Montag, 23. November 2015

König Winter




Slavko regte sich unbehaglich auf seiner Bank im Park. Sein Gehirn registrierte, dass er fror und sagte ihm, dass der Winter nicht mehr weit war. Ein dürres Blatt segelte von der Platane auf sein Gesicht. Es war die Visitenkarte des strengen Herrn Frost. Seine Banknachbarn in dem kleinen Park zwischen Gerhard-Bronner- , Elias-Canetti- und Sir Karl-Popperstraße hatten ihre Adressen schon verlassen und waren auf ihre angestammten Standorte gezogen. Er spürte Hunger in den Gedärmen und beschloss, ein Ein-Mann-Hilfskomitee zu gründen. Er war noch nicht lange in Wien und kannte die Stadt nicht gut. Das stimmte nicht ganz, denn Slavko hatte schon seit dem Frühsommer auf einer Baustelle gearbeitet, während der Woche im Containerdorf seiner Firma gewohnt und war an den Wochenenden nach Hause, nach Petrzalka zu seiner Familie gefahren. Aber an diesem Freitag, ein schwarzer, Freitag, der 13., hatte der Chef, anstatt den Wochenlohn auszuzahlen, gesagt, die Firma ist pleite und hat kein Geld, keinen Cent, sorry, Leute, vielleicht später. Alle arbeitslos gemeldet. Aber das galt nicht für ihn, den Slowaken, nur für die Österreicher, die kriegen auch Arbeitslose, die Ausländer nicht. So ein feine EU haben wir. Aber wenn er gerecht sein wollte, musste er zugeben, dass die Firma einem Slowaken gehörte und nichts mit der EU zu tun hatte. Also feinste Ostblock-Korruption.
Gestern Abend, als sich die Parkbänke und Baucontainer mit den Nachtgästen füllten, schnappte er auf, dass sich nicht weit von hier eine private Hilfsorganisation für Flüchtlinge niedergelassen hatte, zum Teil im hinteren Bereich des Hauptbahnhofes, zum Teil in Zelten und Containern auf dem Vorplatz. Alles soll es dort geben, Kleider, Schuhe, erste Hilfe und sogar warme Speisen. Fast stieg ihm schon der Duft von Suppen und Gulasch in die Nase, dazu Tee, Kaffee, Marmelade- und Nutellasemmeln, Reis und Nudeln, Käse, Sandwiches, Obstsalat, Joghurt, Mineralwasser, Orangensaft, sogar Kuchen und Süßigkeiten soll es geben. Von solchen Wunderdingen hatten seine Parkkumpel gefaselt.
Aber sie lassen niemanden rein, sagte ein alter, weißbärtiger Mann ohne Beine im Rollstuhl. Was soll das heißen, niemanden, für wen ist denn das ganze Zeug? Nicht für uns, nur für Araber, Asiaten und Afrikaner, Europäer schmeißen sie raus, aber wie, sagte ein junger Dicker mit einer Decke über die Schultern, und wie, in hohem Bogen, aber so was von Rausschmeißen, ja, nur noch die A-A-A-löcher, bekräftige ein mittelgroßer Bulle, der Boss hier gerade offenbar, weil er zwei 6-er-Kartons mit Bierflaschen verwaltete. Slavko traute seinen Ohren nicht. Naiv. Das kann nicht sein, wenn schon eine Hilfsorganisation, dann doch für alle, die gerade Hilfe brauchen. Ja, aber nicht für Europäer, das war einmal, Araber, Afrikaner und Asiaten, die sind jetzt groß in Mode.

Slavko war ungläubig, beschloss aber trotzdem, es zu probieren und verließ seine Bank. Mühsam holte er die Blätter von drei rosa Wochenendzeitungen unter seinem Pullover hervor, streckte und dehnte seinen Körper, er war steif und kalt wie eine Leiche, klopfte sich heftig mit seinen Bauarbeiterfäusten auf Brust und Oberschenkel, sprang am Platz auf und ab, schüttelte und drehte sich mehrmals um seine Achse, hauchte in die Hände und rückte seine Kleidung zurecht. Langsam strömte wieder Leben, Wärme in ihn ein. Dann nahm er Rucksack und Billa-Sackerl von der Bank, schaute sich im Morgenlicht um: Das war ja nicht einmal ein Park, vielleicht der Anfang eines Parks, irgendwann vielleicht, jetzt aber nur der Hinterhof einer Baustelle. Ein „Hotel plus one“ sollte es einmal werden. Die frisch gesetzten Bäume waren noch so niedrig und mickrig, dass sogar die russischen Saatkrähen sie als Schlafplätze verachteten. Slavko machte sich auf den Weg zum „Trainofhope“.
Ein großes Transparent mit dem Roten Kreuz wehte über der Zeltstadt, darüber Fahnen der Stadt Wien, der ÖBB und die blaue mit den zwölf Sternen, eine andere wedelte schwach über dem Container des Arbeitersamariterbundes, ein Transparent REFUGEESWELCOME , auf einem Zelt eine ausgebleichte Regenbogenfahne: Ihr sein da, wir sind da und heißen ALLE willkommen.




Slavko hat nie in Saus und Braus gelebt, war aber immer durchgekommen, auch in den schweren Jahren nach der Wende. Es war sogar ein wenig aufwärts gegangen, sodass er ein bescheidenes Haus kaufen, heiraten und zwei Kinder ernähren konnte. Jetzt hatte er nichts, nema nischta, apsolutno nischta.
Die Fäden, die er am Körper hatte, seine Arbeitskleidung im Rucksack und im Billa-Sackerl die Hälfte von einem geschenkten Salzstangerl und einer halben Flasche mit Obi-Spritz, die ihm eine Frau am Abend geschenkt hatte, als er am Bahnhofs-Vorplatz seine letzte Zigarette rauchte. Zu betteln getraute er sich noch nicht. Er war noch nie in einer solchen Lage gewesen, dass er betteln hätte müssen. Er wollte nur diesen schrecklichen, schwarzen Freitagüberleben und soviel bekommen, dass er eine Fahrkarte nach Bratislawa-Petrzalka kaufen konnte, vielleicht noch ein Packerl Marlboro light. Das wäre alles, zu Hause würde seine Frau Jana natürlich einen hysterischen Anfall bekommen, aber er wäre zu Hause und könnte mit ihr zusammen überlegen, wie es weitergehen würde.
Er hatte keine großen Ansprüche, die Kinder gut erziehen und ihnen eine bessere Zukunft sichern, normal leben, das wollte er, das war doch nicht zu viel verlangt. Dass sie vielleicht studieren und gute Jobs bekommen konnten, nicht so schmutzige und schwere wie er. Oder so schrecklich langweilige wie seine Frau in der Käsefabrik am Fließband, bevor sie zu Hause bei den Kindern geblieben war. Er hatte nie an die Riviera wollen, einen Porsche fahren oder nach Las Vegas zum Glücksspiel, keine karibische Kreuzfahrt, nicht einmal einen verbilligten Badeurlaub in Sharm-el-Sheich. Nein, so war er nicht, Jana auch nicht, da waren sie sich einig. In der Blauen Lagune dahintreiben oder auf den Kilimandscharo klettern, so ein Blödsinn! Ihnen reichten immer die zwei Wochen Bergsteigen in der Hohen Tatra, bei einem Bauern wohnen und im Zielina-Stausee mit Baden und Angeln. Die Kinder mochten die Lagerfeuer, an denen sie ihre Fische auf Äste steckten und brieten, sie spielten mit den Kindern und Tieren des Bauern und waren glücklich. Alles war einfach, aber sauber und gesund. Die Kleine wollte zwar ein junges Kätzchen mitnehmen und der Sohn einen Hund, das kam nicht in Frage, das bedeutete nur Arbeit und Geld. So gut ging es ihnen auch wieder nicht. Jana war noch bei den Kindern zu Hause und er der einzige Ernährer. Ha, jetzt das auch nicht mehr.
Slavko trabte über die Kreuzung vor dem Quartier Belvedere, überquerte die Schienen des D-Wagen und steuerte den neuen Hauptbahnhof an. Auch er hat mit seiner Firma an einem Bahnhof mitgebaut, auf dem ehemaligen Nordbahnhof, wo ein neues Wohnviertel entsteht.
Vieles noch im Rohbau, aber schön würde es dort werden, nah an der Donau, nah am Zentrum und mit schönem Ausblick in westliche Richtung auf die Hügel des Wiener Waldes. Es erinnerte ihn an Petrzalka, ob er und seine Familie sich so etwas einmal leisten würden können? Absurder Gedanke, vorerst war er ein Bettler am Hauptbahnhof.
Er hatte keine Erfahrung als Obdachloser, darum konnte er auch nicht wissen, dass seine Leidensgenossen im Park Recht hatten. Seine Gedärme waren so leer, dass sie bis zu den Knien schepperten, umso mächtiger und willkommener tauchten jetzt in seinen Gedanken die Dinge auf, von denen die Kumpels geredet hatten. Ein feines Frühstück würde er sich zusammenstellen: Kaffee, einen Obstsalat, ein Joghurt, Brot, Käse, Wurst und Speck würde es nicht geben, aber vielleicht noch eine Banane, einen Apfel, Kuchen oder sonst irgend etwas Süßes zum Abschluss, Manner-Schnitten vielleicht.
Angeblich konnte man sich dort auch rasieren und Zähne putzen, dann würde er wieder ganz respektierlich aussehen.
Wenn der Magen zufrieden gestellt wäre, würde er genügend Kraft und Mut haben, um sich vor dem Bahnhof auf die Bank setzen und betteln zu können. Und Kraft, um seinen Stolz zu unterdrücken, abzuwürgen, zu verschlucken. Er brauchte nicht viel, wie er schnell überschlug: 10€ für das Einfach-Ticket, 5 für die Zigaretten, vielleicht noch eine Wasserflasche, wenn er keine bei den Flüchtlingen bekam. Das sollte er doch zusammen kriegen, außerdem schaute er nicht aus wie ein echter Sandler, er war ein ehrlicher Arbeiter, der gerade nur Pech gehabt hatte. Mittelgroß, nicht dick, aber stämmig, ein breiter Oberkörper und Hammerhände, wie ein Bauarbeiter, der unsere Häuser und Straßen errichtet, ein Ziegelarbeiter eben gebaut sein muss. Die Gesichtsfarbe eher rosig mit beginnenden grauen Bartstoppeln unter den hohen Wangenknochen mit einer auffälligen Stupsnase und den breit gestreuten Sommersprossen.
Slavko trottete über das Asphaltmeer der Johannitergasse und kam an ihrem Ende, wo sie in den Bahnhofsplatz mündet, an einem Restaurant mit großen Fenstern und Schautafeln vorbei: „Der RINGSMUTH, gutbürgerliche Küche, schattiger Gastgarten, dezente Preise, Reservierungen 01/603 18 35“. Obwohl er nicht stehenblieb, um die bunten Fotos der Speisen und Weinflaschen anzusehen, zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen.

Slavko versuchte, sich Mut zu machen, indem er fest an seine Familie und sein Häuschen bei Petrzalka dachte, an die Obstbäume hinten und die Hühner im Hof, an die Rosen-und Fliedersträucher vorne und den Gemüsegarten, den seine Frau pflegte wie ihren Augapfel, weil er zum Überleben der Familie notwendig war. Mut brauchte er, sogar viel davon, weil er noch nie gebettelt hatte, nicht wusste, in welcher Haltung dasitzen sollte, die Hand ausstrecken oder einen Becher, wie dreinschauen und was sagen? Sein Deutsch reichte gerade für die Baustelle, auf der aber fast kein Deutsch gesprochen wurde, sondern ein wilder Balkan-Mix, der gerade zum Arbeiten, Biertrinken und Kartenspielen reichte. Ob die Österreicher auf der Baustelle überhaupt Deutsch sprachen, konnte er als Slowake nicht beurteilen; die Ostdeutschen sagten, das ist kein Deutsch, nie und nimmer. Aber ob die Vertragsarbeiter aus Chemnitz und Rostock Deutsch sprachen, wer konnte das schon wissen.
Bitte, für Ticket, brauche 10 Euro, heimfahren. Um mehr würde er nicht bitten, die Zigaretten bekam er so irgendwie zusammen, bei anderen Rauchern.
Beim Eingang zum Terrain des TRAINOFHOPE gab es keine Sperren oder Zäune, nur zwei Personen standen zwischen zwei Containern, ein junger Mann und eine ältere Frau, Marius und Brigitte war auf den Aufklebern an ihren grünen Westen zu lesen.
Sie sahen ihn mit seinem schmalen Rucksack, dem gelben Plastiksackerl und seinem Bauarbeiterkapperl, lächelten und nickten einander zu und deuteten mit dem Kopf nach dem Inneren. In Slavko stieg das Vertrauen, die erste Hürde zum ersehnten Frühstück ist genommen. Auf dem Platz dahinter nahm er ein großes, weißes „Kärcher“-Zelt wahr mit dem Schild: SPENDEN HIER. Vor einem Tisch standen einige Menschen mit großen Säcken, Taschen und Koffern, die Kleidung und Decken auspackten und den Leuten hinter dem Tisch überreichten. Slavko hörte, wie sie laut „Dankedanke, sehr schön, super! Genau das brauchen wir.“ sagten und dabei lachten. Daneben waren einige junge Männer damit beschäftigt, die Spenden auf Stapelwagen zu laden und zu Containern und Zelten zu führen, die sich der ganzen Bahnhofsmauer entlang zogen.
Daran kam er auch glatt vorbei, vor ihm eine blaue Plastikplane mit der Aufschrift „FIRST AID“ und wild darum herum geklebte Zettel in allen arabischen und asiatischen Schriften, die wahrscheinlich das gleiche bedeuteten. Daneben wies ein Schild auf ein „OFFICE“ hin, davor einige Bänke, Tische mit und viele Menschen, die rauchen, reden und Kaffee trinken. Lustig und entspannt, junge und ältere, alle reden intensiv miteinander und haben offenbar etwas ganz Wichtiges miteinander zu besprechen.
Alle tragen gelbe, grüne und orange Westen mit Namen und verschiedenen Aufschriften, die Slavko nicht entziffern kann, weil sie in Arabisch und allen möglichen anderen asiatischen Buchstaben geschrieben sind. die Auch die an Bändern baumelnden Ausweiskarten konnte er auf die Schnelle nicht lesen, irgendwelche Offizielle, aber doch waren sie so ganz anders, sicher keine Polizei der sonstige Ordnungskräfte, wie er sie aus seinem Leben kannte. Ein Chaos, schien ihm. Wer sind diese Leute? Junge, Alte, Frauen, Männer, Frauen mit Kopftüchern und langbärtige Männer mit Sikh-Turbanen, auf den gelben Westen vorne und hinten groß und fett „SIKH-HELP-AUSTRIA. Etwas schäbig alles, fand Slavko, zusammen gehudelt wie seine Containersiedlung auf der Baustelle am Nordbahnhof. Nur mit andern Leuten, klar ganz anderen. Das war eine andere Baustelle. Ein großes Schild auf blauen Zeltplanen lautete
„Helping hands – Anmeldung hier“ mit einem Pfeil in einen ebenerdigen Raum unter dem Bahnhof.
Durch die zweite Schleuse schlüpfte Slavko leicht, weil die beiden jungen Männer an der Zaunverengung, angebliche securities mit gelben Westen, mit elektronischen Geräten so beschäftigt waren, dass sie nicht einmal aufschauten.
So gelangte er in einem Strom von jungen Männern ins Innere der Halle. Gleich links bemerkte er dichte Trauben von Männern um einem Tisch mit vielen Kabeln, die Handy-Ladestation, rechts davon lange Tische mit in Schachteln fein säuberlichen Batterien, sortierten Hygienäne-Artikeln, Zahnpasten- und Bürsten, Rasierklingen, Seifen, Shampoos, Taschentüchern, Socken und Unterwäsche. Alles war neu und original verpackt wie in einem improvisierten Supermarkt, aber zur freien Entnahme, dargeboten von jungen und alten Frauen, mit Kopftüchern und auch ohne, jungen und alten Männern mit lächelnden Gesichtern, als hätten sie auch noch Spaß dabei.









