Dienstag, 27. Mai 2008

Pinselunterhaltungen am Traumbach

Zum Buch „Allegorien des Blicks“ von Leander Kaiser mit Texten von Mechthild Podzeit-Lütjen, Verlag Brandstätter, Wien 2008

Veronika Seyr, Pfingsten 2008-05-12

Der chinesische Schriftgelehrte Shen Kuo verfasste im 11. Jahrhundert einen Text über die Methode eines gewissen Bi Sheng, der mit beweglichen Lettern experimentiert haben soll:

Meng Xi Bi Tang nannte er sie, „Pinselunterhaltungen am Traumbach“. Der Text führt noch an, dass sich diese Methode vorläufig nicht durchsetzen konnte. Wie wir aus der Geschichte wissen, sollte es erst der Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, sein, der mit seiner Druckerpresse die Menschheitsgeschichte revolutionierte. Die erst Druckerei öffnet 1458 in Strassburg, die zweite 1462 in Wien, erst dann folgen die anderen in Basel, Köln, Augsburg, Mainz und viele andere im Rest der Welt.

2008 – genau 546 Jahre später - hat der Verlag Christian Brandstätter in Wien eines der eigenartigsten Bücher herausgebracht, einen Hybrid, der am Beginn des Projektes ziemliches Misstrauen bei mir hervorrief. Ein Katalog des Malers Leander Kaiser mit Texten und Gedichten von Mechthild Podzeit-Lütjen; „Allegorien des Blicks“ heißt es. Und nun gestehe ich ein, dass es eines der schönsten, vielleicht das allerschönste Buch ist, das ich je in Händen gehalten habe.

Ohne auf die Bilder und die Texte eingehen zu wollen – das haben Peter Weiermeier, Irene Prugger und Carla Babini als Kunstgeschichtler und Biographen schon meisterhaft gemacht – versuche ist meinen Superlativ zu begründen, aus der subjektiven Perspektive einer Konsumentin (im Sinne von consumere = lat. gemeinsam haben).

Ich will das Buch als Buch, als Gegenstand, als Objekt, als in eine bestimmte Form gebrachte Ansammlung von Materialien beschreiben.

Für einen Kunstkatalog ist es nicht besonders groß und umfangreich, 24 mal 28 cm und mit gerade mal 110 Seiten auch nicht besonders dick. Obwohl mit diesen Maßen weit entfernt davon, ein Taschenbuch zu sein, habe ich den Eindruck, es doch immer und überall hin mitführen zu können und zu müssen. Mit welchem Maßstab, welcher Goldwaage haben die Buchmacher dieses Idealmaß gefunden, das genau richtig in der Hand liegt. Es ist eine Körperempfindung, die durch die Hände geht, ohne dass ich die Augen öffnen muss. Ähnliche „blinde“ Gefühle ruft das Papier hervor: es ist weich und fest zugleich, es spürt sich an wie Seide und Duchesse, und auf der Haut der Fingerkuppen entsteht der Eindruck von Seife. Lasse ich die haptischen Erlebnisse hinter mir und öffne die Augen, schlägt mir vom Schutzumschlag hauptsächlich ein Scharlachrot entgegen, auf dem Pappband darunter ein Hellorange und auf den Vorsatzblättern im Inneren das wärmste Hellbraun unter allen Lachstönen. Die Seiten haben elfenbeinfarbenes Papier, das den greifenden und tastenden Fingern wie Samt entgegen kommt. Der Schrifttypus ist für mich nicht eindeutig einordbar, Antiqua –artig schätze ich, mit ziemlich ausladenden Serifen.

Aber was mich viel mehr beeindruckt, ist die nicht ganz schwarze und auch nicht graue Farbe der Buchstaben, die sich wie Nebenschwaden über die Seiten angeordnet haben. Wer mag diese Farbe ausgesucht und komponiert haben? Der Drucker, der Grafiker oder der Maler?

Andere habe schon viel Kluges und Schönes über den geglückten Reigen von Maler und Dichterin umeinander geschrieben, über ihren Rollentausch, die Bilder zu lesen und die Gedichte zu sehen. Aber mir gibt das Buch noch etwas anderes.

