Mittwoch, 15. Oktober 2008

Trauerkulturen

Zum öffentlichen Tod des Jörg Haider

Auf dem Weg zum Begräbnis eines engen Freundes am Zentralfriedhof wurde ich heute Ohrenzeuge mehrerer Gespräche über den Tod des Kärntner Landeshauptmannes. Zuerst zwei junge Männer im 6er, die sich lautstark darüber ausließen, dass der Jörgl am besten Weg gewesen sei, „ganz Österreich zu fressen“ und bedauerten, dass seine Nachfolger wahrscheinlich noch zu jung und unerfahren seien, um die „Verbrecherbagage von ÖVP und SPÖ“ zu verjagen. Jörg Haider, das Raubtier. Später eroberte ein Rentnerpaar die Oberhoheit über die Passagiere in der U3, in dem sie laut und ungehemmt über „das rote, schwarze und grüne Gsindl“ herzogen, denen es „der Jörg wieder einmal gezeigt habe, fast hätte er sie wieder aufgschnupft in seiner Pfeifn“. Jörg Haider, der Rächer. Mir fiel dabei auf, dass ich derartige Gespräche mit so offensichtlicher Vernichtungsfreude und Menschenverachtung für den politischen Gegner früher nie in öffentlichen Räumen gehört habe. In einer Runde Gleichgesinnter am Wirtshaustisch mit viel Promille im Blut vielleicht, aber einen U-Bahn oder Straßenbahnwagen füllend – das hat erst Jörg Haiders „Politik“ hoffähig gemacht. Hat ja er und seine Entourage ebenso gesprochen, warum sollen das die Simmeringer Arbeitslosen und Pensionisten nicht dürfen?

Dann fragte ich mich, was diese denn von „ihrem Jörgl“ so alles bekommen haben mögen? Eine tolle Ausbildung vielleicht, einen gut bezahlten Job, eine günstige Wohnung, einen Heizkostenzuschuss oder eine Pensionserhöhung? Nichts von alldem, war er doch nicht einmal in der Lage, Kärnten vom letzten Platz aller Bundesländer in allen sozialen, wirtschaftlichen und bildungspolitischen Parametern herunter zu holen, trotz der Geldflüsse, die Haider, oft am Budget vorbei, für Kärnten aus dem bösen Wien herbeischaffte. Haider hat das gesamtösterreichische und speziell kärntnerische Bedürfnis nach Ressentiments, nach Nennung und Kriminalisierung der vermeintlich Schuldigen an der persönlichen Misere befriedigt und öffentlichkeitsfähig gemacht. Es war wieder erlaubt, Feinde zu haben, Feinde zu machen, sie zu benennen und ihnen alles Böse zu wünschen. Haider war ein Hassprediger und die Journalisten mit wenigen Ausnahmen seine allzu willigen Wasserträger, die in Faszination vor ihm auf der Tacken lagen und ihm aus der Hand fraßen, die sie fütterte. Er müsste wegen „Volksverhetzung“ zur Verantwortung gezogen werden; ob „Volksverdummung“ eine inkriminierbare Handlung ist, muss ich erst recherchieren. Von islamistischen Hasspredigern weiß ich nur aus den Medien, kann sie wegen ihrer Muttersprache nicht verstehen. Die jugoslawischen Hassprediger verstand ich zumindest sprachlich, auch wenn ich keinen Zugang zur Psyche dieser hochgebildeten Personen fand: Tudjman war Historiker und General, Karadzic Psychiater und Schriftsteller, Biljana Plavsic, seine Stellvertreterin, doppelte Doktorin in Medizin und Biologie, Mirjana Markovic - Soziologieprofessorin, Nikola Koljevic, der bosnisch-serbische Vizepräsident, war Anglistikprofessor, Schriftsteller und Shakespeare-Übersetzer, Milorad Pavic und Momo Kapor haben früher wunderbare und international anerkannte Romane geschrieben, und das serbische Hassprogramm haben 200 Mitglieder der Akademie der Wissenschaften verfasst. Wie große Potentaten und Weltverbrecher a la Hitler und Stalin, Pol Pot und Saddam Hussein hatte auch H.J. die Fähigkeit, sich eine blinde und treu ergebene Gefolgschaft zu schaffen, die sich mit ihrem Anführer identifizierte, zum Glück nicht dieselben Möglichkeiten. Die Gefolgschaft lebt für IHN und durch IHN, jedes einzelne, kleine miserable Menschlein ist durch IHN mehr als es allein wäre, so wie die beiden Arbeitslosen in ihren ausgelatschten Schuhen und grindigen Trainingsanzügen, den Doppler im Hofer-Sackerl, als sie sich zu der Männerrunde beim Branntweiner vor dem 2. Tor des Zentralfriedhofs gesellten, am helllichten Dienstag um halb elf. Und die Pensionisten in der U3 schnupften lautstark in ihre Taschentücher und wiederholten die Zauberworte vom Lebensmenschen, vom Robin Hood, von der Sonne, die vom Himmel fiel und den Uhren, die am Samstag stehen blieben. Sogar die wahnwitzigen Verschwörungsvermutungen plapperten sie nach: „Nichts haben sie ihm gegönnt, dem Jörgl“, flennte die zahnlose Alte in ihr Taschentuch. Dabei hatte ich immer den Eindruck, dass dieser Mensch alles geschenkt bekommen hat, ihm alles zugeflogen ist oder er sich genommen hat, was er brauchte. Sogar VW mit ihrem „Fätton“ (war übrigens auch auf Ö1 von einer Moderatorin des gestrigen Mittagsjournals so zu hören, Pha:eton, der 1. Amokfahrer der Weltgeschichte) verdächtigen sie, manipuliert gewesen zu sein, weil ihr Jörgl doch nicht einfach so banal abtreten kann, eine Kruzifixteufeleini-Himmelfahrt mit 140 Sachen. Volkes Seele dürstet nach Mythos. Wann haben die beiden Alten zuletzt so geweint? Als ihr Rollmops das Zeitliche segnete? Oder bei den letzten Abschiebungen von vermeintlich straffällig gewordenen Asylwerbern in die Sonderanstalt auf der Saualm? Mit Blaulicht und Sonderbegleitschutz.