Mittwoch, 28. Oktober 2015

Transkript


eines Telefonanrufes auf Angela Merkels Handy, aufgezeichnet von Veronika Seyr
(Sperrfrist bis 1.11.15)


„Hallo, Frau Merkel, sind Sie dran? Frau Bundeskanzlerin, können Sie mich hören? Ich rufe aus dem Paradies an, ja, ich bin im Himmel.
Ich bins, Aylan. Erinnern Sie sich an das Bild, das um die Welt ging, auf Instagram, ein Star, das meist geklickte Bild in diesem Jahr. Das bin ich, die Kriegsikone ohne Gesicht.
Guten Tag, Frau Bundeskanzlerin, wie geht es Ihnen?
Kürzlich habe Sie bei Erdogan auf diesem irrwitzigen Goldthron, der sogar dem Sultan Abdülaziz zu protzig war, sitzen gesehen, wie er Sie zum Aufstehen und einem hand shake für seine Kameras genötigt hat. Kann nicht sehr angenehm gewesen sein, so säuerlich wie Sie dreingeschaut haben.
Sie kennen diesen Aylan nicht persönlich, sondern wahrscheinlich nur dieses Foto von mir, wie ich mit dem Gesicht nach unten, mit einem roten T-Shirt und einer kurzen, blauen Hose am Strand von Bodrum liege. Viele Ihrer Landsleute kennen Bodrum als Touristenort mit schönen Stränden. Irgendwo dort auf der missglückten Überfahrt nach Griechenland bin ich ertrunken, tot angeschwemmt wie Treibgut, das Meer hat mich ausgespuckt wie eine Alge oder Plastikflasche, so wie meine Mutter und Schwester, Opfer von Assad, des IS und der kriminellen Schlepper.
Frau Merkel, ich kenne Sie auch nicht persönlich und habe kein Bild von Ihnen, weil ich es leider nicht bis nach Alemania geschafft habe. Ich hätte so gerne ein Selfie mit Ihnen gemacht, wie Sie es vielen anderen Flüchtlingen gewährt haben.
Mein Vater hat mich, meine Mama und meine kleine Schwester in Kobane begraben. So kleine Särge, so wenig Stoff in den niedrigen Gruben, aber immerhin eine würdige Feier. Es gibt so viele hastige Bestattungen derzeit, da ist man schon froh, wenn man überhaupt eine bekommt mit ein paar Trauernden rundherum.
Ich wünsche mir, dass Sie mit mir so sprechen wie mit dem Palästinenser-Mädchen Reem in Rostock und wie bei Anne Will in der ARD.

Heute, genau zu Allerheiligen, am 40. Tag nach meinem Tod - es war der 23. September 2015 - hat sich gemäß unserem Glauben meine Seele vom Körper gelöst und ist in das Paradies aufgestiegen. Daher kann ich auch mit Ihnen telefonieren, reden und denken wie ein Erwachsener, auch Sprachprobleme haben wir nicht, und ich muss nicht leibhaftig in Germany sein. Weil ich jetzt im Himmel bin, habe ich den Überblick über die Ereignisse, und es ist auch kein Hindernis, dass ich nur drei Jahre gelebt und im türkischen Sand gestorben bin, anstatt in einer deutscher Kita zu landen, wie es uns Papa versprochen hat.

Wir hatten so sehr gehofft, dass wir in Ihrem Land, unter Ihren Landsleuten, eine bessere, sichere Zukunft bekommen würden, ohne Krieg, Angst, Hunger und Kälte. Mein Vater war in Kobane Automechaniker und besaß eine eigene Werkstätte. Aber er hätte auch als Zimmermann oder Maurer arbeiten können, denn er hat unser Haus zusammen mit Brüdern und Schwägern selbst gebaut und bei deren Häusern geholfen. Mein Vater hätte auch als Taxifahrer oder Gärtner sein Brot verdienen können. Unsere Familie ist nicht von der legendären Sorte der Ärzte oder Ingenieure, aber wir hätten uns sicher in Alemania nützlich gemacht, wir hätten Deutsch gelernt, meine Schwester und ich in der Kita und später in der Schule, meine Eltern in Kursen und in der Arbeit, weil auch meine Mama in Syrien als Krankenschwester gearbeitet hat. Was hätten wir in den Kitas alles lernen können, meine Schwester und ich, und welchen Spaß wir haben hätten können. Welche Freude und Genugtuung bei Ihnen, uns aufwachsen zu sehen als Beispiele gelungener Integration.
Ich bin vor drei Jahren im türkischen Lager bei Suruc geboren, meine Schwester noch in Kobane, wir haben nie eine Kita gesehen – in anderen Ländern sagt man „Kindergarten“, ein schönes Wort für einen Ort, wie für Blumen, wo die Kinder wachsen, gepflegt werden und duften dürfen wie Orangen und Jasmin.
Nur mein Vater hat überlebt, hat uns Drei in der Heimaterde begraben und ist vorerst ins Lager von Suruc zurückgekehrt. Ich sage bewusst – vorerst. Er wird den Weg nach Deutschland sicher noch einmal wagen, weil wir drei das so wollen und weil es unsere Heimat Syrien nicht mehr gibt. Weil wir drei die Flucht nicht überlebt haben, muss Papa es noch einmal versuchen, das ist unser Vermächtnis. Vielleicht gelingt es ihm sogar ohne Schlepper, wenn er in der Türkei einen Antrag abgeben kann.
Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben dafür ein schönes Wort, das Sie früher schon oft benützen, auch für ganz andere, entfernte Dinge, wie zum Beispiel 20.10 oder die Energiewende: ALTERNATIVLOS. Wir sind auch alternativlos. Aber das wissen Sie wahrscheinlich alles. Alles? Wenn nicht, wird mein Papa einmal bei Ihnen in Berlin vorbeikommen und Ihnen das selbst erzählen.

Ich, von meiner himmlischen Warte aus, möchte Sie versichern, dass Ihnen bestätigen, bisher alles richtig gemacht zu haben. Aber darum geht es gar nicht, sicherlich werden Sie und andere Politiker Fehler machen. Aber Sie haben als erste erkannt und gesagt, dass Sie den Irrsinn des Krieges nicht länger akzeptieren. Die Frage ist: Haben wir ein Recht zu existieren oder nicht? Lassen Sie sich nicht entmutigen und irritieren von bayrischen Kläffern oder ostdeutschen Rassisten, von Zündlern, Hassparolenschreiern, Neidern, Krakeelern und anderweitigen Ansbeinpinklern. Jetzt laufen manche schon mit Galgen durch das schöne Dresden, auf denen Sie und Gabriel baumeln sollen. So eine Schandeschandeschande! Wo waren denn diese Leute selbst noch vor wenigen Jahren und wo wären sie, wenn es den Soli- ein modernes Stummelwort für das gute, alte „Teilen“ - nicht gegeben hätte? Was ich nicht verstehe – aber das kommt sicher nur daher, dass ich erst kurz im Paradies bin und eure innerdeutschen Probleme nicht nachvollvollziehen kann: Warum, um Herrgottswillen, können Sie bei all Ihrer Macht dieses entsetzliche Schauspiel nicht abstellen? Das sieht so ekelhaft braun aus und stinkt zum Himmel, dass sogar uns Seligen da heroben schlecht wird. Ab in die Müllabfuhr!

Oft werden Sie „Mutti Merkel“ genannt, und das ist nicht immer freundlich gemeint. Das stört mich schon lange, weil es nicht richtig ist. Sie sind eine Politikerin, aber in unserer traditionellen Sicht sind Sie Mutter, Vater, Onkel, Tante, Bruder, Schwester, Großeltern, Schwäger und überhaupt alle, die etwas sehr Wichtiges und das einzig Richtige verstanden haben: Dass es Menschen gibt, die eine Zeitlang Hilfe und Schutz brauchen, bis sie wieder auf eigenen Beinen stehen und sich selbst helfen können. Genau wie wir jetzt. Nicht mehr und weniger als eine Chance brauchen wir, alles andere machen wir selbst, natürlich gemeinsam mit unseren neuen Nachbarn.
Frau Merkel, Sie haben mehr verstanden als Ihre Parteifreunde mit dem großen C im Namen. Erst neulich haben Sie diese Banausen daran erinnern müssen, wie man das C zu übersetzen hat. Es hat mich amüsiert, wie Sie ihnen ein bisschen die Ohren lang gezogen haben. Jetzt sind die ein bisschen kleinlauter geworden, das ist gut, weil es geht nur miteinander, nicht gegeneinander. Wir schaffen das, aber nicht alleine, Ihre Worte.

Ich weiß nicht, ob das alles nur politisches Kalkül ist und auch nicht, wie christlich Sie selbst sind, das ist Privatsache. Aber ich weiß, dass Sie aus einer Pastorenfamilie stammen, das Evangelium und die Geschichten von Jesus wahrscheinlich gut in Erinnerung haben. Die Botschaft und den Auftrag: „Was Ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das habt Ihr mir getan“. (Mat, 25) Nur so als Beispiel. „Ich war im Gefängnis, und Ihr seid zu mir gekommen“. ( auch Matth, 25.) Oder die Legende vom barmherzigen Samariter und vom Bischof Martin, der seinen Mantel zerschnitten und die Hälfte einem nackten Bettler geschenkt hat. Ihr habt in euren Büchern viele schöne Geschichten zur Idee des Teilens und der Barmherzigkeit. Aber wie lebt ihr sie? Und wie können sie in der Politik umgesetzt werden. Das heilige Experiment der Jesuiten ist ja voll in die Hosen gegangen. Oder religiöse Sekten oder Scientology. So nicht.
Ich bin der Letzte, der Sie über Ihre Religion belehren will, sondern ich suche nur das Gemeinsame. Ich, Aylan, der ehemalige Flüchtling, jetzt im Paradies, kann es vergleichen: Das ist keine Theorie, denn teilen kann man immer, mit allen und alles, (vielleicht bis auf die Ausnahme eines Paares Schuhe, denn mit nur einem Schuh kann keiner von beiden laufen). Ich frage mich, wenn neben dem einen nackten Bettler noch ein anderer aufgetaucht wäre, was hätte Martin getan?

Frau Merkel, ich weiß nicht, ob Sie in die Kirche gehen, ob Sie beten, ich will Sie auf keinen Fall beleidigen, ich will überhaupt niemanden beleidigen, sondern Ihnen nur von meinen Erfahrungen und Erkenntnissen erzählen, nichts beschönigen und vertuschen.
Man hat mich um mein Leben betrogen und versucht, mich mit einem Firlefanz von Paradies abzuspeisen. Jeder Mensch weiß, dass er den unvermeidlichen Tod nicht abschaffen kann, aber es ist das größte Skandalon der Existenz, sich mit ihm zu arrangieren, dass wir uns über das Monströse und Unfassbare verlogen hinwegtrösten lassen. Alle Religionen sagen uns, dass wir uns mit dem Tod versöhnen sollen, sie wollen uns bestechen, anstatt dass wir ihn hassen, ihn verfolgen wie in einer Vendetta und uns stattdessen trotzig rüsten für das Leben.
Jeder Tod ist ein Skandal, unser eigener der allergrößte. Noch größer ist der im Krieg.
Das ist mein j`accuse, das ich vom Himmel auf die Erde herunterschleudere. Mehr kann ich nicht mehr tun, wenn Sie mein Foto aus Bodrum gesehen haben, wie ich da mit dem Kopf im Sand liege. Ich für meine Person wollte nicht ins Paradies, ich wollte mit meiner Schwester in eine Kita, eine Vorschule, eine Volksschule und aufs Gymnasium, weil ich so ein legendärer syrischer Arzt werden wollte oder vielleicht doch ein Dichter, ein Filmregisseur?
Wer weiß, vielleicht wäre ich ja nur ein Pizza-Austräger geworden.

