten, was für ein Spruch könnte das sein? Vater, ich lege mein Leben in deine Hände? Das ist zu lang. Es ist vollbracht? Am unterem Ende ragt an einem gebogenen Stiel ein kleiner Kerzenhalter hervor, in den eines der dünnen Bienenwachsstäbchen der orthodoxen Kirche passt. Auch Weihrauchkörnchen kann man darin abbrennen. An der Rückseite ist oben eine kleine, biegsame Metallplatte mit Loch angebracht, für den Nagel. In welchem georgischen Haus ist es schon gehängt?

Ich bin keine Kreuzträgerin, keine Fetischistin, keine Kerzerl- oder
Weihrauchanzünderin und keine Amulettträgerin, nicht einmal ein Ketterl mit oder Anhänger kommt an meinen Hals. Aber dieses georgische Kreuz hing seither bei jedem meiner Schreibtische, und es hängt bis heute hier. Wenn ich leicht nach rechts oben aufschaue, ruhe ich mich auf ihm aus. Es strahlt harmonische Energie aus, vielleicht entspricht es dem goldenen Schnitt. Sogar jemand, der meine und Kornelis Geschichte dahinter nicht kennt, sieht sofort, dass das Kreuz kräftig und zart zugleich ist, dass es erdig und schwebend wirkt, so wie es jetzt an der Wand hängt. Sieht, dass es einfache Volkskunst ist, aber in einer der uralten Formen des frühesten christlichen Volkes, die jetzt noch überall in den Kirchen und Friedhöfen Georgiens zu finden sind.


