Als
Ditta das Haus betrat, wusste sie sofort, dass ihr Mann aus der
Firma zurück war. Im Vorhaus standen seine Schuhe exakt paralell
auf der Matte, der beige Staubmantel und der grüne Schirm hingen
in der Garderobe, die dünne schweinslederne Aktentasche und der
Schlüsselbund lagen auf dem Board unterhalb des Spiegels. Alles sah
aus wie immer, wenn sie aus dem Golfclub, der Sauna oder von der
Bridge-Runde zurückkam. Nur sie war eine andere geworden, ganz
plötzlich, heute Nachmittag.
Schon
an der offenen Türe rief sie ins Haus hinein:
"Ich
bin wieder da, Darling! Was machst du, Heinzi?“
Dieselbe
Frage wie jeden Tag, obwohl sie wusste, dass er im Wohnzimmer, das er
„Office“ nannte, in seinem Ohrensessel saß, in der New York
Times Börsenberichte studierte und Kreuzwort- und Sudoku-Rätsel
löste. Dazu gönnte er sich die einzige Zigarre des Tages, die
sie ihm erlaubte, während er darauf wartete, dass sie das Abendessen
servierte.
Ditta
war aufgeregt, sie atmete schwer, spürte auf den Wangen rote
Flecken aufziehen und zitterte so, dass sie gegen ihre Gewohnheit
mit Schuhen, Jacke und Tasche ins Zimmer stürzte. Ihr Mann schaute
kurz auf, zuckte mit den Schultern und brummte:
„Nanana,
wo brennt`s denn? Was gibt es zu essen?“
Auch
diese Frage kam jeden Tag und war so überflüssig wie ihre, weil er
sich jeden Abend einen Wurst- und Käseaufschnitt mit Beilagen und
ein reichhaltiges Brot- und Gebäckskörbchen wünschte. Obwohl er
Knäckebrot verachtete und es noch nie angefasst hatte, musste es
immer dabei liegen. Er könnte ja jemand vorbeikommen, der Knäckebrot
schätzte. Es war aber noch nie ein Schwede bei ihnen vorbeigekommen.
Bei ihnen kam schon lange niemand mehr einfach so vorbei.
"Gleich,
ich komme!
Stell
dir vor, was mir heute passiert ist."
"Kann
das nicht später sein? Ich habe Hunger und bin müde."
Dass Heinz Hofferer hungrig war, konnte sie nicht ausschließen,
denn er machte sich nie selbst etwas zu essen. Dass er heute müde
war von einem langen Arbeitstag, war übertrieben, denn er hatte
schon vor drei Jahren einen tüchtigen Geschäftsführer in seiner
Firma eingestellt. Kulmann ging nur noch ins Büro, weil ihm zu
Hause langweilig war. Er hatte als Geschäftsmann über viele Jahre
äußerst erfolgreich eine Firma aufgebaut, die Glückskarten und
Rubbellose herstellte, also eine Grafikanstalt und eine
Spezial-Druckerei betrieb. Zum Verkauf konnte er sich noch immer
nicht entschließen, die Firma war ihm ans Herz gewachsen wie ein
Kind, sie war sein Kind, das verkauft man doch nicht einfach.
Ihre
Tochter Miriam wohnte mit Mann und Enkelkindern in der
westlichsten Hauptstadt B., und der Garten interessierte ihn nur so
weit, als er jeden Abend Runden durch das weitläufige Gelände
unternahm, vom Naturteich im Obstgarten ganz hinten zum künstlich
angelegten japanischen vor der Terrasse, immer hin und her. Beim
Naturteich stand er auf dem Badesteg und starrte auf die Frösche im
Wasser und die Libellen im Schilf,
beim Japaner fixierte er von der geschwungenen Brücke aus die
Goldfische, so gedankenlos und
träge wie sie selbst. Kürzlich hatte
er einen Roboter angeschafft, der das Gras mäht, ihr neues
Familienmitglied, den sie Butler James nannten. Wenn Heinz sich in
der Hollywood-Schaukel niederließ, die an einem zentralen Ort
aufgestellt war, von dem man fast den ganzen Garten überblicken
konnte, sah er James dabei zu, wie er Runde um Runde drehte, an ein
Hindernis stieß und danach seine Richtung änderte. Je nachdem, wie
die Uhr gestellt war, steuerte James sich selbst zu einem kleinen
Schuppen mit einem runden Tor ähnlich wie bei einer Hundehütte,
parkte sich ein und schaltete sich ab. Heinz`s Blicke waren dabei
gespannt aufmerksam, leicht belustigt und fast liebevoll. Er
betrachtete ihn wie ein Tierliebhaber einen spielenden Hund oder ein
weidendes Schaf. Oder Kinder.
Ditta war ihr ganzes Leben eine passionierte Gärtnerin gewesen, das
sah man ihrem Garten auch an – sie hatte als Auszeichnung eine
ovale Plakette bekommen „Traditioneller Naturgarten“, die vorne
an der Straße über dem Gartenzaun prangte und auf die sie stolz war
wie andere auf den Nobelpreis. Allerdings hatte sie sich seit
einiger Zeit einen Helfer genommen, den kräftigen, jungen
Asylwerber aus Afghanistan Mahmoud, einen sogeannten umF
(unbegleiteten minderjährigen Flüchtling), weil ihre
Bandscheiben die meisten Arbeiten nicht mehr zuließen. Nicht
schlimm, nur „altersgemäß abgenutzt“, hatte der Orthopäde
gesagt. An Alis Seite verbrachte sie mehr Zeit als mit ihrem Mann.
Ali lernte gerade die ersten deutschen Worte im Kurs der
Kirchengemeinde, aber beim Gärtnern war die gesprochene Sprache
ohnehin nicht das Wichtigste. Wegen des Rückens hatte sie auch ihr
geliebtes Tennis ganz aufgegeben und beim Golf reduziert, sie
machte nicht mehr alle Löcher und saß immer häufiger mit
Freunden beim Bridge in der Club-Lounge.
Ditta
holte aus der Küche Heinz´s „Vorspeise“, wie sie sein
abendliches Glas Bourbon mit Eiswürfeln nannte, zog einen
einfachen Stuhl an den Ohrensessel ihres Mann heran und sprudelte
nur so über.
"Heinzi
-Schatzi, hör zu, heute im Golfclub, wir waren gerade mit dem
letzten Rubber fertig, sagt Henriette, die Neue in der Runde, dass
sie die berühmte Schriftstellerin Arabel Inenda kennt. Du weißt ja,
wie sehr ich sie liebe und verehre. Stell dir vor, das neueste Buch
ist gerade heraussen und schon wieder ein Bestseller, ein world
best seller. Das könnte dich auch interessieren, es soll ein
Politkrimi sein. Jetzt kommt sie zu einer Lesung nach Wien, und
Henriette würde sie zu sich einladen, ein kleine, private Runde,
und ich dabei! Ein internationaler Star kommt zu ihr ins Haus,
sie hat mich persönlich eingeladen: `Ditta, mein Kleines, komm
doch nächsten Donnerstag zum Tee, Arabel wird vorbeischauen.
Vorbeischauen, stell dir vor, ein Star schaut vorbei, einfach so!