1. Quelle: Kraft und Trost. Ein Buch wie die „Allegorien des Blicks“ (man kann nicht leicht sagen, in der Tasche) zu haben, bedeutet gerade in unglücklichen Zeiten nicht weniger als das: eine beglückende, andere Welt mit sich zu führen. Seit jeher ist mir das bloße Vorhandensein eines gern gelesenen oder betrachteten Buches ein Kraft- und Trostspender. Man könnte es auch als „Fluchtburg“ bezeichnen. Es tut gut, sich für eine Weile aus der Unbill des Daseins in eine andere Realität, die eines Buches zu flüchten. Und ich werde dabei immer darauf bestehen, dass es sich keine fiktive, erfundene, erdachte Welt im Buch handelt, sondern um eine andere.

2. Quelle: Das Buch als Bessermacher. Ein Buch wie dieses macht wohl auch deshalb so glücklich, weil wir uns einbilden, dadurch an einer besonderen Welt teilzuhaben, eine besondere geistige Tiefe zu erlangen, die uns vor uns selbst als ein besserer Mensch erscheinen lässt. Bei der Beschäftigung mit dem Buch ist das Bewusstsein nicht ganz bei der Sache, sondern es flüstert uns aus einem unbekannten Winkel heraus zu, bei welch tiefer intellektueller und ästhetischer Tätigkeit wir uns doch befinden, und es beglückwünscht uns zu diesem exklusiven „Weltwissen“, das anderen nicht zugänglich ist.

Ein Teil unserer Aufmerksamkeit schweift ab und wandert vom Buch zum Tisch, zur Lampe, zum Garten, in dem wir es uns gemütlich gemacht haben, oder zur Aussicht auf das Meer mit dem Sonneuntergang, der sich eben so besonders schön ereignet, weil wir uns mit dem Buch beschäftigen. Das Buch vermittelt mir die Idee davon, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich anders mit den Dingen umgehen und anders denken könnte. Jeder kann sich auf seine Weise in dem Buch entdecken.

3. Warnung. Ich finde es aber falsch, die Schaulust beim Lesen des Bildes und die Leselust beim Schauen der Texte in Konkurrenz oder gar in Feindschaft treten zu lassen. Sie sind einander Brüder und Schwestern, Freunde, Übersetzer, Fährleute und Reisebegleiter. Sie öffnen die inneren Augen und lassen eine Welt entstehen, deren Teil, ja sogar Schöpfer wir sind. Davon geht dieses geheime Glücksgefühl aus, dieses geheime Glücksgefühl macht, dass wir dieses Buch nicht mehr entbehren können und wollen. Das Glück des Malens und das Glück des Dichtens münden in das Glück des Schauen und des Lesens.

Was ich an diesem Buch so schätze? Es ist die Offenheit, die interdisziplinäre Offenheit als Programm. Der Maler Leander Kaiser ist über die Grenzen des künstlerischen Bewusstseins von seiner Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit hinaus gesprungen und hat die Dichterin Podzeit-Lütjen, eine keineswegs allen bekannte Schriftstellerin, an Bord seines Katalogs geholt – oder war es vielleicht umgekehrt? Sie hat ihn als erste angeregt, über seine Bilder lyrische Texte zu verfassen. Es kann aber auch eine gegenseitige Initiation gewesen sein, an der sie immer mehr Gefallen gefunden haben, daran sich nicht satt sehen- und hören konnten, und damit einen kongenialen Verleger überzeugen konnten. Einen Verlegers, der aus einer guten Tradition kommt , aber nun auch nur noch mit Ess-, Wellness- und Fussballbüchern einigermaßen über die Runden kommt. Darum auch ihm ein großes Lob, dass er dieses Buch verlegt hat, das ihm sicher keine finanziellen Reichtümer einbringen wird; aber dafür umso mehr Respekt der Geschichte und der Menschen, die schöne Bücher mögen, einfach mögen, Bücher, die gut tun in den Unbilden der Lebenslagen.

Halte es in der Hand, und dir geht es besser! Ein Wellness-Schlager der anderen Art. Das neue Programm des Verlags, aber mit diesem Buch auf höchstem Niveau.