Wann habe ich bewusst das erste öffentliche Massentrauern wahrgenommen, die Kerzenlichter- und Blumenmeere wahrgenommen, die vor den Gittern niedergelegten Teddys, Herzen und Briefe? Ach ja, vor 11 Jahren bei Diana, dem Tod der Märchenprinzessin, der Königin der Herzen. H.J., der König der Kärntner Herzen? Diana, auch so eine von den Medien gemachte Figur, picksüß und verlogen, aber politisch weit weniger grauslich als die südost-österreichische. Menschen mögen Märchen, sagte damals eine Journalisten-Kollegin weise, gib dem Affen Zucker, meinte ich weit weniger romantisch.

Die jüngsten Ereignisse erinnern mich an die Geschichte meiner Freundin Dora, Tochter von jüdischen KP-Emigranten, wie bitterlich sie als Fünfjährige geweint habe, als Stalin gestorben war, wie sie sich von da an jeden Abend vor ihr Bett gekniet und für den „Onkel Joschi“ gebetet habe. Sie weiß es bis heute genau, dass sie damals glaubte, nicht weiter leben zu können, so finster und hoffnungslos sah die Welt rund um sie aus. Einer meiner russischen Freunde war bei Stalins Tod 10 Jahre alt. Als Lew am 5. März 1953 in die Schule kam, saß seine geliebte Lehrerin Anna Iwanowna mit verheultem und geschwollenem Gesicht an ihrem Tisch vorne in der Klasse und stützte sich schwer auf beide Arme, vor Schluchzen konnte sie nicht sprechen und kaum atmen. Lew meinte, dass sie einen engen Verwandten verloren haben muss, ihren Mann oder ihre Mutter vielleicht, und wunderte sich, dass sie an diesem Tag nicht zu Hause geblieben war. Und Stalin hatte immerhin 29 Jahre in absolutem Totalitarismus ohne die geringste Alternative regiert, den Feind aus dem Land gejagt, halb Europa erobert und die Sowjetunion zur Supermacht ausgebaut. In Russland ist es üblich, die Verstorbenen in offenem Sarg aufzubahren und zu verabschieden. Die Trauernden werfen sich über den Leichnam, küssen Gesicht und Hände, streicheln die Haare, stecken Blumen und Kerzen zwischen die Finger, weinen und schluchzen in aller Öffentlichkeit. So unterscheiden sich Kulturen und Gebräuche. Mir graust jetzt schon vor den Bildern der Begräbnisfeierlichkeiten in Klagenfurt am Samstag; da werden wir zu sehen bekommen, welcher alter und neuer brauner Abschaum Abschied vom H.J. nimmt.

