Der älteste österreichische GULAG-Insasse Nr. 3-1-504
Die russische Pelzmütze ist tief in die Stirn gedrückt, die Ohrenklappen baumeln über den hohlen Wangen, aus dem totenkopfartigen Gesicht ragen eine schmale, leicht geschwungene Nase und ein markantes Kinn hervor, auch der dicke Stoffmantel kann die erschreckende Magerkeit des Körpers nicht überdecken, so steht er da, leicht vorne über gebeugt und trotzdem aufrecht, dabei hält er sich an einem Geländer fest und blinzelt in die Sonne, den Blick auf die gleißenden Bergketten nach Süden gerichtet. „Schön“, sagt er fast ohne Atem –
„Innsbruck ist schön.“ Das ist mein letztes Foto von Peter Demant, aufgenommen an einem strahlenden Märztag Anfang 2005 auf der Bergstation des Hafelekar hoch über Innsbruck, seiner Geburtsstadt. (Foto von V.S.) Eine Rückkehr nach 85 Jahren. Der verlorene Sohn ist eine Woche lang Ehrengast von Bürgermeisterin Hilde Zach.
Ich lernte Peter Demant 1998 in Moskau kennen, einen beständigen und eifrigen Besucher der Österreich-Bibliothek und Zuhörer bei den Lesungen von österreichischen Schriftstellern. Wegen seiner Schwerhörigkeit saß er immer in der ersten Reihe, direkt gegenüber dem Autorentisch, er hielt zum besseren Verständnis seine Hände hinter die riesigen Ohrmuscheln seines kahlen Kopfes, sodass sie über seinem gekrümmten Rücken Trichter bildeten. Aber auch ohne diese Haltung wäre er aufgefallen. Dieser alte Herr war immer besonders gepflegt und ausgewählt gekleidet, mir fiel seine in Moskau unbestimmbare Extravaganz auf, die ich keinem bekannten Stil, keiner Zeit und keiner Gesellschaftsschicht zuordnen konnte. Ein turgenjewscher oder tschechowscher Landadeliger vielleicht, der sich auf den Weg in die Stadt macht? Er war charmant und warmherzig, aus den Runzeln strahlten immer noch die bergführerblauen Augen, und trotz seines dürren, eingefallenen Körpers schien eine große Kraft von ihm auszugehen; Leben, Alter und Schicksal hatten nicht ganz auslöschen können, was man früher Schönheit genannt hätte. Seinen Hemden, Sakkos, Krawatten und Schuhen sah man bei aller bemühten Gepflegtheit die Herkunft aus viel früheren und sehr anderen Zeiten an. Wie ein eingefrorener Posthornton, altmodisch, zeitlos und rätselhaft. Alles an ihm schlotterte, der Hemdkragen zu weit, die Schultern zu breit, eine goldene Kette verschwand in der rechten Brusttasche, Uhr oder Lorgninon? Das seidene Gilet unter dem karrierten Sakko war extra mit einem Gürtel zusammen geschnürt, die Hosen mit hohen Stulpen, sogar die immer blanken Schuhe mussten dicke Socken ausfüllen, und bei seiner lebhaften Gestikulation drohte der schwere Siegelring immer vom knochendürren Finger weg zu fliegen. Besonders bewunderte ich seine abwechslungsreichen Strickkrawatten, die immer ein gesticktes Edelweiß, einen Enzian oder sonst ein alpines Signal trugen. Und das war noch nicht das Augenfälligste an ihm. Er nahm lebhaft teil am üblichen Frage-Antwort-Spiel nach Lesungen und Vorträgen, mit einer leisen Stimme sprach er klar strukturiert, fast druckreif, und er erfasste die Themen mit der kühlen Logik eines Wissenschaftlers. Aber Tonfall und Stil seines perfekten und immer gewählten Deutsch konnte ich nirgends einordnen: Prager- oder Budapester-Deutsch? Und dann war da noch ein leichter Tiroler Einschlag, bei allem klang etwas Altes, Halbfremdes-Halbvertrautes mit. Später, als wir besser miteinander bekannt wurden, wagte ich die Frage zu stellen: das sei das Bukowina-Deutsch. So könnten Paul Antschel und Rose Ausländer geklungen haben, Bruno Schulz und Gregor von Rezzori. Dieser alte Herr erwies sich als glühend interessiert an allen Fragen über Österreich und äußerst belesen in klassischer wie in neuester österreichischer Literatur, war er doch selbst schriftstellerisch tätig und gleich gut zu Hause in acht (8!) Sprachen.