Ich lege gegen dieses Paradies Protest ein, so laut ich kann. Es geht nichts über das Leben. Und wer heute nicht mit seinem Gott hadert, vor allem dem islamischen, nicht an ihm zweifelt, ihn nicht kritisch befragt, der liebt seine Religion nicht. Erst kürzlich hat der steirische Bischof Krautwaschl gesagt, dass er keine Antwort hat auf die Frage, warum Gott all dieses Leid zulässt. Wenn er einmal gestorben ist, möchte er seinen lieben Gott schon danach fragen. Denn das ist die Frage aller Fragen, die Gott abschafft.
Frau Merkel, das oberste Gebot in der Bibel lautet doch immer noch: Liebe deinen Nächsten WIE DICH SELBST. Ich weiß, dass es bei Ihnen göttliche und menschliche Gesetze gibt und dass im Gegensatz zum Koran bei Ihnen die menschlichen, staatlichen über den göttlichen stehen und für alle gleich gelten. Aber wenn schon immer vom christlichen Abendland und vom Humanismus die Rede ist, muss ich annehmen, dass die Grundlage Ihrer Gesellschaftsordnung, wo die Menschenrechte, die Gleichberechtigung und die Demokratie bilden, also doch die göttlichen Gesetze, die nach 2000 oder mehr Jahren in die allgemeinmenschlichen eingegangen sind. Vielleicht habe ich noch nicht alles richtig verstanden, vieles müssen wir noch lernen, wenn wir bei Euch leben wollen. Wir werden uns bemühen, zu verstehen, wie die Gesellschaft bei Ihnen tickt, dass es ein Grundgesetz gibt, das für alle gleich gilt und auch über dem uns heiligen Buch steht. Aber heilige Bücher haben die anderen ja auch. Zugegeben, kein einfacher Gedanke für uns mit diesem Allah. Naja, die Juden und die Christen haben es auch nicht leichter, ganz zu schweigen von den Buddhisten mit ihren 6000 Göttern. Gar erst die Tibeter, bei denen ist jeder Berg, jeder Grashalm und jeder Wind ein Gott ist, vielleicht auch noch der letzte Furz in der Jurte auf 4000 Metern. Und erst die Tschuktschen am Ochotskischen Meer, jede Robbe ein Gott. Von den indianischen Gottheiten will ich gar nicht erst anfangen. Das ist in der Wissenschaft noch zu ungesichert, obwohl man schon viele Tempel ausgegraben hat

Ich denke, gerade wir Syrer haben gute Chancen, Ärzte hin oder her, leben wir doch schon jahrhundertelang mit anderen Religionen in Frieden zusammen. Das sollte uns auch gelingen, wenn wir in einem Gastland in der Minderheit sind. In Aleppo ist eine der ältesten byzantinischen Kathedralen aus etwa 450 n.u.Z. Helena, der Mutter Konstantins I., geweiht, die Elias-Kirche ist fast so alt und mehrere stehen auf griechischen und römischen Ruinen. Ich will keineswegs rechthaberisch sein oder Geschichte und Kultur aufrechnen“.

Merkel atmet laut durch und wirft ein: „Aylan, mein Lieber, hör mal, jetzt gehst du aber zu weit. Du schmeißt viele Äpfel und Birnen durcheinander, wir haben hier ein Realproblem zu bewältigen und können jetzt keine kulturhistorischen Debatten führen, so interessant sie auch sein möö…..“

Aylan unterbricht, noch immer etwas atemlos, weil er doch gerade den Kopf aus dem Sand gesteckt hat:
„Entschuldigen Sie, Frau Bundeskanzlerin, klar, Realpolitik, das verstehe ich, aber eines möchte ich zu bedenken geben, dass Sie vielleicht nicht alles mitbedacht haben, als Sie die Grenzen öffneten, mit Bundeskanzler Faymann Telefnierten und erklärten: „Wir schaffen das.“ Wie und mit wem? Es geht doch nicht allein. Wir sind sehr, sehr viele und bringen unsere Probleme mit.
Wir kommen nicht in Ihre Länder wie eine Völkerwanderung, auch wenn dieses Wort immer wieder fälschlich verwendet wird, eine Völkerwanderung wie die vom 4. bis 6. Jahrhundert, als der Vormarsch der Mongolen eine reale Wanderbewegung von vielen Völkern zwischen der Mongolei bis nach Rom ausgelöst hat, oder wie anno dazumal vor eintausend Jahren die Kreuzritter, diese jungen Tunichtgute, angestachelt von den Mönchen und fahrenden Predigern (Internet-Anwerbung, Videos, Versprechungen), denen auf ihren Ländereien und in den Klöstern so langweilig war, dass sie nach Palästina aufbrachen, um angeblich das Heilige Land, die Lebens- und Leidensstätten Christi von den Ungläubigen zu befreien. Sogar einen Kreuzzug der Kinder haben sie organisiert, von denen die meisten - angeblich an die 30 000 - schon auf dem Weg in den Osten elendiglich umkamen. Das Zentrum der Propaganda und Requirierung zum christlichen Dschihad war damals das französische Kloster Cluny, vergleichbar vielleicht mit dem heutigen Internet, das in ganz Europa die Jugend anwirbt für einen Heiligen Krieg. Keine Videobotschaften, sondern Predigten von den Kanzeln aller Kirchen, Boten, Herolde, die auf Pferden durch ganz Europa jagten und die Jugend verführten, kauften, mit falschen Versprechungen anwarben. Gut durchdacht gesteuert von einer gut vernetzten Zentrale, dem Vatikan. Vielleicht waren die jungen Ritter damals so testosterongesteuert wie es jetzt den jungen Männern nachgesagt wird, dass sie so nebenbei mordend und brandschatzend halb Europa und alles zwischen Köln und Byzanz ausraubten und brandschatzten, das reiche, goldene Byzanz ganz besonders. Das wissen Sie, die Kreuzzüge waren der Anfang vom Ende. Aus. Basta mit Ostrom und dem ganzen Balkan.
Griechenland, Nordafrika, Rumänien, Bulgarien, Albanien, Serbien, Bosnien, Ungarn, zweimal vor Wien, das war knapp.
Saladin und Nathan mit seiner christlichen Ziehtochter Recha haben ihr Drama in Jerusalem, stammen aber aus Aleppo, diese schöne, aufklärerische Utopie von 1779. Wenn auch der Dichter ein Deutscher ist, ist doch in dem Stück etwas vom Geist und der Kultur des Nahen Ostens zu spüren. Solche Weisen mit ihrer Ringparabel könnten wir jetzt gebrauchen, wir fordern mehr Lessing, Lessing als Pflichtlektüre und zum Nachsitzen für alle Europa-Politiker, dreimal die Woche mit Abfragen, Strafen und Noten. Lessing war kein Politiker, ich weiß, aber vielleicht können Sie ein bisschen Lessing sein?
Ganz leise sage ich, Aylan, nebenbei, Lessing hat seine Figuren aus unserer Geschichte abgekupfert, aber das ist ja großartig, das können wir gerade wieder machen. Nicht zufällig war die erste Inszenierung nach Kriegsende 1945 am Deutschen Theater Berlin „Nathan der Weise“. Wenn mein Einfluss reicht, werde ich mich dafür einsetzen, dass auch in Damaskus
als erstes Friedensstück der Nathan aufgeführt wird. „Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang“ - lautet Lessings letzte Regieanweisung.
Aber vielleicht haben wir mit der Geschichte von Pater Jacques Mourad aus dem syrischen Kloster Mar Elian bei Qaryatein, die Navid Kermani in seiner Dankesrede erzählte, einen neuzeitlichen Nathan. Sie haben sicher seine Rede in der Paulskirche gehört. Pater Jacques gehört dem katholischen Orden Mar Musa an, der sich der Begegnung mit dem Islam und der Liebe zu den Muslimen verschrieben hat. Klingt aberwitzig und utopisch – eine christlich-muslimische Liebe, die bis vor kurzem noch in Syrien Wirklichkeit war und sicher noch immer ist in den Herzen vieler Syrer, eine endzeitliche Versöhnung. Pater Jacques wurde am 21. Mai 2015 von IS-Terroristen entführt. „Wir Christen gehören zu Syrien, auch wenn das die Fundamentalisten weder hier noch in Europa hören wollen. Die arabische Kultur ist unsere Kultur“, hat er zu Kermani gesagt. Drei Monate später stellte der IS Bilder ins Internet, auf denen man sieht, wie er das eintausendsiebenhundert Jahre alte Kloster mit Bulldozern niederwalzte. 200 Christen, darunter Pater Jacques, wurden entführt. Erst fünf Tage vor dem Friedenspreis erhielt Kermani die Nachricht, dass muslimische Einwohner von Qaryatein Pater Jacques befreit hatten, aber nur er. Soweit, so schön, Aber die Aufforderung in einem säkularen Raum an ein säkulares Publikum, sich zum Beten zu erheben und er selbst die Hände zur Adorationsgeste formte, empfand ich als unerträglichen Übergriff genau in der Richtung, was er am orthodoxen Islam kritisiert. Kermani ist sicher ein würdiger Friedenspreisträger, aber er liebt die Romantik zu sehr und verwischt historische Fakten. Sicher hat ein einer begrenzten Dankesrede nicht alles Platz. In der Sache Saudi Arabien stimme ich mit ihm überein. Die Bewegung der Mutazilin, die schon im 11. Jahrhundert eine Interpretation des Koran als allegorischen Text vertraten, wurden unterdrückt. Der ökonomischen Stagnation vom 12. Jahrhundert an folgte ein kompletter Niedergang ab dem 16. Jahrhundert. Produktive Arbeit hat im Islam keinen Stellenwert, gar nicht zu reden vom Despotismus, der in den islamischen Ländern bis heute mindestens so große Folgen hat wie die relativ kurze Periode westlicher Kolonisation. Bereits im 18. Jahrhundert war Al Wahab eine Reaktion auf die vollständige Zurückgebliebenheit gegenüber dem Westen.
Frau Bundeskanzlerin, ich kann jetzt am Handy nicht so ausführlich sein, man hört mir beim Telefonieren zu, und ich soll nicht blasphemisch und kritisch sein, sondern nur glücklich jubilieren. Aber wie soll das gehen, wenn ich mit meiner Familie jetzt nur noch eine Zahl in der Statistik bin. Wenn ich wütender bin als andere und die Dinge krasser sehe, liegt das am Schicksal meiner Familie.
Wissen Sie, das Paradies ist ein eigenartiger Ort, hier halten sich sehr unterschiedliche Typen auf. Ich bin noch nicht durch, aber Stalin, Hitler, Dr. Mengele, Eichmann, Pinochet, Mao, Idi Amin, mehrere Kims und den kleinen belgischen König habe ich schon erspäht.
Milosevic und Tudjman sitzen in einer Ecke und spielen Karten. Sie klatschen sie auf den Tisch und rufen abwechselnd: Bosnien mir, Herzogewina mir, die Krajina mir, Slawonien mir! Bei der Wojwodina geraten sie sich in die Haare und schmeißen die Karten auf den Tisch.

Uns ist bewusst, dass Sie nicht alles selbst machen können, das tun ja bei Ihnen und auch in anderen Ländern Ihre Organisationen und Millionen von Menschen freiwillig. Sie haben ein Volk, das dieselbe wichtige Sache ernstnimmt - das Teilen. Wir wissen auch, wie viele Polizisten, Soldaten, Feuerwehrleute, Beamte, Rotkreuzhelfer, Ärzte, Krankenschwestern und gewöhnliche Bürger am Werk sind. Das ist doch schon eine ziemlich starke Bewegung- mein Vorschlag wäre, sie nach St. Martin SMB zu benennen. Sie als Bundeskanzlerin, als Politikerin, haben die Möglichkeit eröffnet, dass auch wir einen Platz finden, wo wir in Frieden leben können. Politik ist doch die Ermöglichung des Machbaren, so habe ich es zumindest verstanden. Mehr brauchen wir nicht, wir wollen nur die Chance bekommen, dass wir uns später selbst helfen können. Wir wären nie und nimmer von Kobane weggegangen, wenn uns nicht die Bomben und das tägliche Sterben dazu gezwungen hätten. Sie, Frau Merkel, haben das verstanden und reden viel darüber, damit das immer mehr Menschen kapieren. Wenn 80 in einem Raum sind, kann man den 81. doch nicht wegschicken, oder? Jeder Mensch kann einmal in eine Situation kommen, dass er Hilfe braucht. Mein Vater sagte immer, Frau Merkel versteht uns, weil sie auch in einer Diktatur und einem Unrechtsstaat aufgewachsen ist, aus dem viele Menschen geflohen und manche dabei auch gestorben sind. Sie haben die Ostsee durchschwommen, Tunnel und Ballons gebaut, sie haben Zäune eingerissen, Botschaften gestürmt und Mauern umgelegt, damit sie in Freiheit leben können. Meine Familie ist leider nur bis Bodrum gekommen. Ich muss schon sagen, der Orban-Zaun da oben weiter nördlich ist eine Mordssache! Ist das nicht genau dort, wo das Europa-Frühstück stattgefunden hat, wo Mock und Horn gemeinsam mit der Zange den Eisernen Vorhang geknackt haben? Seltsam, das ist doch noch gar nicht so lange her, in paradiesischen Dimensionen kürzer als ein Atemzug. Diese osteuropäischen Staaten haben manches nicht richtig verstanden: Sie sind einer Solidargemeinschaft beigetreten, verweigern sich aber dem Prinzip der Solidarität und melken sie die anderen Mitglieder wie eine Kuh.

