Jekaterinburg I, ein Besuch zum 90. Jahrestag des Zarenmordes
Von Veronika Seyr
Wahrscheinlich wäre das Haus jetzt keine mindere Attraktion als die Eremitage oder der Rote Platz. Sicher wäre es umstellt von Souvenierständen mit Devotionalien, Büchern, Ansichtskarten und Videos, T-Shirts, Kappen und Kopftüchern, belagert von Touristen, umschwärmt von Fotografen und Bettlern. Davor stünden die langen Reihen der Kassabuden, am Eingang würden sich lange Besucherschlangen drängen, dahinter aufgereiht die Autobussse aus dem ganzen Land. Ständig würden offizielle Delegationen eintreffen und wieder abreisen, der Altpräsident, der regierende, der designierte, Erzbischöfe, Archimandriten und einfache Popen.
Die Touristenführer würden die Normalsterblichen unentwegt zum Weitergehen aufrufen, dabei nicht zu drängen, nichts zu berühren, nichts zu fotografieren und nicht laut zu sprechen. Schließlich würden sie die Besucher fast flüsternd dazu auffordern, die 23 Stufen ins Kellergeschoß hinab zu steigen, in einen kleinen Raum mit kahlen Wänden, an denen vielleicht noch die Spuren von 108 Kugeleinschüssen zu sehen wären.
So, ja so ähnlich könnte es sein, wenn das Haus noch existierte. Aber es hat nie einen solchen Ruhm erlebt, das Ipatjew-Haus in Jekaterinburg, das letzte Gefängnis des russischen Zaren Nikolaus II. und seiner Familie. Die Bolschewiki nannten es „das Haus zur besonderen Verwendung“, sie hatten es erst am Vortag des Mordes von dem Geschäftsmann Nikolaj Ipatjew beschlagnahmt. Ob sie dabei bedacht haben, dass im Jahre 1613 nach einer langen Zeit der Wirren eine Bojarenversammlung den Mönch Michail Romanow aus dem Kloster Ipatjew bei Kostroma an der Wolga zum ersten Zaren ganz Russlands beriefen, hat uns die Geschichte nicht überliefert. In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 wurden hier die 7-köpfige Zarenfamilie und ihre 5 Bediensteten vom Erschießungskommando des Ural-Gebietssowjets hingemetzelt. Im Jahr 1975 ordnete der damalige KP-Chef von Swerdlowsk, Boris Jelzin, die Schleifung des Ipatjew-Hauses an, derselbe Jelzin aus eben jenem Jekaterinburg/Swerdlowsk, der 1991 zum ersten frei gewählten Präsidenten des neuen Russland gewählt wurde. An seiner Stelle steht seit den Perestrojka-Jahren eine kleine Holzkirche mit Zwiebeltürmchen. Am vernachlässigten Holzzaun liegen immer frische Blumen und Tannenzweige. Erst seit kurzem wird es mehrfach überragt von der monumentalen Gedächtniskirche „Am Blute“ mit der monströsen Hässlichkeit neureicher Architektur. Sie übertrifft nicht nur mit der Rekordbauzeit von nur 2 Jahren, sondern auch mit allen anderen Parametern alle sibirischen Bauprojekte: die höchsten Türme, die meisten Kuppeln, die teuersten Steine, die schwerste Ikonostas, die größten Luster, die dicksten Kerzen, die meisten Kirchenchöre und Ikononen-Malschulen. An der Außenseite der Kathedrale hat die russische Gigantomanie die 23 Stufen und die Figuren der 12 Opfer in Bronze gegossen, unter den Blumenhaufen kaum noch als Denkmal zu erkennen.
In der Krypta der Kathedrale ist das Mordzimmer des Ipatjew-Hauses nachgebaut. Das mit rotem Teppich ausgelegte Podest wird von dicken Kordeln eingefasst, vor denen sich die Menschschlangen drängen. Immer nur in kleinen Gruppen werden die Besucher auf das Treppchen vorgelassen, über das man das Zimmer wie eine Theaterbühne erreicht.
