Sonntag, 11. Januar 2015

Kaviar im Pelz

Die Abenteuer einer Kakerlake im Kreml

Ob es das Etui war oder die Brille, weiß ich nicht mehr so genau. Beide lagen auf dem Nachttischchen der Juri-Andropov-Suite des Hotels „Präsident“ und gehörten Hofrat Professor Doktor B.S., einem der Preisträger des „Ordens für verdiente Kulturarbeit“.

Ich erinnere mich nur noch daran, dass mich die verschmierten, kunstledernen Wischtücher ebenso anzogen wie die verführerisch nach Ohrenschmalz duftenden  Brillenbügel, sodass mir die Wahl schwer fiel, worauf ich mich zuerst stürzen sollte. „Das Präsident“ - wie sein Bewohner nicht ohne Stolz sagen,  ist  erst seit wenigen Generationen meine Heimstatt und trotz meiner Anwesenheit eine der nobelsten Adressen in der Hauptstadt. Vorher war  ich im Hotel Lux, im Metropol und im National abgestiegen. Das Präsident  ist ein  protziger Ziegelbau zwischen dem Lenin-Prospekt und der Steinernen Brücke über die Moskwa  und wurde im poststalinistischen Stil mit byzantinischen Elementen als ZK-Hotel der KPdSU erbaut.  Nach einer moderaten Modernisierung durch den 1. demokratisch gewählten Präsidenten Russlands ist es in „Das Präsident“ umbenannt worden. Alle 579 Zimmer tragen die Namen unbestrittener Persönlichkeiten des sowjetischen Lebens, angefangen bei  Michail Kalinin bis, auch wenn nicht alle wirkliche Präsidenten waren,  sondern anderweitig verdiente Persönlichkeiten wie die Schriftsteller Maxim Gorki,  Pasternak und Scholochov, die Generäle Schukow, Suslow und Frunze, die  ZK-Vorsitzenden Chruschtschov und  Breschnew, Kosmonaut Jurij Gagarin und Raketenbauer Koroljov oder mein derzeitiger Gastgeber Jurij Andropov, der KGB-Chef und nachher der letzte Gensek vor Gorbatschov. Viele wirklich wichtige Namen der letzten 80 Jahre sind natürlich nicht vertreten, weil sich das demokratische Russland noch nicht – oder nicht mehr -  über ihre ewige Bedeutsamkeit für die Weltgeschichte einigen konnte. So werden Besucher vergeblich nach einer Josef-Stalin-Suite, einer Trozky-,  Kirov-  Bucharin-, Kamenov-, Berija- oder Ordschonikidse-Suite suchen, auch wenn viele gerne  einmal eine romantische Nacht unter dem Namen  Molotov verbracht hätten, dessen Cocktails früher zur Berühmtheit gelangt waren. .  

Die Armeen der staatlich beeideten Kammerjäger , hier Sanitätsbrigaden genannt, hat versucht, mich und meine Sippschaft auszurotten und  aus  dem Präsident zu vertreiben. Aber wir sind so alt und widerstandsfähig, dass uns die chemischen Keulen nichts anhaben können,  weder das sowjetische Gegenstück zu DDT, noch das neueste japanische  Modell der euphemistisch genannten „Cockroach-Motels“. Die KGB-geschulten Schädlingsbekämpfungsmeister haben schon längst die chemischen Keulen und den nach Lotosblüten und Mandelholz duftenden Mikrofilm in diesen bunten Papphäuschen gegen in Wodka getränktes Rattengift ausgetauscht – das bewährte Hausmittel, mit dem sie sich gegenseitig umzubringen versuchen -, das uns Ureinwohnern dieses Landes aber gar nicht so unangenehm war. Schließlich erzählt man sich in unserer Verwandtschaft, dass unsere Familienmitglieder sogar die Atombombenversuche auf dem Bikini-Atoll heil überstanden haben sollen.

Als der zukünftige Ordensträger  B.S. im Andropov-Badezimmer - übrigens kaum kleiner als ein Pferdestall-  das Licht andrehte, verzog ich mich schnell unter das Vileda-Wischtuch und konnte gerade noch an seiner Unterseite den grünen Aufdruck „Melitta-Kleemann-Optik-Wien“ – MKOW-  erkennen. Licht an, das bedeutete Alarmstufe rot für unsereins, auch wenn Badezimmer und Toiletten nie zu meinen Lieblingsrevieren gehört hatten. Ich machte mir einfach nichts aus Nivea, Pitralon, Axe oder Schwarzkopf-Produkten der Ausländer, schon gar nicht aus Vim, Chloral, Mister Proper und Danchlor, die jetzt die neurussischen Sanitätsbeamten vermehrt gegen uns einsetzten.  All das befand sich  in gefährlicher Nähe zu unserem einzigen wirklichen Feind, dem fließenden Wasser von Dusche und Wasserklosett. Ich wollte zwischen MKOW und Ohrenschmalzbügeln abwarten, bis der Zimmerkellner das zweite Frühstück servierte und mir einige Brösel eines französischen Croissants oder eines  altrussischen Pirogen einverleiben, auch wenn mir, ehrlich gestanden, die harte Kruste eines ordinären Schwarzbrotes immer noch  am besten schmeckten. Ich bin in meinem Geschmack sehr konservativ und bodenständig.  Bei den vielen Neumodischkeiten bin ich manchmal zutiefst überzeugt, dass meine Stammesgenossen und ich die letzten Hüter der wahren russischen Tradition innerhalb und außerhalb des Präsident sind. Ihnen darf ich es ja gestehen, dass mir die direkten Abfälle, die menschlichen, noch immer am liebsten sind: Schnipseln von Nagelbetten, Fußsohlenharthaut, Schuppen, Nasenpopel oder Fingernägel zum Beispiel. Da weiß ich, dass wir unverbrüchlich zusammen gehören: die Menschen und die Kakerlaken.   Zu meinem Leidwesen werden sie aber immer seltener, da die neueste Generation von wasserdamfbetriebenen Klopfstaubsaugern  sehr leistungsstark sind und kaum mehr etwas von diesen Köstlichkeiten übrig lassen.
Dove-Duschgel-, Gilette-Rasierschaum, -  und Axe-Behandlung waren vollbracht, da zog der feine Duft von Colgate-Zahnpasta durch meine Nüstern. Die liebe ich von allen Rückständen am meisten und hoffte, dass ich davon einiges wieder finden würde. Der Juri-Andropov-Suite-Bewohner,  der zukünftige Preisträger des allrussischen Ordens für verdiente Kulturarbeiter,  Hofrat Professor. Dr. Sigmund Berger,   warf in die Schale eines guten schwarzen Smokings (Bekleidungsvorschrift der Einladung in den Kreml)  und verabredete sich telefonisch mit seinem Kollegen L. H., der einen Korridor-Kilometer weiter in der Tschernenko-Suite residierte. Sie beschlossen,  den Weg zum Kreml zu Fuß zurückzulegen, obwohl das Ordenskomitee eine nostalgische Flotte von schwarzen Zil- und Tschaika-Limusinen bereit gestellt hatte.

