Mittwoch, 15. Oktober 2008
Alfred Schnittke und die Ziehharmonika Präludio in memoriam
Am Vorabend nahm ich mir in aller Eile die wenigen CDs in meinem Besitz vor, die ich bis dahin nicht einmal geöffnet hatte, durchflog die Klappentexte mit Kurzbiografien und Werkverzeichnissen.
Eigentlich war ich zu keiner Rede eingeladen, aber man konnte bei den Russen nie sicher sein, ob sie einen offiziellen Vertreter nicht spontan auf die Bühne holen würden. Und ich wusste schon, dass die Russen die besten Rhetoriker waren, die immer die schönsten Worte des Lobes, des Dankes und der Verehrung fanden, sei es bei Geburtstagen, Preisverleihungen oder Begräbnissen. Sie verstehen es, die wie auch immer Ausgezeichneten mit edlen Kaskaden zu übergießen, mit gedrechselten, gefühlstriefenden Sätzen, scheinbar immer spontan, immer das Wesen des Menschen treffend, nie aufgesetzt, nie gestottert oder vom Zettel gelesen. Eine bewundernswürdige, aber gefährliche Eigenschaft, weil sie uns untalentierten Westler damit einschüchtern und beschämen, auch wenn die gleiche Lobesflut von uns gar nicht erwartet wurde.
Schon auf der Alexander-Herzen-Straße vor dem Konservatorium herrscht an diesem August-Vormittag ein dichtes Gedränge, als sei eine Demonstration im Gange. Viele Menschen sprechen mich an, betteln und flehen, sie wollen eine Eintrittkarte ergattern, sie sind in Trauerkleidern und tragen Blumen mit sich. Im Großen Saal empfinde ich die Menschenansammlung als lebensbedrohlich, obwohl ich sofort zur ersten, für Promis reservierten Reihe geleitet werde. Der offene Sarg ist vor der Orchesterbühne aufgebaut wie ein Altar, die Blumengebirge ragen jetzt schon zwei Meter hoch darüber auf, in der mit vielfach gerafftem Satin ausgeschlagenen Edelholzkiste ist der Tote bis zur Brust zu sehen, zu Kopf liegen die schuppigen Plastikkränze mit Schleifen, Bändern und Sprüchen der Staatsvertreter. Schnittkes langes Haar ist sorgfältig über Stirn und Wangen gelegt, das Gesicht ist bleich, aber scheint doch nur in tiefem Schlaf versunken. Die Bühne füllen ein Chor und ein Orchester, von den Seitenwänden schauen Bach und Mozart, Beethoven und Tschaikowski mit strengen Augen aus ihren stuckumflorten Konterfeis auf das halblaute Gewurle herunter. Musikstücke aus Schnittkes reichem Werk werden von Reden abgewechselt: aus seinem „Peer Gynt“, aus der Filmmusik zu „Meister und Margarita“ und aus den „Liedern vom Krieg und Frieden“, dazwischen die Ansprachen von Freunden und Musikerkollegen- würdig und persönlich, von Kulturfunktionären- lobhudelnd und endlos scheinend. Nur die engsten Freunde umringten den Sarg in einer Ehrenwache. Viele Besucher in den Sitzreihen werden vom Weinen geschüttelt, als hätten wären sie es, die einen Freund und Verwandten verloren haben.
Der große Moment für die Trauernden kam aber erst, als die vorderen Seitentüren aufgingen und die Menschen in dicht gedrängten Schlagen von links nach rechts an dem Sarg vorbei defilieren durften. Man hatte das Konservatorium offenbar nun auch für die Menschen von der Straße geöffnet, in den seitlichen Wandelgängen, in den Nebensälen, in den Stiegenhäusern, Garderoben, Kassen- und Eingangshallen standen die Menschen in dichten Wolken bis auf den Platz hinaus mit dem Tschaikowski-Denkmal . Menschen jeden Alters, dabei auffällig viele Jugendliche und viele schlecht gekleidete und schlecht ernährte Pensionisten, denen es oft nur zu einer einzigen roten Nelke gereicht hatte.
Die öffentliche Trauer, das ungehemmte Weinen, das Ausrufen von Klagelauten, Seufzen, Stöhnen und ekstatische Schluchzen – der Große Saal des Tschaikowskij-Konservatoriums hallte davon wider. Jeder schien einen großen Verlust erlitten zu haben, jeder wollte sich persönlich verabschieden. Beim Sarg angekommen, streichelten sie die Wangen des Leichnams, küssten ihn ungehemmt auf den Mund, warfen sich über den offenen Sarg, verweilten kurz mit dem Gesicht auf seiner Brust, steckten ihm ihre Blumen zwischen die gefalteten Hände und beschmusten das schwarz drapierte Fotoporträt auf den Altarstufen wie eine Ikone, bis die Nachrückenden kräftig weiterdrängten. Aber jedem wurde doch seine kurze Trauerzeit gegönnt, auch wenn die Russen ansonsten, obwohl geübt, miserable Schlangensteher sind.
