Ein
Ort des Trubels und der Stille, der Mythen und Legenden, persönlicher
und kollektiver Erinnerungen
Den
Vater meiner Mutter habe ich nie kennengelernt und weiss auch bis
heute nur wenig über ihn. Er ist acht Jahre vor meiner Geburt
gestorben. Die Tochter, auf die Namen Sieglinde Mathilde Hermine
getauft, hat nie viel von ihrer Familie preisgegeben. Keinen ihrer
Namen mochte sie und fand auch für keinen einen passenden
Kosenamen. Unsere Vorschläge wie Siegi, Matti oder Hella lehnte sie
ab. Papa nannte sie Mama. Einige wenige Gegenstände aus dem
Besitz ihrer Vorfahren sind auf uns gekommen. Alle bewunderte ich:
den gravierten Handspiegel aus Silber mit Kamm und Bürste, eine
Rosenthaldose für Schmuck, eine Amethystkette, die ich als
Sechsjährige beim Prinzessinnenspiel verloren habe - alle
schienen mir von außerordentlicher Schönheit und mit Geheimnissen
umgeben zu sein. Sogar von Mamas Stiefmutter, die sie als
Fünfjährige bekommen hat, habe ich spät und nur aus zweiter Hand
erfahren. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals nach ihrer
Kindheit gefragt zu haben. Aus ihrer Salzburger Schulzeit hat sie
Erinnerungen an die Trapp-Familie, mit deren einer Tochter die das
Gymnasium besucht hatte. Vielleicht sind wir auch deswegen sieben
Kinder geworden? Gesichtert ist: Großvater Karl Bruche war
Ingenieur und Lehrer an einer technischen Schule in Salzburg und
Wien. Die Vorfahren stammen aus Norddeutschland und aus der Zips in
der Slowakei. In den Sommerferien bereiste er als Hobbymaler die
Adria-Küsten. Einige Malbücher und einzelne Blätter sind erhalten
geblieben und ruhen im Familienfundus. Als Kind habe ich gerne darin
so gerne geblättert wie in Velazquez- oder Dürerbänden. Später
schenkte mir meine Mutter ein Aquarell ihres Vaters, das eine Küste
darstellt, wahrscheinlich in Istrien. Gerahmt von Pinien, treffen
Meer und Himmel in einer Linie zusammen, an der linken Seite
eingeschnitten von einem Felsenstrand. Wenn ich von meinem
Schreibtisch aufschaue, zurückgelehnt wie an einen Pinienstamm,
kann ich das warme Harz riechen und und die liebestollen Zikaden
unter dem beständigen Meeresrauschen hören.
Ein
Sehnsuchtsbild. Das Land der Griechen mit der Seele suchen. Beide
Eltern waren Altphilologen und Germanisten. Was kann schon anderes
dabei herauskommen? Dieses Bild hat wahrscheinlich, obwohl keine
große Kunst, die Grundlage für meine Überzeugung gelegt, dass
Kunstwerke in erster Linie Nutz- und Gebrauchsgegenstände sind.
Lebensmittel, Überlebensmittel. Ich habe ihm vor Jahren einen
schlichten Holzrahmen verpaßt, er könnte von einem Baum von dort
sein.
Um
dem ungekannten Großvater näherzukommen, habe ich mir immer gern
vorgestellt, dass dies sein Lieblingsplatz war, dieser Blick aufs
Meer unter den Bäumen, vom letzten Erdstreifen hinaus ins
Unendliche. Wie er auf seinem einbeinigen Malerstockerl sitzt, ganz
allein vor Sonnenaufgang im Nebel, wie in der Stille der
Mittagshitze das Meer glitzert und sich im Sonnenuntergang
gold-purpurn färbt. Die Farbe von reifem Weizen, hatte Homer
festgestellt. Später auf meinen vielen Istrienreisen, habe ich
einmal in einem Moment des Schauens gemeint, bei Bale, nördlich
von Pula, genau diese Stelle gefunden zu haben. Julia hat dort ein
Bild gemalt und dabei unwissentlich denselben Winkel gewählt.
Vererbung des Blicks, gibt es so etwas?
Immer
lebendig und präsent war der Salzburger Großvater aber mit seinem
Vermächtnis, dem Sommerhaus am Mondsee. Welche Weitsicht hat er
bewiesen, als er zu Beginn der 20-er Jahre ein Seegrundstück kaufte
und darauf ein Holzhäuschen im Stil der Mondseer Bootshütten
errichten ließ. Im Rücken die Drachenwand und der dreigipfelige
Schober, vorne eine ein Meter hohe Steinmauer gegen den See hin,
leicht rechts die stumpfe, gutmütige Nase des Schafbergs, gegenüber
die sanften Wellen des Mondseer Hochmoors, später auch das Ungetüm
der Autobahnraststation. Wieder ist er da, dieser Blick vom Ufer
auf das Wasser, auf die Berge und in die Wolken. Morgenrot –
Gutwetterbot, Abendrot bringt Regn und Kot – oder ging`s umgekehrt?
Hat der Berg an Huat, wird das Wetter guat, hat der Berg an Sabl,
wird das Wetter miserabel. Diese Bauernregel bewahrheitete sich
immer, wie Papa leicht trimphierend feststellte, als hätte er
etwas dazu getan. Er war der von Mama etwas respektlos genannte
„Wolkenzutzler“, weil er ununterbrochen nach Westen, hinter
unserer Hütte, in den Wetterwinkel Richtung Salzburg, schaute oder
auf der Bank an der Hauswand sitzend, den Schafberg studierte, weil
der angeblich alles verriet, was für die Wetterprognose wichtig war.
Soviel ist sicher, dass wir uns nie an den im Abendrot
rauschgolden angemalten und von Zuckerlrosa überhauchten Kalkwänden
im Morgenrot sattsehen konnten.