Henriette ist so cool. Kleines, sagte sie, ich weiß, wie du sie
liebst, ihre Bücher, und du kennst sie am besten von uns allen. Da
kannst neben ihr sitzen und sie selbst befragen, alles, was du
willst, sie ist ein Superstar, aber auch nur ein Mensch.`
Bei
diesem Gedanken erstarrte Ditta, es war für sie unvorstellbar,
ihren Körper neben dem ihren zu spüren oder gar Fragen an sie zu
stellen und ihr dabei in das Gesicht zu sehen. Was sollte sie sagen,
wie sie ansprechen, sehr geehrte Frau Inenda… liebe Arabella...
ich, … sie sagt zu mir, liebe Ditta, mein Liebes, … ich sage,
höre Henriette, sei nicht so schüchtern, mein Kleines….“
„Arabel
- wer?“
„Heinz,
also wirklich, das ist nicht fair, du bist gemein, sie ist doch
ein Star!“
Ditta
wollte so streng klingen, wie sie nur sein konnte, kein Darling,
kein Heinzi oder Schatzi.
Sie
hatte das neue Buch über Liebe und Schatten natürlich schon
bestellt. Seit dem ersten Roman vom Geisterhaus hat sie jede Zeile
von ihr gelesen, Artikel und Bilder gesammelt, in Alben eingeklebt
wie Teenager das mit Fussball- oder Popstars machen. Ditta genierte
sich nicht dafür, auch wenn Heinz sie dafür verspottete. Sie
verteigte ihr Reich. Sie schreibt so schön, einfach und romantisch,
sie trifft alle meine Gefühle und Gedanken, als würde sie mich
perönlich kennen, man kann alles sofort verstehen, sich die
Menschen und Situationen vorstellen, ohne lang nachdenken zu müssen.
Heinz
brummt und sagt, ohne von seinem Sudoku aufzuschauen:
"Diese
Kitschziege, die kann doch gar nicht schreiben, sie hat ihren Ruhm
nur durch den Namen ihres Vaters."
"Nein,
Heinz, das ist ungerecht, sie hat sich ihren Ruhm selbst erschrieben.
Jedes Buch wird ein Bestseller, in der ganzen Welt."
"Ja,
die stecken doch alle unter einer Decke, alle schreiben von einander
ab, ich kenne diese Geschäftemacher."
"Das
siehst du nicht richtig, wie bist du denn drauf! Sie ist eine
wunderbare Frau, ich war einmal bei einer Lesung von ihr in Wien,
weißt du noch, bei der Thalia, so herzlich, so charmant, ganz ohne
Arroganz, sie schaut nicht auf ihre Leser herab und erhebt sich nicht
über sie. Ich nehme ihr jedes Wort ab und ….“
"Ach,
du Armutschkerl, dir kann man jeden Schmus andrehen. Dabei sieht
sie aus wie ein aufgetakeltes Hutschpferd mit einem Kilo Schminke und
tausend Narben im Gesicht, eine alte
Schabracke wie das Biest aus Dynasty, wie hieß die noch?“
„Joan
Collins, als würde dir Sophia Loren nicht einfallen.
„Du
bist zu nah ans Wasser gebaut." Das sagte er immer, wenn sie
sich für etwas begeisterte. Er konnte mit ihrem Gefühlsüberschwang
nichts anfangen, und sie hatte sich schon oft darüber gekränkt.
Heinz war ein guter Mensch, aber ins Herz konnte er ihr nicht
schauen. Aber so ist er halt, der Heinz, sie entschuldigte ihn
immer, ein Geschäftsmann mit einem kühlen Kopf, sonst wäre er
nicht so erfolgreich gewesen.
„Also
gut, Heinz, wenn du so bist. Das ist nicht sehr nett, jemandem die
Freude zu verderben.
Aber
lassen wir das, ich will nicht streiten.“
Im
Stillen dachte sie: Er ist hundsgemein, mein Heinz.
Nach
solch einer Szene flüchtete sie meistens zu ihrer Tochter und den
Enkeln nach B. Dort war es auch nicht das reinste Honiglecken, weil
ihre Tochter sich genervt fühlte, wenn sie ihr mit den alten,
grindigen Eheproblemen die Ohren voll jammerte.
„Hi Mom, der Oberjammergau ist wieder da“, sagte Miriam mit
einem Lächeln, aber etwas despektierlich, deutete eine Umarmung an
und hauchte Küsse auf die welken Mutter-Wangen. Sie ließ sie ein
zusammen mit ihrer rot-gelben Hermes - Reisetasche ins
bio-ökologische Holzhaus in der typischen Vorarlberger Bauweise. Ihr
Mann hatte einen europäischen Preis, viel gute Presse und neue
Aufträge bekommen. Immer nahm Ditta Heinz vor der Tochter in
Schutz, er ist dein Vater, er ist, wie er ist, du musst ihn halt so
akzeptieren, er kann nicht aus seiner Haut heraus. Er hat uns
erhalten, uns ein gutes Leben garantiert und dir viele
Möglichkeiten geschaffen...“
„Und
wie viele hat er mir verbaut?“ unterbrach sie die Mutter scharf.
Ein Wort ergab das andere, sie wurden wütend, steigerten das
Gefecht bis zu den Tränen, fielen einander dann unter Liebesschwüren
in die Arme und rüsteten wieder ab. Aber in den Seelen erreichen
konnten sie einander nicht mehr, auch wenn ihre Hände noch lange
verflochten auf dem Küchentisch lagen.
Mit
einem Knall ging die Haustür auf, Lacher zerplatzten und herein
polterten die neunjährigen Zwillinge Viktoria -Vicky und Valentin –
Voiti - mit ihrem Vater Vitus-Veit. Schultaschen, Jacken, Schuhe,
Kulturbeutel und Skateboards flogen mit großem Getöse durch das
geräumige Vorhaus und durch das hölzerne Treppenhaus nach unten.
Manches blieb an dem geschwungenen Geländer hängen.
Omama,
du bist da, great, Grandma is here, sie gingen schließlich schon in
eine Englisch-Klasse und Miriam übte ihr New Yorker Englisch ständig
mit ihrem alemanischen Ehemann. Vicky und Voiti flogen ihr in die
Arme, Küsse auf die Wangen und in die Haare, aber boshaft, wie
Kinder in diesem Alter nun einmal sind, schalteten sie sofort auf
ihren Reim um: Oberjammergau, Obermammagau, Jammergauoma,
Grauejammeroma. Dabei tanzten sie um sie und die hohe Küchentheke
mit den hohen Tresen herum. Wer hatte ihnen das beigebracht? Sollte
sie jetzt die Geschenke herausholen? Vielleicht später, sie musste
Miriam fragen.
Veit trudelte herein, küsste sie flüchtig auf die Wangen, hi,
Schwiemu, wie geht’s? Dann holte er eine Packung Orangensaft aus
dem dreiteiligen, verchromten Kühlschrank, trank sie halb leer und
verdrückte sich wie immer, wenn sie da war, schnell in sein
Arbeitszimmer, der preisgekrönte Architekt, oder er hatte plötzlich
noch einen Termin auswärts. Er schlug das Sakko über die Schulter
und Tschüss, Schatz, tschüss Ditta, wir sehen uns, Bussels,
Büsseli, Kinder! Die Zwillinge verschwanden in ihren Zimmern,
später aßen sie zu Abend eine Pizza, und Miriam verscheuchte die
Kinder bald ins Badezimmer und in die Betten. Mutter und Tochter
machten gemeinsam die Küche sauber. Sie ist eine gute Mutter,
meine Miriam. Aber warum kamen keine eigenen Kinder? Sie verstand es
nicht, wagte aber nicht zu fragen. Vitus hatte ganz in der Nähe
seine Eltern, hingebungsvolle Großeltern, die die Enkel vergötterten
und umgekehrt, eine Traum- Oma und einen Bilderbuch-Großvater,
mit denen sie und Heinz nicht konkurrieren konnten, es erst gar nicht
versuchten, Miriam und ihr Mann hatten auch nie etwas Derartiges
eingefordert. Das war`s, die Familie.
