Dienstag, 27. Mai 2008

Incidente sul fare del giorno oder Zwischenfall im Morgengrauen

Meditation über ein Bild von Leander Kaiser

(Die Königin von Saba)

  1. Vorgeschichte:

Als ich das Bild zum ersten Mal im Jahr 2001 sah, wusste ich sofort, dass ich es haben musste. Es sprang mich an, es sprach zu mir, es krallte sich in meinen Augen fest, das war mein Bild! Es ist ein großes Bild und dem entsprechend hoch der Preis. Ich durfte es in zwei Tranchen bezahlen. Aber das war das geringste Problem. Ich wohnte damals schon 3 Jahre in Moskau und hatte keine Möglichkeit, es dorthin zu transportieren. Also bleib es vorläufig in Wien, bis ich nach etwa einem halben Jahr die Gelegenheit bekam, es mit der Übersiedlung eines Kollegen einer Spedition mitzugeben. Dann stand es sicher noch ein halbes Jahr im Keller meiner Firma, weil es für jedes mir verfügbare Auto zu groß war. Endlich fand ich einen Kleintransporter und zwei starke Männer, die den Transport in meine Wohnung für mich machen wollten. Die beiden Helfer hätten es mir auch gleich aufgehängt, ich aber hatte keine geeigneten Haken und keine Wasserwaage. So stand es, widerspenstig an die Wand gelehnt, ein paar Monate im Salon. Die Stelle war so ungünstig, dass ich es mehrmals verschob, es umdrehte und sogar in dem wenig benützen Gästezimmer versteckte, obwohl ich es gerne als mein Gegenüber gehabt hätte. Als das Bild bei mir am Kutusowskij Prospekt 7/9 ankam, hatte es eine längere und weitere Reise hinter sich, als die weiße Frau mit ihrer Sänfte. Ich meinte, sie seit Urzeiten zu kennen, und doch war sie gerade eingezogen. Gerne hätte ich sie angesehen und mich mit ihr eingelassen, aber ich spürte einen Widerstand. Kam es davon, dass das Bild seinen richtigen Platz zwischen Möbeln, Pflanzen, Lampen, Katzen, Hunden und Bildern noch nicht gefunden hatte? Warum bleibt ein Bild an einem falschen Platz ohne Wirkung? Warum wird es sogar zum Ärgernis? Bin ich ordinär oder speziell, mit einem feinen Geschmack oder geschmäcklerisch? Warum braucht jedes Bild sein eigenes Biotop? Ich nehme mir vor, einmal Leander zu fragen, ob er weiß, wie andere Liebhaber seine Bilder benutzen.

Er hat Anhänger, Fans, Sammler, aber sind die alle so wie ich Benutzer? Oder davon, dass ich mir seinen richtigen Titel einfach nicht merken konnte? Es wurde vom Künstler „Zwischenfall im Morgengrauen“ genannt, italienisch „Incidente sul fare del giorno“. Mir fiel aber dazu immer nur „Die Dämmerung“ ein. Mehrmals kam es deswegen bei Gesprächen mit Leander zu Missverständnissen über den möglichen Transport, als sprächen wir von verschiedenen Bildern. Ich sprach von der Dämmerung, er verstand nicht, Dämmerung? Dämmerung? Ich habe keine Dämmerung. Das ist das Bild mit der Frau vor der Sänfte. Ach, du meinst den „Zwischenfall im Morgengrauen“, wurde ich korrigiert. Ich stellte fest, ich hatte etwas anderes in mein Hirn übersetzt, als der Maler gemeint hatte. Ich war bei Bildern und Büchern immer schon extrem egoistisch und subjektivistisch, das störte mich nicht mehr, ich stand dazu: ich bin eine Konsumentin, eine Benützerin, eine Nutznießerin von Talenten, die etwas von mir und meinem Leben ausdrücken können. Ich habe keine verehrerische oder kunsthistorische oder sammlerische Haltung zur Kunst, sie ist für mich praktisch. Ein Lebensmittel, ein besonders, aber ansonsten Punkt um.

Erst als mir mein handwerklich begabte Katzen- und Hunde-Sitter Anatolij nach allen Regeln der Kunst das Bild am richtigen Platz aufhängte (mit Wasserwaage und den passenden Haken), kam ich dem Rätsel auf die Spur: ich hatte eine tiefe Abneigung gegen das Morgengrauen, viel mehr gegen das „Grauen“, das in ihm steckte.

