eines
Telefonanrufes auf Angela Merkels Handy, aufgezeichnet von Veronika
Seyr
(Sperrfrist
bis 1.11.15)
„Hallo,
Frau Merkel, sind Sie dran? Frau Bundeskanzlerin, können Sie mich
hören? Ich rufe aus dem Paradies an, ja, ich bin im Himmel.
Ich
bins, Aylan. Erinnern Sie sich an das Bild, das um die Welt ging, auf
Instagram, ein Star, das meist geklickte Bild in diesem Jahr. Das
bin ich, die Kriegsikone ohne Gesicht.
Guten
Tag, Frau Bundeskanzlerin, wie geht es Ihnen?
Kürzlich
habe Sie bei Erdogan auf diesem irrwitzigen Goldthron, der sogar
dem Sultan Abdülaziz zu protzig war, sitzen gesehen, wie er
Sie zum Aufstehen und einem hand shake für seine Kameras genötigt
hat. Kann nicht sehr angenehm gewesen sein, so säuerlich wie Sie
dreingeschaut haben.
Sie
kennen diesen Aylan nicht persönlich, sondern wahrscheinlich nur
dieses Foto von mir, wie ich mit dem Gesicht nach unten, mit einem
roten T-Shirt und einer kurzen, blauen Hose am Strand von Bodrum
liege. Viele Ihrer Landsleute kennen Bodrum als Touristenort mit
schönen Stränden. Irgendwo dort auf der missglückten Überfahrt
nach Griechenland bin ich ertrunken, tot angeschwemmt wie Treibgut,
das Meer hat mich ausgespuckt wie eine Alge oder Plastikflasche, so
wie meine Mutter und Schwester, Opfer von Assad, des IS und der
kriminellen Schlepper.
Frau
Merkel, ich kenne Sie auch nicht persönlich und habe kein Bild von
Ihnen, weil ich es leider nicht bis nach Alemania geschafft habe.
Ich hätte so gerne ein Selfie mit Ihnen gemacht, wie Sie es vielen
anderen Flüchtlingen gewährt haben.
Mein
Vater hat mich, meine Mama und meine kleine Schwester in Kobane
begraben. So kleine Särge, so wenig Stoff in den niedrigen Gruben,
aber immerhin eine würdige Feier. Es gibt so viele hastige
Bestattungen derzeit, da ist man schon froh, wenn man überhaupt
eine bekommt mit ein paar Trauernden rundherum.
Ich
wünsche mir, dass Sie mit mir so sprechen wie mit dem
Palästinenser-Mädchen Reem in Rostock und wie bei Anne Will in der
ARD.
Heute,
genau zu Allerheiligen, am 40. Tag nach meinem Tod - es war der 23.
September 2015 - hat sich gemäß unserem Glauben meine Seele vom
Körper gelöst und ist in das Paradies aufgestiegen. Daher kann ich
auch mit Ihnen telefonieren, reden und denken wie ein Erwachsener,
auch Sprachprobleme haben wir nicht, und ich muss nicht leibhaftig
in Germany sein. Weil ich jetzt im Himmel bin, habe ich den
Überblick über die Ereignisse, und es ist auch kein Hindernis, dass
ich nur drei Jahre gelebt und im türkischen Sand gestorben bin,
anstatt in einer deutscher Kita zu landen, wie es uns Papa
versprochen hat.
