Freitag, 16. Juni 2017

Die Reisen des Regenschirms

Es gab einmal Zeiten, in denen es so heftig und beständig regnete, dass die Straßen auch noch Stunden danach nass waren, die Passanten durch Pfützen waten oder mit einem weiten Schritt darüber springen mussten. An diesem Morgen hatte es endlich geregnet, eine lang ersehnte Abkühlung nach der erdrückenden Hitze der letzten Wochen. Als ich am Vormittag zu meinem Garten aufbrach, waren die Straßen noch nass, und die Leute liefen mit Regenschirmen herum. Ich fuhr mit der U4 nach Heiligenstadt und von dort mit dem 256-er Bus nach Klosterneuburg-Kierling auf den Ölberg, wo ich zu dieser Zeit einen Garten hatte. Ich war ebenfalls mit einem Schirm unterwegs, den ich gleich nach dem Niedersetzen im Bus unter meinen Sitz legen wollte. Damit ich ihn nicht vergäße würde ich einen Fuß darauf stellen. Als ich hinunterlangte, stieß ich mit der Hand auf einen anderen Schirm, den dort offenbar jemand vergessen hatte. Ich zog ihn heraus, öffnete ihn leicht und sah, dass er eine Reklamegabe der skandalösen Kärntner Hypo-Alpe-Adria-Bank war, wie ein weißer Schriftzug am unteren Rand verriet. Dieser Regenschutz war aus nachtblauer Fallschirmseide, der Mittelmast und das Gestänge waren aus Metall, der handliche Verschluss rastete leicht aus zu sein, und der ideal geschwungene, geriffelte Silbergriff schien aus einer eleganteren Zeit zu stammen. Er wirkte neu und unbenutzt, außer dass ein einem Schriftzug der Hypo das H fehlte. Viel schöner als mein eigener, der einmal aus einem Obi-Baumarkt bei mir gelandet war. Knallgrün und orange, OBI für ALLES quer drüber, mit plumpen, Holz imitierenden Platikperlen an den Enden des Gestänges, genauso wie der viel zu lange und breite Griff. Ich gebe es offen zu, dass ich kurz versucht war, meinen Bastard einfach gegen dieses Edelexemplar auszutauschen - vielleicht war es ja der so lang gesuchte Hypo-Alpe-Adria-Rettungsschirm? Ein kurzer, heftiger Kampf in meinem Gewissen: Ein Reklameartikel, niemand hatte ihn gekauft, sondern geschenkt bekommen, also bereitete ich niemandem einen Schaden. Und bei der allgemein bekannten Großzügigkeit dieser good bank wird sie hunderte, wenn nicht gar tausende von solchen Reklamegeschenken im Land verteilt haben. Aber was , wenn sich jemand genauso schnell und intensiv wie ich in dieses Utensil verliebt hatte und jetzt unglücklich auf dem Ölberg herumlief oder in Klosterneuburg und seinen Schirm suchte?
Wie waren jetzt schon zwischen den Stationen Langstögergasse und Kreuzstadl auf der Bus-Linie. Die Häuser und Gärten wurden immer reicher und üppiger. Reicher und immer reicher, aber das dachte ich nicht wirklich. Bald musste ich eine weitreichende, moralische Entscheidung treffen. Oh Gott, wie schwer, fast so wie bei dem Bauern in Roseggers Erzählung von seinem Schirm und seiner Frau mit ihrer schwierigen Fragen: "Nimm ihn mit oder loss ihn do?" Mein praktischer Geist siegte über das schlechte Gewissen, ich nahm beide mit, als ich an meiner Station Ulrikendorf ausstieg.
Denn wenn ich mein OBI-Unding im Bus 256 gelassen hätte, wäre der Chauffeur sicher ungehalten gewesen, vielleicht sogar ärgerlich, zornig oder böse:" Immer die Ausländer, zoehn nix, oba lossn ollan Dreck do."
(Weil dort jetzt immer häufiger Mitbürger aus den Nachbarländern Busfahren , muss man das entsprechend ins Serbokroatische oder Tschechische übersetzen.) Das OBI-Gebilde blieb fortan im Garten, fürs Grobe, und das Hypo-Findelkind durfte zu mir in die Stadt, wo es im Ständer meiner beachtlichen Schirmsammlung als ein Glanzlicht heraus stach. Der geriffelte Silbergriff war natürlich nicht aus Silber, sondern auch nur oberflächlich mit einem silbrigen Kunststoff überzogen, was ich beim Putzen mit Idol schmerzlich bemerkte, als so viel davon abging, dass auch nur hässliches Plastik darunter hervorkam und ich Fußboden und Finger besudelte.
Einige Zeit danach hatte ich beruflich in Bratislava zu tun, wieder regnete es, und meine neue Hypo-Errungenschaft wählte ich aus, sie durfte in die Hauptstadt unseres Nachbarlandes mitfahren. Allerdings vergaß ich ihn dort in der Garderobe meiner Geschäftspartnerinnen Jana und Anja, was mir nicht gleich auffiel, weil in Bratislava eitel Sonne herrschte, als ich aus dem Geschäftsgebäude in den kleinen Park trat; und danach auch lange nicht, weil es bei uns wieder eine regenlose Zeit gab.
Irgendwann in den Wochen danach, beim Putzen meines Vorzimmers und Verschieben meines russischen Birkenrindenbehältnisses, fiel mir das Fehlen des mitternachtsblauen Stabes mit Silbergriff doch auf. Ich versuchte mich zu erinnern, und ich erinnerte mich richtig, wo er abgeblieben sein könnte; ich simmste Jana sofort an, die das Regending aber längst aufbewahrt und es richtig, trotz ihrer zahlreichen Kunden, mir zugeordnet hatte.
Sie kennen ihre Kunden offenbar in- und auswendig, bis in die tiefsten mitternachtsblauen Falten eines geklauten Regenschirms.
Beim nächsten Termin in Bratislava, etwa ein Monat später, kam eine Freundin mit, weder den neuen Zentralbahnhof noch Bratislava kannte. Gleich beim Eintreten ins Büro überreichte mir eine strahlende Jana die Hypo-Gabe und ich nahm sie glücklich an mich. Es regnete nicht in Bratislava an diesem Tag, in Wien auch nicht, und niemand brauchte einen Regenschirm.
Zurück am Wiener Hauptbahnhof wollten wir einen Kaffee trinken, aber meiner Freundin gefiel hier nichts, mir auch nicht, nirgends durfte man rauchen, alles sah steril und abstoßend aus. Wieder oben, über den Gürtel und die schrecklich verünglückte Kreuzung und den verlotterten Südtirolerplatz konnten wir uns auf kein Lokal einigen. Ich sehnte mich nach den alten Lagerhallen der Baumärkte zurück - ich hatte sie so lange gesehen, dass sie mir schon vertraut waren, heimisch. Nun - Übergangsstadium, hoffe ich - ein absolutes Nichts an Stadt, eine Unstadt.
Die Freundin und ich zogen immer weiter auf der Suche nach einem gemeinsam gewünschten Kaffeehaus, alles lehnte sie ab, da und dort wars nicht gut, dann und damals, böse Erinnerungen an schlechte Erfahrungen mit dummen, unhöflichen oder unaufmerksamen Kellnern marschierten wir die Favoriten- und die Wiedner Hauptstraße fast im Zickzack der Gassen und ihre Lokale hinunter, so lange, bis wir uns endlich auf das Cafe Worthner auf der Wiedner Hauptstraße einigen konnten, mein seit 41 Jahren meiner Wohnung vorgelagertes Wohnzimmer . Wie originell, stellten wir beide fest und mussten kichern darüber, wie beharrlich und konservativ wir Menschen sind - immer wollen wir in den selben Stall zurück, genauso wie das Vieh oder Fiakerpferde. Irgendwann trennten wir uns, meine Freundin fuhr mit der U1 nach Hause, ich ging ein paar Schritte weiter zu mir nach Hause.
Aber der so mühsam errungene Schirm war nicht da, stellte ich fast im Schock fest, als die die Bratislavaer Einkäufe sichtete und verstaute. Aber kein Schirm. Wo war der Schirm?
Der Hypo-Über-Alles-Rettungsschirm?
Meine Freundin Helga vermutete, dass ich ihn im Zug, in der S-Bahn, mit der wir um 9h früh nach Bratislava, und um 16h nach Wien zurück gefahren waren. Ja, das war das Wahrscheinlichste.
Perdu, der Rettungsschirm von Hypo-Alpe-Adria, dachte ich, das ist die Strafe für das unrechtlich angeeignete Eigentum. Die Fundstelle der ÖBB traute ich mich nicht anzurufen, wegen der zweifelhaften Vorgeschichte. Und sicher hatte sich schon der ursprüngliche Besitzer aus dem 256-er Bus gemeldet. Außerdem hatte ich die Erfahrung gemacht, in einem anderen, ganz anders gelegenen Fall, auf der hotline ewiglange warten zu müssen, das Tonband einem auf aggressive Weise die „Kleine Nachtmusik“ ins Ohr plärrte und dann, wenn man endlich durchgedrungen war, keine Auskunft oder eine falsche bekommt. Außerdem hatte die ÖBB jetzt sicher Wichtigeres zu tun haben, da sie sich daranmacht, die griechischen Staatsbahnen umsonst zu kaufen.
Die Cafees rund um den Hauptbahnhof abzuklappern, naja, das war mir das geklaute, verlorene, wieder gefundene und endgültig verlegte Hypo- Ding auch wieder nicht wert.
Kurz danach sitze ich, wie so oft, auf dem Platzerl vor dem Worthner mit dem plätschernden Teufelsbrunnen, genieße den Ort unter den Bäumen, wo die wunderbaren Wiener Gärtner aus Blumen bunte Rondeus zaubern, ich lese Zeitungen und schreibe ein bißchen was auf, ärgere mich über die zu lauten Straßenbahnen auf der Wiedner Hauptstrasse, den 1-er, den 62-er, die Badener Bahn, die Busse, ich denke, die Ampeln sind etwas zu kurz geschaltet, aber vor allem aber die Autos, die vor den Ampeln immer zu schnell, zu laut bremsen und starten.
Da kommt ein plötzlicher Regenguss mit Wind über die untere Wiedner Hauptstrasse herein, zerrt an Bäumen und am rot-weißen Coca-Cola-Dach, die Kellner und Kellnerinnen laufen, kurbeln am Coca-Cola, was das Zeug hält, bringen aus dem Inneren des Cafes Stöße von Fliesdecken heran und umgeben die Gäste fürsorglichst damit.
Dabei mussten sie fliegende Menükarten, Blumenstöcke, Servietten und Besteckkörbchen einsammeln und die Gäste mit Regenschirmen beschützen, obwohl sie unter den flatternden Dächern einigermaßen grotesk aussahen, so wie die meisten Besucher des Cafe Worthner. Kinder, Frauen und Alte - immer zuerst, wie auf der Titanic.
Auf dem Weg zurück von der Toilette kam ich wie immer an der Gardarobennische rechts vor der Eingangstür vorbei. Ich war entweder zu wenig alt, zu wenig Kind, zu wenig Mann oder gut konsumierender Kunde - ich sitze ja schon zwei Stunden mit einem einzigen Drink - genannt Hugo-Drink- da.
Noch einmal gebe ich etwas zu, weil ich doch ein bisschen verletzt war, durch alle Rettungskategorien des Cafe Worthner, oder überhaupt demnächst durch alle durchzufallen, schaute ich genauer in den Regenschirmständer hinein. Da lehnten fünf vergessene Exemplare, unter den ich einen wählen wollte. Aber was glänzte mir da entgegen,

So ist er, stolz und demütig, heimgekehrt, mit all seinem Stoff, der Aufschrift und dem silbrigen Griff, zusammengeklappt im Eimer. Ein Jammer, leider es hat seit damals nie mehr geregnet. Aber Hauptsache, er ist wieder da, der Hypo-Alpe-Adria- Regenschirm!


