Dienstag, 19. Juli 2016

Sieben Meere

Meditationen über Karl Lubomirskis Gedichtband, Wien, Löcker 2015, 155 S.
Von Veronika Seyr


Zuerst ist da eine Zweierbeziehung, eine zwischen Karl Lubomirski und der Welt, ihren Dingen, Menschen, Orten, Zuständen.
Er schaut, beobachtet und lauscht. Er betrachtet die Dinge, und sie schauen auf ihn zurück. Er spricht die Dinge an, und sie sprechen zurück. Er horcht in sie hinein. Daher verraten sie ihm etwas, haben Botschaften, weil da jemand ist, der ihnen zuhört. Sehr genau, mit feinstem Ohr, tiefster Spurensuche dreht er sie um sie und sich herum, entläßt sie, fängt sie wieder ein, läßt sie ins Gegenteil kippen und macht sie so zu Instrumenten, um aus Dingen Leben zu machen. Er klopft die Worte ab, er klopft an die Worte wie an Geheimtüren und dringt in sie vor wie ein in sein Metier verliebter Höhlenforscher. Ein Leben wie ein Kaleidoskop auf einem Karussell, nach dem Regen unter dem Regenbogen im Sonnenuntergang, aus den Gruften in die Morgensonne. Alle Worte sind frisch und tragen doch Moosbärte. Die Sinnesorgane noch völlig verklebt vom eigenen Untergang, jubilieren wir wie die Schwalben über dem Dom von Krakau, den Gräbern der Via Appia und den sardinischen Eichenwäldern. Der Reichtum der Erde und ihrer Freuden kennt keine Grenzen. Hallo Leute, wacht auf, läutet er aus eingewanderten Kirchtürmen in Sardienen, oder er spendet Trost mit dem Haiku: HERBST/dich liebe ich/Frühling des Winters.
Jahreszeiten atmen, Bäume reichen dir die Hände, Steine sind nicht tot, sie verflüssigen sich unter den lebendigen Flechten, Türme sind eingefallen wie Wanderfalken und fliegen wieder weg, im Feuer zwei Körper, sie verbrennen nicht.
Lubomirski macht eine große, einfache Liebesumarmung um die Welt, die mich, alle und alles einschließt. Ich fühle mich genannt und einbezogen in den Kosmos seiner Poesie.
Wirklicheres ist mir kaum zugestoßen.

Die Dinge sprechen, weil ihr Betrachter sie liebt, bedingungslos, sie so sein läßt, wie sie sind, weil es für Liebe ja nie Bedingungen geben kann. Indem er sie in Liebe betrachtet und ihnen das Innerste ablauscht, kommen sie als Worte auf die Welt, werden sie zu Welt und Wirklichkeit. Jedes Gedicht eine Geburt.
Ein betörender Gedanke, dass Lubomirskis Schreiben eine Form des Liebens ist. Wenn Liebe auf Worte trifft, ist das Poesie. Liebende haben immer eine besondere Hörfähigkeit.

Er schreibt in der Gewissheit, dass die Zugänglichkeit der Dinge die Zulänglichkeit der Worte sichert. Aufschreiben heisst immer Mitteilen, Lesbarmachen, Bedeutung geben. Bei Lubomirski noch intensiver: Beseelen, die anima einhauchen.
Ich erinnere mich dabei an zwei spätmittelalterliche Darstellungen von Marias Empfängnis: die eine, in der eine Taube an ihr Ohr heranfliegt und sie auf diese Weise mit dem zukünftigen Erlöser befruchtet; in einer anderen, späteren, die ich besonders liebe, flattert die Taube vor Marias Mund, nicht ohne dass der Maler gestrichelte Linien zwischen dem knienden Engel, der Taube und Marias Mund zu zieht - ein überdeutliches Comic, fast eine Sprechblase, aha, da kommt alles her! Empfangen durch Ohr oder Mund? Dazwischen liegt, meine ich, der feine Bruch zwischen Alt- und Neuzeit. Das Ohr, das immer offene, empfangsbereite, aber passive Organ, der Mund, der aktive, der sich schließen oder öffnen läßt. Das Ohr hört, der Mund kann etwas sagen.
Und dann ein Gedicht.

Dazu kommt jetzt die Dreierbeziehung. Was machen diese Gedichte mit mir, mit ihren in Zeichen, in Buchstaben gedruckten Worten? Die in ihren vom Dichter genau gesetzten Formen weitere Bedeutungsebenen erschließen, je nachdem, wie man sie liest, vorallem, wenn man sie immer und immer wieder liest. Sie vervielfachen sich, aber nicht in Wiederholungen, auch nicht in Serien oder in Variationen wie in einer Fuge, sondern am ehesten wie vielstufige Kaskaden eines Wasserfalles, über dem Regenbögen aufsteigen und in vielfältige Farben zerspringen.
Ich kann nichts interpretieren, sondern nur feststellen, dass die Bilder, die sich auftun, etwas anstellen, etwas bewirken, etwas tief in einem ergreifen und zum Klingen bringen. Lubomirskis Gedichte haben einen Hallraum, der den eigenen, vielleicht verschütteten, aufschließen wie einen vergessenen Goldaderstollen, eine Diamantenmine. Diese Gedichte tun einem gut, wie eine über den Kopf streichelnde Hand oder eine zärtlich ins Ohr geflüsterte Tröstung. Liebevolle Erschütterungen.

Man kann sagen: Wir kennen uns nicht persönlich, aber auf der Via Appia oder in Sardinien war ich auch schon. An vielen anderen Orten seiner Gedichte auch, aber an den meisten noch nie. Ob in den kaiserlichen Gärten von Kyoto oder in den Steppen Tibets, er macht einen zu Hause dort. Irgendein Gegenüber muss ihm vor Augen gestanden sein, ein Du, oft aber Selbstansprache, und im Wir und Ihr sollen, kann jeder gemeint sein, der die Einladung annimmt. Verdammt hinter all den längst schon besiedelten und beseelten ästhetischen Kulturorten, die schon lange vor uns bessiedelt waren. Diese Tiefe der Zeit, das Vorleben der Dinge, die Prähistorie der Beziehungen bis hin zum betroffenen Leser des heutigen Tages – das zieht einen in eine Karl Lubomirski eigene Ewigigkeit und Raum der Unendlichkeit. Was ist ein Magier? Ein Überwinder von Raum und Zeit, an dessen Tätigkeit ich teilnehmen darf.

Wenn man zu den Formen kommt, zu den angeblich klassischen und deren Definitionen,
stehe ich bei Lubomirski vollkommen an. Aber ich bin ja keine philologische Leserin, sondern habe mit jeder Lektüre ein Privatissmum mit Poesie. Soviel verstehe ich: Er beugt sich keiner einzigen Form oder besser, er beugt sie alle, sogar das minimalistische Haiku bricht er noch einmal herunter.

Soviel zu Gestalt und Inhalt. Es lohnt sich, einen Blick auf die gängigste Denkfigur zu werfen, für die L. eine besondere Vorliebe hat. (Gewagt, denn ich weiss nicht, ob man das „Technik“ nennen darf und ob er sie bewußt anwendet). Sie besteht in der Technik, dem Leser in einer einer scheinbar hoffnungslosen Situation doch noch dadurch eine positive Aussicht zu eröffnen, dass ihm durch einen plötzlichen Gedankensprung oder eine abrupte Volte die Möglichkeit geboten wird, die Situation aus einer anderen Perspektive zu überschauen oder sogar zu seinen Gunsten zu wenden.
GEDICHTE/ Die Eisblumen/der Erwartung. DER HIMMEL/wird dich töten/. Der Himmel,/ aber er stellt keine Fallen.
L. denkt aber auch in die umgekehrte Richtung. SCHULAUSFLUG/Beneide sie nicht,/ diese Jungen und Mädchen,/die die Gruben nicht kennen/und nicht die Löwen,/und nicht/die Schrift/an der Wand.
Für ihn gilt Novalis` ästhetischer Merksatz: Beim Kunstwerk soll das Chaos durch den Flor der Ordnung durchschimmern.

In dem Buchtitel gebenden Gedicht „Sieben Meere“ heisst es: Keine Zeit mehr/für Weiß, Schwarz, Sichel/Hammer/Grün und Rot, Streifen, Sterne/Kreuze, Moscheen, Tempel/keine Zeit mehr/…/Hinter der Zukunft/Sieben Meere der Hoffnung.
Wie düster auch immer die Welt aussehen mag, an ihrem Ende und am Ende des Verstandes steht immer eine Hoffnung, wenn man offen und bereit genug ist, diese wahrzunehmen. Dazu ruft er auf. Das ist die Botschaft, sollte es eine geben. Das ist die Verführungskunst des Dichters. So lasse ich mich gerne verführen.

Lubomirski ist ein Nomade zwischen Himmel und Erde, ein Nomade zwischen Zeiten, Menschen und Ländern. Sein lebenslanges Reisen findet seinen Niederschlag in Gedichten über seine Wahlheimat Italien, im Näheren Milano, aber sie führen einen in einem ganzen Zyklus nach Sardinien, nach Norwegen, China, Tibet, Japan, Krakau, Cernowitz, auf die Malediven und immer wieder nach Griechenland. Es tönt die Luft/vom Blühen der Linden;/aber/in der Tiefe des Baumes/schläft ein Boot/über den Styx.

Obwohl oder gerade weil L. fast sein ganzes Leben mit und in der Sprache verbracht hat – es ist sein 14. Gedichtsband – weiß er um ihre Grenzen und die Gefahren des Sprachgebrauchs. L. glaubt nicht an große Welterklärungen, sondern steht immer voller Staunen vor Rätseln, die oft eine schöne Gestalt haben, aber nicht zu lösen sind. DEZEMBERTAG/Ich weiß nicht,/was mir die Sonne/erzählen wollte./ Aber ich ahne,/ dass es etwas sehr/Schönes war.
Oft nimmt L. einen scheinbar kleinen Gegenstand ins Auge – eine Blume, einen Baum, Stein, Vogelflug, Ort, Traum und läßt daraus einen ganzen Kosmos entstehen.
ALB/Mir träumte/ich war eine Maus/Und du/eine lautlos Eule,/und als ich erwachte,/ staken im Herzen/geschliffene Krallen.
GEDICHTE/Die Eisblumen/ der Erwartung.
KEIN VULKAN/speit/ fremde Lava.
EWIG LEBEN?/Wem?
Man erlebt die die Wucht der Schlichtheit, das kleinstmögliche Chaos gebändigt in Form eines blitzenden Apercus.