Ditta
übernachtete im Gästezimmer, schlief wenig und unruhig und fuhr
nach einem flüchtigen Frühstück wieder nach Hause. Während ihr
BMW mit ruhigen 160 km summte, gelang es ihr, die Familie in eine
abgelegene Gedächtnisecke zu verschieben und zu ihrer
Lieblingsbeschäftigung zu kommen: in visionären Bildern über den
kommenden Donnerstag zu schwelgen. Würde Arabel sie mit ihrem
Vornamen anreden oder Frau Kulmann sagen, Kleines oder Herzchen, so
wie Henriette? Heinz hatte sie in ihren jungen Jahren immer das
Dittale genannt, mein Dittale, weil sie ihm einmal verraten hatte,
dass ihr Vater eigentlich einen Dieter haben wollte, so wurde sie zu
Ditta. Dem Vater hat sie noch knapp vor seinem Tod vergeben.
Sie wusste es, auch Heinz hatte sie mit der Geburt einer Tochter
enttäuscht. Sein Plan, wenn schon ein Kind, das er eigentlich nicht
wollte, oder nicht so wollte wie sie, dann sollte es ein Sohn sein,
und wenn der sechs oder sieben war, würde er Interesse an ihm
gewinnen und mit ihm zum football gehen, sie würden einen
Lieblingsclub haben, alle Spieler aufzählen können, alle Tore und
ihre Vorbereitung kennen, ihre Bilder sammeln, die Kappen und
Schals tragen, eine gemeinsame Leidenschaft haben, die nur ihnen
gehörte und wo niemand eindringen konnte. Dass Miriam nach ihrem
Kunststudium einen jungen Witwer mit zwei Kindern geheiratet hatte
und in die entferntestes Stadt des Landes gezogen war, nahm er ihr
persönlich übel und entwickelte kein Interesse und Talent als
Großvater.
Ditta
hatte ihren Fehler zu spät erkannt, sie durfte vor ihrem Mann den
Namen Henriette Schrodt nicht aussprechen, er konnte sie nicht
ausstehen, Edelschrott nannte er sie, eine Schreckschraube, eine
überkandiedelte Alte, die sich immer noch wie ein Hippie-Mädchen
anzog, echte Blumen ins Haar steckte, an den Ohren Plastikgehänge
in grellen Zuckerlfarben baumeln hatte, ständig rauchte und
Gipsmodelle von nackten Frauen produzierte, alle waren sie Lilith.
Sie wusste alles und kannte alle Leute. Genau diese Henriette war
auch der Grund, warum er kaum mehr in den Golf-Club ging. Dabei war
er vor vielen Jahren einer seiner Gründer und Förderer gewesen.
Ditta
bedauerte das sehr und lag ihm damit in den Ohren. Es war ein
ständiges gereiztes Thema zwischen ihnen. Dabei zeigte sie sich
gerne mit ihm, sie liebte es, seine Begleiterin zu sein. Am Anfang
war er sogar stolz, wenn andere Männer sie anschauten und
bewunderten. Er war nicht eifersüchtig, im Gegenteil, es geilte
ihn auf, wenn sie von anderen begehrt
wurde. Sie hatten nie darüber geredet, es war nur eine andere Form,
in der er sagte:
Ich
bin deins, du bist meins. Sie hatten sich in einem Flugzeug nach
New York kennengelernt, klassisch, er Geschäftsmann, sie
Flugbegleiterin. Er hatte sie gezwungen, ihren Job aufzugeben, soll
ich dich etwa nur im Flugzeug sehen, eine Frau gehört ins Haus und
an die Seite ihres Mannes. Der Mann macht Karriere und die Frau das
Heim. Und als das Kind kam, war ihre Arbeit nicht einmal mehr ein
Gedanke. Die ersten zehn Jahre ihrer Ehe hatten sie am Nordrand von
New York gelebt, Heinz hatte seine Firma in Downtown, und sie war
eine richtige amerikanische Vorstadtfrau. Dann, mit dem Ende des
Ostblocks, zogen sie nach P., und
Heinz baute seine Firma in den neuen Ländern aus. Alle wollten ihren
Anteil am Glück, das ihnen der Sozialismus versagt hatte. Rubbellose
und alle Arten von Glückskarten boomten, und Heinz wurde reich.
„Komm mit in den Club, ignoriere sie einfach, sie tut dir doch
nichts, sie ist ganz harmlos und will nur ihren Spaß haben wie alle
anderen auch. Außerdem sind noch viele andere Leute da, der Max,
die Roswitha, die Karoline erzählt so interessante Sachen aus
Afrika, den Stefan, ihren Sohn, den magst du doch. Der ist so ein
lieber, kluger Mensch und dazu noch ein guter Arzt….“
„Es
gibt keinen guten Arzt, es gibt nur mehr oder weniger große Zyniker,
sie erfreuen sich daran, dass es ihnen Opfern noch schlechter geht
als ihnen selbst.“ Ja, Opfer, sagte er. Alle Patienten sind Opfer
der Ärzte. Sie hatte ihm durch ihre Unachtsamkeit die Gelegenheit
gegeben, dazusitzen und so pikiert und eitel, so verächtlich und
triumphierend dreinzu- schauen wie ein Porträtfoto von Sigmund Freud
persönlich.
„Heinz,
früher warst du nicht so. Wir wollen uns nicht über Worte
streiten.“
„Früher
ist früher. Basta, aus, vorbei. Und merk dir endlich, ich streite
nie.“
Das
stimmte, er äußerte immer nur fest und frei heraus seine Meinung.
„Heinz,
wirklich, das ist nicht fair von dir, einfach nicht fair, dass du mir
so die Freude verdirbst, nicht das kleinste Glück willst du mir
gönnen."
"Ich
gönn` dir alles, aber lass mich in Ruhe damit. Und überhaupt, die
Welt ist nicht fair.“
Ditta
schmollte und zog sich in die Küche zurück. Sie konnte sich kaum
auf das Beladen des Servierwagens
mit dem Abendessen konzentrieren, weil
sie in Gedanken schon beim Tee mit Henriette und dem Star war.
Sie stützte sich auf den Abwaschtisch und schaute durch
das große Küchenfenster in den Garten hinaus. Hinten an der
Ligusterhecke hüpfte eine
Amsel, ein Männchen, dachte Ditta, mit dem dunkelgelben Schnabel,
und das Weibchen stöberte im
Komposthaufen. So ein Einklang, dachte sie, die haben etwas
gemeinsam. Sie würde morgen mit Mahmoud nachschauen, ob sie
das Nest im Liguster oder
im Flieder gebaut hatten.