Veronika Seyr
27.7. 15

Die Kinder vom Sonnberg

Die Auskunftsperson ist der Wirt der Redlingerhütte, der liebenswürdige und redefreudige Johann Steiner, der seit 38 Jahren dieses Gasthaus bewirtschaftet- wahrscheinlich ist es der schönste Platz im Wienerwald. Charlotte und ich waren auf einer Expedition, um Wege, Distanzen, Zeiten und Rastmöglichkeiten für die 2. Kafka-Wanderung am 11. September 2016 zu erkunden.
Wir bekommen eine Lektion Heimatgeschichte. Die Redlingerhütte geht auf eine Arbeitersiedlung der 1780-er Jahre zurück, auf Joseph II. Der Reformator und Praktiker unter den Monarchen holte Wald- und Steinarbeiter, vor allem Böhmen und Tschechen für die Sandsteinbrüche in der Umgebung. Sie stellten Schleifsteine her, die besten in der ganzen Monarchie und exportiert bis nach England. Später kamen die „Gastarbeiter“ für die Westbahn dazu. Ende des 19. Jahrhunderts verwandelten sich die Arbeiterbaracken in einen Wienerwald-Einkehrgasthof, wie sie damals in den Außenbezirken und und rund um Wien aus dem Boden sprossen.

Besonders gefällt uns die Vorstellung, dass, wäre Kafka früher als 1924 in Kierling angekommen, es diesen Ort schon gegeben hatte und der unermüdliche Wanderer sicher auf diese idyllische Waldlichtung gestoßen wäre. Sicher hätte er die halbe Stunde vom Sanatorium auf der Kierlinger Hauptstraße 187 bis zur Redlingerhütte nicht mehr zu Fuß gehen können. Aber vielleicht hat er in dem von Dora gemieteten Einspänner den Maibach entlang führenden Weg genommen, wäre in Gugging nach rechts abgeborgen und ins Marbachtal hinaufgefahren. Wir stellen uns diesen prächtigen Frühlingstag vor, Dora und Franz in die Polster der Kutsche bequem zurückgelehnt. Wahrscheinlich hätte ihn diese Wienerwaldgegend an die Hügel rund um Prag erinnert und die Redlingerhütte an einen der Gastgärten dort, in denen er gern saß und sich mit Freunden traf. Den Schweinsbraten mit Kraut und Knödeln, für den die Redlinger Hütte heute berühmt ist, hätte der frühe Veganer auch bei bester Gesundheit nicht bestellt, aber vielleicht eine Linzertorte, die er trotz seiner strengen Reformkost immer gern mochte.
Ob er vielleicht ein Kafka-Menü auf die Speisekarte setzen soll, fragt der offensichtlich kafkakundige und einfühlsame Wirt mit einem Augenzwinkern. Gebratene Käfer mit Äpfeln? Charlotte lacht aus vollem Hals, als sie sich dieses „Gesundheitsmenü“ vorstellt: Rohkost, Früchte, Nüsse, Honig, ein Krug Milch, Wasser und dann das gebratene Ungeziefer, gespickt mit Äpfeln! Wir bestellen als eine der Nachspeisen Linzertorten für unseren nächsten Kafka-Spaziergang am 11. September. Bei Radler, Gepritztem und Grammelschmalzbrot mit reichlich Zwiebel und anhand einer Wanderkarte für die Kierlinger Umgebung erklärt uns der Wirt die verschiedenen Wege von hier weg in alle Richtungen und auch die Abstiege ins Kierlingbachtal. Der längere Weg führt in einem großen Bogen um den Marbach zum Sonnberg, der mit 420 m höchsten Erhebung in der Umgebung. In einer Senke unter dem Nordhang befand sich einmal ein Steinbruch für den Abbau von Sandstein, Nur noch wenige, fast unsichtbare Steinhänge sind geblieben, dicht überwachsen von Bäumen und Unterholz, von undurchdringlichen Brombeerhecken, Klettensträuchern und mannshohen Brennnesselwäldern. Noch tiefer in der Senke stand einmal eine Burg, von der nicht einmal der Name bekannt ist und auch nicht die geringsten Spuren übrig geblieben sind, erzählt uns der Wirt. Nur eine Legende ist überliefert: Die Burg ist durch ein schreckliches Feuer zerstört worden. Und wer dort - natürlich nur um eine mondhelle Mitternacht - vorbeikommt, kann noch immer das Schreien und Weinen von den in der brennenden Burg gefangenen Kindern vernehmen, so grässlich, dass jedem Wanderer das Blut in den Adern gefriert und er schnellstens das Weite sucht, ohne etwas gesehen oder erfahren zu haben. So hat noch niemand das Rätsel der weinenden Kinder erkunden können. Wer waren die Kinder? Die Sprösslinge der Burgherren? Eine Schule, ein Waisenhaus? Ob dieses traurige Ereignis auf den 30-jährigen Krieg, die Türkenbelagerungen oder die Franzosenzüge zurückgeht, kann uns nicht einmal der ortskundige Wirt sagen.
Wir sind uns sicher, dass Kafka, wäre er bei ihm eingekehrt und hätte er diese Geschichte gehört, einen Tagebucheintrag gemacht, einen Brief, eine Karte oder eine Parabel geschrieben hätte.
Die Suche nach der Burg. Das Schloss. Oder wäre Kafka, der passionierte Spaziergänger und Spezialist für Nachtmare, einmal um Mitternacht diesen Weg gegangen, um dem Geheimnis, das ihn sicher angezogen hätte, auf den Grund zu kommen, um etwas ihm entsprechendes "Kafkaeskes" daraus zu machen.
Wir beschlossen, den vom Wirt empfohlenen Wanderweg Nummer 6 durch das Grüntal zurück nach Kierling zu nehmen . Bei der Nennung des Namens wäre Kafka wahrscheinlich Julius Grünthal, ein Rabbiner an der Berliner „Hochschule für die Wissenschaft vom Judentum“, eingefallen, an der er und Dora Diamant im Herbst und Winter 1923 Studien betrieben und Vorlesungen hörten, auch
die Vorzüge der gut bestückten und gut beheizten Bibliothek genossen. Franz und Kafka litten Not und hungerten, manchmal bekamen sie Fresspakete von der Familie in Prag und verteilten die Köstlichkeiten unter darbenden Freunden und Kollegiumsmitgliedern, manchmal mit der Anmerkung koscher, zum Beispiel für Rabbi Julius Grünthal.

Laut Wegweiser sollte der Nummer 6 40 min dauern, wir zwei Vorausgängerinnen brauchten aber viel länger, weil es ständig etwas zu bestaunen, bereden und fotografieren gab. Diese Strecke bietet an jeder Stelle so viel Lieblichkeit, dass einem die Tränen kommen und man niederknien möchte: Zuerst vorbei an einem Teich, ein Stück durch einen Obstgarten mit rotbäckigen Äpfeln und dann bergauf durch alte Buchenwälder, so dicht und hoch, dass sie über dem Weg einen Tunnel bilden, und wir nicht mehr wissen, wer sich vor wem verneigt. Charlotte ist fasziniert von der Ähnlichkeit zu der ihr vertrauten Müritzer Landschaft, wo Kafka im Sommer 1923 seine letzte große Liebe, Dora Diamant, kennenlernte. Genauso ein Wald mit Buchen, rief sie aufgeregt mit roten Wangen, aber stell dir vor, du kommst aus dem Wald raus, und dann sind da Sanddünen und die Ostsee breitet sich vor dir endlos aus. Ich bin überrascht, hatte ich doch beim Müritzer Wald immer an Föhren gedacht. Meine Erinnerungen an die Ostsee verbinden sich mit der großen Wanderdüne der Kurischen Nehrung, die mit Föhren befestigt wird, mit den Föhrenwäldchen rund um Thomas Manns Haus in Nidden und den Strände von Klaipeda mit ihren locker im Sand stehenden Föhren, weiss gesprenkelt von Birken. Auf dem Wanderweg Nr. 6 durch das Grüntal mündet der breite Buchenwaldweg in eine unerwartete Hochebene, eine weite Wiese mit leichten Wellen und einem freien Rundblick auf die Wienerwaldhügel. Gräser und Blumen stehen hüfthoch, sie werden offenbar nicht gemäht, und Margeriten, Glockenblumen, Skabiosen, Hahnenfuß, Storchenschnabel, Schafgarbe, Sonnenauge, Ochsenmaul, Bärenklau, Lupinen, Kuckucks- und Federnelken, Wiesenschaumkraut, Taubnessel, Frauenmantel, Wiesensalbei, wilder Thymian und Wermuth, Habichtskraut, Flockenblume, Giersch, Frauenschuh, Blutweiderich, Beinwell, Pimpernell, Leimkraut, Habichkraut, Waldmeister, Bocksbart, Klappertopf und und fünf Arten von Klee dürfen sich seit dem Frühling ungeschnitten ausbreiten. Sogar zwei Orchideenarten wachsen hier – das Breitblättrige (Dakthyloriza majalis) und das Gefleckte Knabenkraut (Orchis maculata), beides Heilpflanzen. Und wie viele Gräser erst, deren Namen keine von uns beiden nennen kann, vielleicht gerade noch Zittergras und Wollgras.
Darüber schwebt ein beständiges unbestimmtes Summen, dass wir uns nach möglichen Lautquellen umsehen. Die Hochspannungleitungen vielleicht? Schon mit freiem Blick stellen wir fest, dass man sich auf diesem Wiesenstück keine Sorge über die Bienenbevölkerung machen muss. Darüber zittern Schmetterlinge und surren Insekten, bis ein Flugzeug mit wahrscheinlich braungebrutzelten Pauschalreisenden aus Mallorca im Landeanflug Schwechat ansteuert. Aber ein Glück, dass es die Ballermänner rund um das Mittelmeer noch gibt, nicht auszudenken, wenn sich alle diese Sonnenhungrigen durch das Grüntal wälzen würden. Wir beugen uns über ein Blumengestrüpp am Wegrain und stimmen überein, dass das Blau der Wegwarte noch schöner ist, als das der Kornrade. Doch dann werden wir unsicher, ob nicht der Große Natternkopf doch das noch schönere, tief ins Violett schlagende Blau hat. In zwei Feldern an der linken Hügelflanke ist der Hafer gelb und eigentlich reif für die Ernte. Ob er auch gemäht wird, bezweifeln wir, weil er von Regen und Hagel an vielen Stellen niedergedrückt und von Pflanzen untermischt und überwuchert ist, die die Bauern nicht mögen und Unkraut nennen: Ackerwinde, Ackersenf, Ackerwachtelkraut, Distel, Kletten, Brennnesseln, wilder Hanf, Kornrade, Mohn, Feldstiefmütterchen, Spitzwegerich, Blutweiderich, Beinwurz und Leinkraut, ganz unten an der Erde immer noch Ehrenpreis, Gänseblümchen, Feldstiefmütterchen, Feldsalbei, verblühter Ackermohn, Sommerwurz und Löwenzahn. Langsam ändert sich auch die Sprache, es ist jetzt nicht mehr von Unkraut die Rede, sondern von Wildblumen. Darüber flattern und taumeln viele Schmetterlinge, von denen ich nur den Zitronenfalter kenne und benennen kann. Der Volksmund sagt von ihnen, dass sie die Seelen von Verstorbenen sind oder Hexen. Wie auch immer, sie verbreiten mit ihrem Gelb augenblicklich den Geruch von Zirtronen. Dabei fällt uns auf, dass sich Kafka kaum für Gewächse interessierte, außer wenn sie geeignet waren für seine Rohkost-Mahlzeiten. Zwar suchte er in einer Gärtnereien am Prager Stadtrand Arbeit, auch in Zürau versuchte er sich als Gärtner, es ging ihm dabei aber mehr um seine körperliche Ertüchtigung als um die Pflanzen.
In den Sprechzetteln des Kierlinger Sanatoriums erwähnt er zweimal Blumen, die Pfingstrosen und den Flieder, und gab Anweisungen, wie man sie am besten pflegen sollte.
Am Scheitelpunkt der Wiesenwellen kommen wir an einem Marterl vorbei, dem hölzernen Käferkreuz, umrahmt von einigen Bänken mit der Widmung des Kierlinger Weinbauvereins. Einige große Vögel kreisen darüber, ob es Bussarde oder Falken sind auf der Jagd nach Mäusen und Schlangen? Nur Krähen, Spatzen und Tauben können wir nicht mit Sicherheit ausmachen. Sie sitzen – getrennt nach Arten - so dicht aufgereiht auf den Hochspannungleitungen, flattern und fliegen auf und lassen sich wieder nieder, ein Ballett, dass man meinen könnte, sie mögen den Elektrosmog und rappen dabei Elektrosongs. Es ist eine der wenigen Stellen im ansonsten zersiedelten Wienerwald, an dem man weit und breit kein einziges Bauwerk sieht. Im Blick voraus ragen die Wienerwaldhügel hoch empor wie ein Gebirgszug, was er ja als letzter Ausläufer der Ostalpen geologisch tatsächlich ist. Vielleicht zum ersten Mal verstehen wir, dass der Wienerwald die zärtlichste Umarmung ist, die die Alpen für eine Stadt bereit haben. Eine besonders schöne Wiesen-Waldbucht in einer Mulde mit Baumstämmen und einem Jägerstand am Rand können wir uns als die letzte Station für eine Kafka-Lesung vorstellen.