Wir
hatten so sehr gehofft, dass wir in Ihrem Land, unter Ihren
Landsleuten, eine bessere, sichere Zukunft bekommen würden, ohne
Krieg, Angst, Hunger und Kälte. Mein Vater war in Kobane
Automechaniker und besaß eine eigene Werkstätte. Aber er hätte
auch als Zimmermann oder Maurer arbeiten können, denn er hat unser
Haus zusammen mit Brüdern und Schwägern selbst gebaut und bei deren
Häusern geholfen. Mein Vater hätte auch als Taxifahrer oder
Gärtner sein Brot verdienen können. Unsere Familie ist nicht von
der legendären Sorte der Ärzte oder Ingenieure, aber wir hätten
uns sicher in Alemania nützlich gemacht, wir hätten Deutsch
gelernt, meine Schwester und ich in der Kita und später in der
Schule, meine Eltern in Kursen und in der Arbeit, weil auch meine
Mama in Syrien als Krankenschwester gearbeitet hat. Was hätten wir
in den Kitas alles lernen können, meine Schwester und ich, und
welchen Spaß wir haben hätten können. Welche Freude und
Genugtuung bei Ihnen, uns aufwachsen zu sehen als Beispiele
gelungener Integration.
Ich
bin vor drei Jahren im türkischen Lager bei Suruc geboren, meine
Schwester noch in Kobane, wir haben nie eine Kita gesehen – in
anderen Ländern sagt man „Kindergarten“, ein schönes Wort für
einen Ort, wie für Blumen, wo die Kinder wachsen, gepflegt werden
und duften dürfen wie Orangen und Jasmin.
Nur mein Vater hat überlebt, hat uns Drei in der Heimaterde begraben
und ist vorerst ins Lager von Suruc zurückgekehrt. Ich sage
bewusst – vorerst. Er wird den Weg nach Deutschland sicher noch
einmal wagen, weil wir drei das so wollen und weil es unsere Heimat
Syrien nicht mehr gibt. Weil wir drei die Flucht nicht überlebt
haben, muss Papa es noch einmal versuchen, das ist unser Vermächtnis.
Vielleicht gelingt es ihm sogar ohne Schlepper, wenn er in der Türkei
einen Antrag abgeben kann.
Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben dafür ein schönes Wort, das Sie
früher schon oft benützen, auch für ganz andere, entfernte Dinge,
wie zum Beispiel 20.10 oder die Energiewende: ALTERNATIVLOS. Wir
sind auch alternativlos. Aber das wissen Sie wahrscheinlich alles.
Alles? Wenn nicht, wird mein Papa einmal bei Ihnen in Berlin
vorbeikommen und Ihnen das selbst erzählen.
Ich, von meiner himmlischen Warte aus, möchte Sie versichern, dass
Ihnen bestätigen, bisher alles richtig gemacht zu haben. Aber darum
geht es gar nicht, sicherlich werden Sie und andere Politiker Fehler
machen. Aber Sie haben als erste erkannt und gesagt, dass Sie den
Irrsinn des Krieges nicht länger akzeptieren. Die Frage ist: Haben
wir ein Recht zu existieren oder nicht? Lassen Sie sich nicht
entmutigen und irritieren von bayrischen Kläffern oder
ostdeutschen Rassisten, von Zündlern, Hassparolenschreiern,
Neidern, Krakeelern und anderweitigen Ansbeinpinklern. Jetzt laufen
manche schon mit Galgen durch das schöne Dresden, auf denen Sie und
Gabriel baumeln sollen. So eine Schandeschandeschande! Wo waren denn
diese Leute selbst noch vor wenigen Jahren und wo wären sie, wenn es
den Soli- ein modernes Stummelwort für das gute, alte „Teilen“ -
nicht gegeben hätte? Was ich nicht verstehe – aber das kommt
sicher nur daher, dass ich erst kurz im Paradies bin und eure
innerdeutschen Probleme nicht nachvollvollziehen kann: Warum, um
Herrgottswillen, können Sie bei all Ihrer Macht dieses entsetzliche
Schauspiel nicht abstellen? Das sieht so ekelhaft braun aus und
stinkt zum Himmel, dass sogar uns Seligen da heroben schlecht
wird. Ab in die Müllabfuhr!
Oft
werden Sie „Mutti Merkel“ genannt, und das ist nicht immer
freundlich gemeint. Das stört mich schon lange, weil es nicht
richtig ist. Sie sind eine Politikerin, aber in unserer
traditionellen Sicht sind Sie Mutter, Vater, Onkel, Tante, Bruder,
Schwester, Großeltern, Schwäger und überhaupt alle, die etwas
sehr Wichtiges und das einzig Richtige verstanden haben: Dass es
Menschen gibt, die eine Zeitlang Hilfe und Schutz brauchen, bis sie
wieder auf eigenen Beinen stehen und sich selbst helfen können.