Dieser Name war mir zu nahe an dem Kriegsgrauen, den stalinistischen Gräueln, dem Morgengrauen, wenn zwischen 3 und 4Uhr früh, wenn der Schlaf am verwundbarsten ist, die Gestapo oder die Tscheka oder der NCHWD seine Opfer abholen kommen, die Duelle und Abschiebungen wie die von Omafuma geschehen im Morgengrauen, der häufige Tod vor dem Morgengrauen, das Morgengrauen der Menschheit und der Vernunft, die verbotene Liebe, die Revolution vor dem Morgengrauen, die heimkehrende Nachtschicht oder die beginnende Morgenschicht, die Dämonen und das böse Erwachen im Morgengrauen. Das Blaulicht, die Razzia, die Steuerfahndung, das böse Erwachen aus den Albträumen, der müde Radio-Chat im Morgengrauen. Die Nachricht aus dem TV-Gerät: Saddam Hussein wurde im Morgengrauen gehängt. Nicht einmal der Tanz, das Spiel oder das Lesen bis zum Morgengrauen sind eindeutig positive Erlebnisse: das eine mit ungewissem Ausgang, das andere mit qualvollen Verlusten und das dritte eine Notlösung in einer schlaflosen Nacht- alle drei ohne Erlösung. Es war das Grauen überhaupt, das sich im Deutschen so tragisch mit der scheinbar harmlosen Farbe grau mischt. Wie schön, harmlos und unschuldig klingen dagegen das Italienische „sul fare des giorno“.

die griechische Eos oder die römische Aurora in unseren Erinnerungsohren. Die Engländer haben noch etwas viel Schöneres: Twilight, Midnight- Sun oder Milkman.

Die frische Milch und die Zeitung vor der Tür im Sunrise. Gar kein Grauen. Dawn ist wie Aurora ein Mädchenname, zugegeben etwas altmodisch, aber mit angenehmen Assoziationen versehen. Mit dem Schuss von der russischen Aurora soll sogar das „Morgenrot der Menschheit“, der proletarischen Revolution, ausgebrochen sein. Zumindest könnte es „Zwischenfall in der Dämmerung“ heißen, das wäre kein großer Unterschied, aber viel gnädiger.

Ich ging in meinem Salon um mit einem ungerechtfertigten Groll, obwohl das Bild nichts damit zu tun hatte. Ich gestand mir ein, dass das Bild unschuldig war, die Ungerechtigkeit lag in meinem Blick und in meiner Taubheit für das „Morgengrauen“. Warum hatte er denn nicht die milde Morgenröte oder die verhüllende Dämmerung gewählt? Ich haderte mit meiner neuen, fremden Freundin, ich verstand sie nicht unter dem Titel Morgengrauen. Da stellte ich das Bild wieder einmal für viele Tage gegen die Wand. Ich erschrecke: wie das klingt das, gegen die Wand stellen: in meinem derzeitigen Gastland sollte man nichts und niemanden mehr gegen die Wand stellen! Und noch etwas machte mich wütend: dieser perverse Anspruch von Bildern, immer da zu hängen, ich möchte doch auch nicht immer dieselbe Musik hören oder dasselbe Buch lesen!

  1. Rast

Eine Reisende macht Halt. Sie gebietet dem Chauffeur, an den Straßenrand zu fahren, damit sie aussteigen kann. Wir wissen es nicht: will sie die Landschaft betrachten oder will sie in die Büsche gehen? Will sie eine besonders schöne Aussicht fotografieren, einen Schluck Wasser nehmen aus einer Quelle, oder sich einfach nur die Füße vertreten nach einer langen, beengten Reise?