Vom Balkan und von griechischen Inseldörfern waren mir die Klageweiber nicht unbekannt, aber mitten in der modernen, aufgeklärten Mega-City Moskau gerann mir dabei das Blut in den Adern und die Gedärme rebellierten. Nach dem Glauben der orthodoxen Welt verlässt die Seele nicht sofort den Toten, sondern bleibt noch 40 Tage zwischen Himmel und Erde, in der Aura zwischen dem Verblichenen und den Hinterbliebenen. Die Seele kann noch empfänglich sein für die über dem Grab ausgeschütteten Liebesbeweise, Tränen und Klagen. Der Tod ist noch nicht endgültig, und in dieser Hoffnung lassen sich die Trauernden zu Exaltationen hinreißen. Wenn zuerst Scheu und Entsetzen über diese für mich typisch sowjetische Eigenschaft der Idolisierung überwogen, war doch der Anblick des Rituals unsagbar bewegend und traurig. Vielleicht auch tröstlicher als die nüchterne, nach innen gewandte Trauerarbeit im Westen. Rätselhaft blieb mir aber bis heute, warum gerade Alfred Schnittke, nach sowjetisch/russischem Standard in jeder Hinsicht ein Hybrid, zu dieser Ehre kam: als Abkömmling eines Deutschen und einer Wolga-Deutschen, ein (1993 in Lockenhaus) zum Katholizismus übergetretene Orthodoxe mit jüdischen Wurzeln, früh als Komponist einer „musica non grata“ abgestempelt und schließlich auch noch ein Republiksflüchtling, der es nie in den Kanon des sowjetischen Massengeschmacks gebracht hat. Die einfühlsamste und plausibelste Erklärung war, dass Russen nun mal gerne trauerten und dies so gut könnten. Und auch feiern: Sein Freund und Mentor über 30 Jahre, Gidon Kremer, verabschiedete sich von ihm „mit einem sich in der totalen Einsamkeit auflösenden Solotango von Astor Piazzolla“ 1), bei dem auch ich meine Tränen im rot-weiß-roten Blumenstrauß verstecken musste.
Wie hätte dieses Klagekonzert rund um seinen Leichnam wohl in Schnittkes Ohren geklungen? Oder hat er dergleichen vielleicht schon gehört und dann sein Oratorium „Dies irae“ geschrieben? Oder in die „12 Bußpsalmen“, die „Agonie“ oder seinen „St. Florian“ für Anton Bruckner eingeflochten?
Wenn ich etwas beizutragen gehabt hätte, wäre es vielleicht eine kleine Wiener Melodie auf einer Ziehharmonika gewesen, das Instrument, das ihn am meisten mit Wien verbindet.
Der 1934 in der Wolga-Kleinstadt Engels geborene Schnittke kam 1946 mit seiner Familie nach Wien. Sein Vater Harry Schnittke, ein aus Frankfurt stammender Kommunist, war als Lokalreporter zur „Österreichischen Zeitung“ berufen worden, einem von der sowjetischen Besatzungsmacht herausgegebenen Organ. Die Familie - Mutter und zwei Geschwister - wohnte von 1946 bis 1948 im 4. Stock der Singerstraße 27, einer arisierten Großbürgerwohnung, die bis vor kurzem der Herr Parteigenosse Puppini bewohnt hatte.
Alfred erinnert sich, dass aus einer Mansarde über ihnen immer Klavierspiel zu hören war und wie ihn die Vorstellung beglückte, dass das Mozart sei, der über seinem Kopf komponierte und übte. Einmal traf er auf der Treppe mit einer etwa 36jährigen Frau zusammen, schlank, dunkle Augen, schwarzes Haar, ein zartes, scheues Wesen, immer allein. Was für eine Enttäuschung, nicht WAM spielte Klavier, sondern das Fräulein Charlotte Ruber, bei der der musikalische Alfred später den ersten Unterricht bekam. 37 Jahre später wird sie noch erleben, wie ihr ehemaliger Schüler in Wien die ersten Triumphe feiert. Auf einem nostalgischen Streifzug durch die Singerstraße kommt er auch an jenem Gasthaus vorbei, in dem er immer für seinen Vater einen Krug Sturm kaufen musste. Er entdeckt mit Freuden vor der Tür ein Schild, das besagt, dass Franz Schubert hier zu den Stammkunden gezählt habe. Den grünen Fayence-Krug hatte Schnittke in seiner Moskauer Wohnung stehen und zeigte ihn gerne seinen Gästen: Daraus habe er seinen Wiener Schubert - Sturm getrunken und den ersten Rausch bekommen.
Wien war für den Zwölfjährigen aus dem Provinznest Engels von der mittleren Wolga mit seinen wenigen Straßenzügen aus primitiven Holzhütten eine neue Welt voller Musik, das Himmelreich auf Erden. Die erste Orgel hörte er, als er an einem Sonntagvormittag mit seinem jüngeren Bruder Viktor aus der Singerstraße spazierte und über die Seilerstätte und die Weihburggasse streunte. Als er um die Ecke bog, hörte er die Orgel aus den offenen Türen der Franziskanerkirche, das Brausen einer nie gehörten Musik überwältigte seine Scheu und zog ihn hinein. Ein einsamer Priester vor dem Altar, im Halbdunkel der Kerzen einige Besucher und über dem Eingang vom Chor dieses Dröhnen und Wogen – das war also ein katholisches Gotteshaus. Fremd und berauschend, eine Initiation für den Sowjetjungen, der noch nie in einer Kirche gewesen war.