Genau wie wir jetzt. Nicht mehr und weniger als eine Chance brauchen
wir, alles andere machen wir selbst, natürlich gemeinsam mit unseren
neuen Nachbarn.
Frau
Merkel, Sie haben mehr verstanden als Ihre Parteifreunde mit dem
großen C im Namen. Erst neulich haben Sie diese Banausen daran
erinnern müssen, wie man das C zu übersetzen hat. Es hat mich
amüsiert, wie Sie ihnen ein bisschen die Ohren lang gezogen haben.
Jetzt sind die ein bisschen kleinlauter geworden, das ist gut, weil
es geht nur miteinander, nicht gegeneinander. Wir schaffen das,
aber nicht alleine, Ihre Worte.
Ich
weiß nicht, ob das alles nur politisches Kalkül ist und auch
nicht, wie christlich Sie selbst sind, das ist Privatsache. Aber ich
weiß, dass Sie aus einer Pastorenfamilie stammen, das Evangelium
und die Geschichten von Jesus wahrscheinlich gut in Erinnerung haben.
Die Botschaft und den Auftrag: „Was Ihr dem Geringsten meiner
Brüder tut, das habt Ihr mir getan“. (Mat, 25) Nur so als
Beispiel. „Ich war im Gefängnis, und Ihr seid zu mir gekommen“.
( auch Matth, 25.) Oder die Legende vom barmherzigen Samariter und
vom Bischof Martin, der seinen Mantel zerschnitten und die Hälfte
einem nackten Bettler geschenkt hat. Ihr habt in euren Büchern
viele schöne Geschichten zur Idee des Teilens und der
Barmherzigkeit. Aber wie lebt ihr sie? Und wie können sie in der
Politik umgesetzt werden. Das heilige Experiment der Jesuiten ist ja
voll in die Hosen gegangen. Oder religiöse Sekten oder Scientology.
So nicht.
Ich
bin der Letzte, der Sie über Ihre Religion belehren will, sondern
ich suche nur das Gemeinsame. Ich, Aylan, der ehemalige Flüchtling,
jetzt im Paradies, kann es vergleichen: Das ist keine Theorie, denn
teilen kann man immer, mit allen und alles, (vielleicht bis auf die
Ausnahme eines Paares Schuhe, denn mit nur einem Schuh kann keiner
von beiden laufen). Ich frage mich, wenn neben dem einen nackten
Bettler noch ein anderer aufgetaucht wäre, was hätte Martin getan?
Frau Merkel, ich weiß nicht, ob Sie in die Kirche gehen, ob Sie
beten, ich will Sie auf keinen Fall beleidigen, ich will überhaupt
niemanden beleidigen, sondern Ihnen nur von meinen Erfahrungen und
Erkenntnissen erzählen, nichts beschönigen und vertuschen.
Man
hat mich um mein Leben betrogen und versucht, mich mit einem
Firlefanz von Paradies abzuspeisen. Jeder Mensch weiß, dass er den
unvermeidlichen Tod nicht abschaffen kann, aber es ist das größte
Skandalon der Existenz, sich mit ihm zu arrangieren, dass wir uns
über das Monströse und Unfassbare verlogen hinwegtrösten lassen.
Alle Religionen sagen uns, dass wir uns mit dem Tod versöhnen
sollen, sie wollen uns bestechen, anstatt dass wir ihn hassen, ihn
verfolgen wie in einer Vendetta und uns stattdessen trotzig rüsten
für das Leben.
Jeder Tod ist ein Skandal, unser eigener der allergrößte. Noch
größer ist der im Krieg.