Peter Demant wird am 18. August 1918 in Innsbruck in eine k.u.k. Adelsfamilie geboren, sein Vater ist der Generalstäbler Sigmund von Demant, eingesetzt an der italienischen Front, seine Mutter entstammt einer Wiener Großbürgerfamilie, sein Taufpate ist der Schriftsteller und Verleger Ludwig von Ficker. 5 Jahre irrt die Familie Demant mit wachsender Kinderschar durch die Reste der Donaumonarchie, bis der Vater bei der neu geschaffenen königlichen Armee Rumäniens als Instruktor anheuert. Wie schon in Tirol ist er dort zuständig für die Gebirgsausbildung, und die Familie siedelt in den Nordwesten über. Nicht weit von dort, in Czernowitz besucht Peter das deutsche Gymnasium, zwei Klassen unter ihm sitzt ein gewisser Schüler Antschel, der später als Paul Celan zu Ruhm kommt. Sie kennen sich nur von ferne. Peter studiert in Aachen und Brünn Maschinenbau und kehrt nach dem Abschluss 1939 nach Czernowitz zurück- eine schicksalsschwere Entscheidung, wie sich bald zeigen sollte. Als die Sowjetunion 1940 Rumänien besetzt, werden die Demants als feindliche Ausländer in sowjetische Arbeitslager verschleppt. Peter muss bei Tomsk im Südural in der Landwirtschaft und in einer Papiermühle Zwangsarbeit leisten, die Geschwister entkommen nach Westeuropa, seine Eltern kommen in verschiedene andere Lager, von ihrem Tod erfährt er erst 30 Jahre später. Schon nach dem Kriegsende, am 27. Juli 1945, wird Peter Demant denunziert, ein österreichischer Spion soll er sein. Das Militärtribunal der Tomsker Garnison verurteilt ihn ohne Prozess nach Artikel 58 – 1a, 10, 11, 14 (Vaterlandsverrat, antisowjetische Propaganda, Gruppensabotage) des sowjetischen Strafgesetzbuches zu 13 Jahren GULAG. Die Nummer 3-1-504 wird er von nun an auf seinem Sträflingsanzug tragen. Jetzt folgt Zwangsarbeit in Blei- und Goldminen, in den Zinnaufbereitungsanlagen von Kolyma und Magadan, den schrecklichsten Orten im Fernen Osten. Fast gelingt ihm einmal die Flucht, bis er knapp an der chinesischen Grenze aufgegriffen und ins Lager zu verschärfter Haft zurück geschafft wird, zwei seiner Kameraden sterben an Erschöpfung, einer wird zu Tode geprügelt. Bei minus 50-60 Grad muss er in einer Kalkbrennerei arbeiten, im Freien und in erbärmlich dünner Häftlingskleidung. Da erkrankt er an der schrecklichen Silikose, der Staublunge, die ihn nie wieder loslassen sollte. Er magert zum Skelett ab, der über 1,80 große, sportliche Mann wiegt nur noch 45 Kilo. (Foto aus Wikipedia)
Wie und warum hat er überhaupt überlebt? „Wenn es nicht der höhere Ratschluss war, mich am Leben zu erhalten“, erzählt mir der 87 Jährige beim Abendessen im Goldenen Dachl mit verschmitztem Lächeln, „dann war das die spartanische Erziehung durch meinen Vater und unsere gemeinsame Liebe zu den Bergen. In den 1920er und 1930er Jahren haben wir fast jeden Gipfel Europas bestiegen oder mit Schiern befahren. Ich dachte nicht, dass mir das einmal das Leben retten würde.“ Und noch etwas muss für ihn lebenserhaltend gewesen sein, zieht er in Erwägung: Er erhielt eine profunde klassische Bildung und wusste viele literarische Texte auswendig; so konnte er seine Mithäftlinge unterhalten, die Erzählung eines Shakespeare-Stückes oder einer Tiroler Sage, des Kampfes von Andreas Hofer gegen Napoleon oder einer Schiller`schen Ballade für eine Brot- und Grützeration eintauschen, und darüber verlor er nie die Hoffnung. „Wenn das passiert, ist man schneller tot als eine Fliege“. Bis zum Ende seiner GULAG-Zeit muss er als Träger malochen. Einmal hat er ausgerechnet, dass er mit schweren Lasten auf dem Rücken eineinhalb Mal den Äquator umrundet und dabei wahrscheinlich die Hälfte der Erdkugel geschleppt hat. Im August 1953, 6 Monate nach Stalins Tod, wird er aus dem GULAG entlassen, bleibt aber in Verbannung in Sibirien. Das Tomsker Urteil beinhaltet auch das Verbot, sich in Städten des europäischen Teils Russlands nieder zu lassen (nicht anders als es den Dekabristen nach 1825 erging), sodass er erst 1978 nach Moskau kommt; zusammen mit seiner russischen Frau Irina Wetschnaja (russ. die Ewige!) bezieht er eine herrschaftliche Wohnung im Zentrum, eine Erbschaft von Irinas Vaters, der unter Stalin ein hoher Militär war und wie durch ein Wunder alle Säuberungen überlebte. Wenn er diese Geschichte erzählt, beginnt Peter Demant zu strahlen, die Falten glätten sich und das Gesicht leuchtet auf wie in einem Sonnenkranz, nicht nur weil er in Irina seine große Liebe, treue Gefährtin und strenge Lektorin gefunden hat, sondern er amüsiert sich köstlich über die Ironie des Schicksals: welcher andere Ex-Häftling hat schon eine Generalstochter geheiratet und ist aus dem GULAG in eine Generalswohnung übersiedelt? Von jetzt an arbeitet er fieberhaft an seinen Erinnerungen und veröffentlicht unter dem Pseudonym Vernon Kress sieben Bücher: über seine Jugend in Czernowitz, über sein Lagerleben, historische Romane a la Walter Scott und Kinderbücher a la J. F. Cooper. Gleich nach der Wende beantragt er einen Auslands-Reisepass und macht sich auf in die weite Welt, von der er mehr als 50 Jahre lang abgeschottet gelebt hatte; in ausgedehnten Reisen besucht er Europa und die USA und schreibt darüber drei Reisebücher. Er engagiert sich bei „Memorial“, der russischen Organisation zur Aufarbeitung des Stalinterrors, und bereist Russland mit Vorträgen über seine Lagerjahre. Zu seinen bittersten Erfahrungen gehört es, dass das Interesse an der jüngsten Vergangenheit gering ist: „Russland ist noch nicht bereit, sich selbst in den Spiegel zu schauen“, stellt er einmal fest, „das ist schwer zu ertragen und wie eine zweite Verurteilung.“ Schon in der ersten Demokratisierungs-Welle unter Boris Jelzin wird er 1991 offiziell rehabilitiert.