Ich bin noch zu kurz im Paradies, um beurteilen zu können, ob das alles miteinander zusammenhängt und vergleichbar ist. Es schwirren hier viele Verschwörungstheorien herum, und es gibt auch im multireligiösen Paradies Radikale und Fundamentalisten. Die einen sagen, das alles passiert, weil Putin mit den vielen Flüchtlingen Europa zerstören will. Die Europäer zerstreiten sich wegen uns und alles fliegt in die Luft, jeder gegen jeden – so wie bei uns. So wie ich das sehe, führt Putin jetzt einen 3-Fronten-Krieg; erstens gegen Europa, zweitens „hilft“ er mit seinen Bombern dem syrischen Volk und dem Diktator Assad, dessentwegen die meisten von uns fliehen, an der Macht zu bleiben. Die dritte Front kann man in Russland selbst erkennen. Seit Juni 2011 haben 3852 Syrer „zeitweiliges Asyl“ beantragt, 1585 haben es erhalten. Echtes Asyl haben 816 Personen erhalten, davon rund 300 Sicherheitskräfte des ehemaligen ukrainischen Diktators Viktor Janukowitsch. Und eine eine neue Fluchtroute hat sich vor kurzem bei Murmansk in der Arktis aufgetan: weil man die Grenze in Storskog nach Norwegen nicht zu Fuß überschreiten darf, haben es schon 1100 Syrer mit dem Fahrrad versucht. Aber die allermeisten Flüchtlinge werden vom Inlandsgeheimdienst festgesetzt und nach Syrien!!! (ein sicheres Drittland???) abgeschoben. Und das in diesem riesigen Land, das sich immer seines Sechstel der Erdoberfläche gerühmt hat und das eh zu zwei Drittel unbewohnt ist. Marine Le Pen, Putins Freundin, ist besonders originell, wenn sie in Madame Merkel selbst die Hauptverantwortliche für die Massenflucht sieht. Madame Le Pen, schon etwas vom Gesetz von Ursache und Wirkung gehört? Andere sehen die Schuld bei den Amerikanern, weil sie die Kriege in Afghanistan und Irak geführt haben, weil sie unser Öl wollen und uns versklaven. Die in historischen Dimensionen Denkenden meinen, dass es vor allem die Engländer und Franzosen mit ihrem Kolonialismus waren, die uns in die Katastrophe geführt haben. Klar, die große Anti-Israel-Fraktion ist auch da, hässlich und lautstark. Neulich ließ einer Ihrer Parteikollegen aufhorchen mit der Prognose, dass mit jedem Flüchtling mehr in Deutschland Marine Le Pen vom FN, der HC Strache und die AfD einen Wähler mehr und Pegida einen Demonstranten mehr kriegt, ein Flüchtlingsheim mehr brennt und ein Politiker mehr attackiert wird. Sogar die toleranten Niederländer, Dänen und Schweden sind von der nationalistischen Pest schon angesteckt und schicken uns zum Teufel. Das klingt lustiger als es ist, denn die Flucht ist die Hölle und der Tod auch, das kann ich schwören, Frau Bundeskanzlerin!

Viele meinen, dass wir Muslime selbst schuld sind, weil wir uns immer nur streiten, einander vertreiben und umbringen wegen irgendeines Neffen oder Enkels, weil sich die einen geißeln wollen und die anderen lieber steinigen. Ich habe sogar schon gehört, wir gehen nach Europa, um es zum Islam zu bekehren, mit Feuer und Schwert, wie wir es immer schon getan haben. Mit Verlaub, das ist reiner Unsinn. Warum nehmen sie dann alle ihre Babys und Kinder mit, ihre alten Opas, Krüppel im Rollstuhl und mit Krücken, die schwangeren Frauen und all die jungen Burschen allein? Eine Bekehrungs- oder Eroberungsarmee sieht anders aus. Aber ich versichere Sie, es ist nicht der Islam als Religion, der Schuld trägt an der Misere in der muslimischen Welt, sondern die politischen Rahmenbedingungen in den arabischen Ländern, der Mangel an Demokratie, Arbeitsmarkt und Bildung. Der Islam zerstört sich selbst. Seit ich im Paradies bin, nehme ich eine andere Perspektive ein, die ich Ihnen ans Herz legen will. Die jungen syrischen Männer, die nach Europa kommen, wollen nicht kämpfen, sie fliehen vor Gewalt und Blutvergießen. Es ist ein großer Protestmarsch gegen den Wahnsinn, dass ein Regime seit vier Jahren sein eigenes Volk bekämpft und ausrottet. Das sind Friedensmärsche! Schauen Sie einmal aus diesem Blickwinkel drauf. Wenn Sie oder andere das nicht glauben, dann sehen Sie sich noch einmal das Foto von mir in Bodrum an, sehen Sie in die verängstigten, erschöpften, ausgemergelten Gesichter der Flüchtlinge auf ihren Elendsmärschen, der Friedenssucher, die alles aufgegeben, alles hinter sich gelassen, ihr Leben riskiert haben, um in Europa Schutz zu suchen, in Europa als eine Verheißung. Sie klopfen an die Türen einer Utopie.
Wir werden auch nicht wie Prometheus die Welt in Brand stecken im Protest gegen die Götter.
Sie sprechen mit so vielen Menschen, Frau Merkel, eines sollten Sie wissen und weitergeben: Viele Menschen in diesen Elendszügen sind keine Kriegsflüchtlinge. Wenn Sie uns Vertriebenen helfen wollen, sollten Sie wirklich Unterschiede machen, wer da aller kommt. Ich habe selbst nur einen Teil dieses Weges mitgemacht, aber von meiner himmlischen Warte aus krieg ich alles mit. Im serbischen TV B-92 habe ich einen Polizisten bei Horgos in die Kamera sagen gehört, dass sie an der ungarischen Grenze Berge von zerrissenen afghanischen, indischen, pakistanischen, tadschikischen, usbekischen, iranischen chinesischen und sogar mongolischen Papieren gefunden haben. Von Flüchtlingen hat er gehört: „Sollen die Westeuropäer doch selbst herausfinden, was wir sind und woher wir kommen“. Ihre „ Wir-schaffen-das-Begrüßungskultur“ in Ehren, aber inzwischen hat sie sich das bis in den letzten Slum von Karatschi und ins hinterste Bergtal am Hindukusch und in Uigurien herumgesprochen. Und wer irgendwie kann, zieht mit.
Gestern stand am Wiener Westbahnhof eine riesige Gruppe von Inderinnen in einer Wolke von Seidensaris. Passen Sie auf, viele sehen Europa nur als dumme Melkkuh. Glauben Sie mir, ich habe von hier heroben den Überblick. Und uns wird zurecht nachgesagt, dass wir in die Seelen der Lebenden schauen können. Die FAZ schrieb kürzlich, wenn die Deutschen über Flüchtlinge nachdenken, denken sie über sich selbst nach. Und ihre großen Nachbarn sagen: Wenn die Franzosen oder Engländer über Flüchtlinge nachdenken, denken sie über Deutschland nach. Wer ist dieser mad man in der Mitte des Kontinents? Dieses Irrlicht. Vom Hippie-Staat ist schon die Rede, von einem besinnungslosen Gutmenschentum, von der entfesselten Barmherzigkeit, vor der sich die anderen fürchten müssen wie vor dem Gegenteil.
Auch angesichts der deutschen Vergangenheit weckt das intensiven Argwohn, da muss man nicht bei Pegida mitmarschieren. Von alter Schuld reinwaschen und sich mit frischen Kräften verjüngen? Also, passen Sie auf, welches Bild Sie abgeben, denn dass die Deutschen auf lange Sicht nur das Gute wollen, ohne Berechnung, trauen ihnen nicht einmal die gutmütigsten Nachbarn zu. Und erst recht misstrauisch sind die Amerikaner. In der New York Times stand neulich, dass die Behandlung der Migranten Erinnerungen an Europas dunkelste Stunden wach. Jediot Acharonot titelte „Und wieder die Bahnsteige“. Frau Merkel, Sie sind mir nicht böse, wenn ich Sie auf einen Fehler aufmerksam mache, der Ihnen – vielen anderen auch - unterlaufen ist. Die Verwechslung von Menschen- und Bürgerrechten.In Ihrer Sommer-PK beharrten Sie auf den „universellen Bürgerrechten, die mit der europäischen Geschichte bislang eng verbunden waren“. Entschuldigung, die gibt es nicht, sie stellen einen inneren Widerspruch dar. Universalität ist eine Eigenschaft aller Menschen, wohingegen die exklusive Gruppe der Bürger die Flüchtlinge nicht einschließt.
Ihre Redenschreiber müssen noch mehr darüber nachdenken – nicht nur diese – was eigentlich Menschenrechte sind. Sie wurden noch nie, in einem vernünftigen, modernen Sinn ausreichend begründet. Nicht durch die Declaration of Rights noch durch die Declaration des Droits de l` et du Citoyen Das ist ein Dilemma, ein Problem, für das es nur eine himmlische, eine metaphysische Lösung gibt, die dann nur post-metaphysisch sein kann. Das ist die Verlegenheit, die Europa gerade erlebt. Glauben Sie nicht, dass das ein akademisches, philosophisches Problem ist, nein ein ganz praktisches, ohne dessen Lösung es keine Lösung der Flüchtlingsfrage gibt. Mehr möchte ich jetzt dazu nicht sagen, vielleicht beim nächsten Telefonat. Sie und Ihre Mitarbeiter sollten sich dazu aber inzwischen wieder einmal Kant zu Gemüte führen, „Zum ewigen Frieden“, von 1795, kann nicht schaden.

Buntes Volk treibt sich im Paradies herum, in der Dichterecke sitzen Vergil, Petrarca und Dante, die Inferno -Spezialisten. Sie murmeln immer nur im Dreiklang: Pestpestpest, Rattenrattenratten, werfen einander Verse an den Kopf, die sich nicht mehr reimen. An einem Katzentisch, Robert Schindel, der Dichter aus Wien. Er nimmt noch immer die Worte beim Kopf und an der Kehle, würgt sie, schleudert sie durch die Sprachen und Geschichten, geht mit ihnen herum durch die Städte. Ich weiß nicht, was da noch alles herauskommt.
Vielleicht doch noch ein Talent? Ein guttar Mänsch?

Der Mord - ,Totschlag – und Katastrophenfachmann Shakespeare läuft nachdenklich herum, hält seinen Skalp in der Hand und murmelt vor sich hin: „Sein, oder Nichtsein, das ist hier die Frage.“ Milton ist nervös und sucht sein Paradise lost, Klopstock den Messias und Beethoven seine 10. Symphonie. Das Scheusal Abraham, der auf Gottes Befehl ohne Wimpernzucken bereit war, seinen Sohn zu ermorden – opfern nennt man das in der Religion - ist natürlich auch im Paradies. Das war heftig, selbst Gott hätte das nicht erwartet und war so schockiert, dass er einen Engel zur Rettung Isaaks schickte. Das große Proletariat des Jenseits stellen die Soldaten dar – Myriaden von Jungengesichtern unter Stahlhelmen und Bärenfellmützen, Turbanen und Dreispitzen. Statistisch gesehen muss das Paradies völlig mit Kindern bevölkert sein. Eine furchtbare Gegend voller gewickelter Bündel, Säuglinge, Kleinkinder mit spindelholzdürren Beinchen und hervorquellenden Bäuche oder die blauen, ertrunkenen so wie ich in Bodrum gefunden wurde.