PS: Bilder von den wild tobenden Demonstrationen bekamen wir in den nächsten Tagen zur Genüge, und durch Gigis Vermittlung auch das Interview mit dem Dichter-Präsidenten. Dieses geriet allerdings zur größten Pleite meiner journalistischen Laufbahn. Der Dichter, Dissident und Neupolitiker Gamsachurdia war so begeistert davon, dass mir Rudolf Steiners Schriften bekannt waren und ich aus dessen Heimat kam, dass er ausschließlich über ihn reden wollte. Dabei verriet ich im wohlweislich nicht, dass ich in Wien neben dem Athrosophischen Zentrum am Brahmsplatz meine Wohnung habe. Er lernte nach Englisch und Französisch extra Deutsch, um Steiner im Original lesen zu können. Als verurteilter Nationalist hatte er in 15 Jahren Gulag und Verbannung viel Gelegenheit dazu.
Schon sein Vater Konstantin, ebenfalls Dichter und Literaturprofessor, Germanist und Übersetzer, war Steinerianer und gründete die erste anthroposophische Gesellschaft Russlands. Sohn Swiad sprach mit Begeisterung darüber, wie er Orthodoxie mit Anthroposophie verbinden und zur Staatsphilosophie des neuen Georgien machen wollte. Ich erkannte bald, dass ihm Monologe lagen. Wenn Monologe gut sind, ziehe ich sie Dialogen vor. Aber ich war nicht in der Position der genießenden Zuhörerin, sondern eine Journalistin, die ein brauchbares Interview, ein paar bearbeitbare Wortspenden heimbringen und eine Story um passende Bilder darum herum basteln musste.
Ein Monolog ist, als beobachte man einen Menschen, der ein Buch nur für sich selbst schreibt: Er schreibt es, liest es vor, spielt es, korrigiert es, genießt es, freut sich darüber, freut sich über seine Freude; dann zerreißt er es und wirft die Schnitzel in alle vier Winde. Es ist ein erlesenes Schauspiel, denn während er es vorführt, ist man ein Gott für ihn, falls man nicht ein gefühlloser, ungeduldiger Trottel ist.
Große und lange Bögen zog er von Kolchis, den Argonauten, dem Goldenen Fließ zu Medea, zur der legendären Königin Tamar bis zur Gegenwart, aber nicht zum heutigen Tag, hier und jetzt, die wüsten Demonstrationen um seinen Palast herum und den sich anbahnenden Bürgerkrieg. Ich hatte keine Chance.
Er war in jeder Hinsicht massiv und eine merkwürdige Mischung. 1,90 oder mehr groß, noch im Sitzen sah er aus wie ein Adlerhorst, ein übergroßer Kopf, den ich für typisch georgisch hielt. Die Hände waren zu klein für den Körper, zu zart für einen Machtmenschen und die Gesten zu sanft. Frauliche Hände fiel mir ein, Gänsekiel ja, aber kein Staatszepter. Er hatte etwas ausgesprochen Tragisches an sich, das seine lebhafte Mimik und seine raue, tiefe Stimme noch betonten. Die Augen unter buschigen Brauen und schweren Lidern, groß wie Granatäpfel und dunkel wie Kaukasus-Seen, eine Adlernase, die fülligen Lippen unter dem struppigen Schnurrbart und der dichte, graue Haarschopf schienen ständig adlerumflattert und sturmumweht. Er schien die ganze Zeit nur von sich zu reden und wirkte dennoch nie egozentrisch. Er sprach von sich, da er sich für die interessanteste Persönlichkeit hielt, die er kannte. Das gefiel mir, weil es mir manchmal ebenso ging. Er sprach von sich wie von seinem Land. Er sagte ich und meinte Georgien, seine Geschichte, seine Kultur, seine Verse und Choräle, seinen Vater und seine Söhne. Er sagte ich und meinte Baum, Landschaft, Berge, Wein, Quellen, Meer. Gibt es Menschen, die eine Inkarnation ihres Landes sind? Tiroler Bauern oder tibetische Nomaden fielen mir ein oder noch Indios in den Anden, die der Pacha Mama huldigen. Seine Familiengeschichte war die des Landes, er führte sie bis an Tamars Hof im 12. Jahrhundert, ins Goldene Zeitalter Georgiens, zurück, ein Adelgeschlecht der ersten Stunde. Obwohl wir russisch sprachen, musste der Ministeriums-Übersetzer Gigi stumm an meiner Seite sitzen, der ständig nickte wie eine chinesische Katze, auch seine Rustaweli-Familie hat einen Stammbaum mindestens bis zu Tamar. Gigi war als Kind schon auf seinem Schoß gesessen. Tröstlich, wenn man die Geschichte so sieht wie Gamsachurdia, sind wir alle irgendwie Habsburgs und Windsors.
Meine Fragen zur aktuellen Lage und seiner Politik ignorierte der Präsident elegant, gewalttätig und vollständig. Nichts griff, ich konnte ihn nicht umdrehen zu meinen Themen und abbringen von seinen. Alles, was er in seinem Monolog von sich gab, wäre sehr interessant für ein vergleichendes Geschichts-, Literatur- und Theologieseminar gewesen, aber ich bekam von ihm keine einzige, für den aktuellen Bericht „verwertbare“ Antwort, kein Satz war als Original-Ton geeignet.
Ich war innerlich zerrissen zwischen Faszination und Verzweiflung, saß auf seinen Worten wie auf glühenden Kohlen, fühlte mich wie Rumpelstilzchen auf der Suche nach einer Erdspalte.
Ebenso klar wie das vordergründige Scheitern meines Interviews war, dass Gamsachurdia der falsche Mann auf diesem Posten war und sicher besser in die Argonauten- oder Tamar-Sage passte als in die postsowjetische Gegenwart. Ein sympathisches Volk, das einen Dichter-Philosophen zum Präsidenten gewählt hatte.
Er lachte über die Ironie der Geschichte, die ihn, den Stubengelehrten, Dichter und Gulag-Häftling an die Spitze des Staates geschwemmt hatte. Ha, das wäre ein Haken, Sowjetunion, Gulag, Verbannung, und jetzt, Selbständigkeit, eine international anerkannte Republik Georgien. Aber blieb bei seinem Thema, er sah die humoristische, lächerliche Seite der Dinge – das wahre Kennzeichen einer tragischen Gesinnung.

Am Platz vor den Toren des Palastes wogten die Massen hin- und her, drängten an die Gittertore, die Demonstrationen waren in Straßenschlachten übergegangen, die Miliz prügelte sich in Hochform, ab und zu drang ein Knall oder eine Leuchtrakete durch die dicken Wolkenstors. Ich habe den Saal als ins Rosige getauchte Hölle in Erinnerung, in der mich der Präsident mit dem Goldenen Vlies, der Christianisierung und dem georgischen Mittelalter folterte. Möbel und Parkett aus Rosenholz, alle Bezüge der falschen Biedermeiermöbel, alle Karaffen und Gläser, voll mit Granatapfelsaft, funkelten in diesen Farben, vielleicht doch nur das Fegefeuer. Zumindest fühlte ich mich auf dem Rost gegrillt wie ein georgisches Hühnchen. Ich war jetzt über Georgien aufgeklärt, von höchster Stelle. Aber mir war schlecht, mir war düster zumute, ich war verzweifelt, ich hatte keinen Präsidenten-Sager!