Das
ist mein j`accuse, das ich vom Himmel auf die Erde
herunterschleudere. Mehr kann ich nicht mehr tun, wenn Sie mein Foto
aus Bodrum gesehen haben, wie ich da mit dem Kopf im Sand liege. Ich
für meine Person wollte nicht ins Paradies, ich wollte mit meiner
Schwester in eine Kita, eine Vorschule, eine Volksschule und aufs
Gymnasium, weil ich so ein legendärer syrischer Arzt werden wollte
oder vielleicht doch ein Dichter, ein Filmregisseur?
Wer
weiß, vielleicht wäre ich ja nur ein Pizza-Austräger geworden.
Ich
lege gegen dieses Paradies Protest ein, so laut ich kann. Es geht
nichts über das Leben. Und wer heute nicht mit seinem Gott hadert,
vor allem dem islamischen, nicht an ihm zweifelt, ihn nicht kritisch
befragt, der liebt seine Religion nicht. Erst kürzlich hat der
steirische Bischof Krautwaschl gesagt, dass er keine Antwort hat auf
die Frage, warum Gott all dieses Leid zulässt. Wenn er einmal
gestorben ist, möchte er seinen lieben Gott schon danach fragen.
Denn das ist die Frage aller Fragen, die Gott abschafft.
Frau Merkel, das oberste Gebot in der Bibel lautet doch immer noch:
Liebe deinen Nächsten WIE DICH SELBST. Ich weiß, dass es bei
Ihnen göttliche und menschliche Gesetze gibt und dass im Gegensatz
zum Koran bei Ihnen die menschlichen, staatlichen über den
göttlichen stehen und für alle gleich gelten. Aber wenn schon immer
vom christlichen Abendland und vom Humanismus die Rede ist, muss ich
annehmen, dass die Grundlage Ihrer Gesellschaftsordnung, wo die
Menschenrechte, die Gleichberechtigung und die Demokratie bilden,
also doch die göttlichen Gesetze, die nach 2000 oder mehr Jahren in
die allgemeinmenschlichen eingegangen sind. Vielleicht habe ich
noch nicht alles richtig verstanden, vieles müssen wir noch lernen,
wenn wir bei Euch leben wollen. Wir werden uns bemühen, zu
verstehen, wie die Gesellschaft bei Ihnen tickt, dass es ein
Grundgesetz gibt, das für alle gleich gilt und auch über dem uns
heiligen Buch steht. Aber heilige Bücher haben die anderen ja auch.
Zugegeben, kein einfacher Gedanke für uns mit diesem Allah. Naja,
die Juden und die Christen haben es auch nicht leichter, ganz zu
schweigen von den Buddhisten mit ihren 6000 Göttern. Gar erst die
Tibeter, bei denen ist jeder Berg, jeder Grashalm und jeder Wind ein
Gott ist, vielleicht auch noch der letzte Furz in der Jurte auf 4000
Metern. Und erst die Tschuktschen am Ochotskischen Meer, jede Robbe
ein Gott. Von den indianischen Gottheiten will ich gar nicht erst
anfangen. Das ist in der Wissenschaft noch zu ungesichert, obwohl man
schon viele Tempel ausgegraben hat
Ich
denke, gerade wir Syrer haben gute Chancen, Ärzte hin oder her,
leben wir doch schon jahrhundertelang mit anderen Religionen in
Frieden zusammen. Das sollte uns auch gelingen, wenn wir in einem
Gastland in der Minderheit sind. In Aleppo ist eine der ältesten
byzantinischen Kathedralen aus etwa 450 n.u.Z. Helena, der Mutter
Konstantins I., geweiht, die Elias-Kirche ist fast so alt und
mehrere stehen auf griechischen und römischen Ruinen. Ich will
keineswegs rechthaberisch sein oder Geschichte und Kultur
aufrechnen“.