 Die Professoren S.B.  und L.H. gehörten zur unverbesserlichen Sorte von Russland-Romantikern, die auch noch im 7. Jahr des 21. Jahrhunderts nichts von ihrer seligen Studentenzeit der 60er Jahre aufgeben wollten, als sie uns  Tag und Nacht  in ihren Zimmerlöchern der MGU  jagten, ihre respektablen,  mit  österreichischem  Semperitgummi besohlten Hausschlapfen, ihre Oljoschin-, Kaverin- oder Majakovskij-Bücher nach uns schleuderten oder trotz eigener Gefährdung DDT- und Strychnin-Pulverstraßen in die Zimmerecken und um die Bettenfüße streuten. Wenn sie nur gewusst hätten, welche köstlichen Nachspeisen sie uns damit bereiteten, hätten sie nicht all die Schmuggelmühen auf sich genommen, denn der illegale Import  dieser westlich-imperialistischen Chemikalien in die Sowjetunion war strengstens verboten.  Aber noch viel mehr lachten wir über die Castro- und Ho-Chi-Minh-Sandalen oder gar die Tito- Opanken aus Stroh, mit denen die jeweiligen Austauschstudenten uns zu jagen versuchten. Meistens fraßen wir diese Naturprodukte zur Gänze auf, Zuckerrohr, -Bananen, – Reis- oder Haferstroh, wir fraßen uns bis ins Delirium. Herz, wenn wir eines hätten,  was willst du mehr! 

Ich erinnere mich noch gut an die  Dissertation von. S.B. – im Jahre 1967 residierte ich noch an der MGU – in dem ich immer wieder etwas Frugales für mich fand. Zwischen den geistreichen Ausführungen zu  Kaverins  „Nord-Ost-Passage“ fand ich Krümel von österreichischem Kletzenbrot und Milka-Schokolade.  In   L.H.`s   Dissertation über den  literarischen Vergleich  der  „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ mit dem „Nachtasyl“ Gorkis ergötzte ich mich an seinen großzügigen Nasenpopeln und Haarschuppen. Übrigens war das Kellerloch  mein absoluter Lieblingstext  von F.M. Dostojevskij, das bei unseren Historikern als die  biologische und geistige Urheimat bezeichnet wird. Es  war das ein Roman über uns, die uralten, autochthonen Bewohner des Landes, ungeliebt, verfolgt, gejagt, verbannt, und doch unausrottbar wie die Altgläubigen. Die beiden Studenten plagten sich mit verschiedenen  Deutungen zwischen bürgerlicher und sozialistischer Literatur, aber auf die naheliegendste kamen sie nicht, weil sie uns nicht zuhörten, sondern mit ihren Schlapfen nach uns warfen, wo immer wir auftauchten.  Unbelehrbar, wie alle liebenden Russlandreisenden. Dabei ist alles  auf der Hand gelegen, um nicht zu sagen auf den Fühlern.

Eine besonders unangenehme Erinnerung habe ich an Sigmund Bergers damalige Freundin Traude, die schöne Tochter eines Weinbauern. Sie  hielt nichts  von DDT, Strychnin oder anderen Hausmitteln, sondern setzte einen Weinviertler Flaschenwaschel als Hauptwaffe gegen uns ins Gefecht. Noch die Spitzen des Weinreisigs waren so sauer, dass ich persönlich eine Chlor-Spülung vorgezogen hätte. Offiziell beschäftigte sich die Traude mit ihrer Dissertation über einen Vergleich der Lyrik von  Anna Achmatowa und Marina Zvetajeva. Sie blieb leider unvollendet, sie hat sich mehr der Ausrottung meiner Sippe  gewidmet als ihrer Dissertation.  Ich muss zugeben, dass Traudes Wirken in der MGU meine Familie fast zum Umziehen bewogen hätte.  Aber ich bin immer noch da,  und  sie heiratete kurz danach einen lokalen  ÖVP-Funktionär, gebar ihm 4 Kinder, wurde eine  perfekte Mutterhausfrau  und hat ihr ausgezeichnetes Russisch nie wieder angewendet. Sicher hat sie ihren Weinflaschen-Waschel gegen ihres- und meinesgleichen auch bei sich zu Hause angewendet, wenn es da meinesgleichen gibt.
  
Jetzt wanderten die  zukünftigen Preisträger  des Kreml-Ordens für verdiente Kulturarbeiter – beide in  ihren frischen  Sechzigern -  über den Kamennij Most dem Kreml zu und schwelgten in Jugend- Erinnerungen an der MGU, mit Kaverin, mit Oleschin, mit Majakovskij und dem guten, alten  Dostojevskij.  Die Erinnerungen an die schöne Weinbauerstocher Traude und ihren Weinflaschenwaschel  bekamen einen besonderen Platz in der Mitte der Brücke,  als die Freunde  gleichzeitig zwei 5-Kopekenmünze in die Moskva fallen ließen, eigentlich nur auf das Eis, denn die Moskva ist jetzt zugefroren . Das  alles sehe ich durch die Ritze des Brillenfutterals in der äußeren Manteltasche meines persönlichen  Preisträgers, gut gebettet in die fetten Tüchlein der WKOWW. Es stiegen noch die kleine, süße Natascha und die rassige Tanja aus der Geschichte heraus und belebten Geist, Herz und Glieder. Ach, wie schön war es doch in der Jugendzeit mit den Russinnen! Unkompliziert, skrupellos und  wie sie waren,  kamen sie immer schnell zur Sache und trieben es sehr wild mit den kleinbürgerlichen Söhnen des kapitalistischen Westens. Nie stellten die Nataschas und Tanjas Fragen, waren anspruchslos und dankbar. So glauben es die beiden bis heute. Nur ich weiß, dass sie KGB-Spitzel waren und alles feinsäuberlich  der Abteilung 9  ihren Arbeitgebern  in dieser ehrenwerten Organisation berichteten.     
Wir drei  waren auf dem Weg in den Kreml.