Welche Welten und philosophische Gedankenräume können aus nur fünf, drei Worten sich auftun, wenn sie so aufgestellt sind, wie Karl Lubomirski es tut.
Ich stehe in Staunen und Dankbarkeit vor Wundern und muss immer wieder innehalten: Er kennt mich. Er meint mich. Er hat mich durchschaut, erkannt und will mir nichts Böses. Von wem läßt sich si etwas schon sagen. Er hat mich in unserer gemeinsamen, wie lange vergessenen Ursprache angesprochen. Von der Lyra eines Orpheus im Lorberhain angeschlagen, die Klangschale im Wind.

Lubomirski lesen heißt, eine Reise machen durch die Herzen der Menschen. Von diesem liebenden Dichter lasse ich mir freiwillig und freudig ins Herz greifen.



Veronika Seyr
Pfingsten 2016

Open House mit Kafka am 3. Juni 2016 in Kierling

Der Himmelbauerplatz unterhalb der Kierlinger Kirche ist eine Asphaltfläche mit sechs Parkplätzen für Anrainer, weitere vier sind dem Ärztezentrum vorbehalten. Zur Kierlinger Hauptstrasse hin, gegenüber der Volksschule, blühen gerade die Linden und setzen sich trotz ihrer Jugend mit ihrem Duft gegen die Autoabgase durch. An der Ostseite steht das Denkmal für den am 3. Juni 1924 im Sanatorium Hoffmann verstorbenen Schriftsteller Franz Kafka, gelegen zehn Hausnummern weiter stadtauswärts. Der grobe Steinblock sieht aus, als wäre ein Meteorit vom Himmel gefallen und hätte sich hier in den Asphalt eingerammt. Aus einer Einbuchtung an der Vorderseite ragt eine schwarz-metallene Büste heraus, es soll wohl Kafka sein. An der rechten Seite ist eine rotgesprenkelte Marmortafel mit vier groben Metallschrauben befestigt, und mit gold- gerahmten Lettern sind die Lebensdaten des Schriftstellers eingraviert: Dr. Franz Kafka, *1883 in Prag, +1924 in Kierling.

Zumindest seit Picasso verlangt niemand eine anatomische Ähnlichkeit, aber die Sehnsucht nach einem Schimmer von einer geistigen Nähe, Anhänglichkeit, sogar Liebe bleibt angesichts dieses Denkmals ungestillt. Es ist in seiner ganzen massiven Erscheinung abweisend und so aufgestellt, das man es unbedingt über- oder darüber hinwegsehen muss. Das tun die an- und abfahrenden Autofahrer auch. Von Rosen- und anderen im Juni blühenden Büschen eingerahmt, so wie sie überall auf jedem öffentlichen Platz und in Einfamilienhäusergärten wachsen.
Ich sitze auf einer Bank des Verschönerungsvereins Klbg. neben dem Klotz. Alles ist sehr nett und adrett, offensichtlich gepflegt, ich kann nicht feststellen, ob für den Parkplatz, das Ärztezentrum oder das Kafka-Denkmal; kein Müll, keine Papierln, keine Kippen, und alle Parker gliedern sich brav in die weißen Parkstreifen ein, die Radfahrer in einen raiffeisengelben Ständer. Es ein ewiges Geheimnis der Gemeinderatssitzung wird bleiben, warum man dem deutsch schreibenden, jüdischen Schriftsteller aus Prag, den ansehnlichen Platz vor der Jugendstilkirche, nur fünf Stufen aufwärts, nicht zugestanden hat.
Die letzten Spazeirgänge durch das Maibachtal, die letzten Blicke von seinem Balkon in die Hügel, die letzten Gerüche von Straße und Pfingstrosen.
Im Ort gibt es neben dem Sterbehaus noch einen Kafka-Steg und eine Kafkagasse.

Absicht, ja und nein, gedenken wollen und doch nicht oder nicht zu sehr, frage ich mich, als ich auf der Bank neben dem Denkmal sitze, an meinem Sandwich nage und aus meiner Thermoskanne lauwarmen Kaffee trinke. Es ist der 3. Juni 2016, ich mache Pause von meinem Raumdienst im Sterbesanatorium an seinem 92. Todestag. Ich bin die dienstjüngste der vier ehrenamtlichen Kafka-Witwen.
Über den Asphaltplatz schaue ich auf die Baustelle der Firma Bosnj. Dom (bosnisches Haus), die gerade einen Wohnkomplex hochzieht, an der Ecke, wo seit 1788 der Gasthof "Zum grünen Baum" stand, bis er vor einem Jahr abgerissen wurde. Die Arbeiter machen den Dachstuhl fertig und geben ein kakophonisches Konzert aus Hämmern und Elektrobohrern ab. Eine barbarische, aber sicherlich vernünftige Entscheidung der Gemeinde Klosterneuburg-Kierling, die sicher Wohnraumbedarf im Grünen hat. Der Gasthof war schon lange leergestanden. Die Hintergründe kenne ich nicht, aber für mich ist es eine Demolierung von kulturellem Erbgut. Ich erinnere mich gut an dieses Gasthaus, nicht nur das älteste weit und breit mit einem schattigen Garten aus alten Kastanien und Linden, ein hinterbrühliger Ort, an dem man sich Schubert in Gesellschaft seiner Freunde gut vorstellen konnte. Die ganze sich vier Kilometer lange im öden Autoverkehr windende Hauptstraße entlang gibt es kein einziges Einkehrlokal mehr. Das erinnert mich daran, dass diese Gemeinde schon früher auch die Überreste der Synagoge abgerissen und stattdessen eine Gedenktafel angebracht hat.
Ob diese verkehrsumbrauste Ecke ein attraktiver Wohnort sein würde, fragte ich mich zwischen dem Jausenbrot und den immer noch befremdeten Blicken auf den Kafka-Klotz neben mir, meines Wissens das einzige Monument in Österreich.
Gedankenloser ist nur noch der Wackelstein beim Sanatorium von Matliary in der Hohen Tatra.

Man muss Milde walten lassen und darüber nachdenken, warum bis auf diese zwei Denkmäler - schwankend zwischen Hilflosigkeit und Verhöhnung - keine Kafka-Skulpturen bekannt sind. Wie viele gibt es denn von Shakespeare, Mozart, Goethe, Schiller, Puschkin, Heine, Hugo, Rodin oder Chaplin, alle diese Victorias, Friedriche und Franz Josephe. Und viele andere. Vielleicht kommt das daher, dass bisher niemand Kafka mit einer Skulptur gerecht werden konnte, es gewagt hat, seine schmale, mit 182 Zentimertern hochgewachsene Körperlichkeit in den Raum zu stellen. Vielleicht haben sich viele bekannte und unbekannte Künstler schon an Kafka abgemüht, wer weiss, mit welchen Materialien: Stein, Metall, Holz, Gips, Gold, Silber, Porzellan, Glas, Alabaster, Perlmutt, Elfenbein, Bernstein, Sandelholz, Plastik, Papier, Pappe, Titan oder Tüll. Und alles wieder verworfen, in Scham und Demut alle Versuche zerstört und tief eingegraben haben. Einer, der das nicht getan hat, ist Jaroslav Roda, er hat einen Bronze-Koloss von 3,75 Metern Höhe und 700 Kilogramm Gewicht in Prag aufgestellt. Auf den Schultern eines riesigen leeren Mantels reitet ein Zwerg, der wahrscheinlich Kafka darstellen soll – er ist angeblich der „Beschreibung eines Kampfes“ nachempfunden. Ich persönlich vermisse Kafka-Monumente nicht, mir genügen seine Worte. Vielleicht liegt es auch daran, dass die relativ neue Kunst der Fotografie Kafka am ehesten entspricht. Es existieren viele dokumentierte Fotografien von Kafka, die meisten aus dem Familien- und Freundeskreis. Bis auf die erzwungenen Kinderbilder, allein oder mit den Schwestern, zeigt er keine Scheu vor der Kamera. Immer schaut er mild-freundlich in die Kamera, er läßt sich mit dem Apparat ein, fast kokettiert er mit ihr und bleibt doch leicht entfernt von der Szene. Man sieht einen überschlanken, gutaussehenden, ausgewählt elegant gekleideten Mann, leicht nach vorne geneigt, mit mild angedeutetem Lächeln, im scharf geschnittenen Gesicht auffallend große Augen, der Kopf oft gekrönt mit einem hohen, breitkrempigen Hut. Auch sein ausgeprägter Hinterkopf und schlanker Hals könnten einen Bildhauer entzücken. Soweit bekannt, ist Kafka nie anderen als Fotokünstlern Modell gestanden.
Die Gedenkstätte im Sterbehaus auf der Kierlinger Hauptstraße 187 – ein Stiegenhaus, zwei Zimmer und ein Balkon- kommt einer adäquaten Würdigung am nähesten. Nachdem sie seit 1982 in düsteren, grindigen Räumen mit einigen Schaukästen dahingedämmert hatte, nahm sich die Kafka-Gesellschaft einer umfassenden Umgestaltung an mit dem Architekten Michael Balgary und der Vizepräsidentin Charlotte Spitzer als von Kafka beseelter Designerin.
Seit der Wiedereröffnung vor zwei Jahren sprechen diese zwei Räume eine vorsichtige, ehrerbietige, weil nichts und niemanden vereinnahmende Einladung aus, sich dem Menschen Franz Kafka, seinem Werk und seinen letzten sechs Lebenswochen zu nähern. Voll und minimalistisch gleichzeitig, als sollten die letzten Atemzüge nicht gestört werden. Fotos, Gegenstände und Dokumente an Wänden und in Vitrinen, die Lebensdaten affichiert, eine nachgebaute Ecke mit einem damals üblichen Spitalsbett, gebrochenes Licht, weisse Laken mit Zitaten, Bücherborde, zeitgemäße Aufnahmen von Kierling und seiner Umgebung, so wie sie Kafka damals gesehen haben könnte. Etwa den Blick von seinem Sonnenbalkon in den Garten des Sanatoriums und auf den gegenüberliegenden Wienerwaldhang. Man kann ihn betreten und sich einlassen auf die inneren Bilder von den letzten Blicken, man kann seinen Augen nach links zur Kierlinger Kirche folgen, von der jetzt durch nachgewachsene Bäume und Neubauten nur noch das Turmkreuz wahrzunehmen ist; der Bergrücken im Blick geradeaus ist jetzt viel dichter bewachsen als vor 92 Jahren. Er reicht hinunter bis ins Maibachtal, ein großer Name für einen schmalen Weg entlang einem nicht einmal einem Meter breiten Bacherl, das aus Maria Gugging kommt. Biegt man am großen, neueröffneten Hofer-Markt links zum Maibach ein, kommt man an der Rückseite des Gartens an einer versteckten Pforte vorbei, auf der man, wenn man einen Tip bekommen hat, noch ein verwittertes und verwachsenes Schild „Sanatorium Hoffmann“ erkennen kann. Da könnte Kafka, gerahmt und gestützt von Dora Diamant und Robert Klopstock, durchgetreten sein auf ihrem Spaziergang zum „Grünen Baum“.
Wenn ich auf diesem Balkon stehe und zum Maibach hinunterschaue, mag ich die Vorstellung, dass Kafka einmal, vielleicht mehrmals, sicher nicht später als Ende April, Anfang Mai 1924, weil er danach schon zu schwach war, durch den Garten, durch die Pforte, durch das Maibachtal zum „Grünen Baum“ und zur Post spaziert ist, Briefe und Karten aufgegeben hat an die Eltern, die Geschwister, an Onkel Siegfried, an Max Brod, Manuskripte an den Verlag.