Im
Speisezimmer deckte Ditta den viel zu großen, ovalen Tisch:
Aufschnitt auf Holzbrettern, verschiedene Wurstsorten, Schinken,
Speck, Kalbsleberpastete, ein reiches Käsesortiment, Gurkerl,
Pfefferoni mild und scharf, Braten
- und Grammelschmalz, Weintrauben, Nüsse, Oliven, Radieschen,
frische und getrocknete Tomaten - eine Auswahl wie in einem
Heurigenbuffet, darauf bestand Heinz, er hielt das für
Heimatverbundenheit, sogar in New York hatte er auf dieser
Rustikalität bestanden. Sie saßen einander schweigend gegenüber,
Ditta brachte kaum einen Bissen hinunter und gab nur vor, etwas zu
essen. Dafür nahm sie umso öfter ihr Wasserglas zur Hand und
knetete mit den Fingern die Schmolle der Semmel zu Kugeln. Das
Gebäckskörbchen wurde auf dem Tisch hin- und her geschoben,
manchmal auch die Senftuben und das Mayonnaiseglas, das Knäckebrot
blieb unberührt, Blicke huschten knapp unter den Augen vorbei,
Heinz räusperte sich mehrmals und rückte seinen Körper im Sessel
zurecht, fand aber kein Wort mehr. Heinz aß wie immer viel und
mit provokantem Appetit. Ob er ihr das zu Fleiß tat? Zum
richtigen Zeitpunkt holte Ditta aus der Küche eine zweite Flasche
Bier für ihn, öffnete sie und stellte sie neben das Glas, eingießen
wollte er immer selbst, denn das können Frauen nicht.
Eigentlich war auch beim Abendessen alles so wie immer, den
Wortwechsel mit ihrem Mann hatte sie schon vergessen und gab sich
ihren süßen Träumereien hin. Henriette hatte ihr die
Eröffnungsszene eines Films geliefert, den sie in Gedanken ablaufen
lassen oder stoppen konnte, sooft sie Lust dazu hatte. Sie würde
neben Arabella sitzen, mit ihr reden, ihr sagen, was sie noch nie
jemandem sagen konnte und sonst auch noch alles Mögliche fragen, so
vieles hatte sich angesammelt in den Jahren der Anbetung…. Das
Canapee nehmen, das Törtchen, die Serviette, die Teetasse
dazwischen balancieren und etwas fragen, etwas Persönliches, nein,
das würde nicht gut gehen, sie würde an der Frage ersticken oder an
dem Brötchen oder den Tee über Arabells Knie gießen, oder alle
Damen würden Sie schon beim ersten Wort auslachen, sie würde
erröten, die Fassung verlieren und zu weinen beginnen …. Sie war
nicht mehr ganz da, vielleicht war es besser so, oh Gott, was soll
ich anziehen? Komm zu dir, beruhige dich, der Tee ist erst nächste
Woche. Ich muss Henriette noch einmal sagen, wie dankbar ich ihr bin,
dass sie mich zu sich einlädt, wenn Arabella vorbeikommt.
Hoffentlich überlebe ich bis zum Donnerstag, Todesursache Glück.
Heinz verzog sich auf die Fernseh-Couch, während Ditta den Tisch
abräumte und die Küche sauber machte.
„So,
ich geh jetzt schlafen, ist schon spät, gute Nacht, Schatz.“
Sie
ging hinter ihm vorbei, beugte
sich in seine Richtung und deutete einen Kuss auf seine Glatze an.
Sie
wollte sich ihre Donnerstags-Phantasien für später aufbewahren,
wenn sie allein war.
Heinz
faltete die Zeitung lose zusammen und warf sie auf den
Beistelltisch.
„Dir
auch gute Nacht, ich schaue noch die Nachrichten an.“
Heinz
war depressiv, dessen war sich Ditta sicher, zumindest deprimiert,
nein keine richtige Depression, das nicht. Aber sie wagte es
nicht, das Gespräch darauf zu bringen, Heinz würde sie fressen,
sollte sie das aussprechen und eine Methode dagegen vorschlagen.
Alles, was mit Psych- begann, war
ihm zuwider, er hielt das für dummen Hokuspokus und ein Ausredespiel
für Loser. Ich warne dich, leg mich nicht auf die Couch. Er
wollte keinen heimtückischen, psychiatrischen Kauderwelsch in seinem
Haus, obwohl ihm verschiedene Leute gedrängt hatten, sich
„professionelle Hilfe“ zu holen.
Wenn
er schon nicht mehr zum Golf gehen wollte, dann doch zum Tennis,
seine Bandscheiben gaben ihm noch Ruhe, obwohl er fünf Jahre älter
war als sie. Oder angeln. Früher war er ein leidenschaftlicher
Fliegenfischer gewesen, er hatte sogar seine Geschäftsfreunde aus
aller Welt zum Fischen eingeladen. Welche schönen Erlebnisse haben
sie gehabt, herrliche Forellen aus der Schwarza, Salza, Triesting,
Piesting, Krems und Traisen. Die Lagerfeuer am Ufer oder auf einer
Flussinsel, diese wunderbaren Abende, die Sonnenuntergänge und dann
die Sterne, manchmal sah man bei klarem Himmel den ganzen Bogen der
Milchstraße. Wie weggewischt, als hätte es das alles nie gegeben.
Er sitzt in einem tiefen, dunklen Loch und lässt sich nicht
rauslocken. Stefan, Karolines Sohn, meint, das könne nur er selbst,
also Selbsteinsicht und Selbstheilung. Der Arbeitsalltag eines
Firmenchefs fand unter ständiger Hochspannung statt, auf der
Überholspur, die Jagd von einem Termin zum anderen, immer im
Bewusstsein seiner eigenen Bedeutung - und dann plötzlich eine
Vollbremsung, Stillstand und Sturz ins Bodenlose. Als Chef war die
Fallhöhe besonders groß. Und Geld über eine bestimmte Menge
hinaus machte auch nicht glücklicher und zufriedener.
Allein
das Wort Hobby machte ihn wütend.
Das ist etwas was für Kinder und Schwachköpfe. Deswegen traute sie
sich nicht, ihm den Kulturclub von P. anzuraten, wo die
Leute Karten spielten oder Schach, Mikado oder Puzzle legten, manche
hatten sich fürs Stricken, Sticken, Aquarellieren oder
Porzellanmalen entschieden, wieder andere für die japanischen Künste
des Ikebana und Origami. Flugzeugmodellbau, Laubsägearbeiten, eine
Schreib- und eine Filmgruppe wurden noch angeboten, sogar Lesungen
und Konzerte wurden angeboten. Das Bridge vermiesten ihm die alten
Weiber, Dittas Freundinnen. Ditta hatte noch an Bienenzucht und
Honigproduktion gedacht, an Goldfische oder Koi, an Bingo, Bowling
oder Poker. Sogar einen Hund würde sie akzeptieren, was er aber
empört zurückwies; ein Hund ist keine Lebensaufgabe für einen
Mann, sagte Heinz. Ja, das war die Antwort auf sein Leiden, die
Lebensaufgabe. Die Seele ist ein Schloss mit vielen Räumen, die von
Heinz waren leer. Ditta hatte tiefes
Mitleid, kam aber nicht mehr an ihn heran.
„Dann
musst du dir ein Laster suchen, Fressen, Saufen, Koksen, Huren“,
das war ihre Schlussfolgerung. Da musste sogar Heinz grinsen:
„Na
wart nur, wenn ich einmal Blut geleckt habe...“
Als
endlich der nächste Donnerstag kam, spürte sie beim Aufwachen, dass
Heinz schon das Haus verlassen hatte. Ihr war nicht ganz wohl dabei,
weil das praktisch nie vorkam, aber sie hatte jetzt andere Sorgen und
vergaß ihren Mann. Sie widmete ihre ganze Aufmerksamkeit der Auswahl
ihrer Garderobe. Wie sollte sie ihr gegenübertreten. Sicher, ein
Tee bei Henriette war kein Staatsbesuch, wie Präsidenten und ihre
Gattinnen aus dem Flugzeug heraustreten, den Hut halten, winken,
lächeln, Küsschen werfen, die Gangway herunter schreiten, Hände
schütteln, küssen, umarmen und Blumensträuße entgegennehmen.