Rechts das Baltschuk- Kempinski-Hotel, links die halbabgerissene Ruine des Hotels Moskva. Ich zitterte, wenn er jetzt das Etui herausgenommen hätte, um die neue Baustelle näher zu betrachten, wäre ich auf die Eisschollen gefallen und hätte mich um eine neue Heimstatt kümmern müssen: Gottlob erwärmten meinem Preisträger  die Studentenzeitreminiszenten so sehr das Herz, dass mir in meinem Futteral in der linken Brusttasche fast heiß wurde. Fast am Alexander- Garten angekommen, braust an uns der Präsidentenkonvoi vorbei und durch die 9 Meter dicken Tormauern in den Kreml hinein. 

An der Ecke des Manege-Platzes könnten wir durch das Troizkij-Tor in den Kreml einbiegen. Aber meine Preisträger entscheiden sich für einen Spaziergang die Tverskaja hoch bis zum Puschkin-Platz, wo  schräg gegenüber seiner Statue mit dem geneigten Kopf der  1. MacDonalds-Palast  Moskaus sehr viel mehr thront als der verehrte Dichterfürst. 

Wohl eingedenk der Banketts, die Kaiser Franz Josef I. in der Hofburg abhielt, bei denen  fast alle Gäste hungrig weggingen, füllten sie sich die Mägen mit einem Doppeldecker Hamburger und Pommes. Da es ja ihre erste Einladung in den Kreml war, konnten sie nicht wissen, dass der Präsident die gegenteilige Taktik verfolgte: seine Gäste mit einem Überangebot einzuschüchtern und mundtot zu machen. Zurück zum Manegen-Platz, zum Denkmal der Heroenstädte mit Wachwechsel, ewiger Flamme und fotografierenden Hochzeitspaaren erreichen sie, vorbeihastend am Leninmausoleum  das Spasski-Tor. Hier, bei der ersten Wachta innerhalb der Kreml-Mauern, wurde es für mich zum ersten Mal wirklich kritisch. Die Professoren mussten den diensthabenden Soldaten die Einladung vorweisen, sich mit ihren Pässen identifizieren und alle Taschen leeren. Mein Preisträger legte sein Brillenfutteral auf den Tisch, ein Soldat öffnete so rasch,  dass  mich der kalte Windhaus glatt heraus geweht hätte, wäre ich nicht tief in einer Falte des Wischtuches gelegen. Nur ein paar Meter weiter im Kontrollraum der Kreml-Miliz die gleiche Prozedur, nur dass die Preisträger hier auch noch ihre Mobil-Telefone abgeben mussten, was mir jetzt  schon gleichgültig war. Einen Schock erlebte ich noch, als an der dritten Kontrollstelle, die von FSB-Beamten in Zivil gehalten wurde, stellte sich mein Professor – wahrscheinlich war er schon leicht genervt von den vielen Kontrollen – so ungeschickt an, dass er zusammen mit der Einladung auch das Brillenetui auf den Boden fallen ließ.  Er hob es schnell wieder auf, weil die Geheimdienstler die Gästelisten durchsahen und den S.B. nicht sofort finden konnten, meinte er, ihnen behilflich sein zu müssen und setzte dazu seine Brille auf.  Zu meinem Glück, ohne sie zu putzen oder einen Blick ins Innere zu werfen. Nun,  diese Hürden überwunden waren, fragte ich mich, ob mein Wirt die Brillen in der Garderobe lassen oder in den Bankett-Saal mitnehmen würde. 

Meine Vorfahren lebten seit Tschingis Khans Zeiten in den Kellern, Küchen und Garderoben des Kremls, aber unsere Familienchronik berichtet nichts darüber, dass es je ein Kakerlak in den Katherinen-Saal geschafft hatte. Viele glaubten noch immer das Ammenmärchen, dass Erdöl, Gas, Diamanten und Gold  der Untergrundmotor der russischen Kultur seien. Sie leugneten beharrlich, dass mein Geschlecht es war und ist, das den Boden immer wieder neu aufbereitet.  Mit mir und meinesgleichen  stand das Reich an einer Zeitenwende, vergleichbar nur mit Jurij Gagarins Eroberung des Weltalls. Wir sind so unausrottbar und widerständig, dass uns die Goldene Horde, die Opritschniks, die Ochrana,   die alten ZK-Vorsitzenden und die  neuen Präsidenten sowenig ausmachen konnten wie die Atombombenversuche auf den Bikini-Atolls. Im Hotel Präsident hatte ich zuletzt 5 Frauen, jede von ihnen bringt mindestens 200 Kinder auf die Welt, und wenn sie nicht erjagt, vergast, verklopfstaubsaugert oder unter Absätzen zertreten werden, habe ich allein  pro Jahr 1000 Nachkommen. Bei einer durchschnittlichen  Lebenserwartung von 200 Jahren zählt allein meine Nachkommenschaft – hochgerechnet wohlgemerkt -  20 000 Mitglieder. Und jetzt stand ich am Sprung in eine neue Dimension – ich würde der erste meiner Sippe sein, der einem regierenden Präsidenten in seine grünen Augen blicken würde. Das Glück dieses Tages verließ mich nicht: mein Preisträger entnahm seiner Mantelbrusttasche das Etui und steckte es- nein, nicht nach innen, sondern in das seines Smokings, sodass ich durch den Spalt an der Rückkante eine gute Sicht auf die neue Umgebung hatte. Die internationalen Kulturarbeiter – überblicksmäßig etwa 500 – wurden nun von einer Schar goldbetresster,  himmelblauer Uniformträger in eine lange Wandelhalle gewiesen, die Fensterfront mit  dicken Wolkenstors verhangen, von der Decke  alle 10 Meter ein Luster,  die Wände mit Fresken, Goldgirlanden und Stuck dekoriert. Während des Wartens  sehe ich halbnackte Göttinnen, Nymphen und Musen, die sich an Bächlein, in Hainen und Tempeln tummeln. Aus unsichtbaren Lautsprechern dudelt in Endlosschleife  die Freude, schöner Götterfunken, bis ein voller Gong ertönt, so tief, als würde Gott zur Erschaffung der Welt gerufen. Es war nicht Gottvater, sah ich, als die Flügeltüren aufgingen und den Blick auf den Katharinen-Saal freigaben. Was heißt hier blick: die frische Goldpracht blendete derart meine lichtempfindlichen Augen, dass ich sie erst einmal wieder schließen musste. Den meisten Preisträgern erging es genau so. Wie Hampelmänner rissen sie ihre Arme hoch und bedeckten ihre Augen. Wegen der kollektiven Blendung kam es zu einem Gedränge vor den Saaltüren, das aufzulösen den Kremllakaien durch geschicktes Manövrieren schnell gelang. Meine Artgenossen und ich sind von alter und Kontinuität her die wahren Stadthistoriker und natürlich auch mit der Kreml-Geschichte bestens vertraut. Der Katharinen-Saal ist ein klassizistisches Gesamtkunstwerk in Blattgold, Schwanenweiß und Lindgrün. Das  Riesen-Oval mit seiner  hohen Kuppel atmet die Weite des Imperiums und die Nähe der alten und neuen Zaren. Vor den haushohen Spiegelwänden stehen mit Edelsteinintarsien verzierte Tische, darauf goldene Kandelaber und Standuhren.