Wir stimmen überein, dass Kafka den Grüntalweg wahrscheinlich gemocht hätte und er ihn immer wieder auf- und abgegangen wäre, bei jeder Tages- und Nachtzeit, um zu ergründen, was ihm daran guttut und was ihn stört, um seine Wirkung in sich eindringen zu lassen. Knapp bevor sich der Weg verengt und steil in ein Tal abfällt, steht am rechten Rand eine Hinweistafel, an der Kafka wahrscheinlich angehalten hätte, um das wilde Gemisch von Weißdorn, Ranken der Brombeerstauden und des Wilden Hopfens zu bewundern, mit denen die Tafel umwachsen ist. Eine lebende Skulptur, in deren Mitte zu lesen ist, dass der Weg bergab nach Kierling noch 20 min dauert, der nach Kritzendorf eine Stunde und der nach Hadersfeld 1/1/2 Stunden. Kurz werden wir in unseren Phantasiegesprächen irritiert von der Gestalt eines enorm großen, braunen Tieres, das an einem Weidezaun entlanggeht. Ein Mammut im Grüntal? Kann nicht sein. Weiter unten kommen wir zu einer Weide, auf der sich eine Kuh mit ihrem Kalb an einem Wassertrog laben. Wahrscheinlich sind sie dicht hintereinander gegangen. Eine Schafherde ist in einem Pferch nebenan untergebracht. Es gibt noch einen richtigen Bauern im Wienerwald, wundern wir uns, Landmaschinen, Strohballen und Säcke mit Futtermittel unter einem Stadel, aber kein Mensch weit und breit. Weiter unten verengt sich der Wiesenweg, gesäumt von Wildkirschen und Edelkastanien, darunter meterhohe Brombeer- und Brennesselwildnis, in eine dramatische Wienerwaldschlucht, an beiden steilen Seiten bewachsen von Laubwald, mit einem mäanderdenen Bächlein tief unten, so klein, dass es auf der Wanderkarte nicht einmal eine Linie oder einen Namen hat. An diesem sonnigen Juli-Tag wird es plötzlich so dämmrig-grün, dass wir nicht mehr den Grund des Tales erkennen können. Als nach einer scharfen Wendung des Weges die ersten Häuser im Licht des sich weitenden Grüntals auftauchen, beginnen wir mit steigender Begeisterung, ein von uns imaginiertes Quartier für Kafkas ideale Sommerfrische auszusuchen.
Dieses Haus, nein jenes, zu groß, zu klein, zu teuer, zu einfach, zu laut, schau, das da hat eine Terrasse nach Südosten, die könnte er mögen, aber der Weg hinauf ist zu steil, denk dir den Winter aus. Dann rechts ein grün-weisses Haus, Villa Frei . geb. 1901, steht in goldenen Lettern über dem Eingang, das wäre das richtige, meinst du nicht auch? In dem Türmchen könnte er sein Schreibzimmer einrichten. Auf dem Balkon könnte er ungestört seinen Müller-Leibesübungen nachgehen und sich nackt sonnen. Würden seine quälenden Kopfschmerzen nachlassen? Könnte er hier die Nächte durchschlafen oder sogar etwas schreiben? Ein Kanapee muss unbedingt hinein, so wie in allen seinen Prager Zimmern. Aber nicht einmal Charlotte weiss mehr über deren Beschaffenheit. Aus Leder, mit Stoff, welchem? Wie lang, wie hoch? Mindestens so hoch, dass sich das Riesenungeziefer namens Gregor Samsa darunter verkriechen hätte können.
Bellende Hunde, krähende Hähne, kreischende Sägen, heulende Rasenmäher, schreiende Kinder, Schritte der Nachbarn, Husten, Lachen, Gespräche, fast alles störte den extrem lärmempfindlichen, an Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen leidenden Kafka. Schau, hinter dem Haus, ein Stapel Holz und eine Wiese, da könnte er dem Holzhacken, dem Heuen fröhnen und nackt auf der Wiese herumlaufen. Die Hecken sind hoch, niemand würde ihn beim Müllern und Nacktbaden stören. Im Natursanatorium Jungborn am Harz braucht er im Juli 1912 eine Woche, um die Scham und die Badehose abzulegen. Ihm wird übel beim Anblick der alten Männern mit Spitzbauch und Glatze, die nackt mit der Sense hantieren, über Heuhaufen hüpfen, Fussball spielen, miteinander boxen oder nackt über die Wiese stürmen und sich bei Regen im nassen Gras wälzen. Im Tagebuch vom Juli 1912 macht er ausführliche Notizen von dieser Szenerie. Kuck mal, Veronika, in diese Ecke des Garten, unter dem alten Kirschbaum ließe sich leicht ein „Luftlichthäuschen“ bauen, da müßte er nicht einmal auf der Leiter in die obersten Äste steigen, sie fallen ihm direkt in den Mund. Eines war sicher, er würde hier keine Köchin brauchen, ob Vermieterin oder Schwester. Er könnte fast zur Gänze Selbstversorger sein und seiner Angewohnheit des „Fletcherns“ ungestört nachgehen, dem stundenlangen Kauen der Nahrung. Ein Jungborn für sich allein, ideal! Nicht ganz, gibt Charlotte zu bedenken, denn im Grunde liebte er Gesellschaft, er unterhielt sich gerne mit den Gästen der Sanatorien und Pensionen. Immer fand er dort praktischerweise unter ihnen Vorbilder für seine Gestalten. Etwa den christlichen Landvermesser Hilster, der ihn mit der Bibel missionieren wollte. Er ging als Josef. K. in veränderter Form in „Das Schloss“ ein.
Wenn es ihn aus seiner Klause im Grüntal unter Menschen zieht, könnte er zur Redlingerhütte hinauf spazieren und dort mit dem Wirt, seinen Kindern und Angestellten plaudern, vielleicht auch nur schweigend in einer Ecke sitzen, mit dem Hut auf dem Kopf, und mit dem zutraulichen Hund spielen. Er hätte sich amüsiert über diesen freundlichen, dicken Fuchs-Dackel-Schäferhund mit zu kurzen Beinen vom Format und Farbe einer nur leicht angebratenen Rindsroulade, der sich bis heute gern zu Füßen der Gäste im Kies wälzt. Wahrscheinlich hätte er ihn- trotz extremer Unähnlichkeit – Max genannt und mit dem Hundemax gesprochen. Vielleicht eine Karte nach Prag in die Postdirektion geschrieben mit lieber Max, du in deinem Anzug, in der Hitze….. Schreiben oder Notizen machen würde er dort nicht, denn seine Schreibzeit waren die einsamen Nächte. Eine Schwimmgelegenheit müßte man für ihn ausforschen, denkt Charlotte weiter, denn ohne das Schwimmen würde es kein guter Ort für Kafka sein. Aber die Wienerwaldbächlein reichen nicht einmal einer jungen Forelle zum Schwimmen. Wir überlegen, ob er wohl den 50 min-Weg über den Weissen Hof nach Kritzendorf an der Donau in Kauf nehmen würde? Wir glauben, ja, war er doch ein geübter, ausdauernder Wanderer. Donau oder Strombad, beide hätten Wasser genug für den leidenschaftlichen Schwimmer. Im stillen Donauarm von Kritzendorf könnte er sogar ein Boot mieten, so eines, wie er es in Prag an der Moldau besaß, wo er flußaufwärts runderte und sich dann nackt flußabwärts treiben ließ. Wir würden auch den Wirt der Redlingerhütte nach einem einem Pferd für Kafkas Reitlaune befragen. Ein Ritt zum Sonnberg, zur Sandsteinmine oder zur geheimnisvollen Burg der Kinder, bei Mond oder Sonne. Wir waren sicher, dass der Wirt ihn wahrscheinlich bei sich würde gärtnern lassen, wenn es ihn überkam, und ihn vielleicht dafür mit Obst und Gemüse entlohnte.

Wie in allen Gärten des Grüntales blühen um die grün-weisse Villa Frei gerade die Rosen, Oleander, Gladiolen und Hortensien in vielen Farben, die Hauswand entlang ziehen sich volle Ranken mit Him- und Brombeeren, und im Vorgarten warten übermannshohe Ribislbüsche und Hollerstauden aufs Geerntetwerden. Kafka würde hier ankommen können. Die vorbeiwandernden Quartiermacherinnen sind zufrieden.
Veronika Seyr
22.7.2016

Was sind Clementinen?

Einen Tag vor Weihnachten hat mich in meiner Billa-Filiale ein spanhölzernes Steigerl mit CLEMENTINEN (Herkunftsland Spain, kernlos) verführt, obwohl ich nicht genau wusste, was Clementinen sind. Mandarinen, Tangerinen, Nektarinen, Serpentinen, Satsumas kenne ich, Clementinen nicht, schon wieder eine neue Züchtung?
Oh my darling, oh my daarling, oh my daaarling, Clementine! Das Lied mit diesem Refrain haben wir gern geschmettert. Aber die Clementine im Lied ist doch in ganz anderer Typ.
Die Früchte im Steigerl sehen schön und einladend aus. Eine Verführung, der ultimative Traum vom Süden in unseren lichtarmen Tagen, das Versprechen eines strahlend blauen Himmels, mit Wärme leichtem Wind und Meeresrauschen.
Sie sind etwas größer als Mandarinen und fast rund, durchgehend knall-orange wie eine Clowns-Perücke, glänzend wie mit Schweinespeck eingeschmiert, geschmückt mit Zweigen und immergrünen Blättern, alles direkt dran an den Früchten, wie gerade selbst vom Baum gepflückt. Die können das, die Kaufverführer aller Nationen.
Wer das macht in Spain, pflegt und erntet, wie und unter welchen Bedingungen, wir wissen es, aber angesichts dieses orange-grünen Versprechens waren alle Vorsätze wie weggewischt, dass ich aus Spain nichts mehr kaufen darf.
Nach all diesen vorbeihuschenden Fragen, Einsprüchen und Überlegungen stelle ich das Körbchen in meinen Wagen.