Frau Bundeskanzlerin, Sie sind eine Naturwissenschafterin und haben die Gesetze des Lebens studiert, Chemie und Biologie. Wenn man die schrecklichen Götter außen vor lässt, dann sind wir Menschen doch auch nur Natur und werden nur zu Menschen in der Liebe, in der Gesellschaft, in der wir Platz haben, das Beste in uns zu entwickeln. Jede Pflanze sucht doch auch nur einen Platz an der Sonne, jedes Tier, sei es eine Ameise oder ein Lemming, will nur eines – überleben. Eine Wespe taumelt tausend Mal gegen die Fensterscheibe und sucht einen Weg ins Freie. So sind wir auch. Das ist das Prinzip des Lebens. Ist das wirklich so schwer zu verstehen? Denn wir sind nicht einfach „Kriegsflüchtlinge“, sondern „Lebenssucher“. Wir wollen doch wie alle in einer Welt leben, in der man nicht überleben muss.
Eines muss ich Ihnen noch etwas gestehen, obwohl ich jetzt im Paradies bin und friedlich sein sollte. Ich habe eine „mordsmächtige“ Wut im Bauch auf unseren Gott, der das alles zulässt, der unserem Elend zuschaut und meint, das sei naturgegeben oder eine Prüfung, die uns zu besseren Muslimen macht. Übrigens hat dieser Rache- und Besserungsgedanke auch in Ihrer Kultur eine lange Tradition. Ich finde, in ihrer Mordlust unterscheiden sich die Häuptlinge, ob Allah, Jahwe oder Ihr Gott, überhaupt nicht. Das sind alles Massenmörder, die sich im Blut der Menschen wälzen und sich über unseren Tod freuen. Davon nähren sie sich und werden immer fetter und mächtiger, je mehr Leute an diesen Hokuspokus glauben. Dafür versprechen sie uns dann das ewige Leben, eine Seelenwanderung, Auferstehung am Jüngsten Tag, eine unsterbliche Seele und ähnlichen Unfug. Denken Sie an Cortez, den Spanier und Montezuma, den Azteken. Interessant ist, dass die Azteken, die ihren Göttern Gefangene opferten, denen sie bei lebendigem Leib das Herz herausschnitten, zutiefst schockiert über den spanischen Brauch waren, ihre Missetäter auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Rituale der Religionen, die Tag für Tag nach Menschenblut verlangten. Die aztekischen Götter forderten es, damit am nächsten Tag die Sonne wieder aufgehen soll, der Gott der Spanier fordert es zur Ausdehnung der Macht und als Ausweis für das ewige Leben.
Grausamkeit – nur eine Frage der Perspektive? Die griechischen Schicksalsgöttinnen sitzen kichernd an ihren Webstühlen, während sie sich Kriege, Hungersnöte, Überschwemmungen und Krankheiten ausdenken und mit Millionen von Grausamkeiten das Geschehen in Gang halten. Warum haben sie sich ausgerechnet für eine kleine, unbedeutende Familie aus Kobane interessiert?
Ha, das muss der liebende und gerechte Gott gewesen sein, der allmächtige, der alles wissende, alles planende, alles sehende, wie großartig er unsere Flucht hingekriegt hat. Dabei haben wir die ganze Zeit zu ihm gebetet und um seine Hilfe gefleht. So sieht sein Dank aus! Und die toten Pilger auf der Mekka-Hadsch- vielleicht waren es 2000, 4000 oder noch mehr- die waren doch auch gerade beim Beten, Opfern und Verehren, als sie zertrampelt wurden oder erstickten. Vor kurzem ist mir eine Notiz im Wiener Kurier aufgefallen: Da wurde ein Mann nach einem Stromausfall in einem Lift gefangen und erst nach Stunden befreit. Aus lauter Dankbarkeit ging er zu einem Marterl auf den Himmel (sic!), einen Hügel im Westen Wiens, kniete nieder, verrichtete seine Dankesgebete und wurde von der umstürzenden Kapelle erschlagen. Das nenn` ich mir einen lieben Gott! So einprinzipienloser Kerl! Oder doch alles nur Schicksal? Was ist mit der Determination? Vorbestimmung – ja aber von wem? Wer hat meinen Tod geplant, den meiner Mutter und meiner Schwester und all der anderen 3000 Flüchtlinge heuer im Mittelmeer? Wenn Gott alles weiß, alles sieht und alles kann, wenn er angeblich ein guter Gott ist, warum schickt er nicht ein paar Drohnen, die uns auskundschaften, wenn wir in Not geraten, schickt ein paar Rettungsinseln, ein paar Schiffe? Und dann stehen sie da und zählen die Toten. Eines habe ich verstanden: ein Toter und noch einer sind nicht zwei. Und wenn sie 11 763 gezählt haben, machen sie weiter, bis die Million voll ist. Schon allein mit dem Zählen fängt es an. Auch die friedlichste Religion ist immer noch eine Tötungsmaschinerie. Auch im Vatikan lagern Maschinenpistolen. Und in der Zahl der toten Feinde Israels zeigt sich die Stärke seines Gottes. Jeremias ist dafür der große Prophet. Menschen haben manchmal Gedanken, die sie besser nicht hätten. So passiert das im Leben. Aber davon bin ich ja jetzt befreit und darf grenzenlos denken.
Frau Merkel, ich habe noch etwas verstanden, seit ich im Paradies bin, vielleicht können Sie etwas damit anfangen: Kriege werden um ihrer selbst willen geführt. Solange man sich das nicht zugibt, werden sie nie wirklich zu bekämpfen sein. Anlass und Ziel sind bloße Zutaten, rhetorische Dekorationen, um den Selbstzweck zu verstecken.
Der Gedanke ist äußerst unangenehm; wir erwarten unbedingt, dass es bei einem Mord um eine Frau oder zumindest eine goldene Uhr geht; bei einem Krieg um eine Insel oder um Öl. Wenn wir den Satz ernst nehmen - Kriege werden um ihrer selbst willen geführt - beginnt die ganze Weltgeschichte vor unseren Augen zu tanzen. Und da sind wir ganz schnell bei der Frage nach der Macht: Wer befiehlt das Töten? Haben Sie sich das schon einmal gefragt?
Wenn Sie die Frage im religiösen Sinn nicht beantworten wollen, weil das Privatsache ist, bin ich einverstanden. Aber im politische Sinn müssen Sie und die anderen Politiker antworten, indem Sie die Mächte hinter dem Krieg benennen und den Massenmord vor der europäischen Haustür beenden. Ihre Reise nach Istanbul finde ich etwas befremdlich, steht doch neben dem Iran, Saudi Arabien, den Golfstaaten und Russland auch die Türkei hinter dem Krieg von Assad und IS. Ob das ein Fehler war, wird die Geschichte erweisen, aber immerhin haben Sie gezeigt, dass Sie den Irrsinn des Mordens nicht länger akzeptieren.

Wenn Sie jetzt erschrocken sind und mehr erfahren wollen, gebe ich Ihnen aus meiner elyseischen Zusammenschau einen Buchtipp: lesen Sie wieder einmal – oder zum ersten Mal - Elias Canettis „Masse und Macht“ aus dem Jahr 1960, sehr aktuell, aufschlussreich und nützlich, dort und auch in seinem Buch gegen den Tod steht das so wortwörtlich.
Wahrscheinlich haben Sie „Masse und Macht“ in der DDR nicht zu lesen bekommen. Ich finde es wichtiger, vor allem für Sie als Politikerin, wichtiger als der überschätzte „Il principe“ von Machiavelli. „Man muss die Kraft haben, dem Krieg in Maul und Schlund zu fahren und ihm erbarmungslos die Eingeweide aus dem Leib ziehen.“

Ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht mit den Canetti-Zitaten erschreckt, bleiben Sie mutig auf Ihrem Weg, auch wenn es Sie vielleicht die Kanzlerschaft kostet. Ich muss jetzt schon schmunzeln bei dem Gedanken, wie das aussieht, wenn Sie den Friedensnobelpreis bekommen, aber Ihr Amt verlieren. Wenn Sie erlauben, werde ich Sie wieder anrufen oder, wie gesagt, kommt mein Vater bei Ihnen vorbei. Er denkt wie ich und Sie: „Wir schaffen das.“ Seien Sie sicher, dass wir von hier oben genau auf Sie schauen. Und ob es mein Papa bis Berlin schafft.

Schade, ich muss jetzt Schluss machen, der Märtyrer-Chor mit seinen Posaunen und Zimbeln ruft zum allgemeinen Gotteslob, außerdem ist mein Akku fast leer. Dabei hätte ich Ihnen noch so viel zu sagen. Wenn Sie mir all das nicht glauben, weil es so unglaublich klingt, kann ich Ihnen von meinem Ipod die Bilder schicken, da ist nichts getürkt und getrickst, nicht einmal verpixelt habe ich die Gesichter, alles echt. Trotzdem danke, dass Sie mir so lange zugehört haben. Ich habe es genossen, mit Ihnen zu sprechen.

Wiederhören, tschüühüüss, ich ruf bei Gelegenheit wieder an, darf ich, ok?
Danke Ihnen und liebe Grüße aus dem Paradies!
Das war der Aylan



Aufzeichnung: Veronika Seyr


1040 Wien
Wiedner Hauptstr. 39/IV/34
00431(0) 676/664 16 08






Das Pack


Kurt konnte nur am Sonntag schreiben. Die anderen sechs Tage der Woche arbeitete er im Herrenmoden-Geschäft seines verstorbenen Onkels. Allzu ernst nahm er sein Schreiben nicht; es war im Grunde nicht mehr als eine Beschäftigungstherapie, die ihm der Arzt wegen seiner angeschlagenen Nerven empfohlen hatte. Er litt an Schlafstörungen, weigerte sich aber, Medikamente zu nehmen. Das Schreiben lag ihm noch am ehesten, im Gegensatz zu Zeichnen, Porzellanmalerei, Origami oder Ikebana, was der Doktor auch noch vorgeschlagen hatte. Immerhin hatte Kurt bis zum Antritt der Onkel-Erbschaft in einem Sachverlag für Ornithologie gearbeitet, wenn auch nur als Buchhalter.

Der Sonntag Mitte Juli war ein heißer Tag. Kurt saß im Unterhemd an seinem Schreibtisch, die Fenster waren geschlossen, die Jalousien halb heruntergelassen. Vor ihm lagen mehrere Schulhefte, die zwanzig Bleistifte parallel ausgerichtet, Radiergummis in verschiedenen Größen und Farben, Spitzer, Büroklammern, Klebstoff und ein Stoß mit einzelnen A4- Blättern, haargenau gestapelt an der rechten, oberen Ecke des Tisches. Er hatte immer schon die Gewohnheit, auch im Verlag, alles vorzuschreiben. Erst wenn er zufrieden war, übertrug er das Geschriebene in ein Heft. Die verworfenen Zettel verbrannte er sofort im Waschbecken der Küche, damit er es sich nicht anders überlegte und zu tüfteln anfing. Dieses an Sonntagen wiederkehrende Vorgehen beruhigte ihn und gab ihm eine gewisse Sicherheit, dass er mit seiner Schreibtherapie Fortschritte machte. Es war seine Form der Kontingenz, mit der Welt in Verbindung zu stehen. Zwei Vogel-Geschichten hatte ihm sein alter Verlag schon abgenommen.

Er war nun etwa dreißig Minuten an seinem Tisch vor den leeren Blättern gesessen, konzentriert und gerade lange genug, um die Ahnung einer Idee für einen Ansatz zu finden, den er heute bearbeiten wollte: „ Die Zugvögel am Schwarzenbach vor dem Aufbruch“, da hörte er die Männer kommen, vier oder fünf. Es war früher Nachmittag. Unter lautem Reden und Lachen bogen sie von der Schwarzenbachstraße mit dem Katzenkopflaster auf den kleinen, asphaltierten Platz der Reihenhaussiedlung ein. Wie das klang, mussten zwei von ihnen genagelte Schuhe anhaben.

Hei Börni, heute bist du dran.
Los, Walter, immer drauf.
Nein, ich will heute nicht ins Tor, soll doch der Karli.
Oida, kannst dich gleich wieder schleichen, wenn du nicht, du A….
Ok, geh ich halt ins Tor.
Maarioo, hier rüber, mach schon, du oida Beidl!

Wumm, plopp, wumm, plopp - schon krachten die Schüsse in unregelmäßigem Stakkato an des metallene Garagentor, das die Männer als Goal benutzen. Der ganze Platz hallte wider, die in einem Halbrund stehenden, zweigeschoßigen Häuser warfen die Geräusche einander zu und vervielfältigen den Lärm zu Dauerexplosionen. Tore schießen, das machten sie die ersten 30 Minuten immer als Aufwärmübung. Vergeblich hoffte Kurt, dass es nachlassen würde. Er kaute hinten an seinem Faber&Faber- Bleistift Nr. 5, extra hart, und nahm sich zusammen, nicht aufzustehen und beim Fenster hinauszuschauen. Das Gebrüll ging weiter, aber er musste das Treiben auf dem Vorplatz nicht mit eigenen Augen sehen, er hörte alles und hätte ihr Spiel so gut kommentieren können wie der legendäre blinde Sportreporter Stanley Howell von den Chicago Dodgers.
Die Schlacht tobte keine 20 Meter von seinen Fenstern entfernt. Sie schrien, grölten, beschimpften und beleidigten einander auf das Unflätigste, wie es echte Sportsfreunde nie gemacht hätten. Aber das war nur Kurts Vermutung, da er seit dem Zwang in der Schule nie freiwillig Sport betrieben hatte.

Wumm, wumm, plopp, plopp, die Treffer knallten ans Garagentor, das auch noch dumpf nachhallte wie eine schlecht gestimmte Glocke. Sie lachten und grölten und feuerten einander an. Sie sprangen herum wie Ziegenböcke ohne Ziel und Spielregeln, sie achteten absichtlich nicht aufeinander, sie tobten mit angezogenen Knien und ruderten mit den Armen in der Luft. Kurt hatte den Eindruck, dass sie gar nicht zusammenspielen wollten, sondern nur Krach schlagen, andere Leute ärgern und Spaß daran haben.
Er meinte, trotz der geschlossenen Fenster, die Schallwellen in seinem Zimmer zu spüren, wenn das Metalltor unter den Balltreffern in Schwingung kam. Aber er hatte ja angeschlagene Nerven, sagte sein Arzt, und sollte sie mit dem Schreiben beruhigen.

„Verdammt, diese blöden Blumen stören mächtig. Ich hab keinen guten Blick aufs Goal. Reiß sie aus.“ Kurt fuhr zusammen, als hätten die Worte ihm gegolten. Erst vor wenigen Wochen hatte er links und rechts von der Garage einige Reihen mit Stiefmütterchen, Lobelien und Hortensien gepflanzt. Eigentlich nur verpflanzt. Denn eines Sonntags an seinem Schreibtisch am Fenster war ihm aufgefallen, dass sie im Schatten der Garage, zwischen den Colonia-Kübeln nicht die geringste Chance zum Überleben hatten. Da kam kein Sonnenstrahl hin, zu keiner Zeit des Tages. Der Hausmeister war ein Faulpelz und Säufer, der nur im Schwarzenbachstüberl herumhing und sich um nichts kümmerte. Außerdem hoffte Kurt, dass durch die höheren Hortensien das fleckige Rosttor bald nicht mehr zu sehen sein würde. Pflanzen, das war eigentlich gar nicht sein Gebiet, wenn überhaupt Natur, dann waren es bei ihm die Vögel. Sie sind unter allen Tieren die unschuldigsten, harmlosesten, die, die keinen Schaden anrichteten, fand er. Auch ihr Fliegen und Flöten gefiel ihm, und am Steyrer Schwarzenbach gab es viele Arten. Aber seit er diesen Schritt gemacht hatte, waren die mickrigen Blümchen und Büsche die Seinen, er pflegte sie und schaute von seinem Fenster mit Wohlgefallen auf sie hinüber, wie sie sich an der sonnigen Vorderseite der Garage zu erholen begannen.