Bei den Gesprächen mit Peter Demant, die ich entweder in seinem bis unter die hohe Decke mit Büchern angefüllten Arbeitszimmer (Foto von V.S.) oder im Cafe de Vienne am Patriarchenteich im Zentrum Moskaus führte, fiel mir immer seine Fröhlichkeit auf, die unerschütterliche Gelassenheit gegenüber seinem Schicksal und die vollständige Abwesenheit auch nur eines Hauches von Bitterkeit. Er hätte die Sowjetunion verlassen können, als seine Verbannung aufgehoben wurde, nein, er blieb und wurde Staatsbürger des Landes, das sein Leben zerstörte. Aber nicht doch, protestiert er, so dürfe man das nicht sehen, die Menschen in der Sowjetunion sind die ersten und größten Opfer des GULAG-Regimes, er kann und will sie nicht beschuldigen, Schuld sei immer nur konkret und persönlich. Er habe in den Lagern und in der Verbannung die Hölle kennen gelernt, aber auch die wunderbarsten Menschen, er fühle sich reich beschenkt und müsse nichts bedauern.
Als er entlassen wurde, verfasste er für die zurück gebliebenen Kameraden ein Liederbuch, dem er ein Gedicht von Francois Villon voranstellte (Foto von Memorial auf Wikipedia).
Man schlage ihnen ihre Fresse ein
Mit schweren Eisenhämmern.
Im Übrigen will ich vergessen
Und bitte sie, mir zu verzeih`n.
Die 3 Bände seiner Lager-Aufzeichnungen „3-1-504 – Das Dekameron des XX. Jahrhunderts“ hat er allen Menschen gewidmet, die so wie er unschuldig in den „großen Fleischwolf“ – so nannten die Häftlinge das GULAG-System“ - gerieten.
Nicht nur, dass ich Peter Demant nie ein schmähendes Wort über die Sowjetunion äußern hörte, war er emotional so diszipliniert, stark und weise, dass er je dem Verlust seiner beiden Heimaten, Österreich und Rumänien, nachtrauerte.
Obwohl das Thema zwischen uns nie berührt wurde, meinte ich heraus spüren, dass er gegen die Zuerkennung der österreichischen Staatsbürgerschaft nichts einzuwenden hätte. Also stellte ich im Namen des Botschafters bei der Tiroler Landesregierung einen entsprechenden Antrag, der von einem Referenten kurz angebunden abgelehnt wurde: Herr Demant habe keinerlei Verdienste um die Republik Österreich vorzuweisen und könne daher nicht in den Genuss einer österreichischen Staatsbürgerschaft kommen, was ja auch vollkommen der Wahrheit entspricht.
Die Einladung der Innsbrucker Bürgermeisterin im März 2005, die er noch schwer krank als 87-Jähriger absolvierte, empfand er als freundlich, tröstlich und hat ihn tief gerührt. Glücklich war er über das große Interesse seiner zahlreichen Zuhörer an seiner Lebensgeschichte, der Studenten an der Uni, der Besucher im Kulturgasthaus und der örtlichen Medien. So wurde sein Besuch zu einer richtigen Heimkehr, auch ohne österreichischen Pass. Jelzin war da auf seine Weise schneller.
Peter Demant verstarb am 11.Dezember 2006 und ist auf dem Moskauer Neujungfrauen- Friedhof beigesetzt. Die 5000 Bände seiner Bibliothek vermachte er der ukrainischen Stadt Cernivci.
Mittwoch, 16. Juni 2010
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