Von
diesem kleinen Uferfleck aus ließ wahrscheinlich schon der
Großvater seine Blicke vom Almkogel über Scharfling bis zu den
Felsstürzen und Geröllhalden auf der Brust des Schafbergs
schweifen und runter, wo hinter dem Bergzwickel von Unterach der
Attersee lag. Es ist leicht auszudenken, dass der Bruche-Großvater
auch hier gemalt und gezeichnet hat, obwohl davon keine Spuren auf
die nächste Generation gekommen sind. Oder vielleicht doch? Das
Zeichentalent meiner Brüder und das meiner Tochter – stammt es
von ihm? Der große Unbekannte hat uns viele schöne Sommer an
diesem See geschenkt. Er hat für sich und uns mehr als eine
Sommerfrische begründet, sondern nach der Geburtsheimat Mühlviertel
uns in eine mindestens ebenbürtige zweite Heimat eingepflanzt,
uns im Salzkammergut eingewurzelt, bis heute, in der vierten
Generation nach ihm.
Die
Seligkeit ist nicht zu überbieten, wenn man unter dem Glucksen,
Gurgeln und zärtlichem Schmatzen des Sees gegen die Steinmauer
aufwachte und sofort wußte – Ostwind- das Versprechen auf einen
schönen Badetag. Über die Innenseiten des Daches zittern Kringel,
die Wellen spiegeln sich in tanzenden Lichtflecken. Noch bevor man
aufstand, meldeten sich die Schwaneneltern Hänsel und Gretel und
ihre Jungen mit einem leisen Fiepsen, die Enten mit ihrem Geschnatter
und verlangten ihr Frühstück. Wir pflückten Löwenzahn und Gras
von der Wiese und bröckelten altes Brot in den See. Dass Schwäne
schön aussehen, aber böse sind, erfuhren wir, als einmal der Hansl
meinen Vater unter scharfem Zischen in den großen Zeh biss, so fest,
dass der Nagel blau anlief und er lang nicht in die Schuhe kam.
Sogar
die heftigsten Gewitter habe ich in guter Erinnerung, auch wenn
Donner und Regengüsse tobten, die Blitze mit hohen Fontänen in
den See einschlugen und der Sturm das Wasser aufpeitschte. Dann
verwandelte sich das stille, sanfte Gewässer in Meeresungeheuer,
vor denen sogar Odysseus Respekt gehabt hätte. Wir wußten uns aber
in Sicherheit, weil es ja rundherum viele höhere Gebäude gab oder
Bäume, dass die Blitze unsere kleine Hütte mit Sicherheit nicht
treffen würden. Wir zählten immer von 21 aufwärts die Sekunden
zwischen Blitz und Donner, soviele Kilometer war das Gewitter noch
entfernt. Schaurig-schön war es, als einmal auf dem
gegenüberliegenden Ufer ein Blitz in ein Bauerngehöft einschlug und
wir stundenlang dem Niederbrennen zusahen. Unser privates Feuerwerk.
Wie alle Kinder waren wir ein wenig grausam, dem Spektakel mehr
zugeneigt als dem Mitleid. Wie wir unter dem Donnergrollen das
Tatü-Tata der Feuerwehren hörten und im Licht der Blitze und des
Feuers die Männlein mit Leitern und Schläuchen hinundher wieseln
sahen, das Vieh, das aus den Ställen getrieben wurde und die
Menschen händeringend durcheinander liefen. Aber was wollte man
gegen das Schicksal machen, wenn man Brandlgschwandtner hieß?
Seither weiss ich, dass es die Angst-Lust wirklich gibt.
Wir
können uns alle noch an die Zeit erinnern, als die Schafbergbahn
über dem langgezogenen Rücken ihre Rauchwölkchen ausstieß,
zweimal in der Stunde.
Den
Schafberg haben wir oft bestiegen, von jeder Seite, jeden Steig
kannten wir, auf und ab, nur nicht die Schafbergbahn, die kannten wir
nur aus der Ferne und kannten sie nicht, sahen immer nur ihre
Rauchwölkchen über dem Schafsrücken aufsteigen oder flach liegen,
je nach Luftdruck. In der Senke, knapp bevor es zum Hals aufstieg,
hielt es still – das war die Mittelstation. Eine Fahrt mit diesem
Wunderding der Technik konnte sich eine Familie mit sieben Kindern
leisten. Nie. Auch in das Schafberg-Hotel waren wir nie eingekehrt.
Diese steinerne Trutzburg mit den rot-weiss-roten Fensterläden
blieb für uns verschlossen, wir bogen darum herum zum Adlerhorst und
schauten dafür in die steilen Gräben des Nebengipfels hinunter
auf die kühn segelnden Bergdohlen, die im Auftriebswind stehenden
Bussarde und bei Glück auf Gämsen in Felsgraten und Latschen.
Als
ich nach meinem Amerika-Jahr meine Gastfamilie durch Österreich,
auch durch das Salzkammergut führte, lud sie mich zu einer Fahrt mit
der Schafbergzahnradbahn und in das Hotel ein. Ich war nicht
weniger gerührt als meine New Yorker Gäste, wenn auch aus anderen
Gründen. Eine späte Enttäuchschung, als ich feststellte, dass die
dieselgetriebene Zahnradbahn die Rauchfahnen schon lange künstlich
herstellte.