An der Kasse frage ich die Kassierin, was denn Clementinen sind. Ich kenne die Frau schon lange, eine freundliche Frau, der man ihre ostdeutsche Herkunft bei jedem Atemzug anhört. Sie pflegt einen speziellen Humor, etwas rau, aber sie hat für jeden Kunden ein freundliches Wort, lacht gern und trägt immer einen Scherz auf den Lippen. Ich glaube, dort heißt es, sie hat Lippe. Fast Wienerisch. Ich finde es immer noch toll, dass wir Einwanderer aus der früheren DDR in Wien haben. Was da wohl für ein Lebenslauf dahintersteckt? Ich habe mich aber nie danach zu fragen getraut. Schade.
Auf meine Frage nach den Clementinen lacht sie mir offen und schallend ins Gesicht : " Dos frogens ausgerechnet mich? Wie soll ich dos wissen, Clementinen, hahaha, ich kannte ja bis vor kurzem nitamol Bananen!" Die Mauerfall-Begrüßungsgeschenke sind lange her, sie hat sie nicht vergessen und ich auch nicht, die Bilder von den von Wessis als Willkommensgeschenk verteilten Bananen. Sie nimmt es ihnen offenbar bis heute nicht übel.
Herrlich, diese Frau gehört auf eine Bühne mit politischem Kabarett, auf Deutsch KAbarettth oder Comidi.

Übrigens, bei meinem Clementinen-Steigerl-Kauf habe ich mich völlig übernommen. Ich war über Weihnachten schwer verkühlt, sagte alle Besucher und Besuche ab, nahm nur das Lebensnotwendige zu mir, weil nichts wirklich schmeckte und vor allem die Zitrusfrüchte auf den aufgesprungenen Lippen brannten. Die Schnupfennase und alles drumherum sowieso. Sogar die Hektoliter Tee habe ich nur mit Honig, ohne Zitronen und Clementinen, geschlürft.
Als es mir etwas besser ging und ich aus den verschlierten Augen herausschauen konnte, schritt ich zur Tat, nachdem diese wunderschönen Clementinen-Darlings jeden Tag mindestens eine neue faulige produzierten. Ich nahm das den darlings ziemlich übel, hatte ich sie doch auf dem farblich mit dem Gedeck, den Gläsern, den Küchenwänden und dem Tischtuch abgestimmten so drapiert, dass keine die andere berührte. Also ziemliche Prinzessinnen auf der Erbse, nicht vertikal wie im Märchen, diese Clementinen.
Oh my darling, Clementine.
Ich griff zum Messer und zerschnipselte die Clementinen samt und sonders, verrührte sie und verkochte und passierte sie gleich zweimal, einmal mit dem Mixstab, dann noch einmal mit der flotten Lotte. Ich versetzte den Brei neben Gelier- noch mit Vanillezucker und Tortengelee, Ingwer, Gewürznelken, Kardamom und Citronat. Im Übermut fügte ich noch ein kleines Stück Bitterschokolade, Akazienhonig, einen Kaminzauber-Teebeutel, ein paar Rosinen und einen Teelöffel Cognak hinzu. Mehr Gutes fand ich nicht im Haus oder in meinem Schnupfenkopf.
Schließlich konnte ich zwölf Gläschen mit Clementinen-Gelee befüllen und beschriften mit „Clementine, 31.12.16“- der Geburtstag meiner Schwester Hedwig. Wie diese Multi-Kombi-Marmelade wirklich schmeckt, konnte ich noch nicht erforschen. Die Geschmacksknospen sind noch immer beeinträchtigt. Aber sie durchzog die Wohnung mit einem feinem Duft, einem Parfum, dem ich den Namen der „Sehnsucht nach dem Süden“ gab. . Das Land der Sehnsucht mit der Seele der Clementinen suchen. Wer nie das Brot mit Tränen aß. Vielleicht dufteten sie sogar bis nach draußen, aber das hätte nur ein gesunder Besucher vor der Tür feststellen können. Mit großem Vergnügen und Genugtuung betrachte ich die Reihen mit den zwölf Gläschen in der Farbe von gesättigtem Bernstein, 44 Millionen Jahre alt. Ich habe das Clementinen-Steigerl verewigt.
Erst als ich mich heute fast vollständig gesund fühlte, ging ich ans Googeln: „Eine Clementine ist eine Hybride zwischen Mandarine und Pomeranze.“ Aha, und was ist eine Pomeranze? Du blöde oder eingebildete Pomerantschn, das war einmal vor undenkbar langen Zeiten ein ländliches Schimpfwort, ich glaube, hauptsächlich zwischen weiblichen Kampfhennen. Ähnlich veraltet wie du Kuh, du Ziege, du Gans. Die bei uns neu angekommene Orange, die Pomeranze als beneidete Konkurrentin des gemeinen Apfels? Der Paradiesapfel. Tussi würde man heute wohl sagen.

Heute ging ich erstmals im Neuen Jahr auf die Straße und wollte mich bei der lustigen Kassierin mit einem Gläschen meines Clementinen-Gelees bedanken. Und siehe da, die Billa-Filiale bei mir an der Ecke zur Mozartgasse wurde geschlossen und ist vier Straßenbahnstationen weiter die Wiedner Hauptstraße hinauf übersiedelt. Für mich heute zu weit für dieses junge Jahr und meine schwache Gesundheit.
Irgendwann werde ich es einmal zum Wiedner Gürtel hinauf schaffen.

In der kurz vor Weihnachten eröffneten Spar-Gourmet-Filiale genau gegenüber kaufte ich dann als Eröffnungsangebot ein Körbchen mit Rudolfinen.
Veronika Seyr
2.1.17

Der Raub der Sappho

Trauerspiel in fünf Aufzügen


1.
Wann kann das gewesen sein? Wie alt war ich damals, als ich diese Tragödie erlebte? Erlitt. Ich leide bis heute daran.
Im Josefstädter Theater war es, da bin ich mir sicher, und dass ich ein Kleid anhatte, das mir meine Schwester Agnes aus Amerika geschickt hatte. Natürlich kein Care-Paket mehr, das war früher. Und in denen waren keine Kinderkleider drin, sondern Konserven, Kakaopulver, Lebertran und Blöcke von Käse und Schokolade. Der lila Samt war dem roten der Brüstung auf dem 2. Rang ähnlich, sie rieben sich familiär aneinander. Oben am Hals ein weißer Spitzenkragen. Nicht ausladend, in zwei Flügel geteilt wie bei den Tauben.
Sie war Austauschschülerin von AFS - das Traumsiegel meiner Jugend – American Field Service, lebte bei einer amerikanischen Familie in Fort Worth-Texas und besuchte die letzte Klasse einer High School.
Sie kam aus der 6. Klasse unseres Gymnasiums in die letzte der High School, also war ich bei dem konstanten Altersunterschied von 5 Jahren zwischen 11 und 12 Jahre. Sagen wir 12, damals im Josefstädter Theater. Die zwei unterschiedlichen Samte stießen gegeneinander wie die anschwellenden Brüste, an der Brüstung.
Sappho hatten wir an der Schule noch nicht durchgenommen. Aber ich zeigte von klein auf eine Begeisterung für das Theater. Ob das der Dramatik meiner Geburt geschuldet ist, der DNA oder dem Aufwachsen zwischen 6 Geschwistern, darüber streitet bis heute die Familienwissenschaft. Anzunehmen, eine Kombination. Sicher ist, dass ich schon im zarten Alter von 6 den siebten Zwerg in Laterne tragender Rolle spielte. Jedenfalls ließen mich meine Eltern schon früh allein nach Wien fahren. Tulln- Franzjosefsbahn – mit dem 5-er in die Josefstadt und wieder zurück. Der D -Wagen war günstig, um ins Burgtheater und zu den Konzertsälen zu kommen. Später organisierte unser Musiklehrer Förstl Autobusfahrten in die Konzerte der Jeunesse musicale.


2.
In der Sappho sehe ich mich aber allein am 2. Rang sitzen, Mitte links mit freiem Blick auf die Bühne, leicht von oben wirkte sie klein und fast immer leer. Ich glaube, ich suchte die Stücke damals nach meinen Lieblingsschauspielern aus. Ihre Konzentration in einem Stück wird wahrscheinlich zu diesem Besuch geführt haben, weniger der Inhalt, obwohl ich ihn sicher vorher im Reclam-Heft gelesen hatte. Ich erinnere mich noch an die Bühnenanweisung in II/6: Sappho ab in die Höhle, bei der ich lachen musste, die Vorstellung: Sappho, ab in die Höhle! Ebenfalls über die vielen Ei`s, Oh`s und Je nun`s. Von Blumen umrankte antike Ruinen, Tempel, Klippen, eine Höhle, Laube, Rasenbank, bei allem immer der Ausblick auf ein sonniges, tiefblaues Meer. Schließlich ist Lesbos eine Insel. Dass die Szenerie ganz offensichtlich aus Pappe, das Meer auf Stoff gemalt und die Blumen aus Plastik waren, störte mich nicht im geringsten. Auch nicht die Schauspieler, gekleidet in weiße Laken mit Faltenwurf, auf den Lockenmähnen ein Goldreif, das Volk in Wickelsandalen, alle halten ständig Oliven-, Lorbeerzweige und Blumengebinde in den Händen, mit denen sie der geliebten Dichterin zujubeln. Der einzige Farbfleck ist Sapphos wallender Purpurmantel, den sie immer wieder schwungvoll um sich wickelt oder zu Boden schleudert. Eine frühe Art von bekiffter Hippie-Kommune, wenn ich eine solche damals schon gekannt hätte. Sappho war eindeutig die Chefin dieses lesbischen Mädchenpensionats und gab mir wenig Identifikationspunkte. Ihr Künstlerdrama verstand ich sicher noch gar nicht, auch nicht die unglücklich liebende, alternde Frau im Zwiespalt zwischen Kunst und Leben. Und natürlich hatte ich nicht die geringste Ahnung von Sapphos welthistorischer Bedeutung in der Literatur. „Wenn wir alle sapphischen Gedichte hätten, wer würde an Homer denken?“ (Friedrich Schlegel) Von den 12 000 Versen, die sie zur Lyra verfasst hat, sind nur etwa 6000 in 200 Fragmenten auf uns gekommen.
Und die begeistern die Menschheit schon seit 2 600 Jahren. In der Bibliothek von Alexandria charakterisierte man sie als die „Frau mit dem liebenden Herzen und den weinenden Händen“.
Bei mir war es das Liebes- und Eifersuchtsdrama in diesem Dreieck, das mich vollständig hineinzog. Dass der gekrönten Siegerin die junge, unbedarfte Sklavin vorgezogen wird, hielt ich für die natürlichste Sache der Welt. Was für ein Paar, dieser strahlende Phaon und die junge Melitta. Und wie sich dieser testosteronstrotzende Wagenlenker an die Unschuld vom Land, Waise, Sklavin, Fremde heranmacht, das hatte fast etwas von Porno. Das war stärkerer Tobak als Schneewittchen und Rotkäppchen zusammen, obwohl es im Grunde immer nur um das Eine geht. (Melitta strauchelt von der Rasenbank und sinkt an Phaons heißen Busen). Sicher nicht nur mein mangelndes Verständnis für Sapphos Situation ließ mich vollständig auf die Seite der Jugend schlagen. Ja, ich fand Sappho sogar ziemlich unsympathisch, da konnte sie noch so Lorbeer bekränzt, frei, reich und berühmt sein. Was hatte sie sich da einzumischen, wenn zwei miteinander das Glück gefunden haben.
Gut, Melitta war ihre Sklavin (später habe ich gehört Schülerin oder Liebhaberin?), und sie hat Phaon zuerst erobert und an Land gezogen, aber was galt schon das Erstlingsrecht, wenn es um reine, schöne Liebe ging. Sie so zu bestrafen, sie auf eine Insel zu verbannen und ihn mit dem Tod zu bedrohen!
So eine grausliche Alte! Ungerecht und unverhältnismäßig! Und die soll schöne Liebeslieder dichten? Ich brannte am ganzen Körper vor Empörung. Der Kampf um Melitta am Meer im Hintergrund der vorletzten Szene erfasste mich so voll und ganz, dass ich fast von der Brüstung gestürzt wäre, als ich mich in der selbstvergessenen Anspannung zu weit vorbeugte. Das war echtes Theater, echt wie das Leben selbst, zumindest so wie ich es mir mit 12 vorstellte und ersehnte.