Eines Tages brachte der Vater eine Ziehharmonika nach Hause, eine kleine, einfache Hohner mit nur 24 Bässen. Alfred brachte sich das Spiel selbst bei, es gab nichts, was er nicht nachspielte: russische Lieder, die Schnulzen der frühen Nachkriegszeit, Wiener Walzer und englische Hits. Er spielte alles, was er hörte und alles flog ihm zu:
„Mariandl, -andl, -andl, du hast mein Herz am Bandl, Bandl, und lasst es net los“ 2), oder „Bella, bella Donna Marie, bleib mir treu“, oder „What a beautiful girl“, die Straßenmusikanten vom Graben an der Pestsäule, gleich daneben im OP-Kino die ersten amerikanischen Filme und Wochenschauen und der Zirkus Rebernigg auf den unbebauten Scala-Gründen in Favoriten. Und da waren noch viel mehr Lieder, die der junge Schnittke im sowjetischen Offiziersclub in der Hofburg oder in der sowjetischen Schule auf der Prinz-Eugen-Straße hörte: „Mein russisch Mutterland, so hold, so wunderschön, des Herzens Freud, mein trautes Heim“. Auch von blühenden Gärten und wogenden Feldern wurde gesungen, von der großen Freiheit Russlands und vom ewigen Sieg. Er liebte damals Josef Wissarion Stalin – Onkel Pepi, wie man ihn in den Wiener KP-Kreisen zu nennen pflegte- genau so wie den Wolferl, den er sich in die Mansarde über seinem Kopf hineinträumte. So wurde Schnittke sehr früh mit zwei widersprüchlichen Welten konfrontiert und blieb beiden treu.
Als im Jahre 1948 die sowjetische Schule schloss, übersiedelten die Schnittkes wieder nach Moskau, wo Alfred seine klassische Musikausbildung aufnahm.
Der Vater Harry hat nie etwas mit Musik im Sinne gehabt, das Akkordeon hatte er als Prämie von der Redaktion der „ÖZ“ im Globus-Verlag geschenkt bekommen. Wem von seinen Vorgesetzten oder Kollegen war es wohl eingefallen, ihn auf diese Weise auszuzeichnen? Und wer wagt schon zu behaupten, dass ohne diese kleine Hohner Alfred Schnittke kein Komponist geworden wäre?
1) Gidon Kremer: „Zwischen Welten“, Piper Verlag, S 328
2) Die Zitate basieren auf den Erinnerungen von Viktor Schnittke
Zwei Brownings für Fidel Castro und Nikita Chruschtschow
Jekaterinburg I, ein Besuch zum 90. Jahrestag des Zarenmordes
Von Veronika Seyr
Wahrscheinlich wäre das Haus jetzt keine mindere Attraktion als die Eremitage oder der Rote Platz. Sicher wäre es umstellt von Souvenierständen mit Devotionalien, Büchern, Ansichtskarten und Videos, T-Shirts, Kappen und Kopftüchern, belagert von Touristen, umschwärmt von Fotografen und Bettlern. Davor stünden die langen Reihen der Kassabuden, am Eingang würden sich lange Besucherschlangen drängen, dahinter aufgereiht die Autobussse aus dem ganzen Land. Ständig würden offizielle Delegationen eintreffen und wieder abreisen, der Altpräsident, der regierende, der designierte, Erzbischöfe, Archimandriten und einfache Popen.
Die Touristenführer würden die Normalsterblichen unentwegt zum Weitergehen aufrufen, dabei nicht zu drängen, nichts zu berühren, nichts zu fotografieren und nicht laut zu sprechen. Schließlich würden sie die Besucher fast flüsternd dazu auffordern, die 23 Stufen ins Kellergeschoß hinab zu steigen, in einen kleinen Raum mit kahlen Wänden, an denen vielleicht noch die Spuren von 108 Kugeleinschüssen zu sehen wären.
So, ja so ähnlich könnte es sein, wenn das Haus noch existierte. Aber es hat nie einen solchen Ruhm erlebt, das Ipatjew-Haus in Jekaterinburg, das letzte Gefängnis des russischen Zaren Nikolaus II. und seiner Familie. Die Bolschewiki nannten es „das Haus zur besonderen Verwendung“, sie hatten es erst am Vortag des Mordes von dem Geschäftsmann Nikolaj Ipatjew beschlagnahmt. Ob sie dabei bedacht haben, dass im Jahre 1613 nach einer langen Zeit der Wirren eine Bojarenversammlung den Mönch Michail Romanow aus dem Kloster Ipatjew bei Kostroma an der Wolga zum ersten Zaren ganz Russlands beriefen, hat uns die Geschichte nicht überliefert. In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 wurden hier die 7-köpfige Zarenfamilie und ihre 5 Bediensteten vom Erschießungskommando des Ural-Gebietssowjets hingemetzelt. Im Jahr 1975 ordnete der damalige KP-Chef von Swerdlowsk, Boris Jelzin, die Schleifung des Ipatjew-Hauses an, derselbe Jelzin aus eben jenem Jekaterinburg/Swerdlowsk, der 1991 zum ersten frei gewählten Präsidenten des neuen Russland gewählt wurde. An seiner Stelle steht seit den Perestrojka-Jahren eine kleine Holzkirche mit Zwiebeltürmchen. Am vernachlässigten Holzzaun liegen immer frische Blumen und Tannenzweige. Erst seit kurzem wird es mehrfach überragt von der monumentalen Gedächtniskirche „Am Blute“ mit der monströsen Hässlichkeit neureicher Architektur. Sie übertrifft nicht nur mit der Rekordbauzeit von nur 2 Jahren, sondern auch mit allen anderen Parametern alle sibirischen Bauprojekte: die höchsten Türme, die meisten Kuppeln, die teuersten Steine, die schwerste Ikonostas, die größten Luster, die dicksten Kerzen, die meisten Kirchenchöre und Ikononen-Malschulen. An der Außenseite der Kathedrale hat die russische Gigantomanie die 23 Stufen und die Figuren der 12 Opfer in Bronze gegossen, unter den Blumenhaufen kaum noch als Denkmal zu erkennen.