Die Reportage gelang dann doch nicht schlecht (man soll sich selbst nur loben, wenn es unbedingt notwendig ist.) Ich unterlegte die Gori- und Weingarten-Szenen mit Musik von Ghia Kantscheli, die Straßenschlachten waren weder von Bild und Ton kein Problem, sie sonderten ihre eigenen Geräusche ab, und dem Interview mit Gamsachurdia (15 Sekunden O-Ton) schob ich eine allgemein – patriotische Verszeile des Nationaldichters Schota Rustaweli unter.
Zur georgischen Staatsphilosophie kam es nicht mehr. Gamsachurdia wurde immer autoritärer, verlor die Unterstützung der Mehrheit, schnitt die Verfassung mehrmals auf sich um und putschte mit der Präsidentengarde gegen sich selbst, bis er Ende 1993 durch einen Militärputsch gestürzt wurde und unter nie geklärten Umständen ums Leben kam - angeblich Selbstmord auf der Flucht.

Wien, 18.11.16

Nikolaj S. Wawilow - Stalins Botaniker

Es war im Mai 1988, als ich zum ersten Mal in die Ulica Wawilowa kam, eine große Ausfahrtsstraße in Moskaus Südwesten. Dort wohnte in einem Diplomatenkomplex eine Freundin, die an der österreichischen Botschaft arbeitete. Mir sagte die Wawilow-Straße nichts, und ich fragte auch anfangs nicht nach dem Namensgeber. Auch kannte ich die Gegend von früher nicht, eine ziemlich neue, sich endlos hinziehende, gesichtslose Plattenbauwüste aus Chruschtowkas (schnell und billig aufgezogene 4-stöckige Wohnhäuser) und neuen Supermärkten. Im dritten Jahr von Gorbatschows „glasnost“ und perestroika“ tauchten immer mehr neue Straßen- und Ortsnamen auf oder erhielten ihre alten zurück. Die Gorki-Straße wurde wieder zur Twerskaja, die Gerzena zur Bolshaja Dmitrowka, die Klosterstadt Zagorsk zu Sergijew Posad, Stalingrad zu Wolgograd. Ich wußte nichts von der Tragödie, die sich hinter dem Namen Wawilow verbarg. Für mich ein beschämendes Beispiel, wie blind und blöd man herumtaumeln kann, wenn man die Geschichte nicht genügend kennt. Mir fiel bei meiner irrungsreichen Fahrt nur der gigantomanische Neubau eines Superbaumarkts ins Auge – Baumax ist gelandet.

Erst nachdem ich ein paarmal bei dieser Freundin zu Besuch gewesen war und an einem Kiosk zufällig eine 5-Kopeken-Sondermarke mit dem Konterfei des Akademik W.I. Wawilow, 1887 – 1943, entdeckt hatte, begann ich mich dafür zu interessieren, wer dieser Mann gewesen ist.
Nikolai Iwanowitsch Wawilow, 1887 in Moskau in einer Industriellenfamilie geboren, war zwischen 1910 und 1940 der berühmteste Botaniker, wenn man so will, der erste Genetiker überhaupt. Er sammelte in allen Erdteilen Pflanzen, ihre Früchte, Samen, Wurzeln, Knollen und Saatgut. In Petrograd richtete er die weltweit erste Samenbank ein und in Pawlowsk eine Versuchsfarm, gründete in der UdSSR über 40 Agrarinstitute und weitere 120 Experimentierstationen mit Testfeldern von Murmanks bis Jalta, von Kaunas, Lemberg bis Wladiwostok. In den besten Zeiten arbeiteten 20 000 Menschen in Wawilows Forschungseinrichtungen. Er selbst hat seit 1921 ein Professur in Saratow inne und wird im Ausland mit Ehrungen überschüttet. Er ist Mitglied in vielen Akademien, in der UdSSR langjähriger Präsident der geografischen Gesellschaft und Leiter des allrussischen Agrarinstituts in Leningrad. Viele Universitäten hätten ihn gerne als Professor angeworben, ihm lag aber nichts so sehr am Herzen wie das Wohl seines Landes.
Er verfolgte einen größenwahnsinnigen Traum, leitete ein wahnwitziges Unterfangen, die Welt, und vor allem sein geliebtes Russland, für immer von Hungersnöten zu befreien, indem er alte Pflanzenverbesserte un neue züchtete, die auch in ungünstigen Klimatas und auf rauen Böden Höchsterträge bringen können. 1920 formulierte er das „Gesetz der homologen Reihen“, das in Anwendung des Mendelejew`schen Periodensystems der chemischen Elemente ermöglichte, aufgrund bekannter Daten das Vorhandensein noch unbekannter Pflanzenformen vorauszusagen. Es hatte durchschlagenden Erfolg und wurde ab da international angewandt. Wawilow hat es nicht mehr erlebt, dass in den Jahrzehnten seit dem Weltkrieg allein in der Sowjetunion 400 neue Pflanzenarten entwickelt wurden.