4.
Aber dann passierte es, in der letzten Szene V/6. Die Wirklichkeit drängte sich in ihrer ordinärsten Form machtvoll in die heile Theaterwelt. Sappho sitzt auf einem Felsen, im Rücken die steile Klippe und das Meer. Sie hat den Purpurmantel eng um sich gewickelt, in der einen Hand baumelt der welke Lorbeerkranz, in die andere hat sie den Kopf gestützt.
Obwohl sie ihn gebeugt hält, ist jedes Wort so deutlich zu hören, als würde man neben ihr sitzen.
Den Menschen Liebe und den Göttern Ehrfurcht!
Genießet, was euch blüht, und denket mein!
So zahle ich die letzte Schuld des Lebens!
Ihr Götter, segnet sie und nehmt mich auf!

Da steht sie auf und segnet das junge Paar – sie hat ihnen vergeben, sie sind gerettet! Sie hat sich zum Verzicht durchgerungen. Welche Erleichterung!
Die Zuschauer atmen auf, ein großes gemeinsames Ausatmen geht durchs Theater wie ein Wind durch den Wald. Aber wie um alles in der Welt, kommt die Schauspielerin darauf, sich noch an die Stirn zu schlagen, die Verzweiflung hat sie doch überwunden, sie ist geläutert und hat eine Lösung für sich gefunden.
Dieser Schlag mit der inneren Handfläche auf die Stirn war so entsetzlich banal wie ein Klatschen auf den nackten Popo, nichts Tragisches, eine Ohrfeige, ein Klaps, ein Knall, ein Schmatzen, alles zusammen unappetitlich. Er hallte fort und fort, und das Publikum erfasste alles im selben Augenblick, indem es herzlich zu lachen anfing. Es pflanzte sich in Wellen fort durch den ganzen Raum, von unten nach oben und wieder zurück. Dacapo, rief es, Wiederholung, Bravo! Als wären wir bei den Pradler Ritterspielen. Ich hatte nicht gewusst, dass Erwachsene dermaßen kindisch sein konnten. Fremdschämen gab es als Wort noch nicht. Der Samt auf der Balustrade schien plötzlich schäbig und speckig, das Mobilar verstaubt, die Tapeten fleckig und die Tempel sahen genau so aus, wie das, was sie waren, Pappe.
Sappho bewahrte zwar Haltung und folgte nicht dem Wunsch des Publikums, sondern kippte lautlos nach hinten ins Blaue, sie stürzte nicht, sondern verschwand einfach wie eine Kasperlfigur am Bühnenrand im aufgemalten Meer, den Plastik-Lorbeer und ein paar Menschen in Leintüchern zurücklassend. Unerträgliche Lächerlichkeit, ich spürte den Schmerz wie Herzstechen, brennende Tränen, Würgen in der Kehle, Übelkeit im Magen, Hitze vor Scham und Wut. Das schweißzerknüllte Spitzentaschentuch fiel mir aus der Hand und segelte ins Parkett.
Vielleicht war ich die einzige, die nicht lachte. Ich weinte. Diese Sappho hat mir das Theater zerstört, geraubt, mutwillig, wie mir schien. Sie hätte sich doch einfach an die Regieanweisung halten können….. Stürzt sich vom Felsen ins Meer….Das hier war aber kein Sturz gewesen, nicht einmal ein Fall! Sie hat sich einfach verdrückt! Man hörte nichts, kein Stürzen, kein Fallen, kein Poltern oder Aufprallen auf dem Wasser, nur dieser nackte Stirnklatscher wollte nicht aufhören. Bis heute nicht. Nichts als Spott und Hohn war da drin, ein großes Ätsch, eine lange Nase. Es war zum Verzweifeln. Eben ein Trauerspiel.


5.
Für Grillparzer begann nach der Uraufführung am 21. April 1818 die Tragödie seines Lebens, wie er in der „Selbstbiographie“ schreibt. Auf dem Theaterzettel stand nicht einmal sein Name, eine geplante Widmungsschrift an den Burgtheaterdirektor Schreyvogel wurde gestrichen. Beim Publikum kam die Sappho gut an, vor allem wegen des recht attraktiven first couple Korn als Phaon und Melitta. Die Presse aber übergoss den Autor mit Hohn und Spott. Ein Mord mit Häme auf offener Bühne, schlimmer noch als nach der „Ahnfrau“.Wie oft waren die Zuschauer reifer als die Schreiber. Hier begann Grillparzers Entschluss zu reifen, weiter schreiben zu wollen, aber nichts mehr zu veröffentlichen.

Sappho ist im Bühnengraben verschwunden, und die anderen Schauspieler spielen tapfer ihre Rollen weiter, Phaon und Melitta rufen noch Oh Sappho! Halt! Hilfe! Rettung! Tot! Weh mir!
Nur der treue Sklave Rhamnes kriegt noch einen ganzen Vers voll unübertrefflichem Zynismus über die Lippen:
Verwelkt der Lorbeer und das Saitenspiel verklungen!
Es war auf Erden ihre Heimat nicht -
Sie ist zurück gekehret zu den Ihren!
Ringt die Hände.
Der Vorhang fällt.
Ende.

Das war eine Initiation. Seither spüre ich in jedem Theater jene Angst, entzaubert zu werden und ganz blöd dazustehen, wenn ich mich wieder verführen habe lassen.

Veronika Seyr, 31. Mai 17

Karl Roßmann kam nicht bis Oklahoma

Was der Dichter schafft, das muss so hingenommen werden, wie er es geschaffen hat… So wie er die Welt gemacht hat, so ist sie.
J.W. Goethe

1.
Als der sechszehnjährige Karl Roßmann am Morgen eines Apriltages im Jahre 1912 mit der „Sibylle“ der Hamburg-Amerika-Line in den Hafen von New York einfuhr, stand er mit seinem Koffer an der Reling. Wie alle anderen Auswanderer aus dem Zwischendeck erblickte er zum ersten Mal die Freiheitsstatue. Eine Göttin mit Schwert, schien sie ihm, so hoch, staunte er, um sie wehen die freien Lüfte, sagte er sich, so also riecht Freiheit. Seine Nase witterte eine Mischung aus Rauch, Diesel, Tang und Fischöl. Er wurde fast ohnmächtig und begann zu phantasieren. Die Menge schwoll immer mehr an und drückte ihn gegen das Bordgeländer. Die Männer lüpften Hüte und Mützen, die Frauen schwenkten Tücher und Regenschirme. Wie ein einziger Schrei drang Jubel aus tausenden Kehlen, das Ausatmen eines lange ausgesetzten Einatmens, vereint in einer unartikulierten Sprache, der Sprache der Hoffnung. Jeder an Deck, auch Karl Roßmann, meinte richtig gesehen zu haben, dass die Liberty ein Schwert hielt, glühend wie flüssiges Metall. Aber diese Armen wussten nicht, es war Aurora, die Morgenröte, die die Fackel in der ausgestreckten Hand färbte. Schwert oder Fackel – das macht den Unterschied in den Vorstellungen von der Freiheit aus. Kampf oder Licht? Die europäische Geschichte kann es durchdeklinieren.
Weil Karl sich im Augenblick stark fühlte, hob er im Übermut seinen Koffer auf die Achsel. Er hatte keinen Regenschirm verloren, weil er keinen bei sich hatte. Ein sechszehnjähriger Provinzler pflegt keinen Regenschirm mit sich zu tragen, wenn er nach Amerika verfrachtet wird. Vor der Abreise war ihm zumute gewesen wie einem, der ins Wasser geht Seine Familie hat ihn verstoßen, wie eine räudige Katze vor die Tür geworfen, ihn dafür bestraft , die 33-jährige Köchin Johanna Brummer verführt zu haben. Karl glaubt sich zu erinnern, dass es umgekehrt war. Ist die schwarze Köchin da? Ja, ja, ja! Er muss nicht unbedingt von der Reling in den Schiffsbauch zurück gekehrt sein, nicht seinen Regenschirm vergessen und daher auch weder den Heizer, noch Franz Butterbaum noch den ungerechten Kassierer Schubal, keine Köchinnen, Matrosen und Offiziere und auch keinen Kapitän getroffen haben.

Mit Mühe das Gleichgewicht haltend und mit dem Koffer auf der Schulter ausbalancierend, wurde er in der festen Menschenmasse die steile, schwankende Fallreep hinunter geschoben, vorne und hinter von tausenden tappenden Menschenfüßen begleitet. Alle diese Körper drängten in einer umgekehrten Sisyphus-Bewegung in die Tiefe. Glück für die Ordnungshüter, in dieser Enge konnte niemand umfallen und Unordnung verursachen. Gepäck und Kleinkinder konnten schon verloren gehen, aber niemand wurde danach gefragt und niemand beschwerte sich.
Zum letzten Mal verschmolzen die Auswanderer, die die Hölle des Zwischendecks überlebt hatten, zu einem einzigen Körper wie die Sandkörnchen in der brodelnden Glasblase. Das schiffbrüchige Europa meinte, endlich im Paradies angekommen zu sein.
Bevor sie von der „Sibylle“ den Fuß auf den Boden Amerikas setzten, baumelten die Passagiere am Fallreep über dem Nichts, eine Ameisenstraße auf einem Grashalm, auf Trittseilen die Bordwand entlang steil hinunter. Karl träumte vor sich hin, dass die Menschen Gummibänder an den Füßen hätten, die sie, wenn sie von der Fallreep herunter purzelten, wieder hochschnellen ließen. Das könnte man unzählige Male wiederholen. So ginge niemand verloren, und manche hätten sogar noch Spaß dabei. Der erste Weg in die Freiheit führte zuerst einmal in den Abgrund. Seit dem Untergang der Titanic waren erst acht Wochen vergangen, und die Leichen der Ertrunkenen kamen gerade bei Neu Fundland angeschwemmt. Die von der Lusithania sollten erste drei Jahre später an den atlantischen Küsten anlanden. Klein wie ein Froschteich ist das Mittelmeer dagegen. Was hat Amerika zu Amerika und groß gemacht?