In der Krypta der Kathedrale ist das Mordzimmer des Ipatjew-Hauses nachgebaut. Das mit rotem Teppich ausgelegte Podest wird von dicken Kordeln eingefasst, vor denen sich die Menschschlangen drängen. Immer nur in kleinen Gruppen werden die Besucher auf das Treppchen vorgelassen, über das man das Zimmer wie eine Theaterbühne erreicht.
In ehrwürdigem Flüsterton erzählt die Führerin die Details der Mordnacht nach: wie die Zarenfamilie aus ihren Betten geholt und in den Keller geführt worden sei – angeblich zu ihrer Sicherheit, weil die Tschechische Legion und die Weiße Armee Koltschaks die Stadt umzingelt hätten. Wie die Bolschewiki die 5 Bediensteten freigelassen hätten, diese aber zur Zarenfamilie zurückgekehrt seien, um „das Schicksal ihrer Herrschaften zu teilen“, wie um 1h30 nachts der Jekaterinburger Tscheka-Chef Jakow Jurowski dem Leibarzt des Zaren, Dr. Jewgenij Botkin, befahl, die Gefangenen zu wecken, dass Nikolaj noch nicht geschlafen, sondern in Tolstojs „Krieg und Frieden“ gelesen hätte, wie dann Nikolaj den kranken Zarewitsch in den Keller trug, gefolgt von Alexandra Fjodorowna und den vier Töchtern, die Ikonen und Spitzenkissen mit sich trugen, die jüngste, Anastasia, ihren King-Charles –Spaniel Joy auf den Armen. Die Delinquenten waren völlig ahnungslos, man erklärte ihnen, es gebe Schießereien in der Stadt. Das Exekutionskommando bestand aus 5 Russen und 6 Ungarn (in der Literatur fälschlicherweise oft Letten genannt). Der Plan sah vor, dass jedem der 11 ein bestimmtes Opfer zugewiesen war. Es war befohlen worden, auf das Herz zu zielen, um größere Blutlachen zu vermeiden und schnell fertig zu werden. Es stellte sich aber heraus, dass sie nicht den entsprechenden Personen gegenüberstanden. Außerdem war der Raum viel zu klein, Mörder und Opfer traten einander buchstäblich auf die Füße. Zwei Stühle für das Zarenpaar wurden aufgestellt, alle anderen mussten stehen bleiben. Jurowski verlas das Todesurteil gegen die „Bürger Romanow“: „Angesichts der Tatsache, dass Ihre Verwandten fortgesetzt Anschläge auf Sowjetrussland verüben, hat das Ural-Exekutiv-Komitee verfügt, Sie zu erschießen.“ Der Zar blinzelte und verstand nicht, er bat um eine Wiederholung: „Was ist? Was ist?“ fragte er und drehte sich zu Alexej um. Jurowski spulte seinen Satz hastig noch einmal ab und gab dann seinen Tscheka-Männern das Kommando, das Feuer zu eröffnen.
Was folgte, war das reinste Chaos, das Gemetzel dauerte 20 Minuten. Die meisten Schützen ballerten von der Tür her in den Raum. Der Kommandant schoss aus nächster Nähe auf den Zaren, der sofort umstürzte wie ein Baum, gleich darauf auch seine Frau. Aber die Kinder, eine Hofdame und der Arzt lebten noch. Sie hatten sich im Schreck zu Boden fallen lassen. Die Schüsse prallten an den Wänden ab, die Kugeln sprangen wie Hagelkörner durch das Zimmer und pfiffen den Schützen um die Ohren, einige Exekutoren wurden von Querschlägern verletzt, einige Schüsse gingen in die Decke, zwei Ungarn weigerten sich, auf die Mädchen zu zielen. Die Schießerei wurde immer hektischer, weil alle Getroffenen zu schreien begannen. Alexej hockte wie versteinert auf dem Boden, einer der Tschekisten setzte ihm die Pistole an den Kopf. Die Korsetts und die mit Gold und Juwelen ausgestopften Kleider der Frauen hielten den Schüssen einige Zeit stand, daraufhin drangen die Mörder mit den Bajonetten auf sie ein, die sich aber zu stumpf erwiesen. Die Hauptarbeit erledigten schließlich 2 Browning-Pistolen. (Bericht nach den Aufzeichnungen von Jakow Jurowski von 1920, zitiert aus Alexander Jakowlew „Mein Jahrhundert“).
Die Führerin in der Krypta erzählt faktenreich und einfühlsam von der „letzten Nacht des Heiligen Russland“, aber doch mit der professionellen Routine, die Russland-Besucher auch aus den Puschkin-, Tolstoj- und Tschechow-Museen kennen.
Ich stehe zwischen einer Gruppe von russischen Mittelschülern und alten Pilgerfrauen: die einen gelangweilt und desinteressiert Kaugummi kauend, die Baseballkappen verkehrt herum aufgesetzt, die anderen schluchzend, betend, sich bekreuzigend und mit rot geweinten Augen unter den geblümten Kopftüchern. Dann besteigen die Reisegruppen wieder ihre Autobusse, die Bettlermönche klappern unermüdlich mit ihren Holzbüchsen und murmeln Segenswünsche über die milden Spender, Fotoapparate klicken vor den posierenden Schülergruppen, und dann treibt der scharfe, sibirische Frühlingswind nur noch die leeren Pepsi-Dosen vor sich her, die scheppernd über den Kirchenplatz rollen. Noch höher am Abhang ragt über den Kuppeln der „Blut-Kirche“ der Pionierpalast empor, gekrönt von einer vielfärbig blinkenden Samsung-Reklametafel. Die Ural-Metropole modernisiert sich rasant, ohne seine Geschichte zu verleugnen: auf dem zentralen Platz, der noch immer „Platz der Revolution“ heißt, stehen zwei gigantische Statuen von Lenin und Swerdlow, einander den Rücken zukehrend und mit weit ausholenden Gesten in verschiedene Richtungen zeigend.