Aber das war sie ja nicht, sie sollte nur ein wenig neben Arabella
Inenda sitzen und mit ihr plaudern. Nein, sie würde nichts sagen und
nichts fragen, nur zuhören und anbeten. Denn wer war sie schon, ein
Niemand.
Recht
schnell stand für sie fest, dass sie ihr Kleid aus gelbem Chine de
Crepe mit den schwarzen Krausen an Hals und Ärmeln anziehen würde.
Dafür bekam sie immer Komplimente, es macht sie so jugendlich,
vielleicht sogar mädchenhaft. Aber sowohl Arabella als auch
Henriette waren älter als sie, da durfte sie auch aussehen wie ihr
Kleines. Dazu ihre schwarzen Lackpumps mit den kleinen Absätzen
und eine zierliche Clutch von Dior. Ditta drehte sich vor ihrem
Spiegel hin und her und war zufrieden mit ihrem Bild. Fast hatte sie
schon vergessen, dass sie sich in ihren
Träumen so blamiert hat.
Kurz vor fünf Uhr machte sich
Ditta in fast trunkener Verwirrung auf den Weg zu Henriettes Haus.
Sie und Heinz wohnten etwas abseits zwischen dem Fluss und der
Lindenallee mit den gepflegten Villen der Wiener Sommerfrischler. Sie
kannte den Weg so gut, dass sie ihn blind hätte gehen können. Ein
Stück den Fluss entlang über die Brücke, durch die Lindenalle mit
dem plätschernden Springbrunnen, vorbei am Gemeindeamt, dem
Supermarkt zum Hauptplatz von P., der eigentlich nur eine mit
Rosen bepflanzte Verkehrsinsel auf einer Kreuzung von drei Straßen
war, an der einen Seite der Traditions-Gasthof Markwart mit einem
schönen Garten, auf der gegenüberliegenden ein geschlossener
Drogeriemarkt und an der kurzen dritten ein verstaubtes
Haushaltswarengeschäft. Henriettes Haus war ein unscheinbarer
Mehrparteienbau, darin war untergebracht der Versicherungsmakler
Travner, der früher Travnicek hieß, der Rauchfangkehrermeister
Brandeis, im Ort Brandeins genannt, zwei Arztpraxen, gegen deren
Kunden Henriette einen Kleinkrieg führte, weil sie ihren
Privatparkplatz benützten. Alles war gleichzeitig da und glitt wie
in einer 3-D-Animation an ihr vorbei. Oder war es umgekehrt? Die
ständig wachsende Erwartung drückten ihr auf Herz und Atmung. Der
Eingang, eine Glastüre, daneben in einem trostlosen Holzkübel eine
fast verdorrte Kaktuspflanze, drinnen ein viel zu enges Treppenhaus
mit braun gesprenkeltem Kunststein. Aber dann, wenn sich bei ihr
oben im zweiten Stock die Türe öffnete, da zeigten sich Henriettes
Klasse, ihr Stil und ihre Persönlichkeit. Weiß in Weiß der Boden
mit kühlen Kacheln und die Wände, beige die Seidenvorhänge, weisse
Orchideen und kleine Vogelskulpturen auf den Fensterbrettern. Auf
einem Treppenabsatz in einer Nische stand eine spätbarocke
Schnitzfigur, mein Paulchen, sagte Henriette und streichelte ihm
immer zärtlich über den Kopf, obwohl er für Ditta eher wir ein
Florian aussah. Aber bei den Heiligen war sie nicht firm. „In
Kärnten, wo ich herkomme, da gibt es 44 Kirchen mit dem Paul“.
So überzeugend, man vergaß sofort ihre klimpernden
Plastikohrgehänge, ihre schillernden Wallekleider im Hippie-Look,
die lächerliche Blume über der linken Schläfe im ausgebleichten
Löckchenhaar, die qualmende, an der Unterlippe klebende Zigarette,
vielleicht sogar die untalentierten Liliths. Aber darüber wollte
sich Ditta kein Urteil erlauben, von darstellender Kunst verstand sie
nichts. Sie läutete, und das philippinische Hausmädchen, meine
kleine Maid Lily, nannte sie Henriette, öffnete die Tür so
schnell, als wäre sie direkt an der Klingel gestanden. Henriette
liebte das Bunte und Grelle an sich selbst, aber die Wohnung hielt
sie in Weiß, mit einigen geschickt angebrachten Farbtupfern wie
Bilder, Blumen und Kissen. Ansonsten weiße Bodenfliesen,
durchgehend einheitlich durch den ganzen Raum, eine riesige weiße
Ledergarnitur mit weißen Korbstühlen, lange, fließende
cremefarbene Seidenvorhänge in verchromten Haltern vor den Fenstern
und im Hallendurchgang, gegenüber eine Glaswand zu einer Terrasse,
die auch weiß ausgelegt und mit einer stattlichen Anzahl von
Blumentöpfen bestückt war, weiße Rosen, weißer Oleander und weiße
Kletterpflanzen. Henriettes Wohnzimmer war weit und groß weit ein
Fußballfeld, oben allerdings von einigen Spitzwinkeln und Schrägen
des Daches in der Höhe eingeschränkt. Dafür waren in der Decke
viereckige Bullaugen eingelassen, die einem das Gefühl gaben, auf
einem Schiff zu sein Ditta atmete auf, sie war zum Glück nicht
die Erste, so weit sie sah, war da schon Karoline, ihr Fels in
der Brandung, Stefan, ihr Sohn, und seine schwedische Model-Frau
Linda. Die halbwüchsigen, wohlerzogenen, der Literatur
aufgeschlossenen Kinder Jan-Philip und Bridget-Marie hatten
mitkommen dürfen, um den Star zu treffen, da war auch Roswitha,
ihre Partnerin aus dem Bridge-Club, und Marion, eine pensionierte
Diplomatin aus der OSZE, ihr lauter Mann Tim, ein riesenhafter,
rotgesichtiger, immer besoffener Finne, der in der ganzen ehemaligen
Sowjetunion mit Medizin-Geräten handelte
und später als österreichischer Ehrenkonsul in St. Petersburg
seine dunklen Geschäfte machte, dann noch der mächtige Max,
Heinz`s früherer engster Freund, der Papierfabriksbesitzer. Heinz,
er fehlte er ihr jetzt so sehr, als sei sie einseitig
nackt. Aber ihr Kleid kam an, alle lobten es als jugendlich, na, eben
wie du bist, schaut sie an, wie dreissig und kein Jahr mehr!
Henriette küsste sie auf beide Wangen und war offensichtlich schon
in Fahrt. Ditta, mein Kleines, hello, sagte sie bedeutungsvoll mit
tiefer Stimme. Ditta nahm sich ein Glas Orangensaft vom Tablett der
Maid, weil sie absolut nichts vertrug und daher nie Alkohol trank.
Immer noch die Flugbegleiterin mit ihrer Disziplin.
Henriette
beherrschte die Szene wie eine Königin, sie unterhielt die Gäste
mit amüsanten Geschichten aus alten Zeiten und mit neuen Plänen.
Sie wollte eine Ausstellung in der Schlosskirche machen,
ausschließlich mit ihren nackten Liliths. Noch war der
Stadtpfarrer dagegen, zu wenig religiöse Konnotation, fanden er und
der Kirchenrat, aber die Unterstützung des Kulturvereins hatte sie
schon, zumindest der Obmann Thomas war für sie, selbst ein Künstler
und Kunsterzieher im Gymnasium. Neuerdings betätigte er sich auch
als Truthahnzüchter. Sein Hobby war aber umstritten, weil seine
Truthähne inzwischen lauter waren als die berühmten Glocken, die
zu jeder vollen Stunde vom Berg auf den Ort herunter schallten.