Veronika Seyr

23.5.08

Incidente sul fare del giorno oder Zwischenfall im Morgengrauen

Meditation über ein Bild von Leander Kaiser

(Die Königin von Saba)

  1. Vorgeschichte:

Als ich das Bild zum ersten Mal im Jahr 2001 sah, wusste ich sofort, dass ich es haben musste. Es sprang mich an, es sprach zu mir, es krallte sich in meinen Augen fest, das war mein Bild! Es ist ein großes Bild und dem entsprechend hoch der Preis. Ich durfte es in zwei Tranchen bezahlen. Aber das war das geringste Problem. Ich wohnte damals schon 3 Jahre in Moskau und hatte keine Möglichkeit, es dorthin zu transportieren. Also bleib es vorläufig in Wien, bis ich nach etwa einem halben Jahr die Gelegenheit bekam, es mit der Übersiedlung eines Kollegen einer Spedition mitzugeben. Dann stand es sicher noch ein halbes Jahr im Keller meiner Firma, weil es für jedes mir verfügbare Auto zu groß war. Endlich fand ich einen Kleintransporter und zwei starke Männer, die den Transport in meine Wohnung für mich machen wollten. Die beiden Helfer hätten es mir auch gleich aufgehängt, ich aber hatte keine geeigneten Haken und keine Wasserwaage. So stand es, widerspenstig an die Wand gelehnt, ein paar Monate im Salon. Die Stelle war so ungünstig, dass ich es mehrmals verschob, es umdrehte und sogar in dem wenig benützen Gästezimmer versteckte, obwohl ich es gerne als mein Gegenüber gehabt hätte. Als das Bild bei mir am Kutusowskij Prospekt 7/9 ankam, hatte es eine längere und weitere Reise hinter sich, als die weiße Frau mit ihrer Sänfte. Ich meinte, sie seit Urzeiten zu kennen, und doch war sie gerade eingezogen. Gerne hätte ich sie angesehen und mich mit ihr eingelassen, aber ich spürte einen Widerstand. Kam es davon, dass das Bild seinen richtigen Platz zwischen Möbeln, Pflanzen, Lampen, Katzen, Hunden und Bildern noch nicht gefunden hatte? Warum bleibt ein Bild an einem falschen Platz ohne Wirkung? Warum wird es sogar zum Ärgernis? Bin ich ordinär oder speziell, mit einem feinen Geschmack oder geschmäcklerisch? Warum braucht jedes Bild sein eigenes Biotop? Ich nehme mir vor, einmal Leander zu fragen, ob er weiß, wie andere Liebhaber seine Bilder benutzen.

Er hat Anhänger, Fans, Sammler, aber sind die alle so wie ich Benutzer? Oder davon, dass ich mir seinen richtigen Titel einfach nicht merken konnte? Es wurde vom Künstler „Zwischenfall im Morgengrauen“ genannt, italienisch „Incidente sul fare del giorno“. Mir fiel aber dazu immer nur „Die Dämmerung“ ein. Mehrmals kam es deswegen bei Gesprächen mit Leander zu Missverständnissen über den möglichen Transport, als sprächen wir von verschiedenen Bildern. Ich sprach von der Dämmerung, er verstand nicht, Dämmerung? Dämmerung? Ich habe keine Dämmerung. Das ist das Bild mit der Frau vor der Sänfte. Ach, du meinst den „Zwischenfall im Morgengrauen“, wurde ich korrigiert. Ich stellte fest, ich hatte etwas anderes in mein Hirn übersetzt, als der Maler gemeint hatte. Ich war bei Bildern und Büchern immer schon extrem egoistisch und subjektivistisch, das störte mich nicht mehr, ich stand dazu: ich bin eine Konsumentin, eine Benützerin, eine Nutznießerin von Talenten, die etwas von mir und meinem Leben ausdrücken können. Ich habe keine verehrerische oder kunsthistorische oder sammlerische Haltung zur Kunst, sie ist für mich praktisch. Ein Lebensmittel, ein besonders, aber ansonsten Punkt um.