Amerikanische und jüdische Fundamentalisten glauben, dass die Arche Noah nicht am Berg Ararat gestrandet ist, sondern 7000 Meilen weiter westlich, und das wäre genau in New York, auf die Insel Mana-hata der Algonquin-Indianer, ihrem „hügeligen Land“, oder in Nieuw Amsterdam der Niederländer. Da aber bisher keinerlei prähistorische Überreste gefunden wurden, steht uns die große Flut vielleicht noch bevor.

2.
Die „Sibylle“ hatte Glück, sie musste keine gelbe Flagge aufziehen, wie zuvor die Schwesternschiffe „Normannia“, „Moravia“ und „Riga“. Diese wurden weit draußen, sieben Meilen vor der Südspitze Manhattens in der Lower Bay vor Anker gesetzt. Gelbe Flagge hieß Seuchengefahr, Cholera. Eindeutig lautete die Warnung des Polizeichefs: Wer von Bord geht, wird erschossen. Kriegsschiffe bewachten die Auswanderer. Je länger sie dort lagen, desto mehr Passagiere stürzten sich von Bord der arretierten Schiffe. Kaum einer der Emigranten aus Süd- und Osteuropa konnte schwimmen. In der Stadt wollten die Bewohner keinen Fisch mehr essen. Trotzdem starben in New York jeden Tag neun Menschen an der Cholera. Die Furcht vor Seuchen weitete sich zu einer allgemeinen Hysterie aus. Wie der Erreger in die Stadt gelangt war, blieb ein Rätsel. Die „New York Times“ forderten, die „schmutzigen Italiener, besoffenen Iren und verlausten Juden“ nicht mehr ins Land zu lassen. Doch wer daran die Schuld trug, glaubten die Amerikaner zu wissen: Die Ausländer.
Sie waren arm, krank, lebten in Slums, hatten keine Arbeit und verpesteten die Stadt. Die alten Amerikaner hassten die Immigranten aus vollem Herzen, die Presse hetzte offen. Sie sahen in ihnen minderwertige, halb menschliche Wesen und hielten sie sich möglichst vom Leib. Schlimmer als räudige Hunde und Ratten, druckt die NYT und gab damit die Anregung, wie mit ihnen umzugehen sei. Vielleicht bringen sie nicht nur Seuchen und Ungeziefer, sondern auch Unfrieden? Soziale und kulturelle Konflikte waren vorgeplant. Vor allem den Immigranten aus Süd-Osteuropa wurde attestiert, nicht assimilierungswillig zu sein und aus Mangel an Kultur grundsätzlich unfähig, die amerikanische Welt zu verstehen. Wertekurse wurden damals nicht angeboten. Von allen Immigranten wurden nur die Deutschen einigermaßen willkommen geheißen, wegen des ihnen nachgesagten höheren Bildungsniveaus, ihres Arbeitseifers und strengen Familienzusammenhalts. In der NYT wird ihre ausgeprägte „Achtung vor dem Staat und dem Gesetz“ hervorgehoben. Vor allem im Mittelwesten und in den New Yorker Stadtteilen Bronx und Queens bildeten sie kompakte Ansiedlungen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Hälfte der New Yorker Bürger nicht in dieser Stadt geboren. Donald Trumps Großvater, Friedrich, ein Friseur aus der Pfalz, kam 1892 mit solch einem Transport an. Eine Schwester und ihr Mann lebten schon in New York, später noch eine Schwester mit Mann, Friedrich selbst brachte seine Frau aus Deutschland und eine dort geborene Tochter ins Land. Die Trumps hatten weitere familiäre Beziehungen zu den Heinzs und Krafts, die in der Lebensmittelindustrie Markennamen und Vermögen machen sollten. Seinem Sohn Fred konnte Friedrich schon ein Millionenvermögen hinterlassen, das er in der Immobilienbranche gemacht hatte. Am 8. November 2016 ist Trump, der III., Donald, zum 45. Präsidenten der USA gewählt worden. Der tuberkulöse Karl Roßmann hat von seinem Schicksal weniger Chancen zugemessen bekommen.

3.
Um die Massen nicht unkontrolliert ins Land strömen zu lassen, richtete man ab 1892 auf Ellis Island rund 2 Kilometer vor der Spitze von Manhattan auf einem 11 Hektar großen Areal eine gigantische Selektions- und Kontrollfabrik ein. Der „Immigration Act“ verfügte, dass Verbrechern, Kranken und Schwachen die Einreise verweigert wird. Im Schnitt wurden 20 Prozent dieser Prozedur unterworfen. Sie werden abgesondert, es folgt tagelanges Warten und die Verfrachtung auf ein Schiff zurück nach Europa. Die Kosten müssen die Reedereien tragen, die sie nach Amerika gebracht haben. Manche Familien werden zerrissen, wenn die Mutter wegen eines kranken Kindes zurück fahren muss und der Vater in den USA bleiben darf. Wegen dieser ständigen Tragödien wird Ellis Island auch die Träneninsel genannt. Galgen-Insel hieß dieser Flecken Land unter den Holländern, weil hier Piraten aufgehängt wurden. Wie schön noch der Name, den ihr die indianischen Ureinwohner gegeben hatten: Kiosqu – Möweninsel.
Die Neue Welt zeigt sich zunächst abweisend. Wer durch die erste Sortierung kommt, gerät in eine gigantische Maschinerie, in ein militarisiertes System von Schleusen, Käfigen und Fließbändern. Er muss in der 1800 m² großen und acht Meter hohen Registrierhalle auf langen Bänken Platz nehmen und auf den Aufruf seines Namens warten. Stundenlang, tagelang, immer in Angst, ihren Namen zu verpassen oder eine Anweisung nicht zu verstehen. Sie wissen nicht, wie lange sie in dieser Zwischenhölle bleiben müssen und was mit ihnen geschehen würde. Die Halle ist in Schlangenlinien durch Eisengitter getrennt und hat einen Galeriengang, von dem aus die Medizinstudenten das Geschehen beobachten können.
Das System ist brutal und effizient: Als erstes werden die Geschlechter getrennt, dann Fragen nach Name, Herkunft, Beruf, Zielort, Unterschrift. Analphabeten werden sofort beiseite geschafft. Als Intelligenztest – ein neuer Zugriff der damals noch jungen Disziplin der Psychiatrie - muss der Immigrant ein einfaches Puzzle aus Klötzen legen können und allerhand obskure Fragen beantworten: “Wenn ein Junge seine Eltern aufisst, was ist er dann?“ Nicht Kannibale, sondern Waise, ist die richtige Antwort. Oder: „Wenn Sie zwei Pferde, drei Kühe und vier Schafe hätten, wie viele Tiere hätten Sie?“ wird ein osteuropäischer Bauer gefragt. Er kann zwar nicht zusammenzählen, gibt aber eine logische Antwort: Wenn ich so reich wäre, hätte ich nicht auswandern müssen. Der Bericht eines Psychologen bestätigt den Russen, Italienern und Ungarn zu 80 Prozent „Schwachsinn“.
Wird eine ansteckende Krankheit festgestellt, kommt er in eine Spezialklinik.
Tuberkulose, Diphtherie, Keuchhusten und Masern sind am häufigsten. Manch einem Ankömmling hat die Quarantäne aber auch das Leben gerettet, vor allem Kindern und Jugendlichen.
Durch die Hände der uniformierten Ärzte und Sanitäter gehen täglich bis zu
12 000 Menschen. Brutal und effizient. In der Kinderstation hängen Schilder an den Wänden „Don`t kiss the patients!“, eine Warnung, sollten die Krankenschwestern von Mitleid überwältigt werden. Zur Zeit, als Karl Roßmann von Bord gehen wollte, kamen jährlich ungefähr 500 000 Immigranten in New York an. In den 30 Jahren der Nutzung von Ellis Island trafen 12 Millionen Menschen ein. Bis zur großen Krise Ende der 20-er Jahre konnte die amerikanische Wirtschaft die fremden Arbeitskräfte leicht aufnehmen. Im 2. Weltkrieg diente Ellis Island als Internierungslager für enemy aliens, die Staatsbürger der Kriegsgegner.
1954 wurde Ellis Island geschlossen und ist seit 1965 ein Museum. Die Auslese der Einwanderer erfolgt seither an den US-Botschaften oder wird ihnen durch ein Präsidenten-Dekret untersagt. Es gibt wahrscheinlich keine andere Stadt der Welt, die so sehr von den Einwanderern geprägt ist wie New York. Der Besuch von Ellis Island mit Hafenrundfahrt zur Freiheitsstatue gehört zu den beliebtesten Touristenattraktionen am Big Apple.
4.
Von all dem ahnten die Passagiere der „Sibylle“ im April 1912 nichts. Karl Roßmann glaubte bei seiner Ankunft noch, dass er direkt vom Pier von seinem steinreichen Onkel Jakob abgeholt wird. Seine Eltern, die ihn als Strafe für eine verwerfliche Tat allein weggeschickt hatten, wussten nichts von dem unerbittlichen System auf Ellis Island. Vom Nadelöhr der Quarantänestation hat keiner der Emigranten etwas gehört und nichts von den undurchdringlichen Gesetzen ihres Sehnsuchtslandes. Die damaligen Schlepper – die Schifffahrtsgesellschaften – gaben aus Gründen der Gewinnmaximierung keine Informationen weiter. Sie füllten ihre Zwischendecks mit so vielen Passagieren, dass die Schiffe gerade nicht untergingen.
Karl Roßmann ist jung und übersteht die Todespassage ohne Schaden, wie er selbst dem Kapitän versichert. Aber er trifft keinen Heizer, keine Köchinnen, keine Kehrer, keinen verbrecherischen Kassier Schubal, keinen Franz Butterbaum, keine Kassierer, keine Schiffsoffiziere, keinen Kapitän und erst auch recht nicht seinen steinreichen Onkel Jakob, den selbsternannten Senator Edward Jakob, der vom Jakob Bendelmayer zum stolzen Amerikaner geworden war. Karl betritt keine von Kafkas Treppen, keine Gänge, Küchen, Heizräume und Kapitänskajüten. Er besteigt keinen Kahn mit Matrosen, die ihn im Auftrag des Kapitäns zusammen mit dem Onkel ans Ufer rudern sollen. Er wird nie in Jakobs Firma aufgenommen, nie im gigantischen Hotel occidental als Liftboy dienen, auch nie die perverse Sängerin Brunelda kennenlernen und in ihre Dienste treten, nie das „Große Naturtheater von Oklahama“ sehen, nie ein berühmter Hundetrainer werden und auch kein Engel mit Posaune. „Die Idylle von Oklahama“, die Arthur Holitscher, in seinem Buch von der Neuen Welt anführt und von der Kafka die falsche Schreibung von Oklahama übernimmt, ist in Wirklichkeit eine Fotografie einer Lynchjustizszene an einem Schwarzen, umringt von vergnügungssüchtigen Weißen. Weil die Fahrt der „Sibylle“ am Pier von Ellis Island endet, wird er nie seinen Fuß auf Manhattan setzen. Im Labyrinth der Träneninsel verliert sich die Spur des Karl Rossmann. Den Verschollenen können die Verwandten nach einer bestimmten Frist für tot erklären lassen. Er hat von zu Hause ein Mitbringsel im Gepäck, die Tuberkulose. Sein unaufhaltsamer Abstieg von der Fallreep nach Ellis Island wird sein einziger bleiben, und von Amerika hat er nicht mehr gesehen als das falsche Schwert der Liberty.