Noch in der Mordnacht wurden die Leichname auf Lastwagen geworfen, mit Planen bedeckt und in die Bergwerksschächte von Ganina Jama abtranspotiert. In die Eingänge warf man zur Sicherheit noch Handgranaten. Höchste Eile war geboten, schließlich stand die Weiße Armee vor den Toren Jekaterinburgs. Weil sich die Schächte aber als zu seicht erwiesen und die Bolschewiki eine Entdeckung fürchteten, grub man sie am nächsten Tag wieder aus und führte sie tiefer in den Wald. Dort blieben zuerst die Wagen im Morast stecken. Dann hob man Gruben aus, die aber im Morast immer wieder zusammen stürzten, schließlich versenkte man die Leichname in den Uralsümpfen, überschüttete sie mit Benzin, Kalk und Schwefelsäure und belastete sie mit Baumstämmen, das Gelände wälzte man mit Panzern platt und pflanzte später Bäume auf den kahlen Flächen. Vor alledem aber plünderten die an dem Mord beteiligten Tschekisten noch die Kleider und Korsetts der adeligen Damen.
Wie viele Todesarten? Karabiner, Bajonette, Pistolen. Dann für die schon Toten Grubenschächte und Handgranaten, Benzin, Kalk, Schwefelsäure und wieder Bajonette und Messer, in welcher Reihenfolge? Sumpf, Moor, Balken und Panzerketten. Dann kommt die Natur von selbst mit ihrem Unterholz, den Farnen, Brennnesseln, Glockenblumen und Vergissmeinnicht.
Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Knochenreste entdeckt und in Großbritannien einer DNA-Analyse unterzogen, die den eindeutigen Beweis erbrachte, dass sie den Romanows gehörten. Im Juli 1998 wurden sie in Anwesenheit des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin in der Peter-Pauls-Kathedrale zur letzten Ruhe gebettet. In einer bewegenden Ansprache fand Präsident Jelzin Worte der Entschuldigung für den Zarenmord.
Die offizielle Mitteilung über Hinrichtung des letzten Romanow erschien am 19. Juli 1918 in der Iswestija, allerdings scheuten sich die Bolschewiki einzugestehen, dass sie auch die Zarin, die Kinder und die Bediensteten hinrichten hatten lassen. Augenzeugen berichten, dass die Bevölkerung diese Nachricht mit der denkbar größten Gleichgültigkeit aufnahm. Das Sowjetregime hat bis zuletzt die Entscheidung über den Zarenmord dem Jekaterinburger Sowjet in die Schuhe geschoben. Neueste Archivforschungen brachten vielfältige Beweise ans Tageslicht, dass der Mordbefehl von der Moskauer Partei, also von Lenin, Trotzki und Swerdlow ausging. Am 18. Juli 1918 erschossen die Bolschewiki im Nordural noch weitere 6 hochrangige Mitglieder der Romanow-Dynastie. Der rote Terror rollte.
Die neuesten Fakten steuerte Alexander Jakowlew, Gorbatschow-Berater und Erfinder der Perestroika, in seiner Autobiographie von 2003 bei. Darin schildert das langjährige ZK-Mitglied, wie ihm Chruschtschow 1964 den Auftrag gab, die „Wahrheit über den Zarenmord“ herauszufinden. Chruschtschow trug sich damals mit dem Plan, einen postumen Prozess gegen „den Henkersknecht auf dem Zarenthron“ zu inszenieren; eine typisch Chruschtschow`sche Schnapsidee, meint Jakowlew, hat doch schon Trotzki 1917 einen Prozess nach dem Vorbild der französischen Jakobiner verworfen. Neben dem Zweifel, ob Nikolaj einen gerechten Prozess zu erwarten hätte, tat sich noch ein grundsätzlicheres Problem auf: allein schon den abgesetzten Monarchen vor Gericht zu stellen, setzte die theoretische Möglichkeit seiner Unschuld voraus (wie das auch schon Saint-Juste beim Prozess gegen Ludwig XVI. feststellen musste.) Jakowlew fand in den KGB-Archiven die Namen der Zarenmörder; von denen damals drei noch am Leben waren. Er interviewte sie und legte ein ausführliches Protokoll an. Dem KGB-Dossier lag auch das Testament des am Mord beteiligten Bolschewiken M.A. Mendelejew bei, der seinem Sohn in einem Brief die genaue Schilderung der Mordnacht hinterließ. Der Nachlass enthielt auch zwei Brownings, die nach dem Wunsch des Mendelejew-Sohnes Fidel Castro und Nikita Chruschtschow bekommen sollten. Der Massimo Leader hatte gerade in Begleitung von Chruschtschow der Sowjetunion einen rauschenden Besuch abgestattet und war ein populärer Held. Nach Jakowlews Meinung liegen die Mordwaffen bis jetzt in den KGB-Archiven. Kurz danach wurde Chruschtschow gestürzt und hat seinen kubanischen Freund nicht mehr getroffen.