Erst als mir mein handwerklich begabte Katzen- und Hunde-Sitter Anatolij nach allen Regeln der Kunst das Bild am richtigen Platz aufhängte (mit Wasserwaage und den passenden Haken), kam ich dem Rätsel auf die Spur: ich hatte eine tiefe Abneigung gegen das Morgengrauen, viel mehr gegen das „Grauen“, das in ihm steckte.

Dieser Name war mir zu nahe an dem Kriegsgrauen, den stalinistischen Gräueln, dem Morgengrauen, wenn zwischen 3 und 4Uhr früh, wenn der Schlaf am verwundbarsten ist, die Gestapo oder die Tscheka oder der NCHWD seine Opfer abholen kommen, die Duelle und Abschiebungen wie die von Omafuma geschehen im Morgengrauen, der häufige Tod vor dem Morgengrauen, das Morgengrauen der Menschheit und der Vernunft, die verbotene Liebe, die Revolution vor dem Morgengrauen, die heimkehrende Nachtschicht oder die beginnende Morgenschicht, die Dämonen und das böse Erwachen im Morgengrauen. Das Blaulicht, die Razzia, die Steuerfahndung, das böse Erwachen aus den Albträumen, der müde Radio-Chat im Morgengrauen. Die Nachricht aus dem TV-Gerät: Saddam Hussein wurde im Morgengrauen gehängt. Nicht einmal der Tanz, das Spiel oder das Lesen bis zum Morgengrauen sind eindeutig positive Erlebnisse: das eine mit ungewissem Ausgang, das andere mit qualvollen Verlusten und das dritte eine Notlösung in einer schlaflosen Nacht- alle drei ohne Erlösung. Es war das Grauen überhaupt, das sich im Deutschen so tragisch mit der scheinbar harmlosen Farbe grau mischt. Wie schön, harmlos und unschuldig klingen dagegen das Italienische „sul fare des giorno“.

die griechische Eos oder die römische Aurora in unseren Erinnerungsohren. Die Engländer haben noch etwas viel Schöneres: Twilight, Midnight- Sun oder Milkman.

Die frische Milch und die Zeitung vor der Tür im Sunrise. Gar kein Grauen. Dawn ist wie Aurora ein Mädchenname, zugegeben etwas altmodisch, aber mit angenehmen Assoziationen versehen. Mit dem Schuss von der russischen Aurora soll sogar das „Morgenrot der Menschheit“, der proletarischen Revolution, ausgebrochen sein. Zumindest könnte es „Zwischenfall in der Dämmerung“ heißen, das wäre kein großer Unterschied, aber viel gnädiger.

Ich ging in meinem Salon um mit einem ungerechtfertigten Groll, obwohl das Bild nichts damit zu tun hatte. Ich gestand mir ein, dass das Bild unschuldig war, die Ungerechtigkeit lag in meinem Blick und in meiner Taubheit für das „Morgengrauen“. Warum hatte er denn nicht die milde Morgenröte oder die verhüllende Dämmerung gewählt? Ich haderte mit meiner neuen, fremden Freundin, ich verstand sie nicht unter dem Titel Morgengrauen. Da stellte ich das Bild wieder einmal für viele Tage gegen die Wand. Ich erschrecke: wie das klingt das, gegen die Wand stellen: in meinem derzeitigen Gastland sollte man nichts und niemanden mehr gegen die Wand stellen! Und noch etwas machte mich wütend: dieser perverse Anspruch von Bildern, immer da zu hängen, ich möchte doch auch nicht immer dieselbe Musik hören oder dasselbe Buch lesen!

  1. Rast

Eine Reisende macht Halt. Sie gebietet dem Chauffeur, an den Straßenrand zu fahren, damit sie aussteigen kann. Wir wissen es nicht: will sie die Landschaft betrachten oder will sie in die Büsche gehen? Will sie eine besonders schöne Aussicht fotografieren, einen Schluck Wasser nehmen aus einer Quelle, oder sich einfach nur die Füße vertreten nach einer langen, beengten Reise?