Torwart Börni, der mit den zu langen Sporthosen und dem zu großem Bauch darüber, war im Blumenbeet gestolpert, hatte ein Tor abgekriegt und viele Hohnworte von seinen Kumpels geerntet. Er bekam einen Wutanfall, begann in den Pflanzen zu wühlen und nach ihnen zu treten; er riss die kaum angewachsenen Blumen aus der Erde und schleuderte sie nach allen Seiten.
„Verdammte Scheißblumen, blöde.“
„Gib a Ruh, Börni, reg dich nicht auf, wir machen Pause, ich hol uns was zum Trinken.“
Kurt riss sich, ohne an seinen Vorsatz zu denken, von seinen weißen Blättern los, machte das Fenster auf und rief mit ungeübter, brüchiger Stimme hinunter:
„He, Sie da, lassen Sie meine Blumen in Ruhe!“
Viel zu leise, viel zu höflich, Kurt wusste sofort, dass ihn diese Barbaren überrennen würden.
„Geh Oida, was willst du? Gehört der Platz vielleicht dir? Bist du der Hausmeister oder der Gärtner?“
Die anderen Spieler bogen sich von Lachen, johlten, schlugen sich auf die Schenkel oder einander auf den Rücken und kickten die Blumenstöcke über das Spielfeld. Wenn sie ihnen zwischen die Füße kamen, trampelten sie darauf herum wie kleine Kinder im Schlamm.
„Soll ich dir vielleicht ein Fenster einschlagen, du A…magst du das, ja?“
Mit dieser lustigen Idee erntete er wieder beifälliges Gejohle.
Der große Börni mit dem fetten, mit Sommersprossen gesprenkelten, schweißgebadeten Körper lachte grob und warf ein Stiefmütterchen die Richtung seines Fensters.

Das war ihm gegen jede Gewohnheit entfahren, weil er so zurückgezogen lebte und sich nie um anderer Leute Sachen kümmerte. Zusätzlich zum Herrenmoden-Geschäft im Zentrum der Kleinstadt Steyr hatte Kurt auch noch diese zweigeschossige Haushälfte in der Genossenschafts-Siedlung am Schwarzenbach geerbt. Er lebte darin allein im Oberstock, das Erdgeschoß hatte er bei der Gemeinde zur Vermietung an Flüchtlinge angemeldet.
Eigentlich sollten sie schon da sein, sie waren ihm für Anfang des Monats angekündigt worden, ein Mann von der Gemeinde und eine Sozialarbeiterin hatten die Zimmer besichtigt und waren zufrieden. Auch der Hobbykeller, den sie benützen durften, hatte ihr Gefallen gefunden. Fünf junge Burschen aus Eritrea und Somalia sollten hier wohnen, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, muF hieß das auf der Gemeinde. Kurt wusste nicht, warum sich ihre Ankunft verzögerte. Er wusste auch nicht so genau, ob er sich auf sie freute. Aber weil er sein Geschäft bald verkaufen und sich ganz zurückziehen wollte, hatte er sich nach etwas Neuem umgesehen. Ob das gutgehen würde? Wichtiger war ihm, dass bei ihm, je älter er wurde, das Bedürfnis wuchs, seinem Vater und Rudi etwas von ihren ungelebten Jahren zurückzugeben. Als könnten sie dann weniger tot sein. Seine Mutter hatte zwar überlebt, konnte aber diese Austreibung nie verwinden. Kurt war sich bewusst, dass das ein Teil seiner Todesfresser-Religion war, die er für sich erfunden hatte und allen anderen Religionen mit ihren Paradiesen, Seelenwanderungen und Jüngsten Tagen vorzog.

Kurt hatte sein Testament- und er hatte kein unbeträchtliches Vermögen - so geändert und beim Notar Dr. M. hinterlegt, dass alles eine Stiftung bekommen soll, die unbegleitete Flüchtlinge, junge Steyrer Arbeitslose, oder Drogenabhängige Schulabbrecher fördern würde. Da hatte er der Gemeinde ein schönes Kuckucksei ins Nest gelegt. Kurt kicherte vergnügt in sich hinein, wenn er an die betretenen Gesichter der Stadträte bei der Testamentseröffnung dachte, ein Mordsspaß ist das.

Er selbst hatte zu viel Glück gehabt, meinte er, nach diesem schrecklichen Anfang, nach dem Anfang mit Schrecken, und deswegen hat er sich immer geduckt, damit ihn das Leben in Ruhe ließ. Er wollte dem Leben keine Gelegenheit geben, sich an ihm zu rächen für sein Überleben. Dass er als Dreijähriger ganz oben auf den Koffern und Binkeln in dem kleinen Leiterwagen saß, an das erinnerte er sich, wie ein König zog er durch die Landschaften der Märchenbücher. Seine Mutter ging vor ihm und zog den Wagen mit der Hand, auf ihrem gebeugten Rücken trug sie noch einen Rucksack, viele andere Leute waren da, lange Reihen ohne Ende, das sah er noch ganz genau. Er fand das lustig, schrie hü-hott und fuchtelte mit einem Weidenzweig herum. Die Mutter sang immer Hopphopphopp, Pferdchen lauf gallopp, und: Hoch auf dem gelben Waahaagen, sitz ich beim Schwager vorn, Schlaf, Kurti, schlaf, was das abgebrannte Pommerland mit dem Vater zu tun hatte, hatte er nicht verstanden. Weiter, immer weiter: Aus grauer Städte Mauauern, zieh`n wir durch Wald und Feld. Gleich sind wir da, wir machen einen Ausflug zum Onkel, Vater ist auch bald wieder bei uns. Dass sie dabei weinte, konnte er nicht sehen. Mehr eigene Bilder hatte er nicht, die anderen kamen wahrscheinlich von den Erzählungen der Mutter und des Onkels, vom Todesmarsch aus Brünn nach Steyr. Angeblich hatte er einen kleinen Bruder, den Rudi, der die Austreibung aus dem Sudetenland nicht überlebte. Der Vater-Soldat die Ostfront auch nicht. Als das nach dem Krieg feststand, hatte ihn Onkel Heinrich, der reich gewordene Bruder, adoptiert. Er bekam von ihm und seiner Frau, der Tante Vroni, auch den schönen deutschen Namen Nemetz.

Die Männer da draussen waren zwischen Dreißig und Vierzig, zwei waren wirklich sehr groß und sehr dick, der rote Börni und der dunkle Walter, der jetzt , die Arme voller Bierdosen, von der Tankstelle zurückkam. Alle hatten da und dort Tätowierungen, aber Walters Körper hatte keinen Fleck ohne Bilder oder Schriften. Sogar die Glatze war bedeckt von Girlanden mit Stacheldraht, Totenköpfen und runenartigen altdeutschen Buchstaben.
Dieses Pack, der Lärm am Sonntag und nun gegen die Blumen. Seine? Ja, es waren schon seine geworden, irgendwie. Wahrscheinlich wussten sie, dass er sie gepflanzt hatte. Kurt schloss das Fenster, ließ die Jalousien ganz herunter und ging in die Küche, um sich das Gesicht kalt abzuwaschen. Dann setzte sich sich wieder an seinen Schreibtisch am Fenster, mit schwachen Knien und rasendem Herzen und steckte Hände auf den Knien aus, sie zitterten. Der Bleistift rollte kraftlos aus den Fingern und fiel zu Boden. Er hob ihn nicht auf, es war sehr heiß im Zimmer. Wenn ich ein Gewehr hätte, würde ich jetzt schießen, zog es Kurt durch den Kopf, obwohl er noch nie ein Gewehr in Händen gehalten hatte.
Jetzt hörte er, wie im Nachbarhaus ein Fenster geöffnet wurde. Kurt spannte den Rücken, das ist gut, Herr Leitner öffnete sein Fenster, er würde auf seiner Seite sein.
„Hallo, Sie da, wissen Sie nicht, dass man hier nicht Ballspielen darf? In der Einfahrt ist ein Verbotsschild, da steht es drauf. Hier leben arbeitende Menschen, die Menschen wollen schlafen! Ich hol die Polizei, gehen Sie weg.“
Herr Leitner war Nachtportier in der Lokomotiv-Fabrik und wollte am Sonntag ausschlafen.
„Na und, dann schlaf halt, marsch, ins Bett, Opa, und hol ruhig die Polizei!“
Sie kreischten und heulten und hatten einen Mordsspaß miteinander. Walter zielte mit seiner Bierdose auf Leitners Fenster, Kurt spürte, wie sie knapp an ihm vorbeiflog, einen Augenblick in der Luft hängenblieb und dann an der Mauer abprallte. Walter nahm sich eine neue Dose und spuckte zwischen seine gespreizten Beinen auf den Boden. Der rote Börni rief etwas Obszönes, wackelte mit dem Becken und griff sich zwischen die fetten Beine. Herr Leitner schüttelte den Kopf , als wollte er sagen: Na so was, und das bei uns. Das gibt’s nicht. Dann schloss er laut krachend die beiden Flügel seines Fensters zusammen und zog die Vorhänge vor die Fenster.


Kurt wusste, dass es keinen Sinn hatte, die Polizei zu rufen. Er war schon auf dem Posten gewesen und hatte von der Belästigung an den Sonntagnachmittagen berichtet. Der Beamte lächelte nur süffisant und meinte: „Naja, wenn die Leute Sport betreiben wollen, soll man sie nicht aufhalten. Ist doch gesund, oder?“ Die anderen Beschwerden hatte er dem Polizisten gar nicht mehr vorgetragen, auch nicht, dass die Genossenschaft eine Verbotstafel aufgestellt hatte. Er wusste, dass der zur selben Sorte Unmensch gehörte wie die Ballspieler, nur dass er eine Uniform trug.
Das Geschrei der Fünf da unten nahm an Lautstärke zu, das Bier befeuerte offenbar ihre Stimmung. Sie saßen im Blumenbeet vor der Garage, die Beine weit ausgestreckt und prosteten sich mit den Dosen zu, legten den Kopf weit in den Nacken und tranken in vollen Zügen.

Kurt hielt es nicht mehr aus in seinem Zimmer, das Schreiben konnte er für heute vergessen. Die Bilder von den Zugvögeln, die sich auf den Telegrafendrähten zum Abflug sammelten, waren zerronnen wie Öl in einer Wasserlacke. Er zog sich ein Hemd an, schlich auf den Korridor und durch das Treppenhaus zur Hintertüre hinaus.
Dort lag ein alter Kaiserziegel, den er zum Offenhalten benützte, wenn er den Müll hinaustrug. Normalerweise schob er ihn nur mit dem Fuß hin und her, jetzt nahm er ihn auf und wog ihn in der Hand, vier, fünf Kilo wird der schon haben. Ohne ein Geräusch zu machen, gelangte er unbemerkt durch den kleinen Hinterhof, vorbei an der metallenen Wäschespinne an die Rückseite der Garage. Vorsichtig kletterte er über die Mistkübel auf das nach hinten abgeflachte Dach, legte sich auf den Bauch und atmete einige Male tief durch, um sich zu beruhigen. Dann schob er sich vorsichtig an den Rand des Garagendaches, geräuschlos und millimeterweise, bis er kippte. Er hörte einen dumpfen, ordinären Aufprall und einen hässlichen Fluch.
„Verdammt, was war das? Das war sicher der Kerl da oben.“
Das war Börnis Stimme, die jaulte wie ein getretener Hund.
„Einen Arzt her“, schrie Walter und riss sein Handy aus der Hosentasche.
Auch Karli begann wie wild zu telefonieren, Mario und der fünfte Kerl kümmerten sich um die Wunde. Sie wickelten dem verletzten Börni ein T-Shirt um den Kopf, halfen ihm auf die Beine und schleppten ihn fluchend und Fäuste schüttelnd über den Platz auf die Schwarzenbachstraße. Der letzte nahm noch einen Stein vom Straßenrand und schleuderte ihn auf Kurts Haus. Er krachte gegen die geschlossene Jalousie und fiel polternd zu Boden.

Mit pochendem Herzen lag er ganz flach auf dem Garagendach und lauschte in die Stille. Gleich würden sie kommen, nichts da, sie kehrten nicht zurück. Aus der anderen Haushälfte sah er später die alte Frau Huber herauskommen, die am Abend immer ihren Hund ausführte.
Als sie verschwunden war, kroch Kurt vom Dach und schlich zurück in seine Wohnung. Minutenlang saß er reglos am Küchentisch, hörte dem Pochen des Blutes in seinen Ohren zu, bis sich seine Nerven soweit beruhigt hatten, dass er aufstehen und zum Waschbecken gehen konnte. Er spritze sich Wasser ins Gesicht, goss sich dreimal Wasser ins Glas und trank es in kleinen Schlucken. Langsam beruhigte sich auch sein Atem. Er horchte in das Treppenhaus hinaus und zum Telefon hinüber. Jetzt wird die Polizei kommen, dachte er, in fünf Minuten sind sie da, in zehn. Nichts kam. Es war lange Zeit vollkommen still, bis er die alte Frau Huber zu Herrn Leitner vor der Haustür sagen hörte: „Na, heute haben Sie die Banditen aber schön verjagt.“ Der verschlafene Leitner brummte etwas Unverständliches, und Frau Huber meinte noch, dass es am nächsten Sonntag sicher regnen würde. Ihr alter Spaniel kläffte ein paar Mal zu Herrn Leitner hinauf, der im offenen Fenster lehnte.

