Zum Buch „Allegorien des Blicks“ von Leander Kaiser mit Texten von Mechthild Podzeit-Lütjen, Verlag Brandstätter, Wien 2008
Veronika Seyr, Pfingsten 2008-05-12
Der chinesische Schriftgelehrte Shen Kuo verfasste im 11. Jahrhundert einen Text über die Methode eines gewissen Bi Sheng, der mit beweglichen Lettern experimentiert haben soll:
Meng Xi Bi Tang nannte er sie, „Pinselunterhaltungen am Traumbach“. Der Text führt noch an, dass sich diese Methode vorläufig nicht durchsetzen konnte. Wie wir aus der Geschichte wissen, sollte es erst der Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, sein, der mit seiner Druckerpresse die Menschheitsgeschichte revolutionierte. Die erst Druckerei öffnet 1458 in Strassburg, die zweite 1462 in Wien, erst dann folgen die anderen in Basel, Köln, Augsburg, Mainz und viele andere im Rest der Welt.
2008 – genau 546 Jahre später - hat der Verlag Christian Brandstätter in Wien eines der eigenartigsten Bücher herausgebracht, einen Hybrid, der am Beginn des Projektes ziemliches Misstrauen bei mir hervorrief. Ein Katalog des Malers Leander Kaiser mit Texten und Gedichten von Mechthild Podzeit-Lütjen; „Allegorien des Blicks“ heißt es. Und nun gestehe ich ein, dass es eines der schönsten, vielleicht das allerschönste Buch ist, das ich je in Händen gehalten habe.
Ohne auf die Bilder und die Texte eingehen zu wollen – das haben Peter Weiermeier, Irene Prugger und Carla Babini als Kunstgeschichtler und Biographen schon meisterhaft gemacht – versuche ist meinen Superlativ zu begründen, aus der subjektiven Perspektive einer Konsumentin (im Sinne von consumere = lat. gemeinsam haben).
Ich will das Buch als Buch, als Gegenstand, als Objekt, als in eine bestimmte Form gebrachte Ansammlung von Materialien beschreiben.
Für einen Kunstkatalog ist es nicht besonders groß und umfangreich, 24 mal 28 cm und mit gerade mal 110 Seiten auch nicht besonders dick. Obwohl mit diesen Maßen weit entfernt davon, ein Taschenbuch zu sein, habe ich den Eindruck, es doch immer und überall hin mitführen zu können und zu müssen. Mit welchem Maßstab, welcher Goldwaage haben die Buchmacher dieses Idealmaß gefunden, das genau richtig in der Hand liegt. Es ist eine Körperempfindung, die durch die Hände geht, ohne dass ich die Augen öffnen muss. Ähnliche „blinde“ Gefühle ruft das Papier hervor: es ist weich und fest zugleich, es spürt sich an wie Seide und Duchesse, und auf der Haut der Fingerkuppen entsteht der Eindruck von Seife. Lasse ich die haptischen Erlebnisse hinter mir und öffne die Augen, schlägt mir vom Schutzumschlag hauptsächlich ein Scharlachrot entgegen, auf dem Pappband darunter ein Hellorange und auf den Vorsatzblättern im Inneren das wärmste Hellbraun unter allen Lachstönen. Die Seiten haben elfenbeinfarbenes Papier, das den greifenden und tastenden Fingern wie Samt entgegen kommt. Der Schrifttypus ist für mich nicht eindeutig einordbar, Antiqua –artig schätze ich, mit ziemlich ausladenden Serifen.
Aber was mich viel mehr beeindruckt, ist die nicht ganz schwarze und auch nicht graue Farbe der Buchstaben, die sich wie Nebenschwaden über die Seiten angeordnet haben. Wer mag diese Farbe ausgesucht und komponiert haben? Der Drucker, der Grafiker oder der Maler?
Andere habe schon viel Kluges und Schönes über den geglückten Reigen von Maler und Dichterin umeinander geschrieben, über ihren Rollentausch, die Bilder zu lesen und die Gedichte zu sehen. Aber mir gibt das Buch noch etwas anderes.