In
der Realzeit sind die Sinneseindrücke nicht getrennt, sondern eine
Symphonie aller Sinne von Sehen, Hören, Schmecken, Tasten und
Riechen. Am Mondsee wurde dazu noch der Gleichzeitigkeitssinn
geschärft, die Verdichtung des Lebens. Alles war farbiger, klarer,
schmackhafter, geruchsintensiver und mit Wundern gesättigt. Mit
acht Jahren war ich mit der Mondsee-Initiation dran; das wurde erst
möglich, nachdem die drei älteren Geschwister für erwachsen
genug eingestuft wurden, im Sommer allein ihrer Wege zu ziehen. Da
erst durften wir Jüngeren nachrücken, weil ja nie genug Platz
für alle in der Hütte war. Wir hatten damals noch kein Auto,
fuhren also umständlich von Tulln mit Bahn und Autobus nach Bad
Schallerbach zu Onkel Karl, der in Bachmaning eine
Gemischtwarenhandlung betrieb und einen kleinen militär-grauen
Renault hatte. So einen, bei dem die Türen in der Mitte zu einander
aufgehen und die Winker mit einem lauten Klicken auf den Seiten
herausschnellen wie kleine Streckenwärter. Der brachte uns, ich
weiss nicht wie, zusammengepreßt, zu fünft nach Plomberg am
Mondsee, mit allem Gepäck. Papa fuhr mit dem Rad nach. Everything
goes. Die eigentliche Sensation, an die ich mich erinnere, ist eine
Flasche Schartner Bombe, die in dieser Gegend hergestellt wurde,
gespendet von dem unermesslich reich scheinenden Onkel Karl und von
der Tante Hermi ein Seidenzuckerl geschenkt bekamen. Die Kirschen von
Bachmaning, ich weiss nicht mehr, ob bei Onkel Karl oder in einem
Nachbargarten, sie sind bis jetzt noch immer die besten auf der Welt.
Die Spannung in der Hand beim Griff in den Glasbehälter mit dem
schrägen Hals, ich kann sie jetzt noch spüren. Die Seidenzuckerl
der Tante Hermi. Das Göttergetränk in der dunkelgrünen,
rundlichen Flasche mit einer gelben Zitron drauf, spritzig
explodierte es im Gaumen und kitzelte auf der Zunge, bald schon war
es warm und schlabbrig wie Kinder-Lulu. Es roch im Zustand der
Zersetzung nach Kaugummi, wenn wir so etwas schon gekannt hätten.
Aber in diesem Geschmack aus Scharten winkte die große, neue Welt!
Bei
uns geriet fast jede Situation zum Wettbewerb. Wer sah in dem
Bergzwickel hinter Regau als erstes den Attersee und rief als
erster: „Ah, der See!“ Wer sah nach dem Hochmoor als erstes die
Spitze des Schafbergs, das erste Segelboot am Mondsee? Wenn wir an
einer Burg vorbeikamen, nie vergaß Mama das „Riesenspielzeug“
von Chamisso zu anzustimmen, in das wir wie trainierte Papageien im
Chor einfielen: “Burg Nideck ist im Elsaß der Sage wohl
bekannt/Die Höhe, wo vor Zeiten, die Burg der Riesen stand… /
Bis
zu den letzten Zeilen schmetterten wir durch den VW-Käfer: „Sie
selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer./Und fragst du
nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.“ Gerade da tauchten die
Ruinen von Burg Wartenfels auf halbem Weg zum Schobergipfel auf, und
die heisse und beengte Autofahrt hatte ihr Ende. Ob die
bildungsbürgerlichen Eltern uns damit die größere Realität von
Dichtung praktisch vorführen wollten oder selbst nur ihren Spaß
hatten? Wer kann das heute noch wissen. Auf jeden Fall trainierte
Mama bis ins hohe Alter mit dem Gedicht- und Balladenschatz ihr
ausgezeichnetes Gedächtnis. Sie hatte ein eigenes Wikipaedia im
Kopf. Ein riesiger Silberschöpfer, einziges Überbleibsel eines
Bestecks, hieß bei uns immer der „Suppenlöffel von der Burg
Nideck“.
Am
Mondsee erkannte ich, dass das Salzkammergut ganz anders roch als
meine Donau-Mühlviertler-Umgebung. Das frisch gemähte Gras hinter
unserer Hütte bis zum Hanslbauer, das Heu, der klare, nicht
modrig-algige Geruch des Wassers, wie ich es von der Donau kannte,
hier viel frischer, weil aufgemischt vom durchsichtigen Seewasser,
vom zitronigen Schilf und angereichert mit den Wald- und
Beerengerüchen.
Die
ganze Schönheit des Lebens konnte einem in einem Sommersonntag
aufgehen: Draussen in der Seemitte flattern weiße Segel im Wind,
Reihe um Reihe ist aufgezogen. Wir haben Glück und sitzen in der
ersten Reihe, denn unserem Ufer gegenüber liegen die Wendebojen der
Mondseer Segelregatta. Postkarten- und Landschaftsmalermotive mit
glitzernden, türkisblauen Wellen und Schäfchenwölkchen darüber.
Das Licht funkelt und flimmert, als habe ein freigiebiger Zauberer
Edelsteine ins Wasser geschüttet. Nachdem wir alle schwimmen
gelernt hatten, durften wir das Holzboot des
Tischler-Ebner-Nachbarn ausleihen, nach links bis zur Mündung der
Fuschler Ache ins Schilf fahren oder nach rechts bis zum Hotel
Plomberg. Später bekamen wir ein eigenes Ruderboot aus Plastik,
das man leicht auf den Steg ziehen konnte. Franzi war der geborene
Fischer und verbrachte viel Zeit im Boot, wobei er nicht einmal den
Regen scheute, weil da angeblich die Fische noch besser anbissen.