Ich weiß es nicht und sonst auch niemand. Sicher ist nur, dass sie aus der Sänfte ausgestiegen ist und um sich schaut, selbstbewusst, unabhängig ist ihr Blick, die Füße in kleinen weißen Schühchen hat sie fest in den Boden gestemmt und die Arme entschlossen vor der Brust verschränkt. Warum leuchtet der Boden unter ihr auf? Auf dem Weg ins Tal ist die Nacht noch nicht vorbei, die Laterne neben ihr brennt hell wie ein Gestirn. Fragen, nichts als Fragen. Jeder Gedanke dazu öffnet ein neues Rätsel. Warum ist ihre Kleidung perfekt weiß und faltenlos, ihr Tunika-artiges Obergewand und ihre weite Hose fallen locker um sie. Sie müssten doch nach der langen Reise in der engen Sänfte zerknittert sein. Bei jeder Frau, in jedem Gefährt. Aber bei dieser Reisenden ist alles anders. Denn sie ist keine gewöhnliche Reisende, keine gewöhnliche Frau. Woran das zu erkennen ist, das sind der Blick und die Haltung. Sie sieht mich gerade heraus an, fast herrisch, sicher aber selbstbewusst. Sie sieht mich an wie nur ein Mensch ohne Nöte und Sorgen blicken kann. Mit Sternenaugen durchdringt sie die Dämmerung. Dabei sieht sie etwas, was ich nicht sehen kann, und sie weiß etwas, was ich nicht weiß, sie sieht in die Zukunft und kennt die Vergangenheit. Vielleicht ist sie doch Eos, die Tochter des Hyperion und der Theia, die Schwester des Helios und der Selene, Gemahlin des Titanen Asträos, dem sie die vier Winde und den Morgenstern gebar. Eos, wie sie die Dichter schildern, eine herrliche, schöngelockte, rosenarmige, rosenfingrige Göttin, das Abbild der belebenden Morgenröte. In aller Frühe erhebt sie sich aus dem Lager des Okeanos und schirrt, mit safranfarbigem Mantel umhüllt, ihre Rosse Lampos = Glanz und Phaeton = Schimmer an den goldenen Wagen. Glanz und Schimmer – wie schön wäre doch dieser Name und wie passend! Die aufgehende Sonne wirft die ersten roten Flecken auf die Felsen und färbt den Himmel rosig, in dem das Grau noch nicht ganz gelöscht ist. Wie

Palimpzeste oder wieder entdeckte Fresken in den Badehäusern von Herculanäum.

3. Rätsel

Die Königin von Saba macht Halt auf dem Weg nach Jerusalem – oder ist sie schon am Rückweg? Sie hat die Wagenladungen mit Gold und Edelsteinen bei König Salomo abgeladen und ihm das Wertvollste, den Samen des Weihrauchbaumes, geschenkt. Sie hat seinem Werben widerstanden und den Heimweg angetreten. Bei Josephus Flavius ist sie die Göttin des Südens, die aus Erzählungen von Salomos Weisheit erfahren hat und zu ihm reist. In der 27. Sure des Korans wird sie selbst zur Königin der Weisheit, und die kanaanäische Tradition macht sie zur Liebesgöttin. Am Runden Tisch von Evas meistgeliebten Töchtern feiert sie die Heilige Hochzeit, die Verbindung der Engel und Dämonen, von altem und neuem Testament, von Bibel und Koran, von Vergangenheit und Gegenwart. Die Mythen sind nicht tot, nur versunken und vergessen, aber hebbar wie alte Schätze. Welche Geschichte erzählen die beiden nackten, schattenhaften Gestalten hinter der Königin? Eine Frau und ein Mann stehen vor der Sänfte und sind dabei, das Paradies zu verlassen, ohne dass wir den Racheengel zu sehen bekommen. Obwohl die Rast noch nicht zu Ende ist, halten die vier blutroten Träger die Tragestangen der Sänfte weiter auf ihren Schultern. Alles ist fraglich und in Schwebe. Welche Erzählung ist die wahre? Das größte Rätsel gibt aber der wehende Vorhang an der Sänfte auf: woher kommt dieser Luftstoß, wenn sonst rund herum alles in absoluter Unbeweglichkeit verharrt? Die Träger haben mit einem so heftigen Ruck die Sänfte hoch gehoben, dass der Vorhang ins Schwingen gerät: sie reisen ab ohne sie, sie bleibt in der Einöde zurück, weil sie nach dem gerade Erlebten nicht mehr zurückkehren kann in ihr Saba und sonst auch nirgends wohin. Sie ist nun eine Ausgestoßene. Das ist das Wissen, das sie uns schlafwandlerisch voraus hat. Es war weder vorausgedacht noch geplant, nur eine plötzliche, unumstößliche Wahrheit: sie musste in dieser Ausgesetztheit und Einsamkeit bleiben, sie würde sich nie wieder mit jemandem über ihre Lage im entferntesten verständigen können. Und genau das verleiht ihr klare Umsicht und Festigkeit des Standpunkts. Sie befindet sich mit diesen Vorkommnissen in einer neuen innerlichen Lage und ist also gleichsam ganz in diese Reise eingeschlossen, die mit dem Abschied von Salomo von hinten herandrückte; jetzt verschwang sie wie ein Vorhang, durch den man getreten war und dessen beruhigte Falten nun wieder senkrecht und reglos hingen.