Das dreistöckige Haus Nummer 187 auf der Kierlinger Hauptstraße ist ein unscheinbarer, spätklassizistischer Bau, der an der Westseite seltsam abgerissen wirkt, wie ein verstümmelter Stockzahn. Immer wenn ich mich von der Station des 239A an der Lenaugasse dem ehemaligen Sanatorium nähere, bedauere ich, dass ich nicht über die Inbrunst einer Gläubigen verfüge, die sich einem Heiligtum nähert. Aber sobald ich das Haustor aufsperre, hinter dem eigenartigerweise links immer ein Besen steht, als würde ein Odradek auf mich warten, spüre ich ein hauchfeines Momentum. In einem kindlichen Orakelspiel bemühe ich mich, nicht auf die im Fussboden des Vorhauses eingelassenen Mosaiksteine mit der Jahreszahl 1906 zu treten, damit ich die unsichtbaren Fußstapfen nicht zer-störe. So wie wir als Kinder manche Ritzen zwischen den Steinen ausgelassen haben, damit etwas Bestimmtes eintritt oder ausbleibt. Da ist Kafka darübergegangen. Es gibt auf der ganzen Welt sonst keinen Ort, von dem man das mit Sicherheit sagen kann. Wenn man sich in diesem nüchternen Haus in frühere Zeiten hineinschwelgen möchte, muss man das innerlich tun, mit Hilfe der Vorstellungskraft.
Und dann wieder Kafka lesen.
Am 3. Juni 2016 stehen in prächtigster Rosafülle Pfingstrosenstöcke im Vor- und Hintergarten des ehemaligen Sanatoriums. Eine seiner letzten Sorgen hat er auf einem Sprechzettel festgehalten. Sie gilt der richtigen Behandlung des Pfingstrosenstrausses in seinem Zimmer. (Wer hat sie ihm gebracht? Woher stammen sie? Aus dem Sanatoriumsgarten, wo solche immer noch wachsen und blühen. ) Wie auch immer: Er hat sie wahrgenommen und genossen. In einer flachen Schale, damit die Stengel nicht am Boden anstehen, so halten sie lange, ewig.
Charlotte Spitzer schneidet die mitgebrachten Pfingstrosen, ihre sind voll und weiss mit gelben Blütenständen, genau nach dieser Anweisung zurecht, verteilt sie in Glasvasen an mehreren Stellen, zündet neben der Fischer-Gesamtausgabe eine dicke Kerze an und zieht sich zur Sterbestunde zum Meditieren auf den Balkon zurück. Im Blick die letzten Blicke.


Veronika Seyr
Wien, 4./5. Juni 16

Kafka tanzen

Der Kopf mißt anders als die Füße.“

Über Charlotte Spitzers Kafka-Rezitationen und Zigas Tanz



Kafkas Prag, Kafkas Wien, Kafkas Berlin, Kafka und das Judentum, Kafka und die Frauen, Kafka und die Psychoanalyse, die Musik, die Kunst, das Recht, Kafka und sein literarischen Blutsbrüder Dostojewski, Flaubert, Kleist und Grillparzer, Kafka liest, Kafka reist, Essen mit Kafka, Kafka am Strand, Kafka macht Urlaub – man versucht Kafka in Untersuchungen und Beobachtungen von möglichst vielen Teilaskpekten nahezukommen und ihn, den Ungreifbaren, „in den Griff“ zu bekommen. Verfilmungen, Vetonungen und Theater-Bearbeitungen, kaum ein Winkel der Welt und von Kafkas Seele, der noch nicht beleuchtet worden wäre. Am 26. August 1911 notiert Kafka in seinem Tagebuch: „Im Kino gesesen. Geweint.“ Für Hanns Zischler der Aufhänger für ein ganzes Buch „Kafka geht ins Kino“, eines der erhellendsten über Kafka überhaupt. Aber für mich unerhört war, was ich im Programm für den 3. Juni 2015, Kafkas 71. Todestag, im Sterbehaus Kierling las: „Kafka tanzt. Rezitation und Tanz von Charlotte Spitzer und Ziga Jereb.

Ich gebe zu, dass ich anfangs skeptisch war und innerlich stöhnte:
Oh Gott, nicht schon schon wieder eine von der unseligen Kafka-Verballhornungen, sicher ein Übergriff, dachte ich hochmütig und abschätzig. Kafka lesen, Kafka hören, über Kafka sitzen und brüten. Im Deutsch-Unterricht meines Altnazi-Lehrers kam Kafka nicht vor, aber im Elternhaus war er vorhanden und gegenwärtig. Im Germanistik-Studium schrieb ich die zweite Proseminararbeit unter dem jungen Assistenten Wendelin-Schmidt-Dengler über „In der Strafkolonie“, 1968 lag die Parallele zu den KZs und Gulags greifbar in der Luft. Das reine Kafka-Lesen war etwas, was ich betrieb wie einen Geheimkult, gleich nach der Rilke-Besessenheit der frühen Jugendjahre. Ich lese seit Schul- und Studententagen Kafka, erfreue mich immer wieder von Neuem an seinen Texten oder plagte mich um Verständnis, unterschiedlich je nach meinem Alter und meinem Geisteszustand. Viele Jahre habe ich als Deutschlehrerin in einem Wiener Gymnasium meine Schüler mit Kafka „traktiert“ und oft von den Jugendlichen interessante Auslegungen bei Aufsätzen und Maturaarbeiten zu lesen bekommen. Dabei bin ich zur Ansicht gelangt, dass Kafka ein idealer Ansprechpartner und Projektionsfäche für Heranwachsende ist, weil er ihnen alle Möglichkeiten gibt, die sie zu ihrer Enfaltung brauchen, ohne sie festzulegen. Warum nicht auch: Kafka geht zum Friseur, Kafka ißt, schwimmt, wandert, reitet, spielt Tennis, hustet, niest, fährt Motorrad, der Gärtner Kafka.

Zurück zum Open House am 3. Juni 2015 im neugestalteten Kafka-Gedenkraum im Sanatorium Hoffmann. Charlotte Spitzer, in der Einladung ausgewiesen als Vizepräsidentin der Österreichischen Kafka-Gesellschaft, trug einige kurze Texte auswendig vor, allein vor dem Publikum sitzend, ohne Kostümierung, ohne irgendwelche Umrahmungen oder Zutaten anderer Künste.
Der unprätenziöse, genaue Vortrag der Texte, bei dem ich mich fragte, ob sie eine professionelle Schauspielerin sei und wo genau sie herkam, schlug die ersten Breschen in die chinesische Mauer meines Kafka-Purismus. Es müsste dort eigentlich gerumpelt und gedröhnt haben vor so vielen einstürzenden Mauern. Unter diesem Eindruck merkte ich, dass ich zum erstenmal von meiner konservatorischen Einstellung abrücken musste, dass man mit Kafka nicht herumfummeln sollte, sondern immer nur lesen und wieder lesen. Wie jemand die Bibel oder sein Brevier. Ich errinnere mich, dass ich auf der harten Bank nach hinten an die Wand sank und gerade noch sehen konnte, dass vieler der Besucher die Augen geschlossen hatten. Sie gaben sich offensichtlich an den Klang der Worte hin genauso wie ich und schwelgten in den viel gelesenen Texten und auswendig gewußten Worten. Aber irgendetwas zwang mich, ich musste wieder aufschauen, wollte wissen, was
diesen neuen Kafka-Ton ausmachte. Neuer Kafka-Ton? Kafka , das waren Buchstaben, immer in Büchern, aus den Eindruck ausmachte. Das war mein Kafka, ich erkannte ihn in jedem Wort. Aber es war noch mehr, es kam etwas dazu. Aber was war dieses Mehr?
Zuerst kann ich nur einen Rezeptionsvorgang beobachten.
Die Worte dringen tiefer ein als beim einfachen Lesen. Sie greifen tiefer in das Herz hinein und wühlen darin mit blutigen Fingern herum. Ich spüre das und muss mir das eingestehen, wenn auch noch mit Widerstand. Aber der schmolz und schmolz und irgendetwas breitete sich aus auf dem Boden unter den Füßen, ich stand unten knöcheltief im Schmelzwasser der Eisberge, oben stürzten immer noch die Steine dröhnend aus der Mauer. Ich wünschte mir ein Pfingstwunder, alle haben die Flammen über dem Kopf und verstehen das gleiche. Aufgehen in einer Flamme.
Charlotte verschwindet kurz hinter der Zwischenwand und kommt wieder mit einem Mann, einem jungen Tänzer, zurück, sie rezitiert weiter, scheinbar unbeindruckt, als sei er nicht da. Er umwindet sie wie Efeu ein Gemäuer, stumm, in unhörbaren Schritten. Jetzt starrte ich nur noch mit offenem Mund auf die Kafka-Worte, die sich im Raum zu materialisieren schienen wie in die Luft oder an die Mauern geschriebenen Menetekel. Charlotte und Ziga machten aus ihrer Präsentation eine 3-D-Animation in meinem Kopf. Ich suche nach den Worten, um den Vorgang zu beschreiben, komme aber nicht weiter als bis zu einer oberflächlichen Feststellung, dass etwas mit mir passiert, dass etwas geschieht, dass sich hier etwas Dramatisches abspielt.