Thomas
saß an Henriettes Seite auf der weißen Lederbank, auf die andere
wies sie jetzt Ditta mit einer bestimmten Geste.
„Hierher,
komm zu mir, mein Liebes“, und klopfte bestimmt mit auf den
Sitz, dass Ringe und Armreifen klimperten.
„Oh
Gott, Henriette, bin ich aufgeregt“, und wischte sich heimlich
hinter dem Glas mit der Serviette die Schweißperlchen von der
Oberlippe.
„Mach
dir nichts draus, ich bin auch völlig fertig, habe fast nichts
geschlafen, eine Figur wollte und wollte einfach nicht kommen, es war
wie verhext.“
„Probierst
du etwas Neues?“
Thomas
neigte sein junges, hübsches Gesicht vertraulich Henriette zu.
„Wissen
Sie, die Skulpturen, die haben etwas von….“ Er suchte nach einem
möglichst originellen Wort. Sie brauchten einander, mussten
zusammenhalten, die Künstler in so einem kleinen Ort.
Wo
war SIE denn nur? Wer würde als erstes die Nerven verlieren und
fragen, warum Arabell noch immer nicht da war. Henriette, die
Gastgeberin, oder Max, der ungeduldige Unternehmer, Thomas, der
Künstler, ein Kind oder die immer vorlaute Roswitha? Karoline
sicher nicht, und Ditta selbst noch weniger als die Maid.
Sie
glättete ihren Rock und sah von den auf der Clutch gefalteten
Händen auf ihre Lackschuhe hinunter. In den leise rauschenden
Small-Talk platzte Henriette.
„Mein
Gott, die Arme, was sie alles erlebt hat. Und jetzt die Scheidung,
nach 27 Jahren, alles hat er ihr genommen, dieses Schwein..“
Henriette
sog an der Zigarette und wedelte mit ihrem chinesischen
Fächer den Rauch durch den Raum.
„Ich
verstehe es nicht, wo sie bleibt, sie wollte als erste kommen, hat
sie am Telefon gesagt. Vielleicht gibt es Probleme im Verlag oder mit
ihrem Agenten. Ihr habt ja keine Vorstellung, welche Sorgen so ein
Star hat. Da geht nicht alles glatt, immer muss sie kämpfen, noch
immer, obwohl sie schon lange weltberühmt ist. Alle wollen etwas von
ihr, alle wollen sich in ihrem Licht sonnen und sie bestehlen. Sie
verschenkt ihr Geld mit beiden Händen. Die Männer, die Ärmste,
ihre Männer, nur Schweine um sie herum.
Sie
nehmen sie aus und bringen das Geld dann durch mit ihren Hürchen.
Und sie merkt es nicht. Nicht einmal ich kann ihr in dieser Sache
Vernunft beibringen. Mein Gott, was muss die gute Bella alles
aushalten. “
Henriette
durfte sie so abkürzen, Bella oder Ara, meine Bella, Bellissima.
Niemand
in der Runde verstand sie genau, und die Gäste schauten einander
fragend an.
Henriette schüttelte ungefähr fünfmal ihren Lockenkopf, zog die
Mundwinkel herunter und die Augenbrauen hoch, strich ihre weiten
indischen Ärmel zurück und zündete sich eine neue Zigarette an.
Alle Gäste richteten sich auf sie aus, in Erwartung der Lösung des
Rätsels. Neinneinnein, das kann nicht sein. Ditta hielt sich mit
einer Hand an der Clutch auf ihrem Schoß fest, mit der anderen an
ihrem Saftglas. Sie war verwirrt, musste sich sammeln und grübelte:
Die großartige Arabell Inenda soll Probleme, Sorgen haben wie wir,
wie ich, eine gewöhnliche Sterbliche, ein Niemand. Haushypothek,
Rechnungen, Ehemann, Schwiegereltern, Kinder, Enkel, Nachbarn mit
Kampfhunden, Schnellstraßen vor dem Haus, Fluglinien über dem
Kopf und Luftverschmutzung durch die Papierfabrik? Nein, das konnte
nicht ihre Welt sein. Sie hatte Henriette wahrscheinlich nicht
richtig verstanden. Ein großer Star, diese in aller Welt verehrte
Schriftstellerin, die alle ihre Leser verzauberte, einfach nur
dadurch, was sie schrieb, welch wunderbaren Helden sie schuf und
welche Welten sie eröffnete. Selbst schreiben. Nein. Sie hatte
nichts zu sagen. Was gab es da schon? Heinz, das Haus, der Garten,
Golf, Bridge, Miriam, Butler James, Mahmoud, Frösche, Libellen und
Goldfische. Ich und….…, das passte gar nicht. Schnell scheuchte
sie den Gedanken weg.
Als es läutete, ging Lily ins Vorzimmer, und Henriette bewegte sich
leichtfüßig durch den Salon. Im Vorbeigehen griff sie Ditta unter
das Kinn und hauchte ihr ins Ohr:
„Kleines, bitte, sag`s nicht der Bella.“
Sie war verwirrt, was sollte sie Arabell nicht sagen? Wie konnte sie
denken, sie würde die eben vernommenen Vertraulichkeiten
weitererzählen? Aber es blieb keine Zeit mehr zum
Grübeln. Arabell Inenda stand im Bogen des Durchgangs, und zwischen
den Seidenstores sah sie aus, als würde sie eine Bühne betreten
und auf den Auftrittsapplaus warten. Sie knickte die Hüfte leicht
ein und stellte gleichzeitig ein Bein vor das andere, dabei hob sie
eine Hand zu einem leichten Winken, während die andere in die Hüfte
gestützt war. Einfach göttlich, Ditta schmolz dahin. Genau das war
es, wofür sie lebte.
Arabell trägt ein veilchenblaues Dior-Kostüm mit einem zu kurzen
Rock, der die spitzen Kniescheiben etwas zu sehr betonten, fand
Ditta, aber sie hatte wirklich schöne Beine, lang und schmal wie
die einer Tänzerin, sie steckten in hochhakigen rosafarbenen
Lackpumps, die von einer großen, gleichfarbigen Seidenrose am
Jackettaufschlag gematcht wurden. Den über die linke Schulter
baumelnden Silberzobel fand die größte Anbeterin tres chic, aber
angesichts des heißen Wetters an einem hellen Nachmittag im Juni
etwas unzeitgemäß. Obwohl, sie wollte den Star keineswegs
kritisieren und ihn sich madig machen. Sie trug ihre dicken,
kastanienbraunen Locken hoch aufgesteckt, die von einigen rosaroten
Klipsen so unterstützt wurden, dass sie sich zu einem Krönchen
türmtenwie zu einem zweiten Kopf. Das machte sie größer, jünger
und streckte ihren Hals. Aber im Juni-Licht sieht sie doch etwas
fülliger aus, als Ditta sie von ihren Fotos kannte. Als sie sich
vom Torbogen und den Stores löste und sich auf die Sitzgruppe
zubewegte, kam es Ditta vor, als würde sie nicht gehen, sondern
schweben. Schweben, sicher, nicht schwanken. Henriette bot ihr den
thronartigen indischen Schnitzstuhl an, auf dem sie sich einigermaßen
graziös niederließ, Beine und Kostüm ordnete und mit der Zigarette
fuchtelte.
