Dienstag, 27. Mai 2008

Vor 20 Jahren: Ronald und Nancy Reagan im „Reich des Bösen“

Am 28. Mai 1988 kam am Moskauer Kutusowskij Prospekt der Verkehr zum Erliegen. Auf dem breiten Mittelstreifen der 8-spurigen Stadtautobahn raste ein langer Konvoi von schwarzen amerikanischen Limousinen in atemberaubendem Tempo stadtauswärts nach Südwesten, eingerahmt von Blaulichteskorten, voran und hintennach nummernlose Zils und Taschaikas des KGB. Die Miliz zwang alle anderen Verkehrsteilnehmer zum Anhalten, sie stiegen aus ihren Moskwitschs, Schigulis und Wolgas, aus den Taxis, Bussen und Trolleybussen und reihten sich winkend ein ins dichte Spalier der Schaulustigen. Die First Ladies, Nancy Reagan und Raissa Gorbatschowa, waren unterwegs in das Dichterdorf Peredelkino, wo Boris Pasternak auf seiner Familiendatscha gelebt und den „Doktor Schiwago“ verfasst hatte. Unter Diplomaten heißt so etwas leicht abfällig „Damenprogramm“.

In den letzten Maitagen vor 20 Jahren ereignete sich eine geheime Revolution, wie die ersten kleinen, kaum wahrnehmbaren Erschütterungen tief im Inneren eines Vulkans, die genauen Beobachtern einen Ausbruch ankündigen. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan kam ins „Reich des Bösen“, wie er die Sowjetunion noch ein Jahr zuvor genannt hatte, und traf mit dem Zentralsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow zusammen. Der erste öffentliche Auftritt war ein Triumphzug für Reagan. In den Straßen um die Manege, die zum Roten Platz und in den Kreml führt, hat sich das Moskauer Volk versammelt, aber nicht nur die wie früher immer bei Staatsbesuchen abgeordneten fähnchenwachelnden Schulklassen und Fabriksbelegschaften, sondern Freiwillige, Neugierige, begeisterte Bürger. Reagan hat dem sowjetischen Protokoll mit seinen spontanen Aktionen sicher einen Kurzzeit-Albtraum bereitet, aber Gorbatschow lässt ihn gewähren. Der amerikanische Präsident steigt aus der Limousine und geht locker und breit lächelnd auf die Stars-and –Stripes-Fähnchen schwingenden Menschen zu, er wirkt von Minute zu Minute mehr von sich selbst überzeugt, die lachenden und klatschenden Menschenmassen scheinen ihn zu beflügeln. Solch ungetrübten Jubel kennt er nicht einmal von zu Hause. Im dichten Gedränge streichelt und küsst er die ihm zugereichten Babys, schüttelt die entgegengestreckten Hände, überwindet die Barrieren der beiderseitigen Geheimdienste, dringt, gezogen von der Sympathiewelle, ungerührt der Abschirmungsversuche, tief ins Spalier ein, winkt und applaudiert zurück in die Menge, die ihn mit „Ronny-Ronny“ –Sprechchören umfängt. Alles Gesten der Universalsprache der Massenhysterie. Wo hatten die Russen das gelernt? Doch nicht bei Besuchen eines Schivkov, eines Honecker oder eines Fidel Castro. Ein Präsident zum Anfassen. In den Schulen schreiben die Kinder später Aufsätze: „Der erste Amerikaner meines Lebens.“ Die Herzen fliegen ihm zu, zusammen mit roten Nelken, Tulpen- und Fliedersträußen, rote Luftballons stiegen in den blauen Moskauer Himmel, ganz Moskau ist verliebt in den obersten Imperialistenchef, den amerikanischen Präsidenten. Reagan wirkt absolut natürlich, als hätte er das immer schon so gemacht, als wär`s ein Heimspiel. Ein politisches Naturtalent, dieser Hollywood-Schauspieler auf dem Präsidentenstuhl. In Russland kommt er an. Welcher verrückte Regisseur hat das hier inszeniert? Aber es passierte ganz einfach, die Zeit war reif dafür. Gorbatschow und Raissa halten sich immer dicht an seiner Seite, steif und säuerlich lächelnd, keiner der Zurufe gilt ihnen. Man kann Mitleid haben mit den beiden, als wohlmeinenden Verkannten. Das war der erste, kollektiv-individuelle Ausbruch von Gefühlen, Sympathien und spontanen Meinungsäußerungen der Sowjetbürger, lange bevor ganz Deutschland von Gorbi-Gorbi-Rufen widerhallte. Wer von den Russen damals dabei war, erinnert sich daran als historischen Moment. Erschütterungen im Inneren eines Vulkans, die ersten feinen Haarrisse an der Oberfläche.

In Peredelkino bricht Nancy Reagan auf ihre Art das Eis. Beim Rundgang durch die Dichter-Datscha gesteht sie, dass sie Pasternak verehrt, aber in Omar Sharif verliebt ist, den Dr. Schiwago fünfmal gesehen hat, weil sie sich an seinen Augen nicht satt sehen kann: „He is so sweet, with his dark, soft eyes, I could feel the russian soul“, wird sie nicht müde, der Philosophie-Professorin Raissa Gorbatschowa und den Mitgliedern des Damenprogramms zu versichern. Was Nancy Reagan wahrscheinlich nicht wusste, war, dass die Russen den verfemten Roman erst seit gut einem Jahr in Händen halten können, dass sie ihn viel weniger schätzen als die Gedichte und dass sie die Verfilmung für ein übles Hollywood-Machwerk ansehen würden, wenn sie sie im Jahr 2 von Glasnost und Perestroika überhaupt schon gekannt hätten. Aber welch weiter Weg war seit 1958 zurückgelegt worden, als Pasternak den Nobelpreis nicht annehmen durfte, dafür aber mit einer der primitivsten und bösartigsten Hetzkampagnen überschüttet wurde. „Volksfeind“,“Verräter“, „Agent des Imperialismus“. Im Dezember 1989 wird sein Sohn Jewgenij Borisowitsch stellvertretend nach Stockholm reisen und nachträglich den Nobelpreis für Literatur 1958 in Empfang nehmen.

An der Wand des Pasternak`schen Esszimmers ist ein Foto zu sehen, das den Dichter im Kreise seiner Familie und der engsten Freunde zeigt, in jenem glücklichsten Moment, als er die Nachricht von der Zuerkennung des Nobelpreises erhält. „Der Preis ist nicht für mich, sondern für mein Land“, wird als sein Kommentar überliefert. Pasternak hat danach nicht mehr lange zu leben, sein Lungenkrebs ist weit fortgeschritten, er verweigert jede Behandlung und begibt sich bewusst in seine Todeskrankheit hinein. Er stirbt auf dem schmalen Diwan in seinem Arbeitszimmer, mit dem Blick durch das Fenster auf seinen geliebten Obstgarten hinaus.

Es war auf den Tag genau 28 Jahre später, dass Nancy Reagan Pasternaks Sterbezimmer stand. Ein Bad in der Menge und ein Besuch beim Dichter – auch das kann große Politik sein.

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