In ehrwürdigem Flüsterton erzählt die Führerin die Details der Mordnacht nach: wie die Zarenfamilie aus ihren Betten geholt und in den Keller geführt worden sei – angeblich zu ihrer Sicherheit, weil die Tschechische Legion und die Weiße Armee Koltschaks die Stadt umzingelt hätten. Wie die Bolschewiki die 5 Bediensteten freigelassen hätten, diese aber zur Zarenfamilie zurückgekehrt seien, um „das Schicksal ihrer Herrschaften zu teilen“, wie um 1h30 nachts der Jekaterinburger Tscheka-Chef Jakow Jurowski dem Leibarzt des Zaren, Dr. Jewgenij Botkin, befahl, die Gefangenen zu wecken, dass Nikolaj noch nicht geschlafen, sondern in Tolstojs „Krieg und Frieden“ gelesen hätte, wie dann Nikolaj den kranken Zarewitsch in den Keller trug, gefolgt von Alexandra Fjodorowna und den vier Töchtern, die Ikonen und Spitzenkissen mit sich trugen, die jüngste, Anastasia, ihren King-Charles –Spaniel Joy auf den Armen. Die Delinquenten waren völlig ahnungslos, man erklärte ihnen, es gebe Schießereien in der Stadt. Das Exekutionskommando bestand aus 5 Russen und 6 Ungarn (in der Literatur fälschlicherweise oft Letten genannt). Der Plan sah vor, dass jedem der 11 ein bestimmtes Opfer zugewiesen war. Es war befohlen worden, auf das Herz zu zielen, um größere Blutlachen zu vermeiden und schnell fertig zu werden. Es stellte sich aber heraus, dass sie nicht den entsprechenden Personen gegenüberstanden. Außerdem war der Raum viel zu klein, Mörder und Opfer traten einander buchstäblich auf die Füße. Zwei Stühle für das Zarenpaar wurden aufgestellt, alle anderen mussten stehen bleiben. Jurowski verlas das Todesurteil gegen die „Bürger Romanow“: „Angesichts der Tatsache, dass Ihre Verwandten fortgesetzt Anschläge auf Sowjetrussland verüben, hat das Ural-Exekutiv-Komitee verfügt, Sie zu erschießen.“ Der Zar blinzelte und verstand nicht, er bat um eine Wiederholung: „Was ist? Was ist?“ fragte er und drehte sich zu Alexej um. Jurowski spulte seinen Satz hastig noch einmal ab und gab dann seinen Tscheka-Männern das Kommando, das Feuer zu eröffnen.
Was folgte, war das reinste Chaos, das Gemetzel dauerte 20 Minuten. Die meisten Schützen ballerten von der Tür her in den Raum. Der Kommandant schoss aus nächster Nähe auf den Zaren, der sofort umstürzte wie ein Baum, gleich darauf auch seine Frau. Aber die Kinder, eine Hofdame und der Arzt lebten noch. Sie hatten sich im Schreck zu Boden fallen lassen. Die Schüsse prallten an den Wänden ab, die Kugeln sprangen wie Hagelkörner durch das Zimmer und pfiffen den Schützen um die Ohren, einige Exekutoren wurden von Querschlägern verletzt, einige Schüsse gingen in die Decke, zwei Ungarn weigerten sich, auf die Mädchen zu zielen. Die Schießerei wurde immer hektischer, weil alle Getroffenen zu schreien begannen. Alexej hockte wie versteinert auf dem Boden, einer der Tschekisten setzte ihm die Pistole an den Kopf. Die Korsetts und die mit Gold und Juwelen ausgestopften Kleider der Frauen hielten den Schüssen einige Zeit stand, daraufhin drangen die Mörder mit den Bajonetten auf sie ein, die sich aber zu stumpf erwiesen. Die Hauptarbeit erledigten schließlich 2 Browning-Pistolen. (Bericht nach den Aufzeichnungen von Jakow Jurowski von 1920, zitiert aus Alexander Jakowlew „Mein Jahrhundert“).
Die Führerin in der Krypta erzählt faktenreich und einfühlsam von der „letzten Nacht des Heiligen Russland“, aber doch mit der professionellen Routine, die Russland-Besucher auch aus den Puschkin-, Tolstoj- und Tschechow-Museen kennen.
Ich stehe zwischen einer Gruppe von russischen Mittelschülern und alten Pilgerfrauen: die einen gelangweilt und desinteressiert Kaugummi kauend, die Baseballkappen verkehrt herum aufgesetzt, die anderen schluchzend, betend, sich bekreuzigend und mit rot geweinten Augen unter den geblümten Kopftüchern. Dann besteigen die Reisegruppen wieder ihre Autobusse, die Bettlermönche klappern unermüdlich mit ihren Holzbüchsen und murmeln Segenswünsche über die milden Spender, Fotoapparate klicken vor den posierenden Schülergruppen, und dann treibt der scharfe, sibirische Frühlingswind nur noch die leeren Pepsi-Dosen vor sich her, die scheppernd über den Kirchenplatz rollen. Noch höher am Abhang ragt über den Kuppeln der „Blut-Kirche“ der Pionierpalast empor, gekrönt von einer vielfärbig blinkenden Samsung-Reklametafel. Die Ural-Metropole modernisiert sich rasant, ohne seine Geschichte zu verleugnen: auf dem zentralen Platz, der noch immer „Platz der Revolution“ heißt, stehen zwei gigantische Statuen von Lenin und Swerdlow, einander den Rücken zukehrend und mit weit ausholenden Gesten in verschiedene Richtungen zeigend.