Wenn ich nicht der lebende Gegenbeweis wäre, würde ich behaupten, dass sich in eine solche Pracht noch nie ein Kakerlak verirrt hatte. Geschichte schrieben hier andere. Molotov lud am 14. April 1955 zum großen Bankett und teilte der österreichischen Staatsvertrags-Delegation mit, was als „April-Wunder“ erinnert wird und das Glück auf den Gesichtern von Schärf, Raab, Figl und Kreisky für immer in die Spiegel eingekerbt hat. Als hier im August 1990 der deutsch-sowjetische Vertrag unterzeichnet wurde, meinte Willi Brandt sogar, den „Mantelsaum Gottes“ durch den Saal rauschen zu hören; und Helmut Schmidt  war und blieb der einzige Mensch, der es je wagte , eine Zigarette anzuzünden. Gorbatschow gab an dieser Stelle den Weg zur deutschen Einheit frei und Kohl dankte für das „Wunder von Moskau.“

Lenin, Stalin und alles Nachfolger machten sich wenig aus den Prunksälen im Kreml, bis Jelzin sie aus dem Dornröschenschlaf weckte. Er vergab  an die Schweizer Firma MABETEX Millionen-Aufträge für die Restaurierung und blieb mit dem Schwarzgeld, das dabei für ihn selbst und seine Familie geflossen sein soll, jahrelang in den Schlagzeilen.

Unter den Lustern mit den ausmaßen von Weltumrundungsballons standen in langen Reihen gedeckte Tische, nummeriert von 1 – 50, an der Stirnseite ein Tisch mit der Nummer  0  war mit der russischen Fahne geschmückt – das war der Präsidententisch. Die blaulivrierten und goldbetressten Lakaien wiesen die Preisträger ihren Tischen zu, meiner bekam einen Platz an der Nummer 1, ist Postweite des Präsidentensessels. Wieder ertönte der strenge Gong mit dem Nachhall wie aus den Tiefen des Universums. Aber nur unsereins weiß noch, dass er den Geheimnissen der altmongolischen Metalllegierungen entspringt. Jetzt betritt mit raschen und federnden Schritten der Präsident den Katharinen-Saal und nickt zur Begrüßung ernst-huldvoll nach allen Seiten. Tosender Applaus steigt auf, endet aber abrupt, als sich Vladimir Vladimirowitsch auf seinem Platz niederläßt,  seine Sitznachbarn sind der amtierende Kulturminister, der Erziehungs- , Atom- und der Außenhandelsminister, ein greiser Raketenkonstrukteur, ein noch älterer tschuktschischer Volksschriftsteller und die drei jungendlichen Gewinner der Russisch-Olympiade. Ich kann mich glücklich schätzen, meine Sicht auf den Präsidententisch ist nicht schlechter als aus der Zarenloge im Bolshoj. Da im Ordenszuerkennungsdokument alle Verdienste der Geehrten aufgezählt werden, hält sich der Präsident bei keinem einzeln auf. Alle 500 haben sich die Verbreitung der russischen Kultur im In- und Ausland verdient gemacht, sodass sie ab jetzt den Titel  „verdienter Kulturarbeiter“ tragen dürfen. Die meisten sind Lehrer, Professoren, Übersetzer, Wissenschafter, Chorleiter, Organisatoren, Museumsdirektoren,  Verleger, Schriftsteller, aber auch  Sportler, Schilehrer und Fitnesstrainer. Eingedenk der Vorgeschichte des Präsidenten als Geheimdienstoffizier haben sich seine Redenschreiber an das schöne Wort von Stalin über die Schriftsteller als „Ingenieure der Seele“ (1935) erinnert und ihm für die ausgezeichneten die „Ingenieure der Sprache“ ins Redemanuskript geschrieben. Es geht nichts über eine ungebrochene Tradition, das kann ich am besten verstehen und goutieren. Gleich folgt noch eine Adelung: „Mensch – das klingt stolz“ sagte Gorki 1929 über den neuen Sowjetmenschen. Nicht ganz nachvollziehbar ist der unvermittelte Sprung zu Blaise Pascal (1655), der den Menschen als „ein denkendes Schilfrohr“ bezeichnete. Dieses Zitat sollte wohl des Präsidenten kritische und aufgeklärte Gesinnung zum Ausdruck bringen.