In den Wäldern der Gräberfunde ist in den letzten Jahren das Sühnekloster „Ganina Jama“ entstanden. Etwa 20 Kilometer östlich von Jekaterinburg, tief in den Ural-Hügeln, liegen 7 Kirchen – eine für jedes Familienmitglied – über ein weites Areal verstreut. Alle sind aus hellem Holz in altrussischer Tradition, mit kunstvollen Schnitzereien und ohne einen einzigen Nagel, zusammengefügt. Ihre grüngoldenen Kuppeln und Türmchen glänzen zwischen den weißen Birken- und den schwarzen Föhrenstämmen hindurch. Ende März liegen noch hohe Schneeberge zwischen den Gebäuden. Die Besuchermassen schieben sich ohne Unterlass durch die Klosteranlage, die Grubeneingänge sind überschüttet mit Blumen und Kerzen, in tiefem Ernst wird das Schweigegebot eingehalten, es herrscht Totenstille, der Schnee ist schon weich und verschluckt die Schritte, nur die Dohlenschwärme schreien ungebührlich laut hoch in den Wipfeln. Ab und zu dringt helles Glockengebimmel durch den Wald, dann eilen die Mönche zum Gebet in ihre Kirchen, in ihren schwarzen Kutten flattern sie wie Krähen zwischen den Bäumen. Seit reiche sibirische Geschäftsleute der orthodoxen Kirche das neue Kloster schenkten, ist seine Anziehungskraft ständig gewachsen: bei der Eröffnung 2001 zogen 4 Mönche ein, nun sind es schon fast hundert, immer mehr Brüder, Schwestern oder einfache Zivilisten siedeln sich an, um ihr Leben ganz in den Dienst des Gebetes und der Sühne zu stellen. Vladimir, ein 44jähriger Arzt, hat seine Familie verlassen und lebt seit 2 Jahren als Laienbruder in Ganina Jama:
„Von hier ist Russlands Unglück ausgegangen, alles, was Russland erdulden musste, hat seinen Anfang im Zarenmord. Vor hier soll auch die Heilung Russlands ausgehen.“
Den letzten Zaren als Märtyrer darzustellen, ist nicht nur in der orthodoxen Kirche wieder populär geworden. Gerne vergisst man 90 Jahre danach, dass nach Nikolajs Abdankung niemand den Monarchen retten wollte, nicht sein englischer Vetter König George V., schon gar nicht der andere, der „geliebte Billy“ in Berlin wollte etwas für „ den lieben Niki“ (die verwandtschaftliche Anrede in ihrer Korrespondenz vor dem Krieg) tun, und auch keine der adeligen oder bürgerlichen Parteien, und von monarchistischen Verschwörungen zur Befreiung der kaiserlichen Familie weiß die Geschichte nichts zu berichten.. Nikolaj war eine so traurige und diskreditierte Gestalt, dass ihn nicht einmal die Weißen, die gegen die bolschewistische Revolution kämpften, als Symbolfigur wollten. Mit den Romanows und ihrer autokratischen Monarchie war kein Staat mehr zu machen.
Warum ging die Ermordung der Romanows trotzdem über die Bedeutung des Todes von einigen wenigen Personen hinaus, während Krieg und Revolution schon Millionen Menschenleben verschlungen hatten? Wahrscheinlich, weil von nun an klar war, dass das einzelne Menschenleben nichts zählte: „Man muss für immer Schluss machen mit dem Popen- und Quäkergeschwätz über den heiligen Wert des menschlichen Lebens“, sagte Trotzki einst.
Ich stehe benommen im Schnee zwischen den Birken von Ganina Jama, habe Schweigen, Schüsse und Glocken im Ohr, das ewige russische Orchester, immer Schüsse und Glocken, Glocken und Schüsse. So starre ich auf meine Stiefelspitzen im Schnee und entdecke, dass er dicht gesprenkelt ist mit Flecken von geronnenem Blut. Ein Gespinst aus roten Äderchen kriecht durch den groben Firn. Bin ich an diesem Ort etwa schon blutblind geworden? Eine Besonderheit des Ural-Frühlings, bekomme ich erklärt, es ist der rote Saft der sibirischen Birken, den ihre Knospen verspritzen, bevor sie platzen.
Trauerkulturen
Zum öffentlichen Tod des Jörg Haider
Auf dem Weg zum Begräbnis eines engen Freundes am Zentralfriedhof wurde ich heute Ohrenzeuge mehrerer Gespräche über den Tod des Kärntner Landeshauptmannes. Zuerst zwei junge Männer im 6er, die sich lautstark darüber ausließen, dass der Jörgl am besten Weg gewesen sei, „ganz Österreich zu fressen“ und bedauerten, dass seine Nachfolger wahrscheinlich noch zu jung und unerfahren seien, um die „Verbrecherbagage von ÖVP und SPÖ“ zu verjagen. Jörg Haider, das Raubtier. Später eroberte ein Rentnerpaar die Oberhoheit über die Passagiere in der U3, in dem sie laut und ungehemmt über „das rote, schwarze und grüne Gsindl“ herzogen, denen es „der Jörg wieder einmal gezeigt habe, fast hätte er sie wieder aufgschnupft in seiner Pfeifn“. Jörg Haider, der Rächer. Mir fiel dabei auf, dass ich derartige Gespräche mit so offensichtlicher Vernichtungsfreude und Menschenverachtung für den politischen Gegner früher nie in öffentlichen Räumen gehört habe. In einer Runde Gleichgesinnter am Wirtshaustisch mit viel Promille im Blut vielleicht, aber einen U-Bahn oder Straßenbahnwagen füllend – das hat erst Jörg Haiders „Politik“ hoffähig gemacht. Hat ja er und seine Entourage ebenso gesprochen, warum sollen das die Simmeringer Arbeitslosen und Pensionisten nicht dürfen?