Veronika Seyr

Moskau 2004

Vor 20 Jahren: Ronald und Nancy Reagan im „Reich des Bösen“

Am 28. Mai 1988 kam am Moskauer Kutusowskij Prospekt der Verkehr zum Erliegen. Auf dem breiten Mittelstreifen der 8-spurigen Stadtautobahn raste ein langer Konvoi von schwarzen amerikanischen Limousinen in atemberaubendem Tempo stadtauswärts nach Südwesten, eingerahmt von Blaulichteskorten, voran und hintennach nummernlose Zils und Taschaikas des KGB. Die Miliz zwang alle anderen Verkehrsteilnehmer zum Anhalten, sie stiegen aus ihren Moskwitschs, Schigulis und Wolgas, aus den Taxis, Bussen und Trolleybussen und reihten sich winkend ein ins dichte Spalier der Schaulustigen. Die First Ladies, Nancy Reagan und Raissa Gorbatschowa, waren unterwegs in das Dichterdorf Peredelkino, wo Boris Pasternak auf seiner Familiendatscha gelebt und den „Doktor Schiwago“ verfasst hatte. Unter Diplomaten heißt so etwas leicht abfällig „Damenprogramm“.

In den letzten Maitagen vor 20 Jahren ereignete sich eine geheime Revolution, wie die ersten kleinen, kaum wahrnehmbaren Erschütterungen tief im Inneren eines Vulkans, die genauen Beobachtern einen Ausbruch ankündigen. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan kam ins „Reich des Bösen“, wie er die Sowjetunion noch ein Jahr zuvor genannt hatte, und traf mit dem Zentralsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow zusammen. Der erste öffentliche Auftritt war ein Triumphzug für Reagan. In den Straßen um die Manege, die zum Roten Platz und in den Kreml führt, hat sich das Moskauer Volk versammelt, aber nicht nur die wie früher immer bei Staatsbesuchen abgeordneten fähnchenwachelnden Schulklassen und Fabriksbelegschaften, sondern Freiwillige, Neugierige, begeisterte Bürger. Reagan hat dem sowjetischen Protokoll mit seinen spontanen Aktionen sicher einen Kurzzeit-Albtraum bereitet, aber Gorbatschow lässt ihn gewähren. Der amerikanische Präsident steigt aus der Limousine und geht locker und breit lächelnd auf die Stars-and –Stripes-Fähnchen schwingenden Menschen zu, er wirkt von Minute zu Minute mehr von sich selbst überzeugt, die lachenden und klatschenden Menschenmassen scheinen ihn zu beflügeln. Solch ungetrübten Jubel kennt er nicht einmal von zu Hause. Im dichten Gedränge streichelt und küsst er die ihm zugereichten Babys, schüttelt die entgegengestreckten Hände, überwindet die Barrieren der beiderseitigen Geheimdienste, dringt, gezogen von der Sympathiewelle, ungerührt der Abschirmungsversuche, tief ins Spalier ein, winkt und applaudiert zurück in die Menge, die ihn mit „Ronny-Ronny“ –Sprechchören umfängt. Alles Gesten der Universalsprache der Massenhysterie. Wo hatten die Russen das gelernt? Doch nicht bei Besuchen eines Schivkov, eines Honecker oder eines Fidel Castro. Ein Präsident zum Anfassen. In den Schulen schreiben die Kinder später Aufsätze: „Der erste Amerikaner meines Lebens.“ Die Herzen fliegen ihm zu, zusammen mit roten Nelken, Tulpen- und Fliedersträußen, rote Luftballons stiegen in den blauen Moskauer Himmel, ganz Moskau ist verliebt in den obersten Imperialistenchef, den amerikanischen Präsidenten. Reagan wirkt absolut natürlich, als hätte er das immer schon so gemacht, als wär`s ein Heimspiel. Ein politisches Naturtalent, dieser Hollywood-Schauspieler auf dem Präsidentenstuhl. In Russland kommt er an. Welcher verrückte Regisseur hat das hier inszeniert? Aber es passierte ganz einfach, die Zeit war reif dafür. Gorbatschow und Raissa halten sich immer dicht an seiner Seite, steif und säuerlich lächelnd, keiner der Zurufe gilt ihnen. Man kann Mitleid haben mit den beiden, als wohlmeinenden Verkannten. Das war der erste, kollektiv-individuelle Ausbruch von Gefühlen, Sympathien und spontanen Meinungsäußerungen der Sowjetbürger, lange bevor ganz Deutschland von Gorbi-Gorbi-Rufen widerhallte. Wer von den Russen damals dabei war, erinnert sich daran als historischen Moment. Erschütterungen im Inneren eines Vulkans, die ersten feinen Haarrisse an der Oberfläche.