Merkel
atmet laut durch und wirft ein: „Aylan, mein Lieber, hör mal,
jetzt gehst du aber zu weit. Du schmeißt viele Äpfel und Birnen
durcheinander, wir haben hier ein Realproblem zu bewältigen und
können jetzt keine kulturhistorischen Debatten führen, so
interessant sie auch sein möö…..“
Aylan
unterbricht, noch immer etwas atemlos, weil er doch gerade den Kopf
aus dem Sand gesteckt hat:
„Entschuldigen Sie, Frau Bundeskanzlerin, klar, Realpolitik, das
verstehe ich, aber eines möchte ich zu bedenken geben, dass Sie
vielleicht nicht alles mitbedacht haben, als Sie die Grenzen
öffneten, mit Bundeskanzler Faymann Telefnierten und erklärten:
„Wir schaffen das.“ Wie und mit wem? Es geht doch nicht allein.
Wir sind sehr, sehr viele und bringen unsere Probleme mit.
Wir kommen nicht in Ihre Länder wie eine Völkerwanderung, auch
wenn dieses Wort immer wieder fälschlich verwendet wird, eine
Völkerwanderung wie die vom 4. bis 6. Jahrhundert, als der
Vormarsch der Mongolen eine reale Wanderbewegung von vielen Völkern
zwischen der Mongolei bis nach Rom ausgelöst hat, oder wie anno
dazumal vor eintausend Jahren die Kreuzritter, diese jungen
Tunichtgute, angestachelt von den Mönchen und fahrenden Predigern
(Internet-Anwerbung, Videos, Versprechungen), denen auf ihren
Ländereien und in den Klöstern so langweilig war, dass sie nach
Palästina aufbrachen, um angeblich das Heilige Land, die Lebens- und
Leidensstätten Christi von den Ungläubigen zu befreien. Sogar einen
Kreuzzug der Kinder haben sie organisiert, von denen die meisten -
angeblich an die 30 000 - schon auf dem Weg in den Osten
elendiglich umkamen. Das Zentrum der Propaganda und Requirierung zum
christlichen Dschihad war damals das französische Kloster Cluny,
vergleichbar vielleicht mit dem heutigen Internet, das in ganz Europa
die Jugend anwirbt für einen Heiligen Krieg. Keine Videobotschaften,
sondern Predigten von den Kanzeln aller Kirchen, Boten, Herolde, die
auf Pferden durch ganz Europa jagten und die Jugend verführten,
kauften, mit falschen Versprechungen anwarben. Gut durchdacht
gesteuert von einer gut vernetzten Zentrale, dem Vatikan. Vielleicht
waren die jungen Ritter damals so testosterongesteuert wie es jetzt
den jungen Männern nachgesagt wird, dass sie so nebenbei mordend
und brandschatzend halb Europa und alles zwischen Köln und Byzanz
ausraubten und brandschatzten, das reiche, goldene Byzanz ganz
besonders. Das wissen Sie, die Kreuzzüge waren der Anfang vom Ende.
Aus. Basta mit Ostrom und dem ganzen Balkan.
Griechenland, Nordafrika, Rumänien, Bulgarien, Albanien, Serbien,
Bosnien, Ungarn, zweimal vor Wien, das war knapp.
Saladin und Nathan mit seiner christlichen Ziehtochter Recha haben
ihr Drama in Jerusalem, stammen aber aus Aleppo, diese schöne,
aufklärerische Utopie von 1779. Wenn auch der Dichter ein Deutscher
ist, ist doch in dem Stück etwas vom Geist und der Kultur des Nahen
Ostens zu spüren. Solche Weisen mit ihrer Ringparabel könnten wir
jetzt gebrauchen, wir fordern mehr Lessing, Lessing als
Pflichtlektüre und zum Nachsitzen für alle Europa-Politiker,
dreimal die Woche mit Abfragen, Strafen und Noten. Lessing war kein
Politiker, ich weiß, aber vielleicht können Sie ein bisschen
Lessing sein?