Dann fragte ich mich, was diese denn von „ihrem Jörgl“ so alles bekommen haben mögen? Eine tolle Ausbildung vielleicht, einen gut bezahlten Job, eine günstige Wohnung, einen Heizkostenzuschuss oder eine Pensionserhöhung? Nichts von alldem, war er doch nicht einmal in der Lage, Kärnten vom letzten Platz aller Bundesländer in allen sozialen, wirtschaftlichen und bildungspolitischen Parametern herunter zu holen, trotz der Geldflüsse, die Haider, oft am Budget vorbei, für Kärnten aus dem bösen Wien herbeischaffte. Haider hat das gesamtösterreichische und speziell kärntnerische Bedürfnis nach Ressentiments, nach Nennung und Kriminalisierung der vermeintlich Schuldigen an der persönlichen Misere befriedigt und öffentlichkeitsfähig gemacht. Es war wieder erlaubt, Feinde zu haben, Feinde zu machen, sie zu benennen und ihnen alles Böse zu wünschen. Haider war ein Hassprediger und die Journalisten mit wenigen Ausnahmen seine allzu willigen Wasserträger, die in Faszination vor ihm auf der Tacken lagen und ihm aus der Hand fraßen, die sie fütterte. Er müsste wegen „Volksverhetzung“ zur Verantwortung gezogen werden; ob „Volksverdummung“ eine inkriminierbare Handlung ist, muss ich erst recherchieren. Von islamistischen Hasspredigern weiß ich nur aus den Medien, kann sie wegen ihrer Muttersprache nicht verstehen. Die jugoslawischen Hassprediger verstand ich zumindest sprachlich, auch wenn ich keinen Zugang zur Psyche dieser hochgebildeten Personen fand: Tudjman war Historiker und General, Karadzic Psychiater und Schriftsteller, Biljana Plavsic, seine Stellvertreterin, doppelte Doktorin in Medizin und Biologie, Mirjana Markovic - Soziologieprofessorin, Nikola Koljevic, der bosnisch-serbische Vizepräsident, war Anglistikprofessor, Schriftsteller und Shakespeare-Übersetzer, Milorad Pavic und Momo Kapor haben früher wunderbare und international anerkannte Romane geschrieben, und das serbische Hassprogramm haben 200 Mitglieder der Akademie der Wissenschaften verfasst. Wie große Potentaten und Weltverbrecher a la Hitler und Stalin, Pol Pot und Saddam Hussein hatte auch H.J. die Fähigkeit, sich eine blinde und treu ergebene Gefolgschaft zu schaffen, die sich mit ihrem Anführer identifizierte, zum Glück nicht dieselben Möglichkeiten. Die Gefolgschaft lebt für IHN und durch IHN, jedes einzelne, kleine miserable Menschlein ist durch IHN mehr als es allein wäre, so wie die beiden Arbeitslosen in ihren ausgelatschten Schuhen und grindigen Trainingsanzügen, den Doppler im Hofer-Sackerl, als sie sich zu der Männerrunde beim Branntweiner vor dem 2. Tor des Zentralfriedhofs gesellten, am helllichten Dienstag um halb elf. Und die Pensionisten in der U3 schnupften lautstark in ihre Taschentücher und wiederholten die Zauberworte vom Lebensmenschen, vom Robin Hood, von der Sonne, die vom Himmel fiel und den Uhren, die am Samstag stehen blieben. Sogar die wahnwitzigen Verschwörungsvermutungen plapperten sie nach: „Nichts haben sie ihm gegönnt, dem Jörgl“, flennte die zahnlose Alte in ihr Taschentuch. Dabei hatte ich immer den Eindruck, dass dieser Mensch alles geschenkt bekommen hat, ihm alles zugeflogen ist oder er sich genommen hat, was er brauchte. Sogar VW mit ihrem „Fätton“ (war übrigens auch auf Ö1 von einer Moderatorin des gestrigen Mittagsjournals so zu hören, Pha:eton, der 1. Amokfahrer der Weltgeschichte) verdächtigen sie, manipuliert gewesen zu sein, weil ihr Jörgl doch nicht einfach so banal abtreten kann, eine Kruzifixteufeleini-Himmelfahrt mit 140 Sachen. Volkes Seele dürstet nach Mythos. Wann haben die beiden Alten zuletzt so geweint? Als ihr Rollmops das Zeitliche segnete? Oder bei den letzten Abschiebungen von vermeintlich straffällig gewordenen Asylwerbern in die Sonderanstalt auf der Saualm? Mit Blaulicht und Sonderbegleitschutz.
Wann habe ich bewusst das erste öffentliche Massentrauern wahrgenommen, die Kerzenlichter- und Blumenmeere wahrgenommen, die vor den Gittern niedergelegten Teddys, Herzen und Briefe? Ach ja, vor 11 Jahren bei Diana, dem Tod der Märchenprinzessin, der Königin der Herzen. H.J., der König der Kärntner Herzen? Diana, auch so eine von den Medien gemachte Figur, picksüß und verlogen, aber politisch weit weniger grauslich als die südost-österreichische. Menschen mögen Märchen, sagte damals eine Journalisten-Kollegin weise, gib dem Affen Zucker, meinte ich weit weniger romantisch.