Mein Professor wurde ausgezeichnet für seine Bemühungen um die Ausbildung der österreichischen Hotellerie und Gastronomie im Sinne des umfassenden Wohlbefindens der russischen Touristen. Er verfasste Russisch-Lehrgänge für Kellner und Stubenmädchen, für Köche und Speisekartenverfasser, für Schilehrer, Chauffeure, Reisebüroangestellte und Verkäuferinnen, für Bürgermeister und Polizisten. Und umgekehrt bekamen die russischen Gäste in ihren Unterkünften einen „Kurzen Lehrgang der österreichischen Gastlichkeit“, ein „Kleines Russisch-Tirolerisches Wörterbuch“ und einen Führer „Alles zwischen Bar und Piste“, die „Kleine Geschichte des Wilden Kaisers“, „Kultur in Kitzbühl“, um nur einige zu nennen. Die Titel waren so zahlreich, dass sie die des seit 1950 schreibenden tschuktschischen Schriftstellers bei weitem überflügelten. Ich persönlich hielt den Chirurgen Gawril Ilisarov für die interessanteste Persönlichkeit an unserm Tisch. Er hieß auch der „Knochenbrecher von Kurgan“ .Der kleine, weißhaarige Greis wurde von seinem unscheinbaren, bürokratischen Assistenten Andrej Popkov begleitet. Professor Ilisarov war während des Afghanistan-Krieges zu Berühmtheit gelangt, als er durch ein von ihm entwickeltes Verfahren zerbrochene und zersplitterte Knochen wieder einrichtete und damit Amputationen vermeiden konnte. Nach dem sehr langwierigen und schmerzhaften Heilungsprozess stellte sich heraus, dass seine Patienten gewachsen waren. Internationalen Ruhm gewann er, als er einem kleinwüchsigen arabischen Offizier, der sich kränkte, bei Paraden immer in den hinteren Reihen stehen zu müssen, mit einer Operation zu 10 Zentimeter längeren Beinen verhalf. Seither sind die „Beine von Kurgan“ der heißeste Schrei unter jungen Frauen, die sich durch  Beinverlängerungen einen Traumjob als Model oder bessere Heiratschancen erwarten. 

Wie ein Klappmesser im dunkelblauen Armani-Anzug, knapp wie ein Hakenknallen, setzt sich der Präsident nach seiner Ansprach auf den für ihn bereitgestellten eine wenig nur höheren und ein bisschen reicher verzierten Stuhl (nein, nicht Thron!), worauf die 500 Preisträger auf ihren Plätzen einknicken. Vor ihnen steht eine Reihe von 6 angefüllten Gläsern, von rechts außen an Wodka, Wasser, Sekt, Saft, Weißwein und Rotwein, nach links je ein leeres für Bier, Whisky und Kognak. Jeden schirmt eine solche Gläserbarrikade vom Nachbarn und Gegenüber  ab, dazwischen auf goldglänzenden Untersätzen eine Pyramide von Tellern und Schüsseln, deren weißes Porzellan mit lindgrünen Bordüren die Farben des Katharinen-Saales wieder aufnahmen. Mit einer gänzlich unprofessoralen Geste riss  nun mein Preisträger das Wischtuch aus dem Etui und fuhr sich damit über die Augen. Nur mit der in Jahrhunderten antrainierter Akrobatik konnte ich mich gerade noch in der Ritze zwischen Metall und Velour-Füllung halten. Wenn so etwas wie ein Herz in mir gewesen wäre, hätte es jetzt einen Stillstand erlitten. Die Kreml-Gäste ging es nicht viel anders: sie  waren von der Gegenwart des Präsidenten so gelähmt, dass sie anfangs zu nichts anderem imstande waren, als zwischen ihren Fingern Brotstücke hin- und herzuwälzen, wobei auch einige Krümel in mein Versteck fielen. Jetzt begannen die Lakaien in endlosen Reihen die Gerichte aufzutragen: Die Speisefolge war so lang wie die Liste der Verdienste.

Goldfarbene Pirogen gefüllt mit Pilzen, Kraut und Fleisch, Schinken- und Käsetörtchen standen schon auf dem Tisch, von den  6 Schinken- und Wurstsorten, den 5  Salaten, den  4 Suppen (Gurken, Löwenzahn, Brennnessel und Farn) ging es weiter zu den Rindfleisch- und Heringssülzchen, Pilzgelee, Entenleber, Fluss- und Meereskrebs, Fische geräuchert, gesalzen, luftgetrocknet und roh unter Bergen von Gemüse und Kräutern, Muscheln, Räucherlachs, roter Kaviar,  Riesengarneelen von den Kurilen. Ich habe bekanntlich ein schlechtes Verhältnis zum Wasser und war daher an der Fischfolge nicht interessiert. Aber eine Speie erregte doch meine Aufmerksamkeit: der „Kaviar im Pelz“, eine neue Kreation der Kreml-Köche. In eisgekühlten, von Kälte beschlagenen Kristallschalen liegen Berge von glänzendem Kaviar, dekoriert mit Strömen goldgelber Souce hollandaise und mit roten Paprikaschoten, grünen Gurkenscheiben, orangen Karotten und gelben Zitronen dekoriert und mit einem Ring aus Hühnereihälften gekrönt. Jede Schüssel ein Meiserwerk in perfekter Proportion, Form- und Farbgestaltung. Das schwarze Gold stammt von 3 Fischarten: vom Beluga, Ossjotr und Sevruga- besseres hat Russland nicht zu bieten. Wenn die Preisträger in der Gegenwart des Präsidenten  gewagt hätten auszuatmen, wäre jetzt ein Stöhnen und Raunen durch den Katharinen-Saal gegangen, auch eine Art „Mantelsaum Gottes.“ 