Als Kaiser Franz Josef II. im Jahr 1916 nach 48 persönlichen Regentschaftsjahren und 600 seiner Familie Habsburg starb, gab es noch kein Fernsehen, die Trauer war weniger öffentlich, es wurden keine weinenden Minister und Kabinettssprecher, keine klagenden kärntner oder tschechischen oder bukowinischen oder kroatischen oder salzburger oder slowenischen oder rhutenischen oder serbischen Untertanen ins Wohnzimmer geliefert, die ihre Liebe zum verblichenen Herrscher aller seiner Völker unter Tränen herausstammelten.

„I hob einfoch doher kumman miassn, dem Jörgl pfiat Gott sogn“, habe ich eine Kärntner Rentnerin mit Steirerhut und tränen erstickter Stimme sagen aus dem TV-Kastl gehört.

Die Filmaufnahmen vom Begräbnis Franz Josefs, seinem Zug durch die Stadt und den Stephansdom zeigen uns stumme, in Würde trauernde Menschen an den Straßenrändern, als der Katafalk von den 16 schwarzen Rössern an ihnen vorbeigezogen wird.

Die Berichte aus Kärnten erinnern mich an die Erzählungen von Jugoslawen aller Nationalitäten, wie ungeheuer fassungslos die Menschen bei Titos Tod gewesen seien, wie übergroß die Trauer, das Gefühl, den allernächsten Menschen verloren zu haben, ihren Lebensinhalt, ihre Gegenwart und ihre Zukunft; mit Tito seien alle Hoffnungen gestorben, vater- und heimatlos hätten sie sich gefühlt, einsam und verlassen, jeder für sich allein. Das ganze Land war gelähmt im Schock und gefangen in einer so abgrundtiefen und lang andauernden Zukunftsangst, dass sie sich einige Jahre später in den Kriegen entlud – meiner Ansicht nach einer der Gründe in der komplexen Kriegsursachenstruktur. Wie sie sich als kleinen Trost an die Slogans geklammert hätten: Tito lebt, Tito-mit dir in Ewigkeit oder einmal Tito – immer Tito. Jaja, da war eine Sonne vom Himmel gestürzt. Die wenigen Gegner, die Tito 1948 auf die KZ-Insel Goli Otok geschickt hatte, schwiegen und trauerten ebenfalls, um ihr eigenes Leben. Der Personenkult war in Titos Jugoslawien zu einer perfekten Maschinerie ausgebaut, aber was hatte Josip Bros Tito nicht alles für sein Land getan und erreicht in den 40 Jahren seines politischen Wirkens an der Spitze? Dieses kollektive Gefühl, einen Überlandesvater verloren zu haben, kann ich bei aller Propaganda verstehen und auch respektieren.

Wie sich die Hagiographie, die Heiligenverehrung von totalitären Regimen und Kirchen doch ähneln – ohne die Metaphysik und Transzendenz der letzteren zu besitzen. Erschreckt war ich und zunehmend erstarrt beim Anschauen der jüngsten Dokumentation von „Menschen und Mächten“ am Sonntag im ORF, eine zusammengeschluderte, speichelleckerische Heilgenvita und Mythenschleuder. Wie kommt so ein Machwerk in einen öffentlich-rechtlichen Sender, für den ich gar nicht wenig bezahlen muss? Kein Millimeter Distanz zum bejubelten und bewunderten Objekt. Haben am Küniglberg nur noch blaue und orange Parteikader das Sagen? Wo sind die kritischen, unabhängigen Redakteure der früheren Zeiten? Alle schon untergetaucht in vorbeugendem Gehorsam vor der großen blau-orangen Säuberungs- und Postenbeschaffungsorgie? Wohin kann man noch schauen und hören? Lesen kann man in diesen Tagen nur noch den Standard und ausländische Zeitungen. Auf den Falter von morgen warte und hoffe ich noch.

Denk ich an Österreich in der Nacht, bin ich um meinen Schlaf gebracht.

Veronika Seyr, 14. Oktober 2008

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