Ganz
leise sage ich, Aylan, nebenbei, Lessing hat seine Figuren aus
unserer Geschichte abgekupfert, aber das ist ja großartig,
das können wir gerade wieder machen. Nicht zufällig war die erste
Inszenierung nach Kriegsende 1945 am Deutschen Theater Berlin „Nathan
der Weise“. Wenn mein Einfluss reicht, werde ich mich dafür
einsetzen, dass auch in Damaskus
als
erstes Friedensstück der Nathan aufgeführt wird. „Unter stummer
Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang“ - lautet
Lessings letzte Regieanweisung.
Aber vielleicht haben wir mit der Geschichte von Pater Jacques
Mourad aus dem syrischen Kloster Mar Elian bei Qaryatein, die Navid
Kermani in seiner Dankesrede erzählte, einen neuzeitlichen Nathan.
Sie haben sicher seine Rede in der Paulskirche gehört. Pater Jacques
gehört dem katholischen Orden Mar Musa an, der sich der Begegnung
mit dem Islam und der Liebe zu den Muslimen verschrieben hat. Klingt
aberwitzig und utopisch – eine christlich-muslimische Liebe, die
bis vor kurzem noch in Syrien Wirklichkeit war und sicher noch immer
ist in den Herzen vieler Syrer, eine endzeitliche Versöhnung. Pater
Jacques wurde am 21. Mai 2015 von IS-Terroristen entführt. „Wir
Christen gehören zu Syrien, auch wenn das die Fundamentalisten weder
hier noch in Europa hören wollen. Die arabische Kultur ist unsere
Kultur“, hat er zu Kermani gesagt. Drei Monate später stellte der
IS Bilder ins Internet, auf denen man sieht, wie er das
eintausendsiebenhundert Jahre alte Kloster mit Bulldozern
niederwalzte. 200 Christen, darunter Pater Jacques, wurden entführt.
Erst fünf Tage vor dem Friedenspreis erhielt Kermani die Nachricht,
dass muslimische Einwohner von Qaryatein Pater Jacques befreit
hatten, aber nur er. Soweit, so schön, Aber die Aufforderung
in einem säkularen Raum an ein säkulares Publikum, sich zum Beten
zu erheben und er selbst die Hände zur Adorationsgeste formte,
empfand ich als unerträglichen Übergriff genau in der Richtung, was
er am orthodoxen Islam kritisiert. Kermani ist sicher ein würdiger
Friedenspreisträger, aber er liebt die Romantik zu sehr und
verwischt historische Fakten. Sicher hat ein einer begrenzten
Dankesrede nicht alles Platz. In der Sache Saudi Arabien stimme ich
mit ihm überein. Die Bewegung der Mutazilin, die schon im 11.
Jahrhundert eine Interpretation des Koran als allegorischen Text
vertraten, wurden unterdrückt. Der ökonomischen Stagnation vom 12.
Jahrhundert an folgte ein kompletter Niedergang ab dem 16.
Jahrhundert. Produktive Arbeit hat im Islam keinen Stellenwert, gar
nicht zu reden vom Despotismus, der in den islamischen Ländern bis
heute mindestens so große Folgen hat wie die relativ kurze Periode
westlicher Kolonisation. Bereits im 18. Jahrhundert war Al Wahab eine
Reaktion auf die vollständige Zurückgebliebenheit gegenüber dem
Westen.
Frau Bundeskanzlerin, ich kann jetzt am Handy nicht so ausführlich
sein, man hört mir beim Telefonieren zu, und ich soll nicht
blasphemisch und kritisch sein, sondern nur glücklich jubilieren.
Aber wie soll das gehen, wenn ich mit meiner Familie jetzt nur noch
eine Zahl in der Statistik bin. Wenn ich wütender bin als andere und
die Dinge krasser sehe, liegt das am Schicksal meiner Familie.
Wissen
Sie, das Paradies ist ein eigenartiger Ort, hier halten sich sehr
unterschiedliche Typen auf. Ich bin noch nicht durch, aber Stalin,
Hitler, Dr. Mengele, Eichmann, Pinochet, Mao, Idi Amin, mehrere Kims
und den kleinen belgischen König habe ich schon erspäht.