Der Kaviar im Pelz wurde gerahmt von Fischen aus allen Teilen Russlands, aus Flüssen, Seen und Meeren: Forelle, Thun, Hecht, Karpfen, Zander, Wels, Lachs, Hering, Stör, gebraten, gebacken, in Buttersauce, unter Mandeln oder  in Aspik. Mir war gerade ein großer Brocken von russischem Schwarzbrot in die Ritze gefallen, über die ich mich sofort hermachte, als ich meinen Professor etwas sagen hörte. Ohne Anflug von Schüchternheit und gesund respektlos, wie mir scheint,  grüßt er zum Präsidenten hinüber, gratuliert ihm zu den eben gewonnenen Parlamentswahlen und wünscht ihm und seiner Familie Gesundheit. Dieser nickt zurück, klappt die grünen Schildkröten- Augen auf und zu  und antwortet laut und deutlich: „Danke, das gleiche Ihnen!“ Die 9 Tischnachbarn des Präsidenten und die 9 meines Professors erstarren,  fallen vor Schreck fast in Ohnmacht und lassen ihr Essbesteck zwischen Teller und Mund stehen. Das scheint meinen Ordensträger noch mehr anzufeuern, dass er sich an die ihm am nächsten Sitzenden  wendet:  eine alte Lehrerin, die seit 40 Jahren den Kindern der in Novaja Zemlja stationierten Militärangehörigen russische Sprache und Kultur näher bringt, ein walisischer Gelehrter, der die  2000 Seiten von Tolstojs „Krieg und Frieden“ ins seine Muttersprache übersetzte hat (4000 Seiten in 6 Bänden) und ein russischer Biochemiker, der aus den Fäkalien der Kamtschatka-Rotkragenmöven ein vom Staat anerkanntes lebensverlängerndes Elixier entwickelte. Er müsse zugeben,  dass es ihm hier im Kreml sehr viel besser schmecke als bei Macdonalds, sagt er gar nicht leise in die Runde, dass es  auch an den Nachbartischen gehört werden kann. Eine Majestätsbeleidigung, ein Sakrileg, die russischen Kulturarbeiter verfallen in Angst- und Schüttellähmung, der altehrwürdige Kamtschatka-Möwenforscher verschluckte sich und kann mit Narsan-Mineralwasser  gerade noch vor dem Erstickungstod bewahrt werden. Auch der Präsident hat den Satz aufgeschnappt, er hob sein Glas auf meinen Preisträger und sagte wohlgelaunt in seine Richtung: „Ponjal, ich habe verstanden,  danke Ihnen für das Kompliment.“ 

Nun marschierten die Kellner in langen Reihen herein und balancierten riesige Platten mit den Fleischgerichten über sich auf den Schultern: Wiener und Milaner Schnitzel, Huhn, Ente, Truthahn, Fasan, Kalbsmedaillons in weißrussischen Herrenpilzen, Rehrücken in Rotkraut mit moldawischen Edelkastanien, Rinderfilet mit geschmorten Schalotten und Kartoffelkroketten, Beef Stroganoff mit  kirgiesischem Himalaya-Reis, ukrainische Sarma unter einem Gletscher von Sauerrahm, buttertriefende Kiewer Koteletts, kaukasischer Lammrücken im Speckmantel, georgischer Schaschlik auf Knoblauchbutterbett  und sibirisches Bärentatzengulasch in Schamanensouce. Ungefähr beim 13. Gericht hörte ich mit dem Zählen auf, weil auch mein Preisträger die Annahme von weiteren Speisen verweigerte. Dabei ging es noch weiter mit den Deserts, die ich aus meinem Schlitz nicht genau ausmachen konnte: schätzungsweise 15 Eis- und Sorbet-Sorten, Fruchtsalate, Beerenmischungen aus dem ganzen großen Reich, Kuchen und Torten, deren Namen ich leider nicht alle kenne. Nur so viel konnte ich erkennen: Esterhazy- und Sachertorte, Stefanie- und Kardinalschnitten, Schokoladerehrücken, Mohnguglhupf und geeiste Kaiserschnitte, dazwischen noch sehr viele Fantasietorten mit fetten Cremen und buntem Zuckerguss  – aber leider reichten weder meine Sichtweite noch meine Küchenkenntnisse  weiter. Seien Sie versichert, es waren sehr, sehr viel mehr Desert-Kreationen, die aus den Küchenverliesen des Kreml angeschleppt wurden. Dazu natürlich  noch Kaffee, Tee, Kognak und Whisky und all das überflüssige Zeug. Über-flüssig, Sie wissen ja schon, dass ich eine tiefe Abneigung gegen alles Wasser, aus dem Wasser stammende und mit Wasser sich verbindende habe: Danchlor, Klopfdampfstaubsauger, Kaviar, Fische, Salate, Getränke und das Eis.  Die Kreml-Strategen wussten sehr gut, wie man gleicherweise Freund und Feind ausschaltete. Warum ist noch niemandem der Gedanke gekommen, diese Methode einmal gegen mich und meine Verwandtschaft einzusetzen?

Übrigens bin ich noch am selben Tag umgezogen. Nein, nicht etwa in den Kreml, wo, wie Sie ja schon wissen,  es mir nur begrenzt gefiel und ich daher nicht meine langfristige Zukunftsperspektive sehen konnte, sondern ich ergriff die erstbeste Gelegenheit zur Übersiedlung in eine andere renommierte Moskauer Lokalität.  Die kam für mich völlig unerwartet und wie ein Geschenk des Himmels: mein Trägerwirt, der frisch gebackene verdiente Volkskulturarbeiter der Russischen Föderation B.S. begab sich nach dem Bankett in die kremelnahe Starokonjuschennij-Gasse, an deren Nummer 1 sich die österreichische Botschaft befindet. Ich persönlich habe ja keinerlei Beziehung zu diesem Ort,  nicht einmal eine negative, wenn man, wie ich weiß, dass diese Gasse sich  mit der nach einer  nahen Aufbahrungshalle “Totengasse“ kreuzte und in unserer Geschichte einen prominenten literarischen Konnex hat. Graf Lev Nikolajewitsch Tolstoj siedelte an dieser Adresse das entscheidende, dramatische Ereignis in den 1200 Seiten der Liebe zwischen Natasche Rostowa und Fürst Andrej Bolkonskij an. Die  junge, schöne,  aber  sehr naive und gefühlsverwirrte  Natascha weilte gerade bei ihrer Tante ????? ……… zu Besuch, als sie plante, sich von dem betrügerischen Filou  Denissov???………… von dieser Adresse entführen  zu lassen, um ihn geheim zu heiraten.  B.S.  aber hatte über sein vielleicht vorhandenes literarisches Interesse oder sogar Wissen hinaus  eine Beziehung zur Mjortvych-Gasse. Er  wollte seiner jüngeren Schwester einen Besuch abstatten, die damals gerade das ÖKF leitete, als Kulturrätin dem „Österreichischen Kulturforum“ vorstand. Als ältester lebender Stadthistoriker wusste ich natürlich sehr gut, dass die Österreicher eine der schönsten Jugendstil-Villen der Moskauer Altstadt besaßen. Ein weitläufiges, cremfarbenes Gebäude mit einer dorischen Säulenapsis an der runden Ecke, in deren klassizistischem Kapitell neun  schöne Musen ihren leicht beschürzten Reigen tanzten, den Blicken nur einigermaßen entzogen durch eine imposante Gruppe von 7 sibirischen Blautannen, die sich entgegen die schwierigen Luft- und Bodenbedingungen in  der Moskauer Erde  so gut eingewurzelt hatten, dass sie  nun schon mit ihren Wipfeln nach dem zweiten Stockwerk griffen. Die hohen Fenster, die festen Mauern und die  schmiedeeisernen Zäune trotzten schon lange mit altmodischem Trotz den in dieses Viertel gesetzten Ziegelbauten für ZK-Mitglieder  wie eine alte hölzerne Segel-Fregatte einem Panzerkreuzer,   ein Kampfplatz, eine permanente Herausforderung  und Demütigung. Dieses und ein paar andere  Baujuwelen  sind seit den brutalen Breschnew-Jahren  eingekreist  von 8, 10 und 12 stöckigen Büro-Ziegel- und Plattentürmen, die die niedrigen Villen und Palais des 19. Jahrhunderts wie aus dem Himmel mit Krätze ersticken,  abtöten und auffressen. Die Gehsteige sind auch hier im ausgeprägtesten Botschaftsviertel krumm, mit  zahlreichen Fallen übersät wie tiefe  Löcher,  hervorragenden Regenrinnen und niedrigen Vordächern;  Und überhaupt die Stufen – das ist ein eigenes Kapitel, Ach was könnte ich alles darüber erzählen, Als Tarakane mit meinen sehr beweglichen 6 Beinen  bin ich ja nicht direkt auf gerade, regelmäßige Stufen und Treppen  ausgewiesen, aber abgesehen von unseren ewigen Konkurrenten en Menschen: sie brauchen sie viel eher al wir für die schnelle und ungehinderte Fortbewegung.  Fort   ich mir die Frage, sind die Europäer höher gewachsen oder gehen die Russen nur mit eingezogenem Kopf herum, haben die Häuserbauer hier keinen Meterstab oder sind sie beim Ausmessen immer nur besoffen? Fragen über Fragen, wer stellt sie sich schon? er mehr,  groß- und kleinweis. 