Mehr als einen ungenießbaren Weissfisch oder eine lebensmüde
Aalrutte brachte er meiner Erinnerung aber nie nach Hause. Das
Fischen ist das Ziel, nicht der Fisch, lautete einer von Papas
Sprüchen. Ähnlich wie beim Wandern. Mir persönlich imponierte am
meisten, dass der ganze See in Privatbesitz war und einer Frau
gehörte (laut Wikipaedia heute 16 Millionen € wert). Die Gänge
in das Allmeiersche Schloss in Mondsee, wo man die Fischarten lösen
musste, hatten immer etwas von der Andacht einer Wallfahrt.
Wenn
ich in die Tiefe der Erinnerungs-Bilder schaue, gefällt mir aber ein
anderes noch besser. Wenn man vor Sonnenaufgang aufstand, und ich
tat das, weil ich immer nur kurz schlief, konnte man den Fischer in
seiner flachen, langgezogenen Zille hinausfahren sehen- hieß sie
nicht Plätte? - eine einsame, aufrechtstehende Gestalt, im
Morgennebel Netze auswerfend. Ein Bild wie von einer tausendjährigen
Steinabreibung vom südchinesischen Meer hat sich eingeprägt. Wenn
wir beim Frühstück saßen, bei Milch und Eiern vom Hanslbauer,
Yoghurt und Käse aus der Mondseer Molkerei und Brot aus der
Teufelsmühle, selbst eingekochte Him- oder Heidelbeermarmelade
darauf schmierten, dann fuhr er die Saiblinge und Reinanken,
Forellen und Hechte ein, die er aus den augelegten Netzen und Reusen
einsammelte.
Ich
kann nicht entscheiden, zu welcher Zeit der See am besten roch. In
aller Früh, wenn Fische, Algen und Schilf zusammen ihre Gerüche an
Land schickten oder in der prallen Sonne, wenn das Heu dufteten, die
imprägnierten Holzbalken der Hütte in der Hitze siedeten oder
nach dem Regen, wenn die Luft getränkt war mit Erd- und
Waldgerüchen.
Obwohl
wir oft genug Anlass hatten, über das Salzkammergutwetter, den
Schnürlregen, zu jammern, der uns an den Badefreuden hinderte, habe
ich auch die Regentage in schöner Erinnerung. Wenn die Tropfen
anscheinend endlos an den Fensterscheiben herunterrannen und draußen
die putzigen Duckanterl (Duckenten) und Haubentaucher ihr Köpfchen-
unter- Wasser-Spiel aufführten, wir die Sekunden zählten und die
Meter schätzten, wie lange sie unter Wasser bleiben konnten und wo
sie wieder auftauchen würden. In der Geborgenheit des Dachgiebels,
auf den staubigen Strohsäcken liegend, ein Buch auf den Knien,
hörten wir dem vielstimmigen Trommeln und Prasseln des Regens zu.
Wir hatten immer viele Bücher dabei und lasen um die Wette,
spielten viele Gesellschaftspiele, Quartette oder Stadt-Land. Das
Hüttenbuch lag immer bereit. Alles wurde aufgeschrieben, dieses
Buchführen war vor allem Mamas Leidenschaft. Aber wie bei allem,
hatten unsere Eltern auch für die Ferien ein Programm, niemand
durfte einfach nur so in den Tag hineinleben. Oft wurden wir unter
Murren, ausgerechnet bei schönstem Wetter, vom See in die Berge zum
Wandern gestampert. In den ersten Jahren noch mit der
Bad-Ischlerbahn, später mit dem Postautobus, in den letzten Jahren
mit Papas VW-Käfer, klapperten wir Orte und Berge im ganzen
Salzkammergut ab. Wir bevölkerten die Almen, Bergseen, Hütten,
Schluchten und Latschenhänge, Adlerhorste und Gipfelkreuze mit
ihren Gipfelbüchern und Stempeln. Ich glaube, wenn wir anderen
Wanderern begegneten, fragten die sich, ob wir ein Kinderheimausflug
waren. Wir hatten genagelte Goiserer an den Füßen, die mit
knarrendem Eigensinn Blasen produzierten, Hubertuswetterflecke,
die bei Regen schwer wurden als Ziegeldecken, nach Schaf rochen und
auch in Tagen nicht trockneten; der Familienrucksack mit den
Aluminiumproviantdosen ging zum Tragen reihum. In der am Gürtel
baumelnden Feldflasche war nie Kracherl oder Sirupsaft, sondern
immer nur reinstes Quellwasser. Auf mancher Almhütte waren wir dem
Genusshimmel nahe, wenn wir einen Becher Buttermilch bekamen.
Wenn
andere Kinder nach den Ferien von ihren Sommerfrischen am Atter-,
Traun-, Hallstätter-, Altausseer oder Wolfgangsee schwärmten, mit
ihren viel größeren Flächen, größeren Schiffen, berühmteren
Orten, Hotels, Villen und namhaften Gästen, hielten wir dagegen,
dass der bescheidene Mondsee das bessere Wasser habe und mehr Fische.
Manche verstiegen sich sogar dazu, den Mondsee abschätzig als „Tor
zum Salzkammergut“ zu bezeichnen. Was, wir sollten nur
Türlsteher sein? Wie waren die Perle! Einmal geriet ich mit einer
Freundin in Streit, deren Familie eine Villa a la Habsburg in
Steinbach bewohnte, weil sie behauptete, nur die Salzburger und
Steirer Gebiete gehörten zum Salzkammergut, nicht aber das ordinäre
Oberösterreich. In gekränktem Lokalstolz hielt ich heftig
dagegen: Unser Seewasser ist dafür in Sonnenperioden viel wärmer
und weicher. Bis zu 28 Grad, eine Kinderbadewanne, in der man sich
stundenlang suhlen kann, ohne blaue Zitterlippen zu bekommen und ohne
die Eiseskälte wie in Hallstatt oder Gmunden mit dem unheimlichen,
fast schwarzen Wasser oder gefährlichen Strömungen wie im tiefen
Grund des Attersees. Ja, vor allem das weiche Wasser priesen wir,
in dem man keine Seife zum Waschen brauchte und keine
Geschirrspülmittel. Wir bewiesen immer wieder seine
Trinkwasserqualität, indem wir bei unseren Luftmatratzenschlachten
literweise Seewasser schluckten. Wenn wir vom Steg oder Boot ins
türkise, kristallklare Wasser schauten, konnten wir metertief auch
noch die kleinsten Spennadler erkennen und den weißen Kies am Grund.