Wawilow war gut unterwegs zu seinem Ziel, aber er brauchte noch Zeit. Er bekam sie aber nicht mehr. Denn einer glaubte nicht an seinen Traum – Stalin.
1932/33, nach dem 1. Fünfjahresplan, herrschte die schlimmste Hungersnot der Menschheitsgeschichte, die der Diktator durch seine kurzsichtige und unbarmherzige Zwangskollektivierung und den Kampf gegen das sogenannte „Kulakentum“ selbst verursacht hatte, den Golodomor in der Unkraine und Westrusssland mit Millionen von Toten. Um den Volkszorn zu beschwichtigen und die eigenen Fehler zu vertuschen, braucht Stalin Sündenböcke, und so schlug er sich auf die Seite von Wawilows Gegnern und Neidern, die mit Scheintheorien ein schnelleres Wachstum versprachen. Allen voran steht der Halbanalphabet Trofim Lyssenko, ein kleiner Funktionär in einer aserbeidschanischen Pflanzenzuchtstation. Ironischerweise hat Wawilow diesen „proletarischen Vorzeigewissenschafter“ anfangs sogar gefördert. Lyssenko bemächtigt sich einiger Forschungsergebnisse, fälscht Daten und verspricht, innerhalb von drei Jahren neue Supersorten zu kreieren, die um 40 Prozent höhere Ernteerträge erbringen, obwohl jeder Biologe weiss, dass das unmöglich ist. Aber ein Lyssenko paßt gerade gut ins marxistische Weltbild: Sowohl Lyssenkos reiner, proletarischer Lebenslauf als auch seine Behauptung, dass er Pflanzen „erziehen“ könne, so wie andere Wissenschaftszweige den neuen Menschen, den „homo sowjeticus“, vorhersagten. Lyssenkos These hat nichts mit Wissenschaft zu tun, sonern ist reine Ideologie. Zwingt man etwa Getreide, in Kälte zu wachsen, zeugt es Nachkommen, die frostresistent sind. Setzt man Pflanzen seinen Schädlingen aus, werden sie diese besiegen. Eine veraltete Theorie aus dem 19. Jahrhundert, die nicht zuletzt schon 1853 Mendel widerlegt hat. Mit fantastischen Versprechungen, irrwitzigen, antinatürlichen Visionen, sogar im Permafrost Sibiriens Weizen und Roggen, Äpfel und Orangen wachsen lassen zu können, gewinnt er Stalin für sich. Natürlich nicht direkt, von Peron zu Person, sondern über korrupte Funktionäre, die die zurückgebliebene Republik Aserbeidschan ins rechte Licht rücken wollten. Ein irrer Tanz, von einem Irren von anderen Irren angetrieben, für den alles entscheidenen Superirren. Jenseits aller Realität. Weil Stalin schnell Ergebnisse braucht, will er einfach dem letztklassigsten Scharlatan glauben und läßt Lyssenko als den „besten Vertreter des wissenschaftlichen Sozialismus“ rühmen. Zwar scheitern Lyssenkos Versuche im Experiment, aber er war ein gevievter Demagoge und hat eine starke Lobby hinter sich.
Wie lange Lyssenko als der proletarische Wunderknabe hochgehalten wird, zeigt die groteske Kontroverse Chruschtschows mit den USA über die überragenden Vorzüge des sowjetischen Weizens und des Mais, gerade zu einem Zeitpunkt, als die UdSSR diese Getreide aus den USA importieren müssen. Die berühmte Schuh-Klopf-Szene Chruschtschows vor den Vereinten Nationen hat den Streit um Lyssenkos Lügen zum Hintergrund. Weizen und Reis wachsen noch immer nicht in den Himmel, dafür aber kommt Gagarins erste Erdumrungung. Aber am Mond wachsen nun mal keine Äpfel und Orangen,
kein Getreide, keine Erbsen und nicht einmal Gras. Daran kann auch die sowjetische Wissenschaft nichts ändern.
Irgendeinmal möchte ich in Science oder Nature oder einen adäquaten russischen Organ eine Analyse lesen, was alles Stalins Dummheit, dass er Wawilow nicht weiterforschen ließ, eingebrockt hat, uns, Russland und der ganzen Welt. One world.