Ihr schön geschnittenes Gesicht wurde belebt von den großen,
dunklen Augen, die wie Kohlestückchen in einem Teig steckten. Aber
darunter hingen faltige Hautsäcke wie kleine Hängematten, die sich
auch am Hals fortsetzten. Diese waren natürlich auf den ihr
bekannten Fotos nicht zu sehen und auch nicht, dass das Weiße um
ihre Iris von kleinen, roten Äderchen durchzogen war.
`Wahrscheinlich strengt sie das Schreiben so an, sie muss Tag und
Nacht an ihrem Schreibtisch sitzen. Und wenn nicht, dann ist sie in
der ganzen Welt auf Lesereisen und Buchpräsentationen unterwegs,
Autogramme und Interviews geben.` Sie macht alles für ihre Fans,
ihre Leserinnen, ihre Anbeterinnen. Sie opfert sich auf. Auch für
mich. Vor lauter Dankbarkeit und Mitgefühl spürte Ditta einen
Stich im Herzen.
Arabell war wie Henriette eine starke Raucherin, nur zelebrierte sie
diese Gewohnheit noch theatralischer, indem sie sie aus einer
elfenbeinernen Spitze rauchte. Diese hielt sie ganz hinten mit in
weißen Handschuhen steckenden Fingern. Aber wenn sie nicht irrte,
meinte Ditta, in den Falten des brüchigen Satin unregelmäßige
Flecken und abgelagerte Staubstreifen zu entdecken, vielleicht waren
es auch Brösel oder Bröckchen von etwas vor langer Zeit
Genossenem. Nein, sie sah sicher nicht richtig, böse Ditta, schäm
dich, du bist eine Verräterin. Wie konnte sie nur so etwas denken.
Sie krümmte ihren Rücken, damit niemand ihr Herz klopfen sah.
Sie starrte in ihr Glas, wo sich die schmelzenden Eiswürfel im
Orangensaft in trüben Schlieren kringelten.
Liebling, rief Henriette.
Engel, flötete Arabell, mein Süßes.
Mein Gott, diese Stimme, das war die Stimme, an der sie sie
endgültig erkannte. Ja, das war sie, die echte, leibhaftige Arabell
Inenda. Ditta spürte, dass sie in den Boden versank. Dieser tiefe
Samt, dieses sanfte Glühen, in irgendeinem Artikel hatte jemand
einmal „Purpur-Samt“ geschrieben.
Engelchen, was gibt es zu trinken, was trinken die Leute?
Alles gibt es, Tee, Kaffee, Saft, Wasser….
Pfft, Wasser, bist du mein Feind, willst du mich vernichten?
Henriette warf sich herum, fuchtelte mit ihrem Fächer wie mit einem
Generalstab und deutete auf ihre Gesellschaft.
„Bella-Darling, du weißt, ich passe auf dich auf, immer, du hast
heute Abend noch eine Lesung.“
„Musst nicht aufpassen, ich bin schon ein großes Mädchen.“
Der Purpur-Samt kicherte und rutschte leicht ab in ein spitzes,
ungeputztes Blech.
Engelchen, du hast doch deinen köstlichen Wodka.
„Darling, ich sag nicht nein, zu dir nie, aber denk an die Lesung,
an deinen neuen Bestseller.“
Trotzdem rief sie nach Lily und dem Wodka.
Lily-Schätzchen, keinen Fingerhut, die Flasche!
Ditta bemühte sich, an etwas anderes zu denken, als sie eben gehört
und gesehen hatte.
Aber es nutzte nichts.
Engel, Henry, wer ist denn das? Was hast du denn da Niedliches bei
dir?
Ist das mein Kleines, das du mir
versprochen hast?
„Was für ein süßes, kluges Gesicht, und das gelbe Kleidchen,
ein wunder-wunderschönes Stück, schaut mal, sehen alle, was ich
sehe?“
Lily näherte sich mit einem fünfeckigen Tablett, auf dem ein
tiefes Glas, eine Wasserkaraffe, eine kaum angebrochene Wodka-Flasche
und ein Eiskübel mit Zange standen. Lily stellte alles am Beitisch
ab und machte sich daran, ihr einzuschenken.
Schätzchen, lass das, das bleibt hier bei mir, gell.
Arabell schlug den Zobel um ihren Hals herum, befreite sich von ihrer
Zigarette und schenkte sich selbst bis zum Rand ein.
Ditta war nicht mehr ganz sie selbst, als sie im Pelz einige
Bewegungen zu sehen glaubte, die nicht von der Trägerin selbst
ausgingen.
„Wollt ihr etwas hören aus meinem letzten Roman, schon wieder ein
Bestseller, diese Idioten fressen doch alles, diese …. Aber was
haben wir denn da? Henry, wen hast du mir denn da angeschleppt, so
ein sweetheart, dieses süße Gesichterl, süß, süß, süß, ein
Herzchen, ein Herzgesicht. Was machen Sie noch mal?“
Arabell klopfte ihr mit der Zigarettenspitze auf die Schulter, als
sei sie ein Aschenbecher, den sie übrigens nie benutzte, sondern
selbstverständlich auf Henriettes weiße Marmor-Kachel aschte. Die
kleine Lily huschte unbemerkt um sie herum und wischte den Boden auf.
„Ach, Sie schreiben auch? Wie schön, eine Kollegin, eine
Herzensfreundin, was schreiben Sie?“
„Ich, ähm, ich schreibe nie…. Nichts, ich lese…. Ich lese Ihre
Bücher, manchmal auch andere, aber Ihre sind mir die liebsten, ich….
weil…. mein Mann….“
Ditta wusste nicht, was sie davon halten sollte, es hatte etwas
Unbefriedigendes, das sie nicht so richtig in den Blick bekam.
„Wie süß, hallo Leute, Henriette hat mir heute…..“
Arabell griff wieder zur Flasche, goss das Glas randvoll und zündete
sich die nächste Zigarette an, ein tiefer Zug von da und dort. Alle
wurden Zeugen, wie der Wodka in ihrem Blut und ihrem Gehirn seine
wunderbare Arbeit verrichtete.
„Henry, mein Engelchen, was wolltest du mir sagen, Jugend, ja
Jugend, wir waren auch einmal….. Sie hat einen Mann, ist das nicht
entzückend, und sie liebt ihn auch noch, sagt sie, einen einzigen
Mann, ihren Mann. Synopsis oder ein Srikpt zuschicken, an meinen
Verlag, ich bin wahnsinnig interessiert, ich nehme neue Ideen auf,
Sie wissen, ich bin immer in Verbindung, Verbindung mit, mit…..,
ja, mit wem, Henry, sag mirs.“
Ihre Augen schienen aus den Hängematten herausspringen zu wollen,
die Kohlestücke zerbröselten im Gesichtsteig, das Haarkrönchen
neigte sich bedenklich zur Seite, die Seidenblume wurde welk und aus
dem Zobel begannen kleine Tierchen über Hals und Gesicht zu
krabbeln.
Ditta sah es mit ihren eigenen Augen, wollte das nicht sehen und
errötete so stark, dass ihr ganzer Körper schmerzte.
Sie nahm all ihren Mut zusammen, griff nach ihrer Clutch und
stand mit steifen Beinen auf:
„Vielen Dank, ich muss jetzt wirklich…..Henriette, Frau Inenda,
entschuldigen Sie mich, ich muss jetzt wirklich, mein Mann, die
Katze, der Garten, ich habe noch... „
„Schschreibensie, Goethe hat auch, war …. Sie sind eine Heilige!“
rief Arabella ihr nach.