Während der Blaualgenpest verwandelte sich das türkise
Kristallwasser in eine blaue Brühe, unappetitlich anzusehen, aber
für die Schwimmer harmlos. Und von gutem Wasser verstehen alle Teile
der Familie etwas. Waren doch die Männer der väterlichen Hälfte
Bierbrauer und Wirte, die mütterlichen mütterlicherseit
Weinbauern bei Baden. Aber es gibt auch wissenschaftliche Beweise für
das gute Wasser des Mondsees. Es wird schon kein Zufall oder
persönliche Vorliebe von Biologen gewesen sein, dass die
Fischzuchtanstalt der Hochschule für Bodenkultur vor vielen
Jahrzehnten in unserem Nachbardorf Scharfling eingerichtet wurde.
Noch früher hinterlegte Kaiser Maximilian beim Fürsterzbischof
seinen Wunsch, lieber in Mondsee begraben zu werden als in
Innsbruck, was ihm aber verwehrt wurde.
Abgesehen
von messbarer Wasser- und Luftqualität erschien mir alles um den
Mondsee sauber, echt, unschuldig und unverdorben. Vielleicht weil
noch eingehüllt in das „Jenseits von Gut und Böse“? (Religion:
gut ist gleich schön) Vielleicht weil dort die Wurzeln der Eltern
zusammenkamen? (Blut&Boden) Vielleicht weil es eine
Urlandschaft war, der Prototyp einer Landschaft, in der die Menschen
alles fanden, was sie zum Leben brauchten? (Blaueblumenromantik).
Eine Mischung von allem, von allem etwas, was sich zu einem heilen
Ganzen fügte. Weil diese Gegend in den überschaubaren
Jahrhunderten keinen größeren Schicksalsschlägen ausgesetzt und
daher von positiver Energie besetzt war? (Äsotherik) Weil sein Name
auf die rührende Volkssage vom bayrischen Herzog Odilo zurückging?
(Historismus). Mama wußte natürlich, weil sie alles wußte, dass
der Name nicht vom Mond herkam, sondern dem alten Adelsgeschlecht der
Mann.
Es
gab sicher nicht so viele spektakuläre Berge, Gebäude und Menschen
wie woanders, alles war lieblich und sanft bis zur Unscheinbarkeit.
Zugegeben, unsere Schiffe „Mondsee“, „Helene“ und
„Wartenfels“ waren viel bescheidener als die der anderen Seen.
Aber wir hatten oft das bessere Wetter, weil der Mondsee nicht von
so hohen Bergen umgeben war, an denen die Salzkammergut-Regenwolken
leicht hängen blieben. Und schwere Gewitter, die oft Muren und
Bergstürze brachten. Wir waren auch besser gefeit gegen die
badehungrigen deutschen Touristenhorden, die die anderen Seen
regelmäßig überfielen, sodaß kein Parkplatz und kein Bett
freiblieb, man sich vor zudringlichen Blicken kaum retten konnte, die
Grundbesitzer die Buchenhecken übermannshoch wachsen ließen,
überall Tafeln mit „Privat – Zutritt verboten“ aufstellten,
Ketten spannen oder Felsbrocken in die Einfahrt rollen mußten, die
Preise in die Höhe schnellten und auf den Speisekarten so unselige
Wörter wie Quark- und Blaubeeerkuchen, Brötchen, Frikadellen,
Eisbein und Klöße auftauchten, auf den Badeplätzen es nur so von
Schippen und Eimern schepperte, von Heinz- Jürgens und
Annegrets und, nöö, kuckmal! dröhnte. Und wer hat – Hallstatt
ausgenommen- etwas Ähnliches aufzuweisen wie die Mondseekultur mit
Pfahlbauten und Einbäumen aus der Jungsteinzeit? Trotz all der
illustren Orte konnte sich keiner mit so einem rätselhaften
Namen wie „Schwarzindien“ schmücken. Das brachte einen doch
gleich zu Kolumbus und Darwin. In der Kirche von St. Lorenz, mit
den uralten Linden vor der barocken Pracht der zwiebeligen
Doppeltürme, betete der dienstuende ugandische Priester für gutes
Wetter. Weil er einen direkten Draht nach oben und zu den
afrikanischen Wettermachern hatte, waren seine Gebete von größerer
Wirkung als die Bayerische Wetterumschau.
Das
Wort kannten wir wahrscheinlich noch nicht, aber wir fanden unseren
See viel romantischer als die großen Nachbarn- wahrscheinlich sagten
wir gemütlicher- weil viel mehr „unser eigener“ als die
berühmten Touristenattraktionen. Meine altphilologische Mutter wird
sicher so etwas wie „Locus amoenus“ von sich gegeben haben, nicht
ohne auf die besondere Geschlechtssituation von Locus und Domus zu
verweisen. Der Mondsee ist zweifelsfrei lieblich. Außerdem
gehörten wir zu den den ältesten, stolzen Seegrundbesitzern, wenn
auch nur von der Größe eines Tischtuches mit einer
Einzimmer-Holzhütte aus groben Balken darauf, mit von Papa
selbstgebauten, himmelblau lackierten Möbeln, einem Gaskocher mit
erst einer, dann- welch Fortschritt-zwei Flammen und einer
Gasflasche, mit vier Strohsäcken im Dachgiebel, einer Hühnerleiter,
einem Plumpsklo, das alles ohne Strom und Fließwasser. An den
Abenden saßen wir über Büchern und Schreibheften, wir spielten
Städte- oder Blumenquartett, Kennst du Österreich, Mikado ohne
Ende, in der Mitte Kerzen, später eine Gaslampe, heftig umflogen
von allerhand Insektengetier. Ich kann mich an keine einzige
Krankheit oder Krise erinnern, die uns am Mondsee erreicht hätte.