Immer noch hörte Kurt den dumpfen, hässlichen Aufprall des Ziegels und malte sich aus, wie er Börnis Schädeldach eingeschlagen und sein Gehirn zerquetscht hat.
Noch einmal vergingen zehn Minuten, 20, 30, das Pack kam nicht zurück, keine Polizei war zu sehen, und auch das Telefon klingelte nicht.
Die Furcht kroch in ihm hoch. Ob sie unten auf ihn warteten? Sicher war Börni schon im Spital, schwerverletzt, oder war er gar schon gestorben? Man bringt doch keinen Menschen um, nur weil er am Sonntag unter dem Fenster Fußball spielt, auch wenn einem danach zumute wäre. Kurt hielt wieder den Kopf unter das kalte Wasser und wollte sich Kaffee machen, stellte aber fest, dass er gestern vergessen hatte, welchen einzukaufen, weder Kaffee noch Milch waren im Haus. Kurt nahm eine kalte Dusche, zog sich frische Sachen an und wartete bis zum Einbruch der Dunkelheit, dann schlich er über Umwege zur Tankstelle und besorgte Milch und Kaffee. Auf dem Rückweg begegnete er der Frau Leitner, die ein paar Stunden in der Fabrikskantine putzte.
“Grässlich war das heute wieder. Mein Mann muss einmal aufbleiben und sich das anhören, er soll die Polizei holen, damit der Wirbel ein Ende hat. Der Hausmeister ist auch nie da, wenn man ihn bräuchte. Aber wir müssen ihn bezahlen, und zu Weihnachten kriegt er auch noch Mordstrinkgelder.“
„Ja, Sie haben Recht“, antwortete Kurt einsilbig; sie verabschiedeten sich vor dem Haus, und ein jeder ging in seine Hälfte.
Als er sich mit dem frischen Kaffee ins Zimmer setzen wollte, sah er, dass alle Fenster eingeschlagen waren, der Teppich mit Glasscherben übersät war und von den fünf Steinen einer in seinem Bett lag. Dieser war mit einem Stück Papier umwickelt, auf dem Kurt lesen konnte: Kein NEGERPACK in unserem Viertel! DU BIST DER NÄCHSTE! WIR KRIEGEN DICH!
Die Jalousien hingen zerfetzt in den leeren Fensterhöhlen. Kurt holte Besen und Schaufel und machte sich ans Aufräumen. Dann schaltete er das Licht aus, setzte sich im Unterhemd an den Tisch und schaute im Finstern aus dem Fenster. Deutlich konnte er die fünf Gestalten sehen, die unter der Laterne auf der Schwarzenbachstraße an der Einfahrt zum Parkplatz standen und zu seinem Haus herüber sahen.
Was wollten sie noch? Glas zum Zerschlagen gab es keines mehr. Feuer legen? Brandbomben werfen? Ihren Kumpan rächen?
Kurt war schwindelig, und er setzte sich auf das Bett: Ratlos, verwirrt und plötzlich sehr, sehr müde. Sie waren zu fünft da draußen, das hieß, dass der rote Börni nicht tot war.
Langsam stiegen Freude und Erleichterung in ihm hoch, breiteten sich bis in den Kopf aus und füllten seine Augen mit Tränen. Morgen wollte er die Blumen wieder einpflanzen.

Veronika Seyr
27.10.15



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Zwei Fremde im Weinviertel - Bus



Am 27. August 2015 stieg der Mann in den weißen Bus mit drei grünen Rebstöcken an der Seite, bezahlte beim Fahrer 15€: „Laa- an- der- Thaya, please“, ging die Reihen entlang und wählte einen der hinteren Plätze. Den kleinen Koffer legte er ins Gepäckfach, auf den leeren Sitz neben sich stellte er die Papiertasche mit den goldenen Bögen einer großen Kette. Hinter ihm lagen viele große und kleine Städte, und seine Reise aus dem Osten in den Norden dauerte nun schon mehr als zwei Jahre. Er war an vielen Orten gestrandet, länger oder kürzer. Von Aleppo weg ein Jahr in Beirut und Istanbul, dann eine griechische Insel, in Athen ein ganzes Jahr Tellerwäscher bei Nikolas, dem Tavernenwirt, der wollte wirklich helfen, obwohl es ihm selbst gar nicht gut ging. Später kurz Skopje, Belgrad und Budapest, die ganze schreckliche Balkanroute samt ungarischem Mörderdraht, schließlich Hauptbahnhof Wien. Die Hauptstadt von Austria ist etwas größer als Aleppo einmal war. Vienna war ihm in der alten Heimat schon ein Begriff gewesen, weil er etwas von Sigmund Freud gelesen hatte. Laaanderthaya kannte er natürlich nicht, und er wiederholte dieses schwierige Wort immer wieder – sollte das vielleicht einmal seine neue Heimat werden? Er versuchte, Assoziationen zu seiner Muttersprache zu finden: La-andertaya. Er drehte das Wort um: Al-redna Ayat, das klang ja fast Arabisch, freute sich der Mann und lächelte auf den Notizzettel im Schoß hinunter: Wien-Hauptbahnhof- U1 bis Stephansplatz- U3- Landstraße-Weinviertel- Bus Laa- an- der- Thaya- Kirche- Pfarrhof-Seniorenheim-Caritas. Hau -ptb- ahnhof, das ging gar nicht – ptb, das war unmöglich auszusprechen, genauso wie das -ldv- und das -pf-, für ihn waren das keine erkennbaren Laute und seine Sprechwerkzeuge sträubten sich dagegen wie gegen eine tote Maus. Am Hauptbahnhof hatte eine junge Frau mit Kopftuch, eine „helping hand“- so stand es in mehreren Sprachen auf dem Klebeschild ihrer grünen Weste - schon ein bisschen mit ihm geübt. Die offizielle Zuweisung der Caritas an das „Seniorenheim“ trug er tief in der linken Innentasche des neuen Sakkos, dort, wo er auch das Foto seiner Frau und der zwei Töchter aufbewahrte. Kein aktuelles Foto, weil seine ältere Tochter schon früher aus Aleppo weggegangen war.

Der Syrer, ein Mann von etwa 50 Jahren, mittelgroß und hager, mit Hornbrille, blauen Augen und Halbglatze, ist auf seinen vielen Stationen seit Aleppo ein geduldiger Reisender geworden. Es war überhaupt seine erste Reise außerhalb Syriens, sogar in der Hauptstadt Damaskus ist er nur einmal gewesen. Und auch diese Reise hätte er nicht angetreten, wenn ihn der Krieg nicht dazu gezwungen hätte. Davor war es ihm und seiner Familie gut gegangen in Aleppo, seiner Frau Rikhiel und den beiden Töchtern Daliah und Myrnah. Schweiß trat auf seine Stirn, als ihn die Erinnerungen ohne Schutz überfielen. Er stöhnte lautlos, senkte den Kopf tief über die Knie und rieb sich die Schläfen, um die Bilder zu vertreiben. Es war nicht heiß im Bus, aber er zog das Jackett aus und hängte es über die Rückenlehne. Die schwarze Hose war ihm viel zu weit und zu lang, er zupfte immer wieder vorsorglich die scharfe Bügelfalte hoch, wenn er seine Beinstellung änderte. Es war ein feiner, glatter, angenehm kühler Stoff. Mit einem weißen, zusammengefalteten Stofftaschentuch wischte er über die Oberschenkel, als ob er unsichtbare Tabakkrümel, Asche oder Staub beseitigen wollte. Er nestelte mit leichten Gesten an der Hemdbrust und klopfte mit so beweglichen Fingern auf den Knien herum, als hätte er sein Leben am Klavier verbracht. Aber er war kein Pianist, sondern nur Masseur, ein Handaufleger und Wunderheiler. In Aleppo hatte er einen gutenten Ruf genossen, er galt als ein Meister, als Künstler, manche sagten sogar Magier, seine Praxis war überlaufen, sogar Ausländer kamen zu ihm und die Herren und Damen des innersten Machtzirkels der Stadt durfte er von ihren Leiden erlösen.
Er saß allein in seiner Reihe mit den blau-rot-gemusterten Sitzen, mit einer Fußstütze, einem aufklappbaren Tischchen und einem Netz an der Rückseite des vorderen Sitzes, ein Luxus, wie er ihn noch in keinem Bus erlebt hatte. Die ehemaligen Aschenbecher in den Stuhllehnen waren verklebt. Aha, es hatte auch hier andere Zeiten für Raucher gegeben. Aus den Lautsprechern drang leise Musik, vielleicht klang so Wiener Walzer. Ihm gefiel es, und es überkam ihn kurz ein behagliches Gefühl. So ging also Reisen, so sollte es immer sein.

Die Kleidersachen hatte er heute am Morgen am Hauptbahnhof bekommen. „Train of Hope“ (ToH) nannten die Leute ihre Hilfsaktion. Er kam so früh aus der Caritas-Notunterkunft zum ToH, dass die Schlange vor dem Zelt mit Männerbekleidung noch relativ kurz war. Er staunte, so vieles war da, häufte sich in Stößen und Schachteln und quollen aus den Regalen, von allem genug und in großer Auswahl, vor allem jugendliche Sportbekleidung, Anoraks, Schuhzeug, Wäsche, Mützen, Rucksäcke und Taschen aller Art. Als erstes hatte er seinen Plastiksack von Billa-Budapest gegen einen kleinen, aber seriösen Koffer eingetauscht. Es entsprach ihm, David Al-Bahri, dem Juden aus Aleppo, dass er sich für diesen altmodischen Anzug entschied, dazu ein blass-blaugestreiftes Hemd und eine orientalisch gemusterte Seidenkrawatte. Wahrscheinlich war sie an allem Schuld, erinnerte sie ihn doch Ornamente der Umayyaden-Moschee, oder waren es die Stoffe im Basar oder ein Mosaikfries der frühbyzantinischen Helena- Kathedrale von Aleppo? In seinem Leben hatte er so etwas noch nicht getragen, aber ihm kamen diese fremden Kleidungsstücke auf geheimnisvolle Weise vertraut vor. Irgendwann, irgendwo wollte er jemanden fragen, was die in die Krägen und Stulpen eingenähten Bändchen "KNIZE" bedeuteten. Dem Anzug entsprechendes Schuhzeug hatte er im Gedränge nicht finden können. Deswegen trug er jetzt schwarz-weiße, etwas zu große Sportschuhe an den Füßen mit dem eigenartig arabisch klingenden Namen Adi-das. Er genierte sich, wenn er an seinen Beinen hinuntersah, wie sich die weiten Hosenröhren in mehreren Lagen über den Turnschuhen wölbten. Er war in löchrigen Straßenschuhen und mit abgelaufenen Badeschlapfen in Wien angekommen, lächerlich, wofür sollte er sich noch schämen.

Im spärlich besetzten Weinviertel-Bus merkt niemand, wie er zu kämpfen hat, dass er nicht rauchen darf, wie ihm der Schweiß auf dem Gesicht steht und über Hals und Nacken läuft. Er öffnet das Hemd und wischt mit dem Taschentuch über die Brust, nimmt die Seidenkrawatte ab, kaut an einem Zündholz und schiebt es mit der Zunge ständig von einem Mundwinkel in den anderen. Für einen starken Raucher wie ihn war das Rauchverbot eine Qual, noch eine zu den vielen der Flucht. Aber David Al-Bahri ist ein geduldiger Fahrgast. Und ein aufmerksamer. Als sie aus der Stadt heraus waren, stiegen immer wieder Menschen vorne ein und hinten aus, sehr diszipliniert, langsam und immer in Reih und Glied, fast alle Passagiere waren älter als er, alt oder sehr alt, aber rosig und gut gelaunt. Wo war die Jugend dieses Landes, wunderte er sich. Zwei Frauen in der Reihe vor ihm hatten bunte Taschen mit Einkäufen bei sich, redeten laut, lachten und schwatzten wie Junge, offenbar miteinander vertraut, obwohl sie an verschiedenen Stationen eingestiegen waren. Alle sprachen den Fahrer an, als wäre er ein Familienmitglied. Am rechten Vordersitz unterhielt sich ein schwerhöriger Mann lautstark und gestenreich mit sich selbst und legte immer wieder die linke Hand ans Ohr, als wollte er sich selbst zuhören. An einem Halt - er konnte die Ortstafel nicht so schnell entziffern - beobachtete er eine Szene: Der Fahrer bekam ein zwitscherndes Lautsignal, ähnlich einem Vogelruf, da er stieg aus, kam zur Mitteltür und klappte eine Plattform so exakt aus dem Boden des Busses, dass eine einzige Rollstuhlfahrerin, grotesk deformiert an Gesicht und Körper, fast ebenerdig hereinrollen konnte; sie war in Begleitung einer jungen Frau, die den Rollstuhl an dem vorgesehenen Platz in einer leeren Ecke mit einem Riemen befestigte. Gab es irgend etwas, was sie nicht vorhersahen? So viel Aufwand für eine einzige Invalide. Nach nur zwei Stationen stiegen sie genauso wieder aus.
An einem anderen Ort – Ober- oder Unter-Hollabrunn? schwang sich ein lauter Schwarm von bunten Teenagern in den Bus, Schüler und Schülerinnen mit Rucksäcken. Sie besetzten die hinterste Sitzreihe und wälzten sich so hungrig und durstig über ihre elektronischen Geräte, als seien sie gerade mit dem letzten Wasserschluck der Wüste entkommen. In einem größeren Ort mit zwei Kirchtürmen stiegen sie genauso lärmend wieder aus.
    1. Ein junger Mann, wahrscheinlich noch keine 25, mit einem nagelneuen Seesack über der Schulter an Bord stieg zu. Der schaute sich suchend um, ging in den hinteren Teil des Busses und setzte sich genau hinter David. Die lächelnden Augen in dem jungenhaften, rotbackigen Gesicht grüßten ihn bei Vorbeigehen stumm, und David nickte zurück. Als sich der junge Mann auf seinem Platz eingerichtet hatte, griff David neben sich und wandte sich mit dem geöffneten Sack nach hinten. „Please, take some“. Der junge Mann errötete tief und sagte: “Danke, thank you, very nice, sehr freundlich. My name is August.“ „David, very pleased“