Die jüngsten Ereignisse erinnern mich an die Geschichte meiner Freundin Dora, Tochter von jüdischen KP-Emigranten, wie bitterlich sie als Fünfjährige geweint habe, als Stalin gestorben war, wie sie sich von da an jeden Abend vor ihr Bett gekniet und für den „Onkel Joschi“ gebetet habe. Sie weiß es bis heute genau, dass sie damals glaubte, nicht weiter leben zu können, so finster und hoffnungslos sah die Welt rund um sie aus. Einer meiner russischen Freunde war bei Stalins Tod 10 Jahre alt. Als Lew am 5. März 1953 in die Schule kam, saß seine geliebte Lehrerin Anna Iwanowna mit verheultem und geschwollenem Gesicht an ihrem Tisch vorne in der Klasse und stützte sich schwer auf beide Arme, vor Schluchzen konnte sie nicht sprechen und kaum atmen. Lew meinte, dass sie einen engen Verwandten verloren haben muss, ihren Mann oder ihre Mutter vielleicht, und wunderte sich, dass sie an diesem Tag nicht zu Hause geblieben war. Und Stalin hatte immerhin 29 Jahre in absolutem Totalitarismus ohne die geringste Alternative regiert, den Feind aus dem Land gejagt, halb Europa erobert und die Sowjetunion zur Supermacht ausgebaut. In Russland ist es üblich, die Verstorbenen in offenem Sarg aufzubahren und zu verabschieden. Die Trauernden werfen sich über den Leichnam, küssen Gesicht und Hände, streicheln die Haare, stecken Blumen und Kerzen zwischen die Finger, weinen und schluchzen in aller Öffentlichkeit. So unterscheiden sich Kulturen und Gebräuche. Mir graust jetzt schon vor den Bildern der Begräbnisfeierlichkeiten in Klagenfurt am Samstag; da werden wir zu sehen bekommen, welcher alter und neuer brauner Abschaum Abschied vom H.J. nimmt.
Als Kaiser Franz Josef II. im Jahr 1916 nach 48 persönlichen Regentschaftsjahren und 600 seiner Familie Habsburg starb, gab es noch kein Fernsehen, die Trauer war weniger öffentlich, es wurden keine weinenden Minister und Kabinettssprecher, keine klagenden kärntner oder tschechischen oder bukowinischen oder kroatischen oder salzburger oder slowenischen oder rhutenischen oder serbischen Untertanen ins Wohnzimmer geliefert, die ihre Liebe zum verblichenen Herrscher aller seiner Völker unter Tränen herausstammelten.
„I hob einfoch doher kumman miassn, dem Jörgl pfiat Gott sogn“, habe ich eine Kärntner Rentnerin mit Steirerhut und tränen erstickter Stimme sagen aus dem TV-Kastl gehört.
Die Filmaufnahmen vom Begräbnis Franz Josefs, seinem Zug durch die Stadt und den Stephansdom zeigen uns stumme, in Würde trauernde Menschen an den Straßenrändern, als der Katafalk von den 16 schwarzen Rössern an ihnen vorbeigezogen wird.
Die Berichte aus Kärnten erinnern mich an die Erzählungen von Jugoslawen aller Nationalitäten, wie ungeheuer fassungslos die Menschen bei Titos Tod gewesen seien, wie übergroß die Trauer, das Gefühl, den allernächsten Menschen verloren zu haben, ihren Lebensinhalt, ihre Gegenwart und ihre Zukunft; mit Tito seien alle Hoffnungen gestorben, vater- und heimatlos hätten sie sich gefühlt, einsam und verlassen, jeder für sich allein. Das ganze Land war gelähmt im Schock und gefangen in einer so abgrundtiefen und lang andauernden Zukunftsangst, dass sie sich einige Jahre später in den Kriegen entlud – meiner Ansicht nach einer der Gründe in der komplexen Kriegsursachenstruktur. Wie sie sich als kleinen Trost an die Slogans geklammert hätten: Tito lebt, Tito-mit dir in Ewigkeit oder einmal Tito – immer Tito. Jaja, da war eine Sonne vom Himmel gestürzt. Die wenigen Gegner, die Tito 1948 auf die KZ-Insel Goli Otok geschickt hatte, schwiegen und trauerten ebenfalls, um ihr eigenes Leben. Der Personenkult war in Titos Jugoslawien zu einer perfekten Maschinerie ausgebaut, aber was hatte Josip Bros Tito nicht alles für sein Land getan und erreicht in den 40 Jahren seines politischen Wirkens an der Spitze? Dieses kollektive Gefühl, einen Überlandesvater verloren zu haben, kann ich bei aller Propaganda verstehen und auch respektieren.
Wie sich die Hagiographie, die Heiligenverehrung von totalitären Regimen und Kirchen doch ähneln – ohne die Metaphysik und Transzendenz der letzteren zu besitzen. Erschreckt war ich und zunehmend erstarrt beim Anschauen der jüngsten Dokumentation von „Menschen und Mächten“ am Sonntag im ORF, eine zusammengeschluderte, speichelleckerische Heilgenvita und Mythenschleuder. Wie kommt so ein Machwerk in einen öffentlich-rechtlichen Sender, für den ich gar nicht wenig bezahlen muss? Kein Millimeter Distanz zum bejubelten und bewunderten Objekt. Haben am Küniglberg nur noch blaue und orange Parteikader das Sagen? Wo sind die kritischen, unabhängigen Redakteure der früheren Zeiten? Alle schon untergetaucht in vorbeugendem Gehorsam vor der großen blau-orangen Säuberungs- und Postenbeschaffungsorgie? Wohin kann man noch schauen und hören? Lesen kann man in diesen Tagen nur noch den Standard und ausländische Zeitungen. Auf den Falter von morgen warte und hoffe ich noch.
Denk ich an Österreich in der Nacht, bin ich um meinen Schlaf gebracht.
Veronika Seyr, 14. Oktober 2008