Oder doch eine: Der jüngste Bruder Franz produzierte einmal einen
Wutanfall, als ihn Papa zwang, den verhältnismäßig großen
Weißfisch wieder freizulassen, weil er eh nur aus Gräten bestand.
Aber gab es ein besseres Stroh und Heu aus dem Stadel oder
Wasser aus dem Brunnen vom Hanslbauer? Kein Hotel konnte bessere
Betten haben, kein Restaurant frischere Fische haben. Die
wirklich großen Katastrophen kannten wir nur aus Erzählungen und
kleinen vergilbten Fotos, als etwa beim Jahrhunderthochwasser 1954
der See einen Meter hoch im Hütterl stand, es einzustürzen drohte
und die Familie zum Hanslbauern flüchten mußte. Oder als einmal ein
Sturm die große Linde fast aufs Hütterldach geworfen hätte; sie
wurde gefällt, und nur der abgeschnittene Stumpf vor der Türe
erinnerte noch daran.
Wegen
seiner schriftstellerischen Tätigkeit bekam Papa oft Gäste aus
aller Welt, auch in Plomberg. Die Amerikaner sagten immer lovely, how
lovely, und so many childrend, so sweet and cute und dachten
wahrscheinlich, dass unsere Familienhütte für ihren Hund in
Kentucky zu klein gewesen wäre.
Ich
habe immer viel gelesen, beobachtet, nachgedacht und in den
Nachthimmel hinaufgeschaut. Die Sternbilder lernte ich dort kennen
und entwickelte eine typisch jugendliche Begeisterung, wenn sich zum
erstenmal die Welt ins Unendliche ausdehnt. Als ich einmal im
beginnenden Teenageralter dem Vater vom Kosmos vorzuschwärmen
begann, sagte er so etwas Rätselhaftes wie: Verwechsle nie
Quantität mit Qualität, Masse und Mensch. Und gab mir Elias Canetti
und Ortega y Gasset zu lesen.
Die
Luft war sauber und vollkommen dunkel bis hinauf zu ihrem Geblinke.
Wenn es unter dem Dach auch in der Nacht noch zu heiß war, durften
wir in der Wiese schlafen und wachten taubeschlagen auf. Der
Klausbach rauschte damals noch vom Almkogel herunter in einigen
Stufen von Wasserfällen, gleich neben uns schüttete er sich in
einem kleinen Delta in den Mondsee, ein Sandstrand, wo wir spielten
und von dem wir in Kübeln Kies für die Wege um die Hütte holten.
Ein tägliches, morgendlich ungeliebtes Ritual für uns Kinder, die
langen Fleckerlteppiche auszuschütteln und die Hütte auszukehren.
Ordnung muss sein.
Ich
hatte damals keine Vergleiche, aber Jesolo (sie sagten Dschesolo),
Caorle oder Lignano Sie sagten Liknano), von denen damals schon
manche Mitschülerinnen schwärmten, können nicht schöner gewesen
sein. Da war ich sicher.
Sie
redeten von Gelati und Tutti frutti, ich dagegen selig, wenn ich in
der Mondseer Milchtrinkhalle ein Erdbeer-Frufru bekam. Das
Viertelglas war braun, hatte eine Metallkappe und darunter eine
zweifingerdicke Schicht von Marmelade. Der Löffel war überlang,
damit man sich die Finger nicht ankleckertn sollte. So einen Löffel
hatten wir bei uns nicht. Aber genau das liebte ich, das
Abschlecken der Finger, des Löffels, des Randes und das ewige
Auskratzen bis zum letzten Restchen. Auch das ist eine
Mondseesymphonie, das helle Klingeln, unser Klingeln mit den
Löffeln in den Glasfläschchen.
Einer
unserer schönsten Spielplätze war der Klausbach, solange er nicht
bei Gewittern wild wurde. Von der Mündung durchs wilde
Bachbett sprangen wir rauf oder runter, von Stein zu Stein, in den
natürlichen Badewannen dazwischen plantschten wir im eiskalten
Wasser und kletterten an der Thekla-Kapelle den Wildsteig an das
Steilufer hinauf. Ich müßte jetzt nachschlagen, d.h. googeln,
wofür die Heilige Thekla zuständig war, dort und damals. Das
Innere der Kapelle war übersät mit Bildchen, Briefen und
Devotionalien: Beine, Arme, Herzen und andere unbestimmbare
Körperteile, dazu Kerzen, Münzen und Blumen. Die Sträuße in
den Vasen, das Tannenreisig und die Farne waren immer frisch, auch
die Gaben von Beeren, Äpfeln und Nüssen, also mußten Menschen,
Frauen, diesen Ort häufig besuchen. Ich erinnere mich an die
Abbildung der Hl. Thekla mit einem Löwen und anderen wilden
Tieren, die in dieser Gegend nicht vorkamen. Der altarähnliche
Aufbau über einem weissen Leinentuch mit eingesticktem Kranz von
IHS war einem Scheiterhaufen nachgebildet, auf dem die Figur der
Märtyrerin stand. Sie war der erste Mensch, den Paulus taufte.