Stalins sukkzesive Machtergreifung nach Lenins Tod läßt sich an der Biografie Wawilows ersehen. 1926 erhält er die höchste Auszeichnung, den Leninpreis, Jahr für Jahr wird er auf internationalen Kongressen zum Vorsitzenden gewählt, er hat einen Lehrstuhl in Saratow, leitet in Leningrad das „Allunionsagrarinstitut“, ist Leiter der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Präsindent der Geografischen Gesellschaft. Undundund. Trotzdem – oder gerade deashalb - legt 1930 Stalins Geheimdienst NCHWD eine Akte über Wawilow an, um ihn des Vaterlandsverrates zu überführen. Während er noch fieberhaft durch die Welt reiste und Samen sammelte, verschwanden immer wieder Mitarbeiter seiner Institute oder tauchten wieder auf, nachdem sie Wawilow staatsschädigendes Verhalten bezeugt hatten. Spitzel wurden in seinem Umfeld eingeschleust, die ihn auf Schritt und Tritt beobachteten. 1935 nahm er an der „Deutschen Hindukusch-Expedition“ teil und brachte von dort fast 50 000 unbekannte, noch nie erforschte Samen mit.
Wawilow spürte wohl die Gefahr. Er hätte rechtzeitig ins Ausland fliehen können, wo er für seine Arbeiten gefeiert wurde. Aber der glühende Patriot blieb und sagte: „Wir werden auf dem Scheiterhaufen brennen, aber unsere Überzeugungen werden wir nicht verraten.“ Am 6. August 1940 verhafteten Geheimdienstler den Forscher und klagten ihn des Hochverrats an. In den folgenden elf Monaten wird er 400mal verhört, oft nachts und bis zu dreizehn Stunden, in denen er ununterbrochen stehen muss.

Die Zelle ist zweimaldrei Meter groß, von der Decke baumelt eine nackte Glühbirne, das Mobilar besteht aus einem Tisch und einem Bett, auf dem sich drei Gefangene zusammendrücken. Es stinkt bestialisch im fensterlosen Raum mit einem Exkrementenkübel in einer Ecke. Einer ist der Philosoph Iwan Luppol, der darüber nachsinnt, mit welchen seiner Gedanken er bei Stalin angeeckt sein könnte, also, wofür er schuldig war. Iwan Filatow hat es einfacher – ein klarer Klassenverrat, weil sein Onkel einst einen blühenden Holzhandel führte. Nikolaj Wawilow glaubt an ein Missverständins, er ist Ethnobiologe, vielleicht der größte, den die Welt je hatte. Aber Wawilow gibt auch in diesem Elend nicht auf. Er ermuntert seine Zellengenossen, einander Vorträge zu halten: Issipow über den Holzhandel, den Philosophen über seine Thesen, er selbst referiert über seine Vision von einer hungerfreien Welt. Lange bevor das erste Genom der Pflanzen entschlüsselt wurde, lange bevor DNA, Biodiversität und Gen-Pool überhaupt Begriffe waren. Mit Karawanen zog er durch Afghanistan, Indien, Eritrea, drang in den Dschungel Brasiliens vor und bereiste viele Länder Asiens, Afrikas und fast alle Inseln der Welt. Überall sammelte er Pflanzen, Wurzeln, Triebe und Samen, um sie nach St. Petersburg/Petrograd/Leningrad an seine Samenbank zu schicken.
Aus Kamerun notiert er einmal: „Drei Tage und Nächte nur eingesackt, dokumentiert und weggeschickt. 67 000, Hände blutig.“ Er ist überzeugt, dass nur mit der Vielfalt der Erbanlagen sich immer wieder Gewächse finden und erfinden lassen, die langfristig das Überleben der Menschheit sichern können. Schon bei seinen ersten Expeditionen zu Beginn der 10-er Jahre erkennt er, dass Arten verschwinden.