Ich weiß es nicht und sonst auch niemand. Sicher ist nur, dass sie aus der Sänfte ausgestiegen ist und um sich schaut, selbstbewusst, unabhängig ist ihr Blick, die Füße in kleinen weißen Schühchen hat sie fest in den Boden gestemmt und die Arme entschlossen vor der Brust verschränkt. Warum leuchtet der Boden unter ihr auf? Auf dem Weg ins Tal ist die Nacht noch nicht vorbei, die Laterne neben ihr brennt hell wie ein Gestirn. Fragen, nichts als Fragen. Jeder Gedanke dazu öffnet ein neues Rätsel. Warum ist ihre Kleidung perfekt weiß und faltenlos, ihr Tunika-artiges Obergewand und ihre weite Hose fallen locker um sie. Sie müssten doch nach der langen Reise in der engen Sänfte zerknittert sein. Bei jeder Frau, in jedem Gefährt. Aber bei dieser Reisenden ist alles anders. Denn sie ist keine gewöhnliche Reisende, keine gewöhnliche Frau. Woran das zu erkennen ist, das sind der Blick und die Haltung. Sie sieht mich gerade heraus an, fast herrisch, sicher aber selbstbewusst. Sie sieht mich an wie nur ein Mensch ohne Nöte und Sorgen blicken kann. Mit Sternenaugen durchdringt sie die Dämmerung. Dabei sieht sie etwas, was ich nicht sehen kann, und sie weiß etwas, was ich nicht weiß, sie sieht in die Zukunft und kennt die Vergangenheit. Vielleicht ist sie doch Eos, die Tochter des Hyperion und der Theia, die Schwester des Helios und der Selene, Gemahlin des Titanen Asträos, dem sie die vier Winde und den Morgenstern gebar. Eos, wie sie die Dichter schildern, eine herrliche, schöngelockte, rosenarmige, rosenfingrige Göttin, das Abbild der belebenden Morgenröte. In aller Frühe erhebt sie sich aus dem Lager des Okeanos und schirrt, mit safranfarbigem Mantel umhüllt, ihre Rosse Lampos = Glanz und Phaeton = Schimmer an den goldenen Wagen. Glanz und Schimmer – wie schön wäre doch dieser Name und wie passend! Die aufgehende Sonne wirft die ersten roten Flecken auf die Felsen und färbt den Himmel rosig, in dem das Grau noch nicht ganz gelöscht ist. Wie

Palimpzeste oder wieder entdeckte Fresken in den Badehäusern von Herculanäum.

3. Rätsel

Die Königin von Saba macht Halt auf dem Weg nach Jerusalem – oder ist sie schon am Rückweg? Sie hat die Wagenladungen mit Gold und Edelsteinen bei König Salomo abgeladen und ihm das Wertvollste, den Samen des Weihrauchbaumes, geschenkt. Sie hat seinem Werben widerstanden und den Heimweg angetreten. Bei Josephus Flavius ist sie die Göttin des Südens, die aus Erzählungen von Salomos Weisheit erfahren hat und zu ihm reist. In der 27. Sure des Korans wird sie selbst zur Königin der Weisheit, und die kanaanäische Tradition macht sie zur Liebesgöttin. Am Runden Tisch von Evas meistgeliebten Töchtern feiert sie die Heilige Hochzeit, die Verbindung der Engel und Dämonen, von altem und neuem Testament, von Bibel und Koran, von Vergangenheit und Gegenwart. Die Mythen sind nicht tot, nur versunken und vergessen, aber hebbar wie alte Schätze. Welche Geschichte erzählen die beiden nackten, schattenhaften Gestalten hinter der Königin? Eine Frau und ein Mann stehen vor der Sänfte und sind dabei, das Paradies zu verlassen, ohne dass wir den Racheengel zu sehen bekommen. Obwohl die Rast noch nicht zu Ende ist, halten die vier blutroten Träger die Tragestangen der Sänfte weiter auf ihren Schultern. Alles ist fraglich und in Schwebe. Welche Erzählung ist die wahre? Das größte Rätsel gibt aber der wehende Vorhang an der Sänfte auf: woher kommt dieser Luftstoß, wenn sonst rund herum alles in absoluter Unbeweglichkeit verharrt? Die Träger haben mit einem so heftigen Ruck die Sänfte hoch gehoben, dass der Vorhang ins Schwingen gerät: sie reisen ab ohne sie, sie bleibt in der Einöde zurück, weil sie nach dem gerade Erlebten nicht mehr zurückkehren kann in ihr Saba und sonst auch nirgends wohin. Sie ist nun eine Ausgestoßene. Das ist das Wissen, das sie uns schlafwandlerisch voraus hat. Es war weder vorausgedacht noch geplant, nur eine plötzliche, unumstößliche Wahrheit: sie musste in dieser Ausgesetztheit und Einsamkeit bleiben, sie würde sich nie wieder mit jemandem über ihre Lage im entferntesten verständigen können. Und genau das verleiht ihr klare Umsicht und Festigkeit des Standpunkts. Sie befindet sich mit diesen Vorkommnissen in einer neuen innerlichen Lage und ist also gleichsam ganz in diese Reise eingeschlossen, die mit dem Abschied von Salomo von hinten herandrückte; jetzt verschwang sie wie ein Vorhang, durch den man getreten war und dessen beruhigte Falten nun wieder senkrecht und reglos hingen.

Veronika Seyr

Moskau 2004

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