„Sie hat einen Mann, einen, und liebt ihn auch noch, sagt sie, so
eine süße Idiotin, und mich auch, nochmal Idiotiiin….“
Dabei lachte sie schrill auf, ließ sich in ihrem Sessel
zurückfallen und fing unmittelbar zu schnarchen an.
Henriette flüsterte Ditta ins Ohr:
„Du verstehst ja, Kleines, dass sie sich vor ihrem Abend noch
ausruhen muss.“
Lily begleitete sie an die Tür. Obwohl die Maid von Henriette zur
ultimativen Zurückhaltung erzogen worden war, meinte Ditta ein
mitleidiges Lächeln zu entdecken, oder war es Schadenfreude?
Wie sie durch das steile Treppenhaus hinunter kam auf die Straße
kam, erinnert sie nicht mehr. Draußen war es noch nicht ganz dunkel,
eine schwüle, wattige Dämmerung. Ditta schleppte sich über den
Hauptplatz vor Henriettes Haus, durch die alte Lindenallee, vorbei
am Rosengarten des Klosters bis zur Schwarza. Es war die
Jahreszeit, die sie sonst über alles liebte, wenn sich die Düfte
der Linden mit Flieder und Rosen mischten. Jetzt war ihr die süße
Luft unangenehm und sogar peinlich. Ihr wäre ein Geruch von Jauche
lieber gewesen. Einige Zeit stand sie auf der Brücke ans Geländer
gelehnt, aber das Wasser war zu seicht, als dass es sich ausgezahlt
hätte. Menschen haben manchmal Gedanken, die sie besser nicht
hätten. Manches, was man tat im
Leben, war bereuenswert, anderes nicht.
Aus allen Gärten drangen die
Amsel-Flöten, die Nacht war so klar, dass
sich der Bogen der Milchstraße deutlich
abzeichnete. Sie dachte an vieles, an die Sterne, an Heinz,
James, Mahmoud, die Frösche, Libellen, Goldfische und an das
Amsel-Pärchen und an alles andere, nur nicht an Arabell. Immer
glaubt man, man könnte sich mit einer Art Schild dagegen schützen,
aber die Erinnerung kommt nie von vorne auf dich zu, sondern seitlich
um die Ecke. Mit einem Schwung warf sie die Clutch über die
Brücke. Nur ein schwaches Klatschen kam vom Wasser. Sie zog sie ihre
Lieblingsschuhe aus und schleuderte sie in die ausgetrochnete
Schwarza, zweimal ein höhnisches Klacken auf den Kieseln ohne
Echo, nur noch Schotter, Edelschrott.
„Wider-hall-ende
Lee-re“, murmelte sie, sodass die Silben unbeholfen
ineinandertorkelten.
Sie schloss die Türe auf und rief
mit gebrochener Stimme, fast nicht
mehr als ein Krächzen, ins Haus hinein:
„Bist du da, Darl, ich bins.“
Er saß wie immer im Office, aber nicht in seinem Ohrensessel und
nicht von Börsenberichten und Sudokus umgeben, sondern am
Schreibtisch. Den hatte er seit seiner Pensionierung vor drei Jahren
nicht mehr aufgesucht. Jetzt war er überhäuft mit
Bauanleitungen für Laubsägearbeiten, Plänen für Häuser, Kirchen,
Pfarrhaus, Schulen, Geschäfte, Bäckerei, Fleischerei, Brauerei,
Sportplatz, Brunnen, Feuerwehrhaus und allem, was ein Dorf
ausmacht. Zu seinen Füßen sah sie
ein Laubsägeset und einige Packungen mit Brettern. Sein Mund
stand halboffen, die
Zunge lag leicht vorgestreckt im linken
Mundwinkel,
die Lesebrille saß ihm auf der Nasenspitze, sein Gesicht
glühte, die Zigarre qualmte ungeraucht neben ihm im Aschenbecher,
am Beitisch ein Tablett mit dem Abendessen: Aufschnitt am Holzbrett,
das Brotkörbchen, eine ungeöffnete Bierflasche und die Vorspeise,
in der die Eiswürfel längst zerschmolzen waren.
Ditta blieb wie angewurzelt in der Türe stehen.
„Um Gottes Willen, Heinz, was soll das werden?“
„Siehst du`s nicht, ich baue dem James ein Dorf. Und bei dir, wie
war`s?“
„Sehr interessant, wirklich, alle waren da, nur du hast gefehlt.
Und sie hat auch vorbeigeschaut.“
„Wer hat vorbeigeschaut?“
„Na, wer schon, Heinz, wirklich, du bist unmöglich.“
Am liebsten hätte sie mit den Füßen aufgestampft und ihren Tränen
freien Lauf gelassen.
„Ach, die alte Schabracke meinst du. Worüber habt ihr geredet?“
Mit letzter Beherrschung hauchte sie:
„Über…. Goethe.“
„Du – und - Goethe?“
Er hackte die Wörter scharf auseinander, zog das U und das Ö
so in die Länge und in die Höhe, dass das dreifache Fragezeichen
fast sichtbar in der Luft stand. Er nahm die Brille ab, leckte sich
mit der Zunge über die Lippen und schaute sie mit so jungen,
frisch- funkelnden Augen an, seit langem zum ersten Mal direkt in
die Augen, ein Blinken und Blitzen, wie sie es
schon lange nicht mehr bei ihm bemerkt und schon vergessen hatte,
dass es das bei ihnen einmal gegeben hatte. Eine
Mischung aus Mitleid, zärtlicher Neckerei und
Liebesbereitschaft.
Sogar sein schwerer Körper schien ihr für einen Augenblick
leichter, hatte irgendeinen jungen Schwung, eine neue Streckung.
Wenn
James Dean nicht so früh
gestorben
wäre, hätte er vielleicht ausgesehen wie Heinz jetzt.
Ditta hatte mit der Geduld der Liebenden gelernt, auf solche
Augenblicke zu warten, und wenn sie kamen, sie auch zu genießen.
Wenn er sie länger angesehen hätte, würde er festgestellt haben,
dass
ihr zittriges Lächeln jetzt aussah wie ein verlorenes Blatt. Es
sollte vermutlich mädchenhaft und
entwaffnend
aussehen, doch es hätte die Aufmerksamkeit nur auf die schlaffe
Leere ihres Gesichts gelenkt, ein erschauernder Clown.
„Ja, Goethe, sie hat mit mir über
Goethe geredet.“
„Wirklich? Na, dann gute Nacht. Ich bleib, hab noch zu tun.“
„Das sehe ich, dir auch gute Nacht.“
Epilog:
Während sich Ditta in ihrem Zimmer
auszog, im Finstern wohlweislich, damit sie nicht in Gefahr geriet,
sich im Spiegel sehen zu müssen, hörte sie vom Garten herauf einen
lauten Knall. Als sie den Vorhang vom Fenster wegzog, sah sie James`s
rauchende Trümmer über den Rasen verstreut liegen. Wahrscheinlich
hatte er sich heute nicht selbst abgeschaltet, und der Akku war
viele Stunden lang heiß gelaufen, bis er explodierte. Die
Gebrauchsanweisung hatte vor diesem, als unwahrscheinlich engestuften
Fall gewarnt. Durch die Rauchwolken hindurch sah Ditta Heinz am
Rande des japanischen Teiches stehen, gebeugt und den Kopf tief auf
die Brust gesenkt- der Inbegriff eines gebrochenen Mannes.
Sie befürchtete das Schlimmste: Ob
er sich wohl je an James II. gewöhnen würde?
Veronika Seyr
zwischen 15.11. und 31.12.15
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