Der Junge schämte sich ein bisschen dafür, dass er nichts nichts anzubieten hatte und wurde noch röter. Aber er fuhr ja nur 85 Kilometer bis nach Hause.
Am Bahnhof hatten David ein paar freundliche Jugendliche zwei gigantische, in Stanniol verpackte Veggy-Burger, zwei Apfeltaschen, zwei Bananen und zwei Wasserflaschen „Vöslauer mild“ überreicht. Sie trugen den Proviant in großen Plastikboxen durch die Menge und lächelten jeden an. Bitte, please, bitte please und das noch in Arabisch und rund 20 östlichen Sprachen, die an den Palstik-Aufklebern ihrer Westen angeschrieben waren. David kam aus dem Staunen nicht heraus. Wer waren diese Jugendlichen, warum waren sie nicht in der Schule oder in der Arbeit? Was war das hier überhaupt, wohin war er geraten?
Bahnhofshallen und ein Vorplatz, Fahnen mit OeBB, auf einem Container eine Regenbogenfahne, über anderen Containern wehte eine mit dem Roten Kreuz und „Arbeitersameriterbund“, ein schon etwas vergilbten Transparent mit der Aufschrift „Refugees WELCOME“, daneben ein großes, weißes Zelt mit aufgedruckten Äskulap-Nattern, „First Aid“ und vielen in Arabisch geschriebenen Zetteln mit hingekritzelten Notizen und Telefonnummern, davor einfache Holzbänke, alle vollbesetzt mit Wartenden. Die meisten hatten offenbar Fußprobleme, sah er in einem schnellen Blick. David war gut davongekommen, er musste damals, vor einem Jahr, nur auf seiner ersten griechischen Insel 30 Kilometer gehen, um in die Hauptstadt Mitilini zu kommen und auf eine Fähre nach Athen gebracht zu werden. Aber er war ja schon vor einem Jahr aus Aleppo aufgebrochen und hatte in Athen bei Nikolas gearbeitet, gehofft, dass er seine Familie zumindest bis Athen nachholen könnte. Die Neuankömmlinge dieses Sommers haben es viel schwerer als er.
Auf allen seinen Stationen hatte er so etwas noch nicht erlebt. An einem Stand in dieser Bahnhofhalle hing ein Plakat mit der Aufschrift LAWYER, umringt von Zetteln in arabischen und einem Dutzend anderer asiatischer Schriftzeichen. SIKH HELP AUSTRIA in knallgelben Westen fiel ihm auf, die langbärtigen, turbanbekrönten Männer in Gelb fielen ihm auf. Sie verteilten Reis und Linsensuppe aus Hundertlitertöpfen an der Essensausgabe. Andere hatten Aufkleber auf ihren roten Helferjacken, „Legal advice“ las er. Dieser Kiosk war noch dichter belagert als die Tische bei der Essensausgabe und denen mit Hygiene-Artikeln. David bekam Rasierzeug, Zahnpaste und Bürste, alles fabriksneu verpackt, ein ebensolches Paket mit
T-Shirts und Socken. Am lautesten und engsten war es bei der Handy-Ladestation in einer Ecke beim Eingang. Jeder wollte nur seine Verbindungen herstellen, dorthin wohin sie wollten und woher sie kamen. David hatte kein Handy und kein Iphone. Als er am Stand der LAWERS an die Reihe kam, stellte sich heraus, dass er eine Erstzuweisung entweder nach Traiskirchen oder nach Laa an der Thaya bekommen könnte; er entschied sich für das unaussprechliche Laaanderthaya. Im Treck von Athen nach Wien hatte er aufgeschnappt, dass in Austria Traiskirchen zu vermeiden sei, es sei ein Lager, ein Camp. Camp klang nicht gut in Davids Ohren. Dort sei es nicht gut, und von dort komme man schwer wieder weg, lautete das Gerücht. Hinter dem Tisch der laywers saß eine ältere Frau, zu der er sagte: „Please, Laanderthaya, please.“ Sie gratulierte ihm mit einer vorgestreckten Hand, die er nicht annehmen konnte, aber sie lachte und überreichte ihm ihm ein dickes, abgenutztes rotes Buch in der Größe eines Ziegels, das Cassels-Wörterbuch – Classical Oxford Dictionary/ Deutsch-Englisch/Englisch-Deutsch. „It could be useful to you, maybee.“ Und lächelte. David nahm den Schatz an sich, er war glücklich, wollte er doch so schnell und so gut wie möglich die Landessprache erlernen, damit er sich selbst erhalten und seine Familie nachholen konnte. Die österreichischen lawyers erklärten ihm, wie das ging, der Arabisch-Dolmetsch, ein junger Syrer, der neben Deutsch auch noch Englisch, Kurdisch und Türkisch sprach, übersetzte so, dass er meinte, alles verstanden zu haben. Er würde in einem „Seniorenheim“ der Caritas ein Zimmer bekommen, als Pfleger und vielleicht später in seinem Beruf arbeiten dürfen, aber außer einem kleinen Taschengeld noch nichts verdienen, solange er keinen positiven Asylbescheid hatte. Dass das schnell ging, darüber hatten sie ihm keine großen Hoffnungen gemacht. Warten, Monate, vielleicht Jahre, aber für einen Juden aus Syrien wahrscheinlich mit positivem Ausgang - „ eine gute Bleibeperspektive“ hatte er. Was sie ihm in der Kürze nicht vollständig erklären konnten, war der Begriff „Seniorenresidenz, Altenheim“. Bei ihm zu Hause blieben die Alten in der Familie, wurden von allen gemeinsam gepflegt bis zum Ende. Niemand wurde in ein Heim oder eine Residenz gebracht. Wohin sollte er also kommen, was sollte er dort machen, und was war eine „Caritas“? Oh Gott, wie viel hatte er noch zu lernen. Aber David dachte an seine Wunderheilerhände, breitete sie vor sich im Schoß aus und schaute zuversichtlich auf sie herab. Hatte er seine Gabe mitnehmen können in die unbekannte Zukunft?

Der junge Mann griff in den angebotenen Sack mit dem goldenen M und nahm sich von allem die Hälfte, nur die Banane ließ er liegen. Er strahlte ihn mit einem Dankedanke, thank you! an. So aßen und tranken sie schweigend, bis der Junge seine Finger an den Jeans abwischte, und der Fremde Hosenbeine, Lippen und Fingerspitzen mit dem Taschentuch abtupfte. David schaute aus dem Fenster und hätte gerne gewusst, was das für Pflanzen waren, lange Reihen von blattreichen, niedrigen Büschen mit weißen und rosa-bläulichen Blüten. Schnell blätterte er im Wörterbuch und deutete mit dem Kinn auf die Felder hinaus: „What is that?“ Der junge Mann strengte seine Augen an und verstand nicht. Was wollte der Mann, da war nichts, Felder eben. „Tobacco?“ versuchte es David, der leidenschaftliche Raucher. Jetzt fiel der Groschen, und der junge Mann lachte herzlich: “Nein, nein, Tabak wächst hier nicht, nicht bei uns! Das sind Erdäpfel, potatoes, patates, pommes.“
Der junge Mann konnte ein wenig Englisch und einige Bruchstücke von anderen Sprachen. Er hatte Kellner gelernt und war mehrere Jahre auf einem deutschen Frachtschiff als Küchengehilfe zur See gefahren. Sein Kollegen waren meist Asiaten, und ihre gemeinsame Sprache war das kitchen-english. Jetzt kehrte er nach Hause zurück, in seine Heimat Gnadendorf bei Laa an der Thaya, zu seiner schwangeren Schwester, und der Schwager konnte vielleicht Hilfe auf dem kleinen Hof gebrauchen.
Es war auch sein Heimatort gewesen, solange die Eltern gelebt hatten. Schön ist es dort, ruhig und viel Grün, es gab viele potatoes dort und trees, Bäume, viel Wald. Er würde sich im Dorf ein hübsches, tüchtiges Mädchen suchen, heiraten, eine Familie gründen und ein Haus bauen. Oder doch in umgekehrter Reihenfolge? Da musste David so herzlich lachen, dass sich sein Gesicht völlig veränderte. Der Junge lachte mit, obwohl der Spaß auf seine Kosten ging. Dann spitzte er die Lippen, als ob er pfeifen wollte, schnalzte mit der Zunge und schmatzte mit den Lippen. Sie verstanden einander und lachten gemeinsam mit zurückgeworfenen Köpfen. Dann beugte er sich zwischen den Sitzen wieder zu dem Mann vor und machte noch einen Versuch, diesmal mit tiefer, verstellter Stimme, um höflich zu wirken: „Sie sind Ausländer – Araber, Muslim?“ David zuckte zusammen. Ja und nein, wie sollte er es diesem Provinzler erklären – ein syrischer Jude aus Aleppo, das war schon in Syrien schwer zu verstehen. Und was und wer war er überhaupt, seit er ohne seine Familie auf der Flucht war? Ein Syrer, aber kein Araber, seit zwei Jahren auf einer Odyssee und nun auf dem Weg zu einem Caritas-Heim Sancta Monica in Laa an der Thaya, Waldviertel, Niederösterreich. Sicher kein Araber, aber was für ein Jude war er, der noch nie in einer Synagoge war und dessen Vorfahren aus Marrakesch stammten?
Der junge Mann seufzte, gab aber noch nicht auf, sondern versuchte eine doch ziemlich peinliche Frage zu formulieren: „Wo sind Sie daheim?“ Auch diese Frage war schwer zu beantworten. David stach mit dem Zeigefinger auf seine Brust und sagte: “I am from Syria, I am jewish, I am a masseur, now in Laa- an- der- Thaya“ - das ging ihm schon ganz gut von den Lippen. Es entstand eine längere Pause, und beide Männer wandten ihre Blicke aus dem Fenster auf die vorüberziehende Landschaft, auf saubere Dörfer, Kirchtürme, Hügel, Wälder und grüne Wiesen, soweit das Auge reichte, und die weiß-rosa-lila blühenden Stauden. Es gab auch noch andere Felder, Getreide und Pflanzen mit runden Kapselköpfen, die kannte er aus seiner Heimat, aber er wunderte sich, dass Mohn hier abwechselnd mit potatoes wuchs.
Er wird diesem freundlichen, neugierigen Provinzjungen jetzt noch nicht erklären können, was es bedeutete, kein gewöhnlicher Reisender zu sein so wie er, auf einem Handelsschiff in der Ostsee oder wie jetzt auf dem Weg zur Schwester in Langschlag.
Er war ein Flüchtling auf Reisen. Dass seine Reise nicht nach Stunden gemessen wurde, sondern nach Jahren, nicht nach Hunderten von Kilometern, sondern nach Tausenden. Die Reise des Flüchtlings glich eher einem Geisteszustand als einem Reisestadium, das sich mit Landkarten und Fahrplänen errechnen lässt. Laa an der Thaya-Caritas. Und wieder seine Marotte, die Worte umzudrehen, Satirac, um vielleicht eine Sprachverwandtschaft zu finden. „Do you have family? Where are they?“ Der Junge steckte wieder den Kopf zwischen die Sitze nach vorne. David atmete tief durch, als müsste er einen Anlauf nehmen, setzte seine Hornbrille ab und wischte mit dem Taschentuch daran herum. Er nickte: „Yes, over there, back in Turkey“ und holte das Foto aus der Tasche. Der Junge fand seine Frau und die Töchter nice, very nice. David betrachtete lange das Bild und steckte es wieder zurück. Das hätte er nicht tun sollen, sein Herz schien doppelt so schnell zu schlagen und wollte das Jackett sprengen, so sehr regte es ihn auf, direkt in ihre Gesichter zu sehen. Als sei sie ein Rettungsring, hielt er sich mit beiden Händen an der Wasserflasche fest, dass die Sehnen an den Händen hervortraten. Mehrmals schlug er die Beine in den schwarzen Knize-Hosen übereinander, zupfte die Bügelfalte sorgfältig zurecht und betrachtete seine lächerlichen schwarz-weißen Sportschuhe.
Seine Frau Rikhiel und die kleine Daliah würden früher oder später nachkommen, darüber sorgte er sich weniger. Aber seine Große, die jetzt zwanzigjährige Myrnah, war schon vor drei Jahren weggegangen, sie wollte nach Israel und Schauspielerin werden. Ich bin Jüdin, hatte sie selbstbewusst gesagt, sie müssen mich reinlassen. Ja, hübsch und klug war Myrnah auch noch, aber von allem zu viel, für diese Zeiten. Diese alten, düsteren Sorgen. Zuletzt hatte er von ihr in einem abgebrochenen Telefonat aus Kairo gehört. Später viele Anrufversuche mit Krachen und Rauschen, ohne dass eine Verbindung zustande kam. Er wollte glauben , dass diese schon aus Israel kamen. Wann und wo würden sie noch einmal zu Viert zusammenkommen? Er würde mit Rikhiel und Daliah seinen Weg machen, ob in Laa an der Thaya oder anderswo, wenn ihn seine Zauberhände nicht im Stich ließen, wenn sie auch hier ihre Kraft entfalten würden so wie in seinem früheren Leben.
Der Junge hinter ihm schien zufrieden zu sein, er hatte sich in seinem Sitz zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Wenn der Bus rüttelte oder in eine Kurve ging, fiel ihm der Kopf auf die Brust. Sie hatten zusammen gegessen, getrunken, geredet und gelacht. David breitete das Taschentuch zwischen die Kopfstütze und das Fenster und spürte, wie sich zum ersten Mal seine Beine entspannten und unter dem Vordersitz ausstreckten. Als der Bus an der Endstation hielt, legte er dem schlafenden Jungen die Hand auf die Schulter, und sie stiegen gemeinsam aus.
Veronika Seyr, 6.10. 15

0676/664 16 08