Das sage ich nur als ein alter, wissender und neutraler Stadthistoriker, meine  persönliche Passion ist eher egoistischer Natur: wo kann ich ankommen, überleben und mich fortpflanzen. 

Sehr schnell erkannte mein Blick aus dem Futteral- oder habe ich das schon frührer gewusst? – die österreichische Botschaft Ecke Starokonjuschennij – Mjortvych pereulok hatte eine in Moskau seltene Eigenheit: sie verfügte über ein tiefes Kellergeschoß. Das sah ich sofort, als wir dort ankamen.   Ob das eine Eigenheit der besonderen  russischen Kultur am Beginn des 19. Jahrhunderts war oder   der österreichischen Architektur geschuldet ist, leider, ich muss Sie enttäuschen, ich weiß es einfach  nicht. Aber der Anblick dieses tief gelegenen, mit verliesgleiche ausgestatteten Fenstern ausgestattete Untergeschoß ließ mein Herz- hätte ich eines-  höher schlagen. Die  zaussigen Fliederbüsche entlang der Längsfront des österreichischen Palais  beeindruckten mich nicht sonderlich, wirkten eher bedrückend  auf mich, weil ich doch aus Erfahrung wusste, dass Flieder unserem Geschlecht nicht gut bekommt, sie sind Gift für uns.  Flieder,  Lilac und Sirenj, Aber das weiß niemand, nur mit Flieder könnte man uns bekämpfen und ausrotten. Zum Glück, wissen sie nicht, dass Flieder für  unsereins tödliches Gift sind. Nicht DDT, nicht ihre Dampfklopfstaubsauger,  sondern einfach nur Flieder.
Mit einigem Schrecken musste ich feststellen, dass es die sieben hohen, sibirischen Blautannen vor  dem runden Salon nicht mehr gab. Einfach umgeschnitten, ratzputz weg, wie nackt und kahl glotzte jetzt das  neoklassizistische Halbrund  auf die plötzlich dumm gewordene Kreuzung von Starokonjuschennij und Mjortvych.  Geradezu obszön, abscheulich diese Halbkaryatiden unter ihren spätkorinthischen Kapitellen,  fand ich, sieht das denn niemand außer mir?  Wo haben die Menschen nur ihre Augen und Fühler? Ist alles so schnell verloren gegangen, was unsere Stadt groß und berühmt gemacht hat?  Unter uns haben wir dafür nur einen Ausdruck: nekulturno! Der neue Botschafter und seine sehr kultivierte Frau meinten, dass die sibirischen Riesen zu wenig Licht  auf ihre Empfänge fallen ließen, dafür im Garten umso mehr Mist; als ob Tannennadeln Mist sein könnten. Herrgott, woher kamen denn diese Barbaren, dass sie sibirisches Moos, Flechten und Nadeln für Unrat hielten?  Sie hatten keine Ahnung davon, dass es Jahrzehnte gedauert hatte, bevor sich diese Fremdlinge in der kargen Moskauer Erde verwurzelten und über die platten Karyatiden hinweg in die lichten Höhen des 2. Stockwerks wuchsen, wo wir unsere Freundinnen vom Übersetzerbüro beheimatet wussten. Eine große Enttäuschung, ein tiefer Schmerz, dieser Anblick. Auf die Baumstümpfe wird dieser Botschafter im nächsten Frühjahr Gipsstatuen der neun Musen (zwei Postamente werden baumstammmäßig in Beton nachgebildet)  stellen lassen, die im Sonderangebot eines ihm befreundeten Kärntner Baumarktes auf Republikskosten bezogen hat  und um ebensolche nach Moskau transportieren ließ. 