Milosevic
und Tudjman sitzen in einer Ecke und spielen Karten. Sie klatschen
sie auf den Tisch und rufen abwechselnd: Bosnien mir, Herzogewina
mir, die Krajina mir, Slawonien mir! Bei der Wojwodina geraten sie
sich in die Haare und schmeißen die Karten auf den Tisch.
Uns
ist bewusst, dass Sie nicht alles selbst machen können, das tun ja
bei Ihnen und auch in anderen Ländern Ihre Organisationen und
Millionen von Menschen freiwillig. Sie haben ein Volk, das
dieselbe wichtige Sache ernstnimmt - das Teilen. Wir wissen auch, wie
viele Polizisten, Soldaten, Feuerwehrleute, Beamte, Rotkreuzhelfer,
Ärzte, Krankenschwestern und gewöhnliche Bürger am Werk sind.
Das ist doch schon eine ziemlich starke Bewegung- mein Vorschlag
wäre, sie nach St. Martin SMB zu benennen. Sie als
Bundeskanzlerin, als Politikerin, haben die Möglichkeit eröffnet,
dass auch wir einen Platz finden, wo wir in Frieden leben können.
Politik ist doch die Ermöglichung des Machbaren, so habe ich es
zumindest verstanden. Mehr brauchen wir nicht, wir wollen nur die
Chance bekommen, dass wir uns später selbst helfen können. Wir
wären nie und nimmer von Kobane weggegangen, wenn uns nicht die
Bomben und das tägliche Sterben dazu gezwungen hätten. Sie, Frau
Merkel, haben das verstanden und reden viel darüber, damit das
immer mehr Menschen kapieren. Wenn 80 in einem Raum sind, kann man
den 81. doch nicht wegschicken, oder? Jeder Mensch kann einmal in
eine Situation kommen, dass er Hilfe braucht. Mein Vater sagte immer,
Frau Merkel versteht uns, weil sie auch in einer Diktatur und einem
Unrechtsstaat aufgewachsen ist, aus dem viele Menschen geflohen
und manche dabei auch gestorben sind. Sie haben die Ostsee
durchschwommen, Tunnel und Ballons gebaut, sie haben Zäune
eingerissen, Botschaften gestürmt und Mauern umgelegt, damit sie in
Freiheit leben können. Meine Familie ist leider nur bis Bodrum
gekommen. Ich muss schon sagen, der Orban-Zaun da oben weiter
nördlich ist eine Mordssache! Ist das nicht genau dort, wo das
Europa-Frühstück stattgefunden hat, wo Mock und Horn gemeinsam mit
der Zange den Eisernen Vorhang geknackt haben? Seltsam, das ist doch
noch gar nicht so lange her, in paradiesischen Dimensionen kürzer
als ein Atemzug. Diese osteuropäischen Staaten haben manches nicht
richtig verstanden: Sie sind einer Solidargemeinschaft beigetreten,
verweigern sich aber dem Prinzip der Solidarität und melken sie
die anderen Mitglieder wie eine Kuh.
Ich
bin noch zu kurz im Paradies, um beurteilen zu können, ob das alles
miteinander zusammenhängt und vergleichbar ist. Es schwirren hier
viele Verschwörungstheorien herum, und es gibt auch im
multireligiösen Paradies Radikale und Fundamentalisten. Die einen
sagen, das alles passiert, weil Putin mit den vielen Flüchtlingen
Europa zerstören will. Die Europäer zerstreiten sich wegen uns und
alles fliegt in die Luft, jeder gegen jeden – so wie bei uns. So
wie ich das sehe, führt Putin jetzt einen 3-Fronten-Krieg; erstens
gegen Europa, zweitens „hilft“ er mit seinen Bombern dem
syrischen Volk und dem Diktator Assad, dessentwegen die meisten von
uns fliehen, an der Macht zu bleiben. Die dritte Front kann man in
Russland selbst erkennen. Seit Juni