Das Erklingen und Erlebnis des Textes im Raum vergegenständlicht sich in den Bewegungen der Rezitatorin und des Tänzers. „Der Kopf mißt anders als die Füße“, schreibt Kafka an Minze Eisner. Indem die Rezitatorin die Worte in den Raum entläßt, ihn also in Schallwellen, ihn in Physik umsetzt, und der Tänzer mit seinen raumgreifenden Bewegungen die Worte, die Sätze, den Text in Skulpturen umsetzt, werden sie sichtbar und erfahrbar.
Sie entwickeln und erweitern aneinander ihr Bewegungsvokabular. Wenn das stille Lesen sozusagen eindimensional ist, wird Rezitation und Tanz mehrdimensional. Sie fügen also dem Text ein Mehr hinzu, indem sie im Raum ein Koordinatensystem aufbauen.

Charlotte nimmt das Wort beim Wort und bringt es zur Besinnung. „Die Sprache spricht“, sagt Martin Heidegger. Sie lotet einen altneuen Sinn der Wörter aus. So nah kann man einer Sprache nur kommen, wenn sie sich – auswendig gelernt und im Gedächtnis abgelegt - in der Ferne befindet. Ihr gelingt, was Ingeborg Bachmann formulierte: „Einen einzelnen Satz haltbar zu machen, auszuhalten in dem Bimbam von Worten.“ Sie legt aus dem Bergwerk der deutschen Sprache Zusammenhänge frei, die einem Leser vielleicht nicht (mehr) bewußt sind. Die Distanz schärft den Blick für das Verborgene, das sich ansonsten der Wahrnehmung entzieht. Kafkas Worte begleiten dann die Hörer wie Vorsätze und Merksätze durch das Leben. Eine unerschöpfliche Quelle des Mit- und Nachdenkens. Spät erst entdeckte Kafka in sich eine verborgene Verwandtschaft mit den alten Talmudisten. Diese sahen in der Bibel ein Buch voller verschlüsselter Bedeutungen, denen nachzuspüren der Zweck unseres Erdenwandels ist. Kafka selbst: „Man liest, um Fragen zu stellen“. Charlottes Rezitationen als Talmudistenübungen? Hat sie Kafka „gebibelt“?

Zu den als „kafkaesk“ beschriebenen Phänomenen gehört sicher die ständige Auflösung von Nähe und Ferne, etwas oder jemand scheint nahe, driftet aber im nächsten Augenblick davon und verkehrt sich in sein traumartiges Gegenteil. Ein Detail gerät in den Blick, verhindert den Überblick und entschwindet gleich wieder. Als Beispiel dafür möchte ich die Szene im Atelier des Malers Titorelli im „Prozess“ anführen. Titorelli ist nicht einfach ein Bildermaler, sondern gehört ebenso zum „Gericht“, wie die zudringlichen Mädchen in dem Wohnhaus, das gleichzeitig auch Teil des labyrinthischen Gerichts ist, seine Rückseite oder ein Nebenflügel mit einem Gewirr von Treppen und Korridoren, in denen überall die frechen Mädchen lauern oder unvermittelt auftauchen und wieder verschwinden. Auch sind die Gegenstände nicht das, was sie vorzugeben scheinen. Eine Tür, zum Beispiel, die Schutz bieten soll, wird selbst schutzbedürftig. Obwohl der Eisenofen nicht geheizt ist, verbreitet er eine Hitze und Schwüle im Zimmer. Raumbegrenzungen wie Wände, Türen und Fenster sind durchlässig und verstärken die Ohnmachtserfahrungen des Angeklagten. Alles scheint offen zu sein, und doch gibt es kein Entkommen aus dem Alptraum des Nicht-von-der-Stelle-Kommens.
Beide bauen mit Text und Tanz an der Raumskulptur und entwickeln einen Erlebnisraum, in dem der Sprecher, sei es nun K., der Kübelreiter oder der Hungerkünstler mehr über die innere Verfassung der Figuren aussagen können. Das efeuartige, verschlungene An-nähern und Ent-fernen zeigt die Symbiose, die Kongruenz der beiden Bewegungen. Das Annähern ist ja doch nur das Verschwindenmachen der Entfernung. Sie richten sich nach einander aus
Der nimmermüder Versuch von K., sich aus der Ferne dem Schloss zu nähern. Der Versuch, sich dem angeblich nahen Schloss zu nähern, scheitert. Es bleibt nur der ent-fernte Blick auf das Erhoffte und Verwüschschte. Ein Vis-a-Vis von unverschränkbaren Welten. In ihren Auftritten fühlt man sich in Augenblicken, als seien sie vereinbar, keine Wahrheit, nur Trost.

Veronika Seyr
11.7. 16

Mein See – Sommersymphonien am Mondsee

Ein Ort des Trubels und der Stille, der Mythen und Legenden, persönlicher und kollektiver Erinnerungen