Im Leningrader „Allunioninstitut für Pflanzenzüchtung“ am Isaaksplatz sammeln sich im Laufe seiner Expeditionen 250 000 Samenproben an; diese Anzahl wird kein Land je erreichen. In hunderten von Laboratorien und Versuchsfarmen quer durch die Sowjetunion werden sie gezogen, gekreuzt, erprobt und wissenschaftlich ausgewertet. Wenn er nicht auf Expedition oder auf internatinalen Kongressen ist, steht er selbst in seinem Labor an der Universität Saratow. Wurzeln, Knollen, Bohnen, Nüsse, Früchte und Gewebeproben werden eingetütet und in Containern verwahrt. Es sind Tonnen, die im Zentralinstitut in Leningrad gesammelt, katalogisiert und auf Versuchfarmen erprobt werden.
Am 6. August 1940 holt eine schwarze Limusine den Chef ab, zu einem „wichtigen Termin in Moskau“; seine Mitarbeiter wissen zwei Jahre nichts über seinen Verbleib.
Ihnen und dem eigens zusammengerufenen Wachpersonal gelingt nach dem deutschen Überfall trotzdem das Wunderbare: Den biologischen Weltschatz vor der hungernden Bevölkerung zu behüten und zu verstecken, bis zu ihrem eigenen letzten Lebenstropfen. In eisigen Räumen stehen sie, hungernd kratzen sie die letzten Reste aus den Zuckerdosen, kochen Gras, Baumrinden, Lindenblätter, Ledergürtel und Schuhe, werden krank, schwach und sterben. Aber einigen gelingt es, den größten Teil dieses Schatzes ins Umfeld hinter Leningrad zu retten, in Metallkisten, damit die Millionenrattenplage nicht an sie herankommt. Sie streifen nachts durch die Stadt auf der Suche nach Holz, sitzen tief in Kellern an Feuern, damit die Kartoffelknollen und Reis- Zwiebel-und Bohnensamples aus aller Welt nicht erfrieren, und sie erfrieren dabei selber. Sie trauern um die Kollegen, die nächsten treten an und machen weiter. Niemandem kommt in den Sinn, sich am Saatgut zu vergreifen Sie verhungern lieber, als etwas selbst zu nehmen, wie lebensrettend fett- oder zuckerreich die Kartoffel, Nüsse oder Bohnen gewesen sein mochten. Sie halten an dem höheren Zweck Wawilows Forschungen fest und opfern sich für Wawilows Zukunftstraum. Ein Mitarbeiter wird tot an seinem Schreibtisch gefunden, in der Hand ein geschlossenes Päckchen mit nahrhaften Erdnüssen aus den Drachenbergen, die ihm vielleicht das Leben retten hätten können.
Wer soll das verstehen? Eine Tautologie, nur der, Russland versteht. Ich meine, es ist umgekehrt: Wer sich auf Wawilow einläßt, hat die Chance, etwas von Russland zu verstehen.


Nach dieser Folter gesteht Wawilow, einer konterrevolutionären Organisation anzugehören. Am 9. Juli 1941 verurteilt ihn das Militärgericht in Saratow zum Tod, wo es ihn später zu 20 Jahren Arbeitslager „begnadigt.“ Am 24. Jänner 1943 wird Wawilow in die GULAG - Sanitätsstation eingeliefert. Er fiebert stark, ist bis auf Haut und Knochen abgemagert, er hat Durchfall, und auf den Beinen haben sich juckende Hungerödeme gebildet. Er steckt in einem Sack mit Löchern für Kopf und Beine, an den nackten Füßen hat er Sandalen aus Baumrindenbast. Der Mann, der auch auf den höchsten Bergen, im tiefsten Dschungel, auf dem Packpferd oder Kamel immer in Dreireiher, mit Hut und Uhrkette auftrat. Der Patriot, Forscher und Humanist, der sein Leben lang dafür gearbeitet hatte, den Hunger zu bekämpfen, stirbt zwei Tage später. Er ist verhungert.
Den Hungerlöser hat man elendiglich verhungern lassen.

Unter all den Millionen Schicksalen empfinde ich das Wawilows als eines der tragischsten, das vollständig dokumentiert ist. Und entfacht meinen immer noch größer werdenden heiligen Zorn auf dieses menschenverachtende Regime. So folgenreich können Besuche an Adressen mit ungekannten Namen sein, wenn man einmal nachgefragt hat. Wawilow wurde 1955 unter Chruschtschow formell rehabiliert. Zur Anerkennung als sowjetischer Held, zum Straßennamen der Wawilowa, zur 5-Kopeken-Sondermarke und bis zu meinem jetzigen Wissen dauerte es noch einmal 33 Jahre. Die von ihm entwickelte Süßlupine der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae) und der Zwergstern 2862 wurden nach ihm benannt. Bis jetzt konnte ich nicht mit Sicherheit feststellen, ob die Wawilowa-Straße davor tatsächlich Bulevard Lyssenko geheissen hat.


Als im Juni 1941 die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel, war Wawilow schon in den Verliesen des NCHWD verschwunden. Von der 900- tägigen Belagerung Leningrads bekam er nichts mit. Fast eine Gnade, dass Wawilow nicht weiss, wie grauenhaft es um die Bevölkerung und auch um seine Mitarbeiter steht. Schon im ersten Winter, einem besonders strengen mit bis zu 40 Grad, sterben 200 000 Leningrader an Hunger, Kälte und Dauerbeschuß der deutschen Artillerie. Bis zum Ende der Belagerung werden es fast eine Millionen sein, darunter 9 Mitarbeiter des Wawilow-Instituts. Wie durch ein Wunder bleibt die Sammlung der Samenvorräte fast vollständig erhalten.
In den folgenden 4 Jahrzehnten gelingt es der Sowjeunion, 400 neue Sorten aus Wawilows Samen zu züchten. 1980 wird geschätzt, dass auf vier Fünftel der sowjetischen Anbauflächen Pflanzen aus der Wawilow-Sammlung wachsen, darunter auch besonders krankheitsresistente Kichererbsen und frühkeimender Weizen. Die Zahl der Hungersnöte ist in der ganzen UdSSR drastisch gesenkt worden.

Viele Jahre nach seinem Heldentod haben andere Staaten und Institutionen den Wert von Wawilows Forschungen erkannt und Saatenbanken eingerichtet, derzeit sind es weltweit fast 1500. Zusätzlich öffnete 2008 auf Spitzbergen der „Global Seed Vault“, in den alle Genbanken der Welt Duplikate ihrer Sammlungen einlagern können. Eine solche „Rückversicherung“ ist nötig, weil nationale Genbanken durch Kriege, Budgetkrisen oder technische Pannen anfällig für Zerstörung sind.
Ein Hohn der Geschichte: Ausgerechnet Wawilows Erbe ist derzeit akut bedroht, und dabei kommt die Gefahr diesmal nicht von einem Außenfeind, sondern ist hausgemacht. Die Gier der Neukapitalisten und die Korruption der Behörden – oft in Personalunion - machen auch vor den wertvollsten Schätzen der Menschheit nicht Halt. So gieren St. Petersburger Baulöwen mit Unterstützung des Stadtrates nach dem Gelände der Zuchtplantagen von Pawlowsk, um hier in Nähe des Zarensommerpalastes Luxuswohnsiedlungen für Superreiche zu errichten. Genau auf den Flächen, auf denen die Pflanzen aus der einzigartigen Obst- und Beerensammlung des Wawilow-Instituts wachsen. Diese enthält mehr als 5700 Arten, darunter allein 893 Sorten von Schwarzen Johannisbeeren aus 40 Ländern, 634 Sorten von Apfelbäumen aus 35 Ländern. 90 Prozent der Obst- und Beerensorten aus Pawlowsk sind nirgendwo sonst auf der Welt zu finden. Nach dem Hilfeschrei der letzten heldenhaften Biologen von Pawlowsk, TV-Berichten, Geo- und Greenpeace-Aufrufen letztendlich auch internationalen Protesten will die russische Regierung angeblich die Entscheidung zur Absiedlung „noch einmal überdenken.“ Präsident Putin mit seiner Allmacht und als gebürtiger Leningrader wäre natürlich der erste, der diesen Unfug und die Schändung von Wawilows Werk mit einem einzigen Strich einstellen könnte. Davon war aber bisher kein Ton zu hören.
Experten bezweifeln, dass die raren Züchtungen von Pawlowsk aus der Wawilow-Saatbank ohne Schaden umgepflanzt werden können.
Ein trauriges Beispiel für Russlands fragwürdiges Talent, im Krieg die Feinde zu besiegen, im Frieden aber sich selbst zu bekriegen.




Veronika Seyr
25.8.16

Montag, 19. September 2016

Das Gehirn des Dmitrij Schostakowitsch


In den Morgenstunden des 22. Juni 1941 überschritt die deutsche Wehrmacht in der "Operation Barbarossa" die sowjetische Grenze - für die Menschen der Sowjetunion der Beginn des Großen Vaterländischen Krieges. Den damals schon weltberühmten Komponisten Dmitri Schostakowitsch erreichte diese Nachricht als Vorsitzenden der Prüfungskommission in der Klavierklasse des Leningrader Konservatoriums. Ohne Unterbrechung wurde der Wettbewerb weitergeführt, obwohl die ganze Stadt gleichzeitig massive Verteidigungsmaßnahmen trafen. Auch die Professoren und Studenten nahmen an dem Barrikadenbau teil. Anfang August erschienen die ersten deutschen Flugzeuge über der Stadt, es begannen die Bombardierungen und der Artilleriebeschuss. Von da an wurde die Stadt 900 Tage und Nächte bis Februar 1944 eingeschlossen und bombardiert, in der Leningrader Blockade starb fast die Hälfte der Bevölkerung, 1 ½ Millionen Menschen, sie wurden erschossen, verhungerten, erfroren oder fielen Seuchen zum Opfer.
Die allgemeine Mobilmachung wurde angeordnet. Jungen von 17 bis zu Männern von 60 wurden einberufen. Schostakowitsch hatte sich freiwillig gemeldt, aber er war nicht dabei. Als die deutsche Luftwaffe begann, Brandbomben auf die Stadt zu abzuwerfen, organisierte das Konservatorium eine Art von freiwilliger Feuerwehr, die während der Angriffe auf den Dächern ausharren musste. Ein Augenzeuge berichtet, wie man Schostakowitsch einen Feuerwehrhelm aufgesetzt und ihm gesagt hat, er soll auf das Dach steigen und sich fotografieren lassen. Die ganze Welt kennt dieses Foto. Es sollte aufrütteln, Leningrad zu Hilfe zu kommen. Schostakowitsch war keine zehn Minuten auf dem Dach, trotzdem stand er ab jetzt im Mittelpunkt der sowjetischen Propaganda, die Stalin selbst dirigierte.

Am 19. Juli 1941, einen Monat nach dem Angriff, begann er mit der Komposition einer neuen Symphonie. „Meine Symphonie Nr. 7 widme ich unserem Kampf gegen den Faschismus, dem Heldentum unseres sowjetischen Volkes, unserem Sieg über den Feind und meiner Heimatstadt Leningrad“, schrieb er auf die Titelseite. Er feierte gerade seinen 35. Geburtstag, indem er nicht feierte, sondern fast 24 Stunden an einer neuen Koposition durchschrieb.
Die Gestalt des Künstlers, der vom Kampf inspiriert, mitten in der Verteidigung eine Symphonie komponiert, war ein großartiges Werkzeug der Kriegsanstrengungen. Ausserdem entsprach das nationale Genie ganz und gar der russischen Psyche. Bald schon rankten sich viele Legenden um die Entstehung der 7. Symphonie.
Die abenteuerlichste entstammt aber nicht der sowjetischen Propaganda oder dem russischen Volksmythos, sondern den Forschungen des chinesischen Neurologen Wang Dajue. Er will wissen, dass Schostakowitsch, nicht als Feuerwehrmann auf dem Dach verletzt wurde, sondern als Trümmeraufräumer auf dem Newski-Prospekt von einem Schrapnell in die Stirn getroffen wurde. In all dem Chaos wurde die kaum sichtbare Wunde von ihm selbst, der Familie und den Ärzten als so unbedeutend eingeschätzt, dass sie nicht mehr behandelt wurde als durch einen Verband. Der Splitter blieb aber in der linken Gehirnhälfte, im Cornu inferius des linken Gehirnventrikels stecken. Ein Pekinger Neurologe, Doktor Wang Dajue, pflegte in den 50-er Jahren engen Kontakt mit sowjetischen Neurologen und konnte den Metallsplitter mit Röntgenaufnahmen lokalisieren. Wenn er den Kopf nach rechts drehte und leicht abwärts wandte, strömte ihm eine Fülle von Melodien in den Kopf, die er aufschrieb und in seine Kompositionen einwob. Der Fremdkörper hat sein Gehirn stimuliert und mit Gedankenblitzen überflutet, behauptet der Neurologe. Nichts davon ist gesichert, ausser dass Schostakowitsch an schweren Kopfschmerzen litt und sich untersuchen ließ.
Wenn irgendetwas an dieser Legende stimmen sollte, wäre es die unerträgliche Grausamkeit, dass ausgerechnet ein deutscher Bombensplitter verantwortlich sein soll für die besten Stücke der Weltmusikliteratur.
Einen Monat nach dem Überfall hat Schostakowitsch mit der Arbeit an der neuen Symphonie, der 7., der heroischen Leningrader begonnen. Beendet hat er sie am 27. Dezember 1941, nachdem er im Oktober mit der Familie nach Moskau, später nach Kuibyschew evakuiert worden war. Fünf Sätze in fünf Monaten, und zu welcher Zeit!
Sie wurde am 5. März 1942 in Kuibyschew vom ebenfalls dorthin evakuierten Orchester des Bolschoi Theaters unter Samuil Samossud uraufgeführt.
Danach zog sie in einem unvergleichlichen Siegeszug um die Welt.

22.7.16