Noch in der Mordnacht wurden die Leichname auf Lastwagen geworfen, mit Planen bedeckt und in die Bergwerksschächte von Ganina Jama abtranspotiert. In die Eingänge warf man zur Sicherheit noch Handgranaten. Höchste Eile war geboten, schließlich stand die Weiße Armee vor den Toren Jekaterinburgs. Weil sich die Schächte aber als zu seicht erwiesen und die Bolschewiki eine Entdeckung fürchteten, grub man sie am nächsten Tag wieder aus und führte sie tiefer in den Wald. Dort blieben zuerst die Wagen im Morast stecken. Dann hob man Gruben aus, die aber im Morast immer wieder zusammen stürzten, schließlich versenkte man die Leichname in den Uralsümpfen, überschüttete sie mit Benzin, Kalk und Schwefelsäure und belastete sie mit Baumstämmen, das Gelände wälzte man mit Panzern platt und pflanzte später Bäume auf den kahlen Flächen. Vor alledem aber plünderten die an dem Mord beteiligten Tschekisten noch die Kleider und Korsetts der adeligen Damen.
Wie viele Todesarten? Karabiner, Bajonette, Pistolen. Dann für die schon Toten Grubenschächte und Handgranaten, Benzin, Kalk, Schwefelsäure und wieder Bajonette und Messer, in welcher Reihenfolge? Sumpf, Moor, Balken und Panzerketten. Dann kommt die Natur von selbst mit ihrem Unterholz, den Farnen, Brennnesseln, Glockenblumen und Vergissmeinnicht.
Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Knochenreste entdeckt und in Großbritannien einer DNA-Analyse unterzogen, die den eindeutigen Beweis erbrachte, dass sie den Romanows gehörten. Im Juli 1998 wurden sie in Anwesenheit des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin in der Peter-Pauls-Kathedrale zur letzten Ruhe gebettet. In einer bewegenden Ansprache fand Präsident Jelzin Worte der Entschuldigung für den Zarenmord.
Die offizielle Mitteilung über Hinrichtung des letzten Romanow erschien am 19. Juli 1918 in der Iswestija, allerdings scheuten sich die Bolschewiki einzugestehen, dass sie auch die Zarin, die Kinder und die Bediensteten hinrichten hatten lassen. Augenzeugen berichten, dass die Bevölkerung diese Nachricht mit der denkbar größten Gleichgültigkeit aufnahm. Das Sowjetregime hat bis zuletzt die Entscheidung über den Zarenmord dem Jekaterinburger Sowjet in die Schuhe geschoben. Neueste Archivforschungen brachten vielfältige Beweise ans Tageslicht, dass der Mordbefehl von der Moskauer Partei, also von Lenin, Trotzki und Swerdlow ausging. Am 18. Juli 1918 erschossen die Bolschewiki im Nordural noch weitere 6 hochrangige Mitglieder der Romanow-Dynastie. Der rote Terror rollte.
Die neuesten Fakten steuerte Alexander Jakowlew, Gorbatschow-Berater und Erfinder der Perestroika, in seiner Autobiographie von 2003 bei. Darin schildert das langjährige ZK-Mitglied, wie ihm Chruschtschow 1964 den Auftrag gab, die „Wahrheit über den Zarenmord“ herauszufinden. Chruschtschow trug sich damals mit dem Plan, einen postumen Prozess gegen „den Henkersknecht auf dem Zarenthron“ zu inszenieren; eine typisch Chruschtschow`sche Schnapsidee, meint Jakowlew, hat doch schon Trotzki 1917 einen Prozess nach dem Vorbild der französischen Jakobiner verworfen. Neben dem Zweifel, ob Nikolaj einen gerechten Prozess zu erwarten hätte, tat sich noch ein grundsätzlicheres Problem auf: allein schon den abgesetzten Monarchen vor Gericht zu stellen, setzte die theoretische Möglichkeit seiner Unschuld voraus (wie das auch schon Saint-Juste beim Prozess gegen Ludwig XVI. feststellen musste.) Jakowlew fand in den KGB-Archiven die Namen der Zarenmörder; von denen damals drei noch am Leben waren. Er interviewte sie und legte ein ausführliches Protokoll an. Dem KGB-Dossier lag auch das Testament des am Mord beteiligten Bolschewiken M.A. Mendelejew bei, der seinem Sohn in einem Brief die genaue Schilderung der Mordnacht hinterließ. Der Nachlass enthielt auch zwei Brownings, die nach dem Wunsch des Mendelejew-Sohnes Fidel Castro und Nikita Chruschtschow bekommen sollten. Der Massimo Leader hatte gerade in Begleitung von Chruschtschow der Sowjetunion einen rauschenden Besuch abgestattet und war ein populärer Held. Nach Jakowlews Meinung liegen die Mordwaffen bis jetzt in den KGB-Archiven. Kurz danach wurde Chruschtschow gestürzt und hat seinen kubanischen Freund nicht mehr getroffen.