Eigentlich war die in Syrien als römische Offizierstochter geborene
Thekla nur eine Protomätyrerin. Denn nach den Paulusakten hatte
sich das Feuer geweigert, die als bekennende Christin angeklagte
Jungfrau zu verbrennen; die wilden Tiere, die sie im Zirkus
eigentlich zerreißen sollten, retteten und versteckten sie in
einer Höhle im syrischen Dorf Maalula, wo sie bis ins hohe Alter
ein Eremitendasein geführt haben soll.
Ein
orientreisender Dichterfreund hat mir erzählt, dass er im
dortigen Thekla-Kloster das Vaterunser auf Aramäisch, der Sprache
der Bibel, in tiefer Bewegung gehört hat. Die Menschen sprachen
den altsemitischen Dialekt, dessen sich auch Christus bedient hat.
Das waren die Laute, mit denen Wasser in Wein verwandelt, Fisch und
Brot vermehrt, die Bergpredigt gehalten und Lahme gehend gemacht
wurden. In ihrer Höhle hat er aus derselben Quelle getrunken wie
die Römerin. Thekla war schon im frühen Christentum so populär,
dass man ihr schon im 4. Jahrhundert in Mailand eine Kirche widmete,
an der Stelle, wo heute der Dom steht und wo man sie noch heute in
der Krypta besuchen kann.
Übrigens:
Was hat es zu bedeuten, wenn überhaupt, dass ich nun schon seit 42
Jahren in einer Wohnung lebe, die sich genau zwischen Paulaner-Kirche
und St. Thekla befindet? Darauf bin ich gerade erst gestossen, als
ich diesen Text verfasst habe.
Unsere Thekla-Kapelle im Plomberger Wald stand auf keiner
Lichtung, sondern auf einem mit Baumstümpfen und einigen grob
gezimmerten Holzbänken umsäumten Platz zwischen Tannenstämmen,
so hoch, dass kaum je ein Sonnenstrahl auf den Boden traf und
niemand den Himmel oben sehen konnte. Etwa in einer erwachsenen
Kopfhöhe, wir waren viel zu klein, um näher daran zu kommen, hingen
von den Baumstämmen dunkle, verhutzelte Fetzen herunter. Es
hätten Flechten sein können. Hedi und Franzi waren gewiss dabei,
weil ich sie immer hüten musste. Ich weiss nicht, ob sie sich daran
erinnern. Das waren die an den Baumstämmen angenagelten
Plazentas, als Fruchtbarkeitskult und zur Abschreckung? Ich habe nie
danach gefragt. Eindeutiger waren da schon die Totenbretter, die
ebenfalls an die Tannen genagelt waren mit eingeritzten Jahreszahlen.
Was sollte die erste christliche Jungfrau aus Kleinasien
ausgerechnet mit einem Plazenta-Kult zu tun haben? Heute vermute
ich, dass dieser Brauch wahrscheinlich älter als das Christentum
ist, wahrscheinlich ein keltischer Kultplatz, der später in die
Thekla-Verehrung hineinkulturiert wurde. Die Rundtänze der Feen und
wilden Weiber auf diesem Platz malte ich mir besonders gern aus.
Aber
unser selbst geschaffenes Zauberreich lag im Wald zwischen den
moosüberwachsenen Felsmugeln rechts von der Thekla-Kapelle,
oberhalb des Weges, im Geröll des Drachenwandfußes, wo die
Farne größer waren als wir. Die Geschwister werden immer dabei
gewesen sein, aber ob sie die gleiche Beziehung zur unsichtbaren Welt
hatten, kann ich nicht sagen. Ebensowenig, ob sich die ältere
Lisl für unsere Zauberwelt interessiert hat. Ich sehe sie in diesen
Zwergenwaldbildern nicht, viel deutlicher den Kopf mit den schönen,
dicken Zöpfen über ein Buch auf den Knien gebeugt und dabei
strickend. Oder stickend. Kreuzerlstiche in grobes Naturleinen
hinein, rot und schwarz. Immer mehr Tischdecken und Polster begannen
das Hütterl und das Tullner Haus zu beleben. Sie war in dieser
Hinischt genial, sie konnte beides gleichzeitig. Wir bauten den
Zwergen, Trollen, Feen, Waldschratten und Geistern, von denen wir den
Wald so sicher bewohnt glaubten, wie wir an den lieben Gott glaubten.
Kleine Häuschen, ja ganze Dörfer bauten wir, damit sie nicht immer
unter der Erde bleiben müßten. Aus Zweigen, Ästen, Steinen,
Tannenzapfen, Bockerln, Gras und Moos legten wir die Anlagen
zwischen den Felblöcken an, bestreuten die Wege mit weißem Kies
aus dem Klausbach, pflanzten Bumen, Beeren und Bäume aus Farnen und
Fichtenzweigerln, bauten Bankerl und Vordächer, damit auch sie
vor Regen geschützt waren. Die Erdgeister erschienen als
Feuersalamander, die Feen als Schmtterlinge und die Nymphen als
Libellen. Der Wald war reich an duftenden Zyklamen; dass sie nach
unserem Blumenquartett unter Naturschutz standen ebenso wie der
Enzian, kümmerte uns nicht, der Zweck heiligt die Mittel. Aus
Farnen und Tannenreisig bastelten wir Palmen. Die Fenster legten wir
sogar mit von St. Nikola mitgebrachtem Katzensilber aus. Meine
Bewunderung für Moose und Flechten geht auf diese
Zwergerlarchitektur zurück. Es gab viele Arten mit verschiedenen
Farben und Formen Wir hinterließen auch milde Gaben: Beeren, Nüsse
und Brotbrösel. Schließlich könnte es ja auch im Wald noch Hänsel
und Gretel, Brüderchen und Schwesterchen, Schneewittchen,
Schneeweisschen und Rosenrot geben, vielleicht auch Dornröschen und
Rapunzel. Meine Lieblingsfigur war die Schlangenkönigin mit ihrem
Krönchen am Kopf, der man, das wußte ich von der Großmutter in St.