Den Vater meiner Mutter habe ich nie kennengelernt und weiss auch bis heute nur wenig über ihn. Er ist acht Jahre vor meiner Geburt gestorben. Die Tochter, auf die Namen Sieglinde Mathilde Hermine getauft, hat nie viel von ihrer Familie preisgegeben. Keinen ihrer Namen mochte sie und fand auch für keinen einen passenden Kosenamen. Unsere Vorschläge wie Siegi, Matti oder Hella lehnte sie ab. Papa nannte sie Mama. Einige wenige Gegenstände aus dem Besitz ihrer Vorfahren sind auf uns gekommen. Alle bewunderte ich: den gravierten Handspiegel aus Silber mit Kamm und Bürste, eine Rosenthaldose für Schmuck, eine Amethystkette, die ich als Sechsjährige beim Prinzessinnenspiel verloren habe - alle schienen mir von außerordentlicher Schönheit und mit Geheimnissen umgeben zu sein. Sogar von Mamas Stiefmutter, die sie als Fünfjährige bekommen hat, habe ich spät und nur aus zweiter Hand erfahren. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals nach ihrer Kindheit gefragt zu haben. Aus ihrer Salzburger Schulzeit hat sie Erinnerungen an die Trapp-Familie, mit deren einer Tochter die das Gymnasium besucht hatte. Vielleicht sind wir auch deswegen sieben Kinder geworden? Gesichtert ist: Großvater Karl Bruche war Ingenieur und Lehrer an einer technischen Schule in Salzburg und Wien. Die Vorfahren stammen aus Norddeutschland und aus der Zips in der Slowakei. In den Sommerferien bereiste er als Hobbymaler die Adria-Küsten. Einige Malbücher und einzelne Blätter sind erhalten geblieben und ruhen im Familienfundus. Als Kind habe ich gerne darin so gerne geblättert wie in Velazquez- oder Dürerbänden. Später schenkte mir meine Mutter ein Aquarell ihres Vaters, das eine Küste darstellt, wahrscheinlich in Istrien. Gerahmt von Pinien, treffen Meer und Himmel in einer Linie zusammen, an der linken Seite eingeschnitten von einem Felsenstrand. Wenn ich von meinem Schreibtisch aufschaue, zurückgelehnt wie an einen Pinienstamm, kann ich das warme Harz riechen und und die liebestollen Zikaden unter dem beständigen Meeresrauschen hören.
Ein Sehnsuchtsbild. Das Land der Griechen mit der Seele suchen. Beide Eltern waren Altphilologen und Germanisten. Was kann schon anderes dabei herauskommen? Dieses Bild hat wahrscheinlich, obwohl keine große Kunst, die Grundlage für meine Überzeugung gelegt, dass Kunstwerke in erster Linie Nutz- und Gebrauchsgegenstände sind. Lebensmittel, Überlebensmittel. Ich habe ihm vor Jahren einen schlichten Holzrahmen verpaßt, er könnte von einem Baum von dort sein.
Um dem ungekannten Großvater näherzukommen, habe ich mir immer gern vorgestellt, dass dies sein Lieblingsplatz war, dieser Blick aufs Meer unter den Bäumen, vom letzten Erdstreifen hinaus ins Unendliche. Wie er auf seinem einbeinigen Malerstockerl sitzt, ganz allein vor Sonnenaufgang im Nebel, wie in der Stille der Mittagshitze das Meer glitzert und sich im Sonnenuntergang gold-purpurn färbt. Die Farbe von reifem Weizen, hatte Homer festgestellt. Später auf meinen vielen Istrienreisen, habe ich einmal in einem Moment des Schauens gemeint, bei Bale, nördlich von Pula, genau diese Stelle gefunden zu haben. Julia hat dort ein Bild gemalt und dabei unwissentlich denselben Winkel gewählt. Vererbung des Blicks, gibt es so etwas?
Immer lebendig und präsent war der Salzburger Großvater aber mit seinem Vermächtnis, dem Sommerhaus am Mondsee. Welche Weitsicht hat er bewiesen, als er zu Beginn der 20-er Jahre ein Seegrundstück kaufte und darauf ein Holzhäuschen im Stil der Mondseer Bootshütten errichten ließ. Im Rücken die Drachenwand und der dreigipfelige Schober, vorne eine ein Meter hohe Steinmauer gegen den See hin, leicht rechts die stumpfe, gutmütige Nase des Schafbergs, gegenüber die sanften Wellen des Mondseer Hochmoors, später auch das Ungetüm der Autobahnraststation. Wieder ist er da, dieser Blick vom Ufer auf das Wasser, auf die Berge und in die Wolken. Morgenrot – Gutwetterbot, Abendrot bringt Regn und Kot – oder ging`s umgekehrt? Hat der Berg an Huat, wird das Wetter guat, hat der Berg an Sabl, wird das Wetter miserabel. Diese Bauernregel bewahrheitete sich immer, wie Papa leicht trimphierend feststellte, als hätte er etwas dazu getan. Er war der von Mama etwas respektlos genannte „Wolkenzutzler“, weil er ununterbrochen nach Westen, hinter unserer Hütte, in den Wetterwinkel Richtung Salzburg, schaute oder auf der Bank an der Hauswand sitzend, den Schafberg studierte, weil der angeblich alles verriet, was für die Wetterprognose wichtig war. Soviel ist sicher, dass wir uns nie an den im Abendrot rauschgolden angemalten und von Zuckerlrosa überhauchten Kalkwänden im Morgenrot sattsehen konnten.
Von diesem kleinen Uferfleck aus ließ wahrscheinlich schon der Großvater seine Blicke vom Almkogel über Scharfling bis zu den Felsstürzen und Geröllhalden auf der Brust des Schafbergs schweifen und runter, wo hinter dem Bergzwickel von Unterach der Attersee lag. Es ist leicht auszudenken, dass der Bruche-Großvater auch hier gemalt und gezeichnet hat, obwohl davon keine Spuren auf die nächste Generation gekommen sind. Oder vielleicht doch? Das Zeichentalent meiner Brüder und das meiner Tochter – stammt es von ihm? Der große Unbekannte hat uns viele schöne Sommer an diesem See geschenkt. Er hat für sich und uns mehr als eine Sommerfrische begründet, sondern nach der Geburtsheimat Mühlviertel uns in eine mindestens ebenbürtige zweite Heimat eingepflanzt, uns im Salzkammergut eingewurzelt, bis heute, in der vierten Generation nach ihm.
Die Seligkeit ist nicht zu überbieten, wenn man unter dem Glucksen, Gurgeln und zärtlichem Schmatzen des Sees gegen die Steinmauer aufwachte und sofort wußte – Ostwind- das Versprechen auf einen schönen Badetag. Über die Innenseiten des Daches zittern Kringel, die Wellen spiegeln sich in tanzenden Lichtflecken. Noch bevor man aufstand, meldeten sich die Schwaneneltern Hänsel und Gretel und ihre Jungen mit einem leisen Fiepsen, die Enten mit ihrem Geschnatter und verlangten ihr Frühstück. Wir pflückten Löwenzahn und Gras von der Wiese und bröckelten altes Brot in den See. Dass Schwäne schön aussehen, aber böse sind, erfuhren wir, als einmal der Hansl meinen Vater unter scharfem Zischen in den großen Zeh biss, so fest, dass der Nagel blau anlief und er lang nicht in die Schuhe kam.
Sogar die heftigsten Gewitter habe ich in guter Erinnerung, auch wenn Donner und Regengüsse tobten, die Blitze mit hohen Fontänen in den See einschlugen und der Sturm das Wasser aufpeitschte. Dann verwandelte sich das stille, sanfte Gewässer in Meeresungeheuer, vor denen sogar Odysseus Respekt gehabt hätte. Wir wußten uns aber in Sicherheit, weil es ja rundherum viele höhere Gebäude gab oder Bäume, dass die Blitze unsere kleine Hütte mit Sicherheit nicht treffen würden. Wir zählten immer von 21 aufwärts die Sekunden zwischen Blitz und Donner, soviele Kilometer war das Gewitter noch entfernt. Schaurig-schön war es, als einmal auf dem gegenüberliegenden Ufer ein Blitz in ein Bauerngehöft einschlug und wir stundenlang dem Niederbrennen zusahen. Unser privates Feuerwerk. Wie alle Kinder waren wir ein wenig grausam, dem Spektakel mehr zugeneigt als dem Mitleid. Wie wir unter dem Donnergrollen das Tatü-Tata der Feuerwehren hörten und im Licht der Blitze und des Feuers die Männlein mit Leitern und Schläuchen hinundher wieseln sahen, das Vieh, das aus den Ställen getrieben wurde und die Menschen händeringend durcheinander liefen. Aber was wollte man gegen das Schicksal machen, wenn man Brandlgschwandtner hieß? Seither weiss ich, dass es die Angst-Lust wirklich gibt.

Wir können uns alle noch an die Zeit erinnern, als die Schafbergbahn über dem langgezogenen Rücken ihre Rauchwölkchen ausstieß, zweimal in der Stunde.
Den Schafberg haben wir oft bestiegen, von jeder Seite, jeden Steig kannten wir, auf und ab, nur nicht die Schafbergbahn, die kannten wir nur aus der Ferne und kannten sie nicht, sahen immer nur ihre Rauchwölkchen über dem Schafsrücken aufsteigen oder flach liegen, je nach Luftdruck. In der Senke, knapp bevor es zum Hals aufstieg, hielt es still – das war die Mittelstation. Eine Fahrt mit diesem Wunderding der Technik konnte sich eine Familie mit sieben Kindern leisten. Nie. Auch in das Schafberg-Hotel waren wir nie eingekehrt. Diese steinerne Trutzburg mit den rot-weiss-roten Fensterläden blieb für uns verschlossen, wir bogen darum herum zum Adlerhorst und schauten dafür in die steilen Gräben des Nebengipfels hinunter auf die kühn segelnden Bergdohlen, die im Auftriebswind stehenden Bussarde und bei Glück auf Gämsen in Felsgraten und Latschen.
Als ich nach meinem Amerika-Jahr meine Gastfamilie durch Österreich, auch durch das Salzkammergut führte, lud sie mich zu einer Fahrt mit der Schafbergzahnradbahn und in das Hotel ein. Ich war nicht weniger gerührt als meine New Yorker Gäste, wenn auch aus anderen Gründen. Eine späte Enttäuchschung, als ich feststellte, dass die dieselgetriebene Zahnradbahn die Rauchfahnen schon lange künstlich herstellte.

In der Realzeit sind die Sinneseindrücke nicht getrennt, sondern eine Symphonie aller Sinne von Sehen, Hören, Schmecken, Tasten und Riechen. Am Mondsee wurde dazu noch der Gleichzeitigkeitssinn geschärft, die Verdichtung des Lebens. Alles war farbiger, klarer, schmackhafter, geruchsintensiver und mit Wundern gesättigt. Mit acht Jahren war ich mit der Mondsee-Initiation dran; das wurde erst möglich, nachdem die drei älteren Geschwister für erwachsen genug eingestuft wurden, im Sommer allein ihrer Wege zu ziehen. Da erst durften wir Jüngeren nachrücken, weil ja nie genug Platz für alle in der Hütte war. Wir hatten damals noch kein Auto, fuhren also umständlich von Tulln mit Bahn und Autobus nach Bad Schallerbach zu Onkel Karl, der in Bachmaning eine Gemischtwarenhandlung betrieb und einen kleinen militär-grauen Renault hatte. So einen, bei dem die Türen in der Mitte zu einander aufgehen und die Winker mit einem lauten Klicken auf den Seiten herausschnellen wie kleine Streckenwärter. Der brachte uns, ich weiss nicht wie, zusammengepreßt, zu fünft nach Plomberg am Mondsee, mit allem Gepäck. Papa fuhr mit dem Rad nach. Everything goes. Die eigentliche Sensation, an die ich mich erinnere, ist eine Flasche Schartner Bombe, die in dieser Gegend hergestellt wurde, gespendet von dem unermesslich reich scheinenden Onkel Karl und von der Tante Hermi ein Seidenzuckerl geschenkt bekamen. Die Kirschen von Bachmaning, ich weiss nicht mehr, ob bei Onkel Karl oder in einem Nachbargarten, sie sind bis jetzt noch immer die besten auf der Welt. Die Spannung in der Hand beim Griff in den Glasbehälter mit dem schrägen Hals, ich kann sie jetzt noch spüren. Die Seidenzuckerl der Tante Hermi. Das Göttergetränk in der dunkelgrünen, rundlichen Flasche mit einer gelben Zitron drauf, spritzig explodierte es im Gaumen und kitzelte auf der Zunge, bald schon war es warm und schlabbrig wie Kinder-Lulu. Es roch im Zustand der Zersetzung nach Kaugummi, wenn wir so etwas schon gekannt hätten. Aber in diesem Geschmack aus Scharten winkte die große, neue Welt!

Bei uns geriet fast jede Situation zum Wettbewerb. Wer sah in dem Bergzwickel hinter Regau als erstes den Attersee und rief als erster: „Ah, der See!“ Wer sah nach dem Hochmoor als erstes die Spitze des Schafbergs, das erste Segelboot am Mondsee? Wenn wir an einer Burg vorbeikamen, nie vergaß Mama das „Riesenspielzeug“ von Chamisso zu anzustimmen, in das wir wie trainierte Papageien im Chor einfielen: “Burg Nideck ist im Elsaß der Sage wohl bekannt/Die Höhe, wo vor Zeiten, die Burg der Riesen stand… /
Bis zu den letzten Zeilen schmetterten wir durch den VW-Käfer: „Sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer./Und fragst du nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.“ Gerade da tauchten die Ruinen von Burg Wartenfels auf halbem Weg zum Schobergipfel auf, und die heisse und beengte Autofahrt hatte ihr Ende. Ob die bildungsbürgerlichen Eltern uns damit die größere Realität von Dichtung praktisch vorführen wollten oder selbst nur ihren Spaß hatten? Wer kann das heute noch wissen. Auf jeden Fall trainierte Mama bis ins hohe Alter mit dem Gedicht- und Balladenschatz ihr ausgezeichnetes Gedächtnis. Sie hatte ein eigenes Wikipaedia im Kopf. Ein riesiger Silberschöpfer, einziges Überbleibsel eines Bestecks, hieß bei uns immer der „Suppenlöffel von der Burg Nideck“.