Veronika Seyr
1.6.17

Das Geheimnis in der Bassena

Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts
Franz Kafka. Fürsprecher.


Sie sperrt die Tür auf, durchquert den Gedenkraum und legt zuerst die Blumen auf das Kaminsims. Im Winter sind es Rosen, später, im März und April Tulpen oder Narzissen, im Mai Flieder oder Pfingstrosen. Wasser in die Bassena gießen, frisches einlassen und die neuen Blumen drapieren; flach legen, die Stängel sollen nicht am Boden anstoßen, hat er auf einen der Gesprächszettel geschrieben. Je schwächer er wird, desto mehr Kleinigkeiten nimmt er wahr. Einmal bittet er, eine Biene aus dem Fenster zu lassen oder einen Glasscherben vom Boden aufzuheben.
Links von der Vase stehen die siebzehn Bände des Gesamtwerkes, daneben eine dicke, abgebrannte Kerze. Ein bisschen Altar. Sibylle mag es so. Sie ist streng, eine Pilgerin. Naja, kein Wunder, ist sie doch erst vor kurzem auf ihn gekommen, die heilige Novizin.
Sitzen und Warten. Ins Stiegenhaus horchen. Auf die Glocke unten, die Schritte zwei Stockwerke hoch. Nichts, niemand. Wieder einmal kein einziger Besucher. Die Einsamkeit passt zu ihm. Die Stunden schleichen zäh dahin, sie meint, die Zeit am Stand ticken zu hören, still gestanden seit dem 3. Juni 1924. Es ist aber nur das banale Knistern der Heizung, wenn sie an- und abspringt. Dann von oben ein dumpfes Poltern, Schieben, Kratzen und Rollen über dem Plafond. Die Geister sind immer da und überall. Sie lassen mich niemals in Ruhe und dringen überall ein. Wahrscheinlich verrückt der Hausherr aber nur wieder einmal die Blumenkübel auf seiner Terrasse, als wollte er mit seinen Oleandern und Lebensbäumen das Orakel von Stonehenge nachbauen. Dieser Herr Odradek is a pain in the neck and in the ass. Pia denkt oft auf Englisch. Häufige Reisen nach London, eintauchen ins Theaterleben, nichts geht über Shakespeare, aber für das Leben dort reicht ihr Gehalt nicht. Anglophil ist ein schwacher Ausdruck.
Auf der Hauptstraße, vor den Fenstern, rauscht der Verkehr, unterbrochen von jähem Abbremsen, nervösem Hupen und reifenquietschendem Abbiegen zum Supermarkt. Ein Getöse, bösartig im Ton, aber gestaltlos und ohne Bedeutung. Sie sollten mit Kotflügeln aufeinander schlagen wie mit rauchenden Colts. Dazwischen das Klirren von Einkaufswägen und hysterisches Kindergeschrei.

Die Bibliotheksarbeit ist schnell erledigt, es gibt nicht allzu viele Neuzugänge, die Mitgliederkartei auf den neuesten Stand gebracht, die Liste der neuen e-mail-Einträge ist kopiert, seit Jahresbeginn ganze sieben. Sie sitzt einige Zeit am Schreibtisch und studiert wie schon so oft die rohe Ziegelwand, da kann sie sich verlieren, ihre eigene Meditation. Einmal sieht sie sich im Raum um zu den Bücherregalen. Englische, französische, koreanische, russische, japanische, chinesische, sogar arabische Übersetzungen, alle interessieren sich für K. Was können sie mit ihm anfangen? Auch so ein Geheimnis. Außer den fremdsprachigen Übersetzungen hat sie alle Bücher von ihm und über ihn gelesen, manche schon mehrmals.
Robert Klopstock - Kafkas letzter Freund oder Dora Diamant - Kafkas letzte Liebe. Auf die reichen Bildbände über Leben, Orte und Werke hat sie gerade keine Lust. Zu oft gesehen, gelesen, studiert, und nie zu Ende gekommen, zu keinem eindeutigen. Gerade heute braucht sie keine fremden Rätsel. Von ihrem Stuhl aus sieht sie auf die großen Porträt-Fotos von Dora und Robert, die beiden Begleiter auf seinem letzten Weg. Dora war schon im Sanatorium Wienerwald und im Allgemeinen Krankenhaus an seiner Seite, Robert kam Anfang Mai nach Kierling geeilt. Er übernahm einen Großteil der medizinischen Betreuung und die Korrespondenz oder verkehrte mit den Ärzten, Dora bekochte und fütterte ihn und versuchte, ihm einige Tropfen von Flüssigkeit einzuflößen. Er litt entsetzlichen Durst und träumte von Heurigen und Biergärten. Sprechen konnten sie nicht mehr miteinander, sein Kehlkopf sollte geschont werden, die Geschwüre bereiteten ihm unsägliche Schmerzen, -
u n s ä g l i c h - sie schrieben einander auf Zettel ihre Mitteilungen.
Pia schüttelt sich in ihrem ganzen Körper und wedelt mit dem Armen, wie um einen Insektenschwarm abzuwehren. Der soll nu mal ne Ruh geben, endlich. Dabei ist sie doch gerade wegen ihm da.

Auf den Boden kommen. Jetzt erst mal nen Kaffee und eine Zigarette auf dem Balkon mit langen Blicken ins Maital. Eigentlich ist nur ein halbes Tal, und auch der Maibach ist nur ein Rinnsal und nicht zu sehen. So vergeht die Zeit. Auf der Tanne sitzen die jungen Zapfen dicht wie Haifischzähne, um den Wipfel herum vergnügen sich Blaumeisen mit ihren Jungen, darüber nörgeln Krähen und die Dohlen üben ihre Kamikaze-Flüge. Warum es gerade in Kierling so viele Dohlen gibt, ist ihr ein Rätsel, sind sie doch eher Alpenbewohner. Unten im Rasen wachsen einige Fliederbüsche mit weißen und violetten Blüten, die Pfingstrosen sind noch nicht aufgeblüht, ihre Stämme alt und knorrig. Ob sie schon zu seiner Zeit hier standen? Dora und Robert haben aus Wien immer frische Sträuße mitgebracht. Franz, riech mal, wie schön. Sie stellten eine Schale mit Erdbeeren und Kirschen auf den Tisch, die liebte er, Dora hielt sie ihm unter die Nase, zuletzt konnte er nur noch ihren Duft genießen, und er zog ihn begierig ein durch die rasselnde Kehle.

Zurück im Zimmer. Es ist dämmrig geworden, der April bringt wieder einmal ein Gewitter ins Tal. Die Regentropfen klatschen wütend an die Scheiben. Endlich verschwimmen die hässlichen Gemeindebauten von gegenüber zu einem dreckigen Strich. Der braune Parkettboden dunkelt in zwei oder drei Schattierungen, und die Wände ziehen sich in weite Ferne zurück. In den Ecken hängen Erinnerungen wie Spinnengewebe. Er hat hier seine Gespenster ausgehaucht und zurückgelassen. Heute ist sie es, die das hütet. Die Pflege von Spinnweben und Todeshauch. Ein schöner Job, aber ich habe ihn mir ausgesucht, und er ist ehrenamtlich. Ohne Amt, nur Ehre.

Pia gähnt und streckt sich in ihrem Sessel, die Arme zurück und die Beine unter dem Tisch. Sie legt den Kopf auf die Seite und lauscht der schwachen, zittrigen Musik aus dem Radio. Sie runzelt die Stirn und weiß nicht, warum ihr Händel heute lästig ist. Weil ihr heute alles auf die Nerven geht, sogar ihr viel geliebter Landsmann aus Halle/Saale? Ihr Gott, der größte Mensch, der je gelebt hat, alle anderen, sogar Mozart und Beethoven sind nur seine Propheten. Händel ist ihre Religion, pflegt sie vor Freunden zu sagen, die einzige, und das hat nichts mit Halle zu tun. Shakespeare ist ein anderer Fall.
Goodman, Benny Goodman. Ein heißes, scharfes Geschmetter, die nervös zerrissenen Sequenzen einer Jam-Session, New Orleans und nicht Kierling. Aber auf Ö1 läuft gerade kein Goodman. Sie dreht das Radio etwas lauter. Vielleicht wären sogar Walzer jetzt besser. Aber seit Wien gestorben ist, sind alle Walzer Schatten. Wien, das absterbende Riesendorf, hat er einmal festgestellt.
Aussichtslos. Vielleicht doch noch das Album mit den Fotografien hernehmen. Die Kinderbilder, mit und ohne Schwestern, als Maturant, der neue Doktor juris, mit der Lieblingsschwester, mit dem Freund und allein auf dem Altstädter Platz. Das alte Katzenkopfpflaster unter den eleganten Schuhen. Hoch gewachsen, schmal trotz dreifacher Schicht von dreiteiligem Anzug, auf dem Kopf einen hohen Hut. Nicht unfreundlich im Ausdruck und leicht zugeneigt, aber nicht wirklich lächelnd. Prag, das einen nicht loslässt, das Mütterchen mit Krallen, schreibt er in sein Tagebuch. Prag prägt. Die Stadt ist eine Heimsuchung. Sie entscheidet sich für den Bildband von Fronius.

Sie streicht sich mit beiden Händen über das straff zurückgekämmte Haar und steckt die Klammer über eine ungehorsame Strähne am Hinterkopf fester. Sie spielt mit der langen, silbernen Uhrkette vor der Brust, die Zeiger im ovalen Ziffernblatt bewegen sich nicht. Sie streicht ihre lange Bluse aus gerippter Seide über den pfirsichfarbenen Knien glatt und betrachtet lange die mit violetten Lotosknospen bestickten Leggings. Die Farbe ihrer Augen, ihr „ absolutes Alleinstellungsmerkmal“, sagt der Therapeut immer, dazu groß, tief liegend und glänzend. Ja der, und sie ballt die Fäuste in der Uhrkette. Der ist ja fast so mager wie Franz.
Aber sie hat sich in ihn verliebt. Das geht nun schon fünf Jahre, dass sie von ihm träumt.

Soll sie vielleicht etwas essen? Ihren Quinoa-Salat mit Avocados und Cherry-Tomaten. Sie sieht ihn geradezu vor sich, die Plastikbox steckt in ihrer Tasche, heute früh mit frischen Kräutern zubereitet für ihren Samstags-Dienst im Gedenkraum. Reiscracker mit Gervais hat sie auch noch mit, dazu die ersten Kirschen des Jahres. Ein Frevel, Import aus Chile. 15 000 Kilometer geflogen. Quinoa kommt ja auch von dort, bei den Avocados und den Cherries hat sie gar nicht drauf geschaut. Aber aus dem Marchfeld kommen die sicher nicht. Nein, es ist noch zu früh, sagt der strenge Kopf, obwohl der lässigere Magen schon etwas aufnehmen könnte. Der Appetit geht immer von Bildern aus, es ist Kopfhunger, nicht Magenhunger. Und überhaupt, in dem Zimmer, wo er verhungert ist, ans Essen zu denken. Ihre Kollegin Sibylle hält das für unmoralisch und ekelt sich davor.
Sie schaut auf den Parkett-Boden und sieht plötzlich, dass hier ein blauer Teppich liegen sollte. Ein Wahrnehmungsanfall- oder Ausfall? Sehen violette Augen andere Farben als braune, blaue oder graue? Dummer Gedanke, aber umgekehrt ist es doch interessant, dass dem Franz fast alle Augenfarben attestiert wurden.
Einen Augenblick zuvor war sie entspannt zurückgelehnt im Sessel da gesessen, und im nächsten stand sie auf den Füßen, absolut ruhig und im Gleichgewicht.
Putzen! Das ist es! Ordnung machen, auch wenn alles in Ordnung ist. Wenn etwas sauber ist, dann ist immer auch alles andere in Ordnung. Das kann nicht falsch sein, nicht in der DDR und auch anderswo nicht. Dreck lässt sich immer noch irgendwo finden. Das gibt Sicherheit.