Was die Botschaft aber für mich  noch immer attraktiv machte, war die Küche im Keller, oder genauer: die Königin der  Köchinnen in der Küche im Keller. Galina hat den Ruf, dass sie uns, die Tarakany, die Kakerlaken, die Küchenschaben von Herzen  liebt, dass sie sie hielt so wie andere ihre Haustiere: Hunde, Katzen, Meerschweinchen, Ratten oder Wellensittiche. Und nicht wie die übrigen Menschen es mit ihren Kühen, Schweinen, Schafen, Hasen, Gänsen und Hühnern machten: pflegen, füttern,  streicheln oder  sogar mit ihnen in ihrer Sprache sprechen. Aber wenn ihnen  die richtige Zeit gekommen zu sein scheint, wenn sie gerade rund, fett oder richtig mager sind,   dann peng, wumm, schlachten sie ihre lieben Tierchen, nehmen sie aus, zerteilen sie in alle verwertbaren Teile, füllen sie verwurstet in Gedärme, hängen sie in Räucherkammern, tieffrieren sie als Hälften, Schenkeln, Rücken oder  Steaks. Das Beste essen sie frisch, vor allem die zentralen Teile wie herz, Hirn, Nieren und Leber lieben sie aufzubrutzeln oder in rohem carne.  Galina war da ganz anders. Wo andere der Ekel packte, da schaute sie erst recht hin.  Sie hätschelte und verwöhnte uns aus vollem Herzen, stellte kleine Schüsselchen mit Brotkrumen, Milch, Käse und Honig in dunklen Winkeln auf,  versteckte und beschützte uns vor wütenden Putzfrauen, Sanitärbrigaden und primitiven Aushilfsköchinnen, die zwar nicht kochen konnten, aber so taten, als hätten sie es dafür umso mehr mit der Reinlichkeit. Mochten sie auch selbst noch so schmutzig und unordentlich sein, hielten sie uns doch für die allgegenwärtigen,  sichtbaren und unausrottbaren Ausgeburten des Schmutzes, der Unordnung, ja für das was Russland wirklich ausmachte. Ich konnte ihnen das nicht einmal übel nehmen, meine ich ja selbst, dass wir das Älteste, Tiefste und Echteste und Beständigste sind, was Russland je hervorgebracht hat. Wo sind denn die  heldenhaften Rjurikiden, die  Kiever Rus, die Romanows oder Bolschewiki? Alle versunken und verloschen im  Ozean der Geschichte, nur mein Geschlecht bleibt und  bereitet von unter immer wieder frischen Boden auf. 

Warum konnte sich Galina gegen alle anderen durchsetzen und ihrer Tatakay-Leidenschaft fröhnen?  Sie war nicht nur groß und dick und hatte einen Bartflaum auf der Oberlippe- wegen ihrer lauten,  tiefen Stimme für den Kasernenhof wurde sie von allen Generlscha genannt - sie konnte auch wirklich gut kochen, die war nicht nur firm in der russischen Küche, hatte früher bei den Deutschen und den Schweizern gearbeitet, kannte sich also auch in der französischen und italienischen Küche aus, und was die Österreicher betraf, so lernte sie sehr schnell die Schnitzel-, Gulasch-, Apfelstrudel- und Vanillekipferlrezepte, dass der Salat mit einer Brise Zucker mariniert wurde, der Liptauer nur mit mildem Paprika zubereitet werden darf, der Gugelhupf Rosinen enthalten muss, die Sachertorte nur mit hausgemachter Marillenmarmelade gefüllt wird und noch ein paar Besonderheiten, über die die Botschafter –Gattin streng wachte.  In Galinas Reich war ich gut aufgehoben, es war eine standesgemäße Bleibe für den ältesten Stadthistoriker und sicher wie Abrahams Schoß. Denn russische Köchinnen ändern ihre Leidenschaften nicht oft. Was mich am meisten für sie einnahm, war aber es bei ihr nicht nur das russische Schwarzbrot gab, sondern auch viele Arten von österreichischen Bäckereiprodukten, die einmal in der Woche frisch eingeflogen wurden. 


Ein rascher Blick durch meine Sehspalte im Brillenetui ließ mich kurz zögern: der Botschafter hatte offenbar auch den Innenwänden ein neues Aussehen verpasst, indem er sie mit einem lindgrünen – wo anders würde man es vielleicht  pistaziengrün nennen- Ölanstrich versehen ließ. Es war nicht ganz so schlimm wie das  klassische Erbsengrün der russischen Schulen,   Spitäler, Ministerien, Kasernen und  Gefängnisse, aber doch trieb mir die Erinnerung an diese Orte einen kalten Schauder über den Rücken, als mein Preisträger mit mir den Korridor zum Kulturforum in den zweiten Zwischenstock hochschritt. Es war klar wie Wodka: an diesen glatten,  kalten, ölbestrichenen Wänden würde nicht einmal ich, der beste Fassadenkletterer Moskaus, Halt finden. Ich musste auf schnellstem Wege in den Keller unter die Fittiche der Generalscha Galina gelangen. Auf dem Boden des Kulturforum nahm ich sehr schnell die Kabelkanäle für Strom, Telefon, Internet, Interkom und sonstige Elektronik wahr, durch die unsereins gefahrlos in alle Stockwerke des Gebäudes gelangen konnten. Wie sehr liebte ich doch die moderne Technik, mit der uns kein Stiefel, keine in- oder ausländische Giftkeule, kein Dampfklopfstaubauger und kein Weinviertler Flaschenwaschel etwas anhaben konnten. So sitze ich also jetzt im hintersten Winkel der  diplomatischen Speisekammer und schreibe beim dämmrigen Licht der Kühltruhenkontrolllämpchen meine Aufzeichnungen auf, meinen  glorreichen Weg vom Hotel Präsident über den Kreml ins  russische Herz Österreichs. Links von mir die Regale mit heimischem Ziegelbrot, rechts von mir österreichisches Schwarzbrot, Kanten von Kärntner Speck, Tiroler Hartwürste, Rundkanister mit Mauther-Markhof``scher Majonnaise, Waldviertler Honig und feinster Teebutter. Neben Galina ist die Botschafter-Gattin  Ursula meine zweite Göttin: ihrer Sparsamkeit ist es  gedankt, dass sie auch noch die letzten Brösel von Weihnachtsgebäck, Osterkuchen, Tortenböden, Canapees und Kaisersemmeln in Blechdosen aufbewahrt. Wäre ich gläubig, müsste ich meinen, dass es ein Himmelreich auf Erden gibt.  Aber auch  W.W. Putin muss ich hochleben lassen: hätte er nicht  in B.S. den verdienten Kulturarbeiter erkannt und ausgezeichnet, wäre ich wahrscheinlich nie ins Paradies gelangt. Jetzt muss ich nur noch eine Artgenossin finden, und Russlands Zukunft wird auf immer gesichert sein.