Am Mondsee erkannte ich, dass das Salzkammergut ganz anders roch als meine Donau-Mühlviertler-Umgebung. Das frisch gemähte Gras hinter unserer Hütte bis zum Hanslbauer, das Heu, der klare, nicht modrig-algige Geruch des Wassers, wie ich es von der Donau kannte, hier viel frischer, weil aufgemischt vom durchsichtigen Seewasser, vom zitronigen Schilf und angereichert mit den Wald- und Beerengerüchen.
Die ganze Schönheit des Lebens konnte einem in einem Sommersonntag aufgehen: Draussen in der Seemitte flattern weiße Segel im Wind, Reihe um Reihe ist aufgezogen. Wir haben Glück und sitzen in der ersten Reihe, denn unserem Ufer gegenüber liegen die Wendebojen der Mondseer Segelregatta. Postkarten- und Landschaftsmalermotive mit glitzernden, türkisblauen Wellen und Schäfchenwölkchen darüber. Das Licht funkelt und flimmert, als habe ein freigiebiger Zauberer Edelsteine ins Wasser geschüttet. Nachdem wir alle schwimmen gelernt hatten, durften wir das Holzboot des Tischler-Ebner-Nachbarn ausleihen, nach links bis zur Mündung der Fuschler Ache ins Schilf fahren oder nach rechts bis zum Hotel Plomberg. Später bekamen wir ein eigenes Ruderboot aus Plastik, das man leicht auf den Steg ziehen konnte. Franzi war der geborene Fischer und verbrachte viel Zeit im Boot, wobei er nicht einmal den Regen scheute, weil da angeblich die Fische noch besser anbissen. Mehr als einen ungenießbaren Weissfisch oder eine lebensmüde Aalrutte brachte er meiner Erinnerung aber nie nach Hause. Das Fischen ist das Ziel, nicht der Fisch, lautete einer von Papas Sprüchen. Ähnlich wie beim Wandern. Mir persönlich imponierte am meisten, dass der ganze See in Privatbesitz war und einer Frau gehörte (laut Wikipaedia heute 16 Millionen € wert). Die Gänge in das Allmeiersche Schloss in Mondsee, wo man die Fischarten lösen musste, hatten immer etwas von der Andacht einer Wallfahrt.

Wenn ich in die Tiefe der Erinnerungs-Bilder schaue, gefällt mir aber ein anderes noch besser. Wenn man vor Sonnenaufgang aufstand, und ich tat das, weil ich immer nur kurz schlief, konnte man den Fischer in seiner flachen, langgezogenen Zille hinausfahren sehen- hieß sie nicht Plätte? - eine einsame, aufrechtstehende Gestalt, im Morgennebel Netze auswerfend. Ein Bild wie von einer tausendjährigen Steinabreibung vom südchinesischen Meer hat sich eingeprägt. Wenn wir beim Frühstück saßen, bei Milch und Eiern vom Hanslbauer, Yoghurt und Käse aus der Mondseer Molkerei und Brot aus der Teufelsmühle, selbst eingekochte Him- oder Heidelbeermarmelade darauf schmierten, dann fuhr er die Saiblinge und Reinanken, Forellen und Hechte ein, die er aus den augelegten Netzen und Reusen einsammelte.
Ich kann nicht entscheiden, zu welcher Zeit der See am besten roch. In aller Früh, wenn Fische, Algen und Schilf zusammen ihre Gerüche an Land schickten oder in der prallen Sonne, wenn das Heu dufteten, die imprägnierten Holzbalken der Hütte in der Hitze siedeten oder nach dem Regen, wenn die Luft getränkt war mit Erd- und Waldgerüchen.
Obwohl wir oft genug Anlass hatten, über das Salzkammergutwetter, den Schnürlregen, zu jammern, der uns an den Badefreuden hinderte, habe ich auch die Regentage in schöner Erinnerung. Wenn die Tropfen anscheinend endlos an den Fensterscheiben herunterrannen und draußen die putzigen Duckanterl (Duckenten) und Haubentaucher ihr Köpfchen- unter- Wasser-Spiel aufführten, wir die Sekunden zählten und die Meter schätzten, wie lange sie unter Wasser bleiben konnten und wo sie wieder auftauchen würden. In der Geborgenheit des Dachgiebels, auf den staubigen Strohsäcken liegend, ein Buch auf den Knien, hörten wir dem vielstimmigen Trommeln und Prasseln des Regens zu. Wir hatten immer viele Bücher dabei und lasen um die Wette, spielten viele Gesellschaftspiele, Quartette oder Stadt-Land. Das Hüttenbuch lag immer bereit. Alles wurde aufgeschrieben, dieses Buchführen war vor allem Mamas Leidenschaft. Aber wie bei allem, hatten unsere Eltern auch für die Ferien ein Programm, niemand durfte einfach nur so in den Tag hineinleben. Oft wurden wir unter Murren, ausgerechnet bei schönstem Wetter, vom See in die Berge zum Wandern gestampert. In den ersten Jahren noch mit der Bad-Ischlerbahn, später mit dem Postautobus, in den letzten Jahren mit Papas VW-Käfer, klapperten wir Orte und Berge im ganzen Salzkammergut ab. Wir bevölkerten die Almen, Bergseen, Hütten, Schluchten und Latschenhänge, Adlerhorste und Gipfelkreuze mit ihren Gipfelbüchern und Stempeln. Ich glaube, wenn wir anderen Wanderern begegneten, fragten die sich, ob wir ein Kinderheimausflug waren. Wir hatten genagelte Goiserer an den Füßen, die mit knarrendem Eigensinn Blasen produzierten, Hubertuswetterflecke, die bei Regen schwer wurden als Ziegeldecken, nach Schaf rochen und auch in Tagen nicht trockneten; der Familienrucksack mit den Aluminiumproviantdosen ging zum Tragen reihum. In der am Gürtel baumelnden Feldflasche war nie Kracherl oder Sirupsaft, sondern immer nur reinstes Quellwasser. Auf mancher Almhütte waren wir dem Genusshimmel nahe, wenn wir einen Becher Buttermilch bekamen.
Wenn andere Kinder nach den Ferien von ihren Sommerfrischen am Atter-, Traun-, Hallstätter-, Altausseer oder Wolfgangsee schwärmten, mit ihren viel größeren Flächen, größeren Schiffen, berühmteren Orten, Hotels, Villen und namhaften Gästen, hielten wir dagegen, dass der bescheidene Mondsee das bessere Wasser habe und mehr Fische. Manche verstiegen sich sogar dazu, den Mondsee abschätzig als „Tor zum Salzkammergut“ zu bezeichnen. Was, wir sollten nur Türlsteher sein? Wie waren die Perle! Einmal geriet ich mit einer Freundin in Streit, deren Familie eine Villa a la Habsburg in Steinbach bewohnte, weil sie behauptete, nur die Salzburger und Steirer Gebiete gehörten zum Salzkammergut, nicht aber das ordinäre Oberösterreich. In gekränktem Lokalstolz hielt ich heftig dagegen: Unser Seewasser ist dafür in Sonnenperioden viel wärmer und weicher. Bis zu 28 Grad, eine Kinderbadewanne, in der man sich stundenlang suhlen kann, ohne blaue Zitterlippen zu bekommen und ohne die Eiseskälte wie in Hallstatt oder Gmunden mit dem unheimlichen, fast schwarzen Wasser oder gefährlichen Strömungen wie im tiefen Grund des Attersees. Ja, vor allem das weiche Wasser priesen wir, in dem man keine Seife zum Waschen brauchte und keine Geschirrspülmittel. Wir bewiesen immer wieder seine Trinkwasserqualität, indem wir bei unseren Luftmatratzenschlachten literweise Seewasser schluckten. Wenn wir vom Steg oder Boot ins türkise, kristallklare Wasser schauten, konnten wir metertief auch noch die kleinsten Spennadler erkennen und den weißen Kies am Grund. Während der Blaualgenpest verwandelte sich das türkise Kristallwasser in eine blaue Brühe, unappetitlich anzusehen, aber für die Schwimmer harmlos. Und von gutem Wasser verstehen alle Teile der Familie etwas. Waren doch die Männer der väterlichen Hälfte Bierbrauer und Wirte, die mütterlichen mütterlicherseit Weinbauern bei Baden. Aber es gibt auch wissenschaftliche Beweise für das gute Wasser des Mondsees. Es wird schon kein Zufall oder persönliche Vorliebe von Biologen gewesen sein, dass die Fischzuchtanstalt der Hochschule für Bodenkultur vor vielen Jahrzehnten in unserem Nachbardorf Scharfling eingerichtet wurde. Noch früher hinterlegte Kaiser Maximilian beim Fürsterzbischof seinen Wunsch, lieber in Mondsee begraben zu werden als in Innsbruck, was ihm aber verwehrt wurde.
Abgesehen von messbarer Wasser- und Luftqualität erschien mir alles um den Mondsee sauber, echt, unschuldig und unverdorben. Vielleicht weil noch eingehüllt in das „Jenseits von Gut und Böse“? (Religion: gut ist gleich schön) Vielleicht weil dort die Wurzeln der Eltern zusammenkamen? (Blut&Boden) Vielleicht weil es eine Urlandschaft war, der Prototyp einer Landschaft, in der die Menschen alles fanden, was sie zum Leben brauchten? (Blaueblumenromantik). Eine Mischung von allem, von allem etwas, was sich zu einem heilen Ganzen fügte. Weil diese Gegend in den überschaubaren Jahrhunderten keinen größeren Schicksalsschlägen ausgesetzt und daher von positiver Energie besetzt war? (Äsotherik) Weil sein Name auf die rührende Volkssage vom bayrischen Herzog Odilo zurückging? (Historismus). Mama wußte natürlich, weil sie alles wußte, dass der Name nicht vom Mond herkam, sondern dem alten Adelsgeschlecht der Mann.
Es gab sicher nicht so viele spektakuläre Berge, Gebäude und Menschen wie woanders, alles war lieblich und sanft bis zur Unscheinbarkeit. Zugegeben, unsere Schiffe „Mondsee“, „Helene“ und „Wartenfels“ waren viel bescheidener als die der anderen Seen. Aber wir hatten oft das bessere Wetter, weil der Mondsee nicht von so hohen Bergen umgeben war, an denen die Salzkammergut-Regenwolken leicht hängen blieben. Und schwere Gewitter, die oft Muren und Bergstürze brachten. Wir waren auch besser gefeit gegen die badehungrigen deutschen Touristenhorden, die die anderen Seen regelmäßig überfielen, sodaß kein Parkplatz und kein Bett freiblieb, man sich vor zudringlichen Blicken kaum retten konnte, die Grundbesitzer die Buchenhecken übermannshoch wachsen ließen, überall Tafeln mit „Privat – Zutritt verboten“ aufstellten, Ketten spannen oder Felsbrocken in die Einfahrt rollen mußten, die Preise in die Höhe schnellten und auf den Speisekarten so unselige Wörter wie Quark- und Blaubeeerkuchen, Brötchen, Frikadellen, Eisbein und Klöße auftauchten, auf den Badeplätzen es nur so von Schippen und Eimern schepperte, von Heinz- Jürgens und Annegrets und, nöö, kuckmal! dröhnte. Und wer hat – Hallstatt ausgenommen- etwas Ähnliches aufzuweisen wie die Mondseekultur mit Pfahlbauten und Einbäumen aus der Jungsteinzeit? Trotz all der illustren Orte konnte sich keiner mit so einem rätselhaften Namen wie „Schwarzindien“ schmücken. Das brachte einen doch gleich zu Kolumbus und Darwin. In der Kirche von St. Lorenz, mit den uralten Linden vor der barocken Pracht der zwiebeligen Doppeltürme, betete der dienstuende ugandische Priester für gutes Wetter. Weil er einen direkten Draht nach oben und zu den afrikanischen Wettermachern hatte, waren seine Gebete von größerer Wirkung als die Bayerische Wetterumschau.
Das Wort kannten wir wahrscheinlich noch nicht, aber wir fanden unseren See viel romantischer als die großen Nachbarn- wahrscheinlich sagten wir gemütlicher- weil viel mehr „unser eigener“ als die berühmten Touristenattraktionen. Meine altphilologische Mutter wird sicher so etwas wie „Locus amoenus“ von sich gegeben haben, nicht ohne auf die besondere Geschlechtssituation von Locus und Domus zu verweisen. Der Mondsee ist zweifelsfrei lieblich. Außerdem gehörten wir zu den den ältesten, stolzen Seegrundbesitzern, wenn auch nur von der Größe eines Tischtuches mit einer Einzimmer-Holzhütte aus groben Balken darauf, mit von Papa selbstgebauten, himmelblau lackierten Möbeln, einem Gaskocher mit erst einer, dann- welch Fortschritt-zwei Flammen und einer Gasflasche, mit vier Strohsäcken im Dachgiebel, einer Hühnerleiter, einem Plumpsklo, das alles ohne Strom und Fließwasser. An den Abenden saßen wir über Büchern und Schreibheften, wir spielten Städte- oder Blumenquartett, Kennst du Österreich, Mikado ohne Ende, in der Mitte Kerzen, später eine Gaslampe, heftig umflogen von allerhand Insektengetier. Ich kann mich an keine einzige Krankheit oder Krise erinnern, die uns am Mondsee erreicht hätte. Oder doch eine: Der jüngste Bruder Franz produzierte einmal einen Wutanfall, als ihn Papa zwang, den verhältnismäßig großen Weißfisch wieder freizulassen, weil er eh nur aus Gräten bestand. Aber gab es ein besseres Stroh und Heu aus dem Stadel oder Wasser aus dem Brunnen vom Hanslbauer? Kein Hotel konnte bessere Betten haben, kein Restaurant frischere Fische haben. Die wirklich großen Katastrophen kannten wir nur aus Erzählungen und kleinen vergilbten Fotos, als etwa beim Jahrhunderthochwasser 1954 der See einen Meter hoch im Hütterl stand, es einzustürzen drohte und die Familie zum Hanslbauern flüchten mußte. Oder als einmal ein Sturm die große Linde fast aufs Hütterldach geworfen hätte; sie wurde gefällt, und nur der abgeschnittene Stumpf vor der Türe erinnerte noch daran.
Wegen seiner schriftstellerischen Tätigkeit bekam Papa oft Gäste aus aller Welt, auch in Plomberg. Die Amerikaner sagten immer lovely, how lovely, und so many childrend, so sweet and cute und dachten wahrscheinlich, dass unsere Familienhütte für ihren Hund in Kentucky zu klein gewesen wäre.
Ich habe immer viel gelesen, beobachtet, nachgedacht und in den Nachthimmel hinaufgeschaut. Die Sternbilder lernte ich dort kennen und entwickelte eine typisch jugendliche Begeisterung, wenn sich zum erstenmal die Welt ins Unendliche ausdehnt. Als ich einmal im beginnenden Teenageralter dem Vater vom Kosmos vorzuschwärmen begann, sagte er so etwas Rätselhaftes wie: Verwechsle nie Quantität mit Qualität, Masse und Mensch. Und gab mir Elias Canetti und Ortega y Gasset zu lesen.