1. Quelle: Kraft und Trost. Ein Buch wie die „Allegorien des Blicks“ (man kann nicht leicht sagen, in der Tasche) zu haben, bedeutet gerade in unglücklichen Zeiten nicht weniger als das: eine beglückende, andere Welt mit sich zu führen. Seit jeher ist mir das bloße Vorhandensein eines gern gelesenen oder betrachteten Buches ein Kraft- und Trostspender. Man könnte es auch als „Fluchtburg“ bezeichnen. Es tut gut, sich für eine Weile aus der Unbill des Daseins in eine andere Realität, die eines Buches zu flüchten. Und ich werde dabei immer darauf bestehen, dass es sich keine fiktive, erfundene, erdachte Welt im Buch handelt, sondern um eine andere.
2. Quelle: Das Buch als Bessermacher. Ein Buch wie dieses macht wohl auch deshalb so glücklich, weil wir uns einbilden, dadurch an einer besonderen Welt teilzuhaben, eine besondere geistige Tiefe zu erlangen, die uns vor uns selbst als ein besserer Mensch erscheinen lässt. Bei der Beschäftigung mit dem Buch ist das Bewusstsein nicht ganz bei der Sache, sondern es flüstert uns aus einem unbekannten Winkel heraus zu, bei welch tiefer intellektueller und ästhetischer Tätigkeit wir uns doch befinden, und es beglückwünscht uns zu diesem exklusiven „Weltwissen“, das anderen nicht zugänglich ist.
Ein Teil unserer Aufmerksamkeit schweift ab und wandert vom Buch zum Tisch, zur Lampe, zum Garten, in dem wir es uns gemütlich gemacht haben, oder zur Aussicht auf das Meer mit dem Sonneuntergang, der sich eben so besonders schön ereignet, weil wir uns mit dem Buch beschäftigen. Das Buch vermittelt mir die Idee davon, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich anders mit den Dingen umgehen und anders denken könnte. Jeder kann sich auf seine Weise in dem Buch entdecken.
3. Warnung. Ich finde es aber falsch, die Schaulust beim Lesen des Bildes und die Leselust beim Schauen der Texte in Konkurrenz oder gar in Feindschaft treten zu lassen. Sie sind einander Brüder und Schwestern, Freunde, Übersetzer, Fährleute und Reisebegleiter. Sie öffnen die inneren Augen und lassen eine Welt entstehen, deren Teil, ja sogar Schöpfer wir sind. Davon geht dieses geheime Glücksgefühl aus, dieses geheime Glücksgefühl macht, dass wir dieses Buch nicht mehr entbehren können und wollen. Das Glück des Malens und das Glück des Dichtens münden in das Glück des Schauen und des Lesens.
Was ich an diesem Buch so schätze? Es ist die Offenheit, die interdisziplinäre Offenheit als Programm. Der Maler Leander Kaiser ist über die Grenzen des künstlerischen Bewusstseins von seiner Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit hinaus gesprungen und hat die Dichterin Podzeit-Lütjen, eine keineswegs allen bekannte Schriftstellerin, an Bord seines Katalogs geholt – oder war es vielleicht umgekehrt? Sie hat ihn als erste angeregt, über seine Bilder lyrische Texte zu verfassen. Es kann aber auch eine gegenseitige Initiation gewesen sein, an der sie immer mehr Gefallen gefunden haben, daran sich nicht satt sehen- und hören konnten, und damit einen kongenialen Verleger überzeugen konnten. Einen Verlegers, der aus einer guten Tradition kommt , aber nun auch nur noch mit Ess-, Wellness- und Fussballbüchern einigermaßen über die Runden kommt. Darum auch ihm ein großes Lob, dass er dieses Buch verlegt hat, das ihm sicher keine finanziellen Reichtümer einbringen wird; aber dafür umso mehr Respekt der Geschichte und der Menschen, die schöne Bücher mögen, einfach mögen, Bücher, die gut tun in den Unbilden der Lebenslagen.
Halte es in der Hand, und dir geht es besser! Ein Wellness-Schlager der anderen Art. Das neue Programm des Verlags, aber mit diesem Buch auf höchstem Niveau.
Veronika Seyr
23.5.08