Nikola, immer ein Schüllechen mit Milch hinstellen mußte. Wenn
wir unsere Bauwerke manchmal zerstört vorfanden, wahrscheinlich
von Dorfbuben oder achtlosen Spaziergängern, bauten wir die Dörfer
unermüdlich wieder auf, noch reicher und prachtvoller, und sagten
uns, die Bewohner seien unzufrieden mit ihren Häusern gewesen.
Ich war überzeugt, dass sie, wie im Märchen die sieben Zwerge, im
Erdinneren lebten und zur Arbeit ins Bergwerk gingen, während
Schneewittchen den Haushalt besorgte. Ich durfte aber nie, um die
Existenz von Schneewittchen und den Zwergen zu überprüfen, um
Mitternacht in den Wald. Bis heute eine große Erkenntnislücke.
Ich fühlte mich als Expertin, schließlich war meine erste
Bühnenrolle bei der Katholischen Jungschar der 7. Zwerg, der zwar
keinen einzigen Satz allein sagen, aber immerhin im Chor, mit einem
angeklebten Bart aus Werg am Kinn, über die Bühne stapfen durfte,
wenn wir im Gänsemarsch, mit roter Zwergerlmütze und einer Laterne
über die Schulter in den Stollen marschierten. Das Schneewittchen
war Hedwig, die Hübscheste, so sicher wie ein Naturgesetz.
Die
Hitze liegt noch immer auf dem See und brütet still in den
Wiesen, wenn die Sonne langsam hinter der Drachenwand verschwindet
und mit den letzten Strahlen die Schafsnase rosa-golden färbt.
Zwischen uns und den Bergen macht sich ein Gemisch aus kurz und klein
gehackten Schatten breit. Obwohl der Maler den großen Nachbarsee für
seine Sommerfrische bevorzugte, ließ er uns bescheidenen Nachbarn
doch genügend klimtsches Wiesengrün mit Safrangelb, silbriges Grün
mit den dunklen Flecken des Hochwalds übrig. Er hat am Attersee
nicht alles weggemalt, er hat dort nur akribisch die Natur als
Theorie der Optik untersucht und sich dabei vom zuvielen Wiener Gold
erholt. Mit Mohn, Margeriten, Glockenblumen, Wiesenschaumkraut,
Zittergras, Arnika, Skabiosen, Thymian, Wermut, Hahnenfuß und
Johanniskraut. Einiges davon sammelten und trockneten wir für Tees.
In einer Seitengeschichte gibt es die Erinnerung, dass Mama einmal
die ganze Familie fast vergiftet hat. Mit Waldmeistersekt, der in die
falsche Richtung aufgegangen war. Auf ein „Komponierhäusel“
wie das des Gustav Mahler, kann der Mondsee nicht verweisen, in dem
er 1893 in nur wenigen Wochen die 2. Symphonie aufs Papier warf,
auch nicht auf illustre Gäste aus Salzburg, Staatsoper,
Burgtheater und Musikverein. Ich jedenfalls habe nichts vermißt.
Für uns waren die Familien der Hanslbauer und Tischler-Ebner mit
ihren vielen Kindern, der Fischer, die Kramerin und die
Drachenwandwirtin, die geheiminsvolle Seebesitzerin und der Müller
in der Teufelsmühle die wahren Hüter meines Kindheitsparadieses.
Wenn wir den heißen 10-Kilo-Brotlaib im Rucksack nach Hause trugen,
brannte die Haut nicht nur vor lauter Erwartung, wenn wir von der
Verkäuferin in der Mondeseer Milchtrinkhalle eine Scheibe Mondeseer
Käes geschenkt bekamen und die Eltern jedem eine frische
Kaisersemmel und ein Flascherl Erdbeer-Frufru kauften und das auf
einem Bankerl der Uferpromenade verzehrten, waren wir reich und
glücklich. Vor Mamas Heimatstadt Salzburg hatten wir Respekt, sie
machte immer wieder Anstalten, uns ihre Schönheiten näher zu
bringen, wir aber flüchteten jedesmal in Entsetzen vor den
Menschenmassen zurück an unseren See.
Aus
der sorgsam gefrästen Seesichel kriecht langsam die abendliche
Kühle hervor.
Auf
dem Wasser tanzen die letzten Lichtsprenkel von orange bis türkis.
Das Rosa zieht sich von der Schafsnase zurück. Nacht, gute Nacht.
In so einem Augen-Blick war es wahrscheinlich, dass Mama mit ihrer
Zitierfreude an ihrem geliebten Mörike nicht vorbeigehen konnte.
Was Papa meinte, wenn er sie seine „wandelnde blaue Blume“
nannte, wußten wir damals nicht, spürten aber, dass es liebevoll
gemeint war:
„Gelassen stieg die Nacht ans Land/Lehnt träumend an der
Berge Wand;/Ihr Auge sieht die goldne Waage nun/Der Zeit in gleichen
Schalen stille ruhn;/Und kecker rauschen die Quellen hervor,/Sie
singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr/Vom Tage/vom heute gewesenen
Tage.“ (selber weiter googeln unter Mörike Um Mitternacht,
1828).
Als ob das nicht schon Musik genug wäre, klingt in meinen Ohren
dazu im Überschwang der Empfindungen der Frühling der Vier
Jahreszeiten von Vivaldi nach.
Kurz danach verführte ich einen viel jüngeren Toursidenbuben vor
seinem englischen
Zelt, danach sprangen wir nackt in den Mondsee, schön wie nie
wieder.
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