Die Luft war sauber und vollkommen dunkel bis hinauf zu ihrem Geblinke. Wenn es unter dem Dach auch in der Nacht noch zu heiß war, durften wir in der Wiese schlafen und wachten taubeschlagen auf. Der Klausbach rauschte damals noch vom Almkogel herunter in einigen Stufen von Wasserfällen, gleich neben uns schüttete er sich in einem kleinen Delta in den Mondsee, ein Sandstrand, wo wir spielten und von dem wir in Kübeln Kies für die Wege um die Hütte holten. Ein tägliches, morgendlich ungeliebtes Ritual für uns Kinder, die langen Fleckerlteppiche auszuschütteln und die Hütte auszukehren. Ordnung muss sein.
Ich hatte damals keine Vergleiche, aber Jesolo (sie sagten Dschesolo), Caorle oder Lignano Sie sagten Liknano), von denen damals schon manche Mitschülerinnen schwärmten, können nicht schöner gewesen sein. Da war ich sicher.
Sie redeten von Gelati und Tutti frutti, ich dagegen selig, wenn ich in der Mondseer Milchtrinkhalle ein Erdbeer-Frufru bekam. Das Viertelglas war braun, hatte eine Metallkappe und darunter eine zweifingerdicke Schicht von Marmelade. Der Löffel war überlang, damit man sich die Finger nicht ankleckertn sollte. So einen Löffel hatten wir bei uns nicht. Aber genau das liebte ich, das Abschlecken der Finger, des Löffels, des Randes und das ewige Auskratzen bis zum letzten Restchen. Auch das ist eine Mondseesymphonie, das helle Klingeln, unser Klingeln mit den Löffeln in den Glasfläschchen.
Einer unserer schönsten Spielplätze war der Klausbach, solange er nicht bei Gewittern wild wurde. Von der Mündung durchs wilde Bachbett sprangen wir rauf oder runter, von Stein zu Stein, in den natürlichen Badewannen dazwischen plantschten wir im eiskalten Wasser und kletterten an der Thekla-Kapelle den Wildsteig an das Steilufer hinauf. Ich müßte jetzt nachschlagen, d.h. googeln, wofür die Heilige Thekla zuständig war, dort und damals. Das Innere der Kapelle war übersät mit Bildchen, Briefen und Devotionalien: Beine, Arme, Herzen und andere unbestimmbare Körperteile, dazu Kerzen, Münzen und Blumen. Die Sträuße in den Vasen, das Tannenreisig und die Farne waren immer frisch, auch die Gaben von Beeren, Äpfeln und Nüssen, also mußten Menschen, Frauen, diesen Ort häufig besuchen. Ich erinnere mich an die Abbildung der Hl. Thekla mit einem Löwen und anderen wilden Tieren, die in dieser Gegend nicht vorkamen. Der altarähnliche Aufbau über einem weissen Leinentuch mit eingesticktem Kranz von IHS war einem Scheiterhaufen nachgebildet, auf dem die Figur der Märtyrerin stand. Sie war der erste Mensch, den Paulus taufte. Eigentlich war die in Syrien als römische Offizierstochter geborene Thekla nur eine Protomätyrerin. Denn nach den Paulusakten hatte sich das Feuer geweigert, die als bekennende Christin angeklagte Jungfrau zu verbrennen; die wilden Tiere, die sie im Zirkus eigentlich zerreißen sollten, retteten und versteckten sie in einer Höhle im syrischen Dorf Maalula, wo sie bis ins hohe Alter ein Eremitendasein geführt haben soll.
Ein orientreisender Dichterfreund hat mir erzählt, dass er im dortigen Thekla-Kloster das Vaterunser auf Aramäisch, der Sprache der Bibel, in tiefer Bewegung gehört hat. Die Menschen sprachen den altsemitischen Dialekt, dessen sich auch Christus bedient hat. Das waren die Laute, mit denen Wasser in Wein verwandelt, Fisch und Brot vermehrt, die Bergpredigt gehalten und Lahme gehend gemacht wurden. In ihrer Höhle hat er aus derselben Quelle getrunken wie die Römerin. Thekla war schon im frühen Christentum so populär, dass man ihr schon im 4. Jahrhundert in Mailand eine Kirche widmete, an der Stelle, wo heute der Dom steht und wo man sie noch heute in der Krypta besuchen kann.
Übrigens: Was hat es zu bedeuten, wenn überhaupt, dass ich nun schon seit 42 Jahren in einer Wohnung lebe, die sich genau zwischen Paulaner-Kirche und St. Thekla befindet? Darauf bin ich gerade erst gestossen, als ich diesen Text verfasst habe.

Unsere Thekla-Kapelle im Plomberger Wald stand auf keiner Lichtung, sondern auf einem mit Baumstümpfen und einigen grob gezimmerten Holzbänken umsäumten Platz zwischen Tannenstämmen, so hoch, dass kaum je ein Sonnenstrahl auf den Boden traf und niemand den Himmel oben sehen konnte. Etwa in einer erwachsenen Kopfhöhe, wir waren viel zu klein, um näher daran zu kommen, hingen von den Baumstämmen dunkle, verhutzelte Fetzen herunter. Es hätten Flechten sein können. Hedi und Franzi waren gewiss dabei, weil ich sie immer hüten musste. Ich weiss nicht, ob sie sich daran erinnern. Das waren die an den Baumstämmen angenagelten Plazentas, als Fruchtbarkeitskult und zur Abschreckung? Ich habe nie danach gefragt. Eindeutiger waren da schon die Totenbretter, die ebenfalls an die Tannen genagelt waren mit eingeritzten Jahreszahlen. Was sollte die erste christliche Jungfrau aus Kleinasien ausgerechnet mit einem Plazenta-Kult zu tun haben? Heute vermute ich, dass dieser Brauch wahrscheinlich älter als das Christentum ist, wahrscheinlich ein keltischer Kultplatz, der später in die Thekla-Verehrung hineinkulturiert wurde. Die Rundtänze der Feen und wilden Weiber auf diesem Platz malte ich mir besonders gern aus.
Aber unser selbst geschaffenes Zauberreich lag im Wald zwischen den moosüberwachsenen Felsmugeln rechts von der Thekla-Kapelle, oberhalb des Weges, im Geröll des Drachenwandfußes, wo die Farne größer waren als wir. Die Geschwister werden immer dabei gewesen sein, aber ob sie die gleiche Beziehung zur unsichtbaren Welt hatten, kann ich nicht sagen. Ebensowenig, ob sich die ältere Lisl für unsere Zauberwelt interessiert hat. Ich sehe sie in diesen Zwergenwaldbildern nicht, viel deutlicher den Kopf mit den schönen, dicken Zöpfen über ein Buch auf den Knien gebeugt und dabei strickend. Oder stickend. Kreuzerlstiche in grobes Naturleinen hinein, rot und schwarz. Immer mehr Tischdecken und Polster begannen das Hütterl und das Tullner Haus zu beleben. Sie war in dieser Hinischt genial, sie konnte beides gleichzeitig. Wir bauten den Zwergen, Trollen, Feen, Waldschratten und Geistern, von denen wir den Wald so sicher bewohnt glaubten, wie wir an den lieben Gott glaubten. Kleine Häuschen, ja ganze Dörfer bauten wir, damit sie nicht immer unter der Erde bleiben müßten. Aus Zweigen, Ästen, Steinen, Tannenzapfen, Bockerln, Gras und Moos legten wir die Anlagen zwischen den Felblöcken an, bestreuten die Wege mit weißem Kies aus dem Klausbach, pflanzten Bumen, Beeren und Bäume aus Farnen und Fichtenzweigerln, bauten Bankerl und Vordächer, damit auch sie vor Regen geschützt waren. Die Erdgeister erschienen als Feuersalamander, die Feen als Schmtterlinge und die Nymphen als Libellen. Der Wald war reich an duftenden Zyklamen; dass sie nach unserem Blumenquartett unter Naturschutz standen ebenso wie der Enzian, kümmerte uns nicht, der Zweck heiligt die Mittel. Aus Farnen und Tannenreisig bastelten wir Palmen. Die Fenster legten wir sogar mit von St. Nikola mitgebrachtem Katzensilber aus. Meine Bewunderung für Moose und Flechten geht auf diese Zwergerlarchitektur zurück. Es gab viele Arten mit verschiedenen Farben und Formen Wir hinterließen auch milde Gaben: Beeren, Nüsse und Brotbrösel. Schließlich könnte es ja auch im Wald noch Hänsel und Gretel, Brüderchen und Schwesterchen, Schneewittchen, Schneeweisschen und Rosenrot geben, vielleicht auch Dornröschen und Rapunzel. Meine Lieblingsfigur war die Schlangenkönigin mit ihrem Krönchen am Kopf, der man, das wußte ich von der Großmutter in St. Nikola, immer ein Schüllechen mit Milch hinstellen mußte. Wenn wir unsere Bauwerke manchmal zerstört vorfanden, wahrscheinlich von Dorfbuben oder achtlosen Spaziergängern, bauten wir die Dörfer unermüdlich wieder auf, noch reicher und prachtvoller, und sagten uns, die Bewohner seien unzufrieden mit ihren Häusern gewesen. Ich war überzeugt, dass sie, wie im Märchen die sieben Zwerge, im Erdinneren lebten und zur Arbeit ins Bergwerk gingen, während Schneewittchen den Haushalt besorgte. Ich durfte aber nie, um die Existenz von Schneewittchen und den Zwergen zu überprüfen, um Mitternacht in den Wald. Bis heute eine große Erkenntnislücke. Ich fühlte mich als Expertin, schließlich war meine erste Bühnenrolle bei der Katholischen Jungschar der 7. Zwerg, der zwar keinen einzigen Satz allein sagen, aber immerhin im Chor, mit einem angeklebten Bart aus Werg am Kinn, über die Bühne stapfen durfte, wenn wir im Gänsemarsch, mit roter Zwergerlmütze und einer Laterne über die Schulter in den Stollen marschierten. Das Schneewittchen war Hedwig, die Hübscheste, so sicher wie ein Naturgesetz.


Die Hitze liegt noch immer auf dem See und brütet still in den Wiesen, wenn die Sonne langsam hinter der Drachenwand verschwindet und mit den letzten Strahlen die Schafsnase rosa-golden färbt. Zwischen uns und den Bergen macht sich ein Gemisch aus kurz und klein gehackten Schatten breit. Obwohl der Maler den großen Nachbarsee für seine Sommerfrische bevorzugte, ließ er uns bescheidenen Nachbarn doch genügend klimtsches Wiesengrün mit Safrangelb, silbriges Grün mit den dunklen Flecken des Hochwalds übrig. Er hat am Attersee nicht alles weggemalt, er hat dort nur akribisch die Natur als Theorie der Optik untersucht und sich dabei vom zuvielen Wiener Gold erholt. Mit Mohn, Margeriten, Glockenblumen, Wiesenschaumkraut, Zittergras, Arnika, Skabiosen, Thymian, Wermut, Hahnenfuß und Johanniskraut. Einiges davon sammelten und trockneten wir für Tees. In einer Seitengeschichte gibt es die Erinnerung, dass Mama einmal die ganze Familie fast vergiftet hat. Mit Waldmeistersekt, der in die falsche Richtung aufgegangen war. Auf ein „Komponierhäusel“ wie das des Gustav Mahler, kann der Mondsee nicht verweisen, in dem er 1893 in nur wenigen Wochen die 2. Symphonie aufs Papier warf, auch nicht auf illustre Gäste aus Salzburg, Staatsoper, Burgtheater und Musikverein. Ich jedenfalls habe nichts vermißt. Für uns waren die Familien der Hanslbauer und Tischler-Ebner mit ihren vielen Kindern, der Fischer, die Kramerin und die Drachenwandwirtin, die geheiminsvolle Seebesitzerin und der Müller in der Teufelsmühle die wahren Hüter meines Kindheitsparadieses. Wenn wir den heißen 10-Kilo-Brotlaib im Rucksack nach Hause trugen, brannte die Haut nicht nur vor lauter Erwartung, wenn wir von der Verkäuferin in der Mondeseer Milchtrinkhalle eine Scheibe Mondeseer Käes geschenkt bekamen und die Eltern jedem eine frische Kaisersemmel und ein Flascherl Erdbeer-Frufru kauften und das auf einem Bankerl der Uferpromenade verzehrten, waren wir reich und glücklich. Vor Mamas Heimatstadt Salzburg hatten wir Respekt, sie machte immer wieder Anstalten, uns ihre Schönheiten näher zu bringen, wir aber flüchteten jedesmal in Entsetzen vor den Menschenmassen zurück an unseren See.

Aus der sorgsam gefrästen Seesichel kriecht langsam die abendliche Kühle hervor.
Auf dem Wasser tanzen die letzten Lichtsprenkel von orange bis türkis. Das Rosa zieht sich von der Schafsnase zurück. Nacht, gute Nacht.
In so einem Augen-Blick war es wahrscheinlich, dass Mama mit ihrer Zitierfreude an ihrem geliebten Mörike nicht vorbeigehen konnte. Was Papa meinte, wenn er sie seine „wandelnde blaue Blume“ nannte, wußten wir damals nicht, spürten aber, dass es liebevoll gemeint war:
Gelassen stieg die Nacht ans Land/Lehnt träumend an der Berge Wand;/Ihr Auge sieht die goldne Waage nun/Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;/Und kecker rauschen die Quellen hervor,/Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr/Vom Tage/vom heute gewesenen Tage.“ (selber weiter googeln unter Mörike Um Mitternacht, 1828).
Als ob das nicht schon Musik genug wäre, klingt in meinen Ohren dazu im Überschwang der Empfindungen der Frühling der Vier Jahreszeiten von Vivaldi nach.
Kurz danach verführte ich einen viel jüngeren Toursidenbuben vor seinem englischen
Zelt, danach sprangen wir nackt in den Mondsee, schön wie nie wieder.