In Peredelkino bricht Nancy Reagan auf ihre Art das Eis. Beim Rundgang durch die Dichter-Datscha gesteht sie, dass sie Pasternak verehrt, aber in Omar Sharif verliebt ist, den Dr. Schiwago fünfmal gesehen hat, weil sie sich an seinen Augen nicht satt sehen kann: „He is so sweet, with his dark, soft eyes, I could feel the russian soul“, wird sie nicht müde, der Philosophie-Professorin Raissa Gorbatschowa und den Mitgliedern des Damenprogramms zu versichern. Was Nancy Reagan wahrscheinlich nicht wusste, war, dass die Russen den verfemten Roman erst seit gut einem Jahr in Händen halten können, dass sie ihn viel weniger schätzen als die Gedichte und dass sie die Verfilmung für ein übles Hollywood-Machwerk ansehen würden, wenn sie sie im Jahr 2 von Glasnost und Perestroika überhaupt schon gekannt hätten. Aber welch weiter Weg war seit 1958 zurückgelegt worden, als Pasternak den Nobelpreis nicht annehmen durfte, dafür aber mit einer der primitivsten und bösartigsten Hetzkampagnen überschüttet wurde. „Volksfeind“,“Verräter“, „Agent des Imperialismus“. Im Dezember 1989 wird sein Sohn Jewgenij Borisowitsch stellvertretend nach Stockholm reisen und nachträglich den Nobelpreis für Literatur 1958 in Empfang nehmen.

An der Wand des Pasternak`schen Esszimmers ist ein Foto zu sehen, das den Dichter im Kreise seiner Familie und der engsten Freunde zeigt, in jenem glücklichsten Moment, als er die Nachricht von der Zuerkennung des Nobelpreises erhält. „Der Preis ist nicht für mich, sondern für mein Land“, wird als sein Kommentar überliefert. Pasternak hat danach nicht mehr lange zu leben, sein Lungenkrebs ist weit fortgeschritten, er verweigert jede Behandlung und begibt sich bewusst in seine Todeskrankheit hinein. Er stirbt auf dem schmalen Diwan in seinem Arbeitszimmer, mit dem Blick durch das Fenster auf seinen geliebten Obstgarten hinaus.

Es war auf den Tag genau 28 Jahre später, dass Nancy Reagan Pasternaks Sterbezimmer stand. Ein Bad in der Menge und ein Besuch beim Dichter – auch das kann große Politik sein.