In den Wäldern der Gräberfunde ist in den letzten Jahren das Sühnekloster „Ganina Jama“ entstanden. Etwa 20 Kilometer östlich von Jekaterinburg, tief in den Ural-Hügeln, liegen 7 Kirchen – eine für jedes Familienmitglied – über ein weites Areal verstreut. Alle sind aus hellem Holz in altrussischer Tradition, mit kunstvollen Schnitzereien und ohne einen einzigen Nagel, zusammengefügt. Ihre grüngoldenen Kuppeln und Türmchen glänzen zwischen den weißen Birken- und den schwarzen Föhrenstämmen hindurch. Ende März liegen noch hohe Schneeberge zwischen den Gebäuden. Die Besuchermassen schieben sich ohne Unterlass durch die Klosteranlage, die Grubeneingänge sind überschüttet mit Blumen und Kerzen, in tiefem Ernst wird das Schweigegebot eingehalten, es herrscht Totenstille, der Schnee ist schon weich und verschluckt die Schritte, nur die Dohlenschwärme schreien ungebührlich laut hoch in den Wipfeln. Ab und zu dringt helles Glockengebimmel durch den Wald, dann eilen die Mönche zum Gebet in ihre Kirchen, in ihren schwarzen Kutten flattern sie wie Krähen zwischen den Bäumen. Seit reiche sibirische Geschäftsleute der orthodoxen Kirche das neue Kloster schenkten, ist seine Anziehungskraft ständig gewachsen: bei der Eröffnung 2001 zogen 4 Mönche ein, nun sind es schon fast hundert, immer mehr Brüder, Schwestern oder einfache Zivilisten siedeln sich an, um ihr Leben ganz in den Dienst des Gebetes und der Sühne zu stellen. Vladimir, ein 44jähriger Arzt, hat seine Familie verlassen und lebt seit 2 Jahren als Laienbruder in Ganina Jama:
„Von hier ist Russlands Unglück ausgegangen, alles, was Russland erdulden musste, hat seinen Anfang im Zarenmord. Vor hier soll auch die Heilung Russlands ausgehen.“
Den letzten Zaren als Märtyrer darzustellen, ist nicht nur in der orthodoxen Kirche wieder populär geworden. Gerne vergisst man 90 Jahre danach, dass nach Nikolajs Abdankung niemand den Monarchen retten wollte, nicht sein englischer Vetter König George V., schon gar nicht der andere, der „geliebte Billy“ in Berlin wollte etwas für „ den lieben Niki“ (die verwandtschaftliche Anrede in ihrer Korrespondenz vor dem Krieg) tun, und auch keine der adeligen oder bürgerlichen Parteien, und von monarchistischen Verschwörungen zur Befreiung der kaiserlichen Familie weiß die Geschichte nichts zu berichten.. Nikolaj war eine so traurige und diskreditierte Gestalt, dass ihn nicht einmal die Weißen, die gegen die bolschewistische Revolution kämpften, als Symbolfigur wollten. Mit den Romanows und ihrer autokratischen Monarchie war kein Staat mehr zu machen.
Warum ging die Ermordung der Romanows trotzdem über die Bedeutung des Todes von einigen wenigen Personen hinaus, während Krieg und Revolution schon Millionen Menschenleben verschlungen hatten? Wahrscheinlich, weil von nun an klar war, dass das einzelne Menschenleben nichts zählte: „Man muss für immer Schluss machen mit dem Popen- und Quäkergeschwätz über den heiligen Wert des menschlichen Lebens“, sagte Trotzki einst.
Ich stehe benommen im Schnee zwischen den Birken von Ganina Jama, habe Schweigen, Schüsse und Glocken im Ohr, das ewige russische Orchester, immer Schüsse und Glocken, Glocken und Schüsse. So starre ich auf meine Stiefelspitzen im Schnee und entdecke, dass er dicht gesprenkelt ist mit Flecken von geronnenem Blut. Ein Gespinst aus roten Äderchen kriecht durch den groben Firn. Bin ich an diesem Ort etwa schon blutblind geworden? Eine Besonderheit des Ural-Frühlings, bekomme ich erklärt, es ist der rote Saft der sibirischen Birken, den ihre Knospen verspritzen, bevor sie platzen.
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