Warte, he, paß auf, die Bandscheiben, das ist eine schwere Arbeit. Die paar Krümel von ihrem Quinoa-Salat hat sie schnell weggewischt, ansonsten war alles sauber wie Brokat. Alles ehrenamtlichen Raumwächter waren darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen, weder eigene noch fremde. Aber Pia ist geradezu von einem Putzfimmel besessen, noch das letzte Krümel oder Stäubchen entdeckt sie mit ihren violetten Adleraugen und entfernt sie mit Besen und Wischmopp. Feucht aufwischen ist heute nicht notwendig, das Parkett glänzt ohnedies; wenn sie sich vorbeugt, kann sie sich darin spiegeln. Ein verrutschtes Spiegelbild, genauso wie seine Traumspiegelwelt. Vielleicht hat er zu oft auf seinen Parkettboden gestarrt, geht ihr zum ersten Mal durch den Kopf. Oh Gott, bin ich banal, da mach ich doch gleich etwas ganz Banales. Sie steht auf und holt mit gezielter Geste aus der Abstellkammer ein Staubtuch. Sie kennt dort jeden Millimeter, hat sie sie doch selbst eingerichtet und ausgestattet.
Sie wischt mit dem Staubtuch über die dunklen Holzwände der Sitzecke, dort sammeln sich gern die Fusseln - die Flankerl, wie die Ösis sagen. Als sie sich wieder aufzurichten versucht - vielleicht mit einer zu heftigen Bewegung - stößt sie mit der linken Schulter von unten an das Bücherbrett. Diese kleine Erschütterung bringen die schräg aufgestellten Bildbände ins Rutschen, und wie wie eine Dominoreihe fallen sie um. Ein Buch auf das andere, langsam, wie in Zeitlupe, aber irgendwann haben sie keinen Platz mehr auf dem schmalen Brett und poltern herunter, auf sie, die noch immer halb gebückt vor der Bank steht. Eines trifft den Kopf, eines die rechte Schulter, andere fallen auf den Rücken und gleiten über die Hüften. Wie die Bücher in ihre rechte Kniekehle eindringen konnten, welche Dynamik, welche Drehungen der Physik wirksam wurden, weiß sie nicht. Das große Buch von Kafkas Tagen in Wien, Kafkas Prag, einige Bildbände über das alte Prag, die drei Bände der Biographie von Reiner Stach, ein Prachtband mit Fotos von Kafkas Familie, zwei Ausgaben über Kafkas letzten Freund, Robert Klopstock, einer über Kafkas letzte Liebe Dora Diamant, über Kafka und das Judentum. Welches von denen war ihr in die Kniekehle eingefahren? Prag, Wien, Liebe, Freund, Judentum? Ah, er versucht mir nah zu sein, ein Wink aus dem Himmel. Aber mit welcher Bedeutung? So groß wie ein Taubenschiss auf den Kopf? Sie knickt ein, die Kniee geben nach.
Aber das sind schon Überlegungen von danach, nach allem, als es vorbei war. Sie spürt sich noch am Boden krabbeln, hinaus aus dem ersten Raum, vor die Tür, auf den Korridor.
Gleich links von der Eingangstür befindet sich eine Bassena, ein Wasserbecken auf dem Gang, üblich in alten Wiener Häusern. Was erinnert sie noch? Den Geruch von feuchten Steinen im Hausflur, Putzfetzen und Wischmopp. „Der Geruch von nassen Steinen im Hausflur“, nicht mehr und nicht weniger, die Definition von Literatur nach Hugo von Hofmannsthal. Sie krümmt sich, die Beine gehorchen nicht, das ganze Gewicht hängt in den Armen. Nur nicht alt werden, nicht schwach! Nach mehreren Versuchen bekommt sie mit einer Hand das Rohr unter der Bassena zu fassen und kann sich an ihm hochzuziehen. Sie ist doch kein Ungeziefer wie Gregor, keine Maus wie Josefine, kein Hund, nicht der Affe Rotpeter, keine Ratte und kein Schakal.
Kurz bevor es ihr gelang, sich aufzurichten, gab das Wasserrohr nach, und die Schüssel krachte auf sie herab, Vollmetall der Firma Gerb&Söhne, Wien-Brünn. Die massiven Armaturen aus Edellegierungen prasseln auf sie herunter, das schwere Gitter trifft sie an der Schläfe. Aber bevor sie im Geruch der muffigen Bodenfliesen versinkt, spürt sie etwas um sich, nicht die schweren Bücherbände aus der Ecke, sondern einzelne Blätter, Hefte, Notizbücher, Papier, viele Blätter, ein Berg, eine Decke, weit verstreut über die Steinplatten des zweiten Stockwerkes. Sie riechen noch nach dem Park von Berlin-Steglitz, nach Astern, Laub und feuchter Erde, nach dem Herbst von 1923.

Liebe Lotte, steht oben auf den Blättern. Du bist traurig, weil du suchst Deine Puppe. Sie ist nicht mehr da, sie hat dich verlassen und ist auf eine Reise gegangen. Du bist traurig, aber sei sicher, sie hat dich lieb! Sie hat jetzt andere Pläne. Warum ich das weiß? Sie schreibt mir Briefe über ihr neues Leben. Sie geht in die Schule, weit weg von hier. Es geht ihr gut und sie denkt oft an dich. Ich erzähle dir ihre Geschichte. Wenn ich nicht kommen kann, wird dir Dora die Briefe vorlesen.

An einem warmen Tag Anfang November trafen sie im Steglitzer Park ein kleines Mädchen, das bitterlich weinte, weil es seine Puppe verloren hatte. Franz erfindet sofort eine tröstliche Geschichte, dass die Puppe eine Reise macht, er weiß es, weil sie ihm einen Brief geschickt hat. Drei Wochen lang schreibt Franz nun täglich im Namen der Puppe an das kleine Mädchen: Von der Reise, der neuen Heimat, dass sie in die Schule geht, von ihren Abenteuern und wie sie neue Leute kennen lernt. Die Puppe ist erwachsen geworden und versichert sie immer wieder ihrer Liebe. Aber sie will nicht mehr zurückkommen, sie hat jetzt andere Menschen um sich und viele Verpflichtungen. Er bereitet sie auf den endgültigen Verzicht vor. Aber wie soll das enden, wie aus diesem Dilemma herauskommen, ohne ihr Vertrauen zu verlieren? Dora berichtet, wie ernst er dieses Briefeschreiben genommen hat , es war seine einzige Arbeit in diesen Novemberwochen. Zuletzt lässt er die Puppe heiraten und erklärt dem Mädchen, dass sie es jetzt natürlich nicht mehr besuchen könne.
Franz hat den Konflikt eines Kindes durch die Kunst gelöst, durch das wirksamste Mittel, über das er persönlich verfügte, um Ordnung in die Welt zu bringen. Er verwandelt die Lüge in die Wahrheit der Fiktion. Bei den Puppenbriefen ist er nicht aus dem Leben ausgewandert, sondern er hat Leben und Literatur in voll Übereinstimmung gebracht, es ist ihm gelungen, wovon er sein ganzes Schreibe-Leben geträumt hatte.
23 Briefe und vier Postkarten, handgeschrieben, in seiner steilen und doch runden Handschrift, die Buchstaben besonders groß, ohne Korrekturen und Streichungen. Dora hat sie aus Berlin mitgenommen und im Hohlraum unter dem Wasserbecken des Sanatoriums versteckt, eingewickelt in Öltücher. Nachdem Franz im Februar weggefahren war, hatte sie keine feste Bleibe und niemanden, dem sie ihre Schätze anvertrauen hätte können.
Pia verliert das Bewusstsein.
Gefunden hat sie Herr Odradek, der Hausherr. Sie weiß nicht, wie lange sie so dagelegen war. An den Samstagen mit dem open door im Gedenkraum hat er ja immer die Ohren am Boden. Kaum sperrt sie auf, steht er schon da und bietet einen Kaffee an, in einer geblümten Schale und mit einem Kekserl auf der Untertasse. So etwas von Quasi-Kaffee aus dem neumodischen Hausautomaten von N., brrr. Sieht freundlich aus, ist aber sein samstäglicher Kontrollgang. Vielleicht hat er schon den Krach gehört, mit dem die Bücherkaskade auf sie niedergegangen war. Er sieht sie da wie einen Lurch am Boden kriechen und ruft die Rettung, keine zehn Minuten später ist sie zur Stelle und bündelt sie auf eine Bahre. Mit Martinshorn ins Krankenhaus Klosterneuburg.
Es geht glimpflich aus für sie, keine Spätfolgen, eine kleine Gehirnerschütterung und eine klaffende Wunde auf der Stirn, einige Stiche, links über die Augenbraue kommt ein Klebeverband. Die Blutergüsse und Schrammen am Rücken sieht niemand, am wenigsten sie selbst. Nur die Innenseite ihres rechten Knies schmerzt noch lange und lässt sie humpeln, wahrscheinlich eine Prellung. Die Toten haben schon recht eigenartige Formen, sich bemerkbar zu machen.
Wohin die Papiere gekommen sind, kann Pia nicht herausfinden. Das Ehepaar Odradek hat unterschiedliche Erinnerungen und kann sich nicht einigen. Sicher war das eine große Aufregung für diese alten Leutchen. Und der Gedenkraum war ihnen nie ganz recht gewesen, die vielen fremden Leute im Haus, man weiß ja nie. Herr Odradek meint, die Rettung hat das ganze Zeugs mitgenommen, auf die Bahre gepackt, weil die Frau so geschrien hat: Die Briefe, die Briefe, bitte, rettet die Briefe! Frau Odradek erinnert sich nur daran, dass sie danach die Treppen gesäubert hat. So viel Blut, eine Sauerei war das, alles durcheinander, die Bassena heruntergerissen, die Mauer offen und rundherum das viele alte Papier. Pah, Briefe, welche Briefe, lauter Fetzen sind auf dem Gang herumgelegen. Und wer zahlt mir den Schaden, fragt Herr Odradek in Hausbesitzerlogik. Den Mist hat sie hinunter getragen, eine Plackerei, und in den Containern vor dem Haus entsorgt – e n t s o r g t. Die Eimer mit Mauerwerk in den Restmüll, das Altpapier in den so bezeichneten Kübel. Alles muss seine Ordnung haben. Wer kann da widersprechen.

Pia selbst hat keine gesicherten Erinnerungen, nur das „Liebe Lotte“ steht ihr für immer eingebrannt vor den Augen. Kein körperlicher Schmerz kann so tief sein wie der um den zweiten Verlust der Puppenbriefe. Dora hat gelogen, als sie Brod versicherte, Franz`s letzte Schriften seien in Berlin verloren gegangen, als die SS im Juni 1933 ihre Wohnung durchsuchte.

Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.
Franz Kafka. Blaue Oktavhefte


Veronika Seyr, Wien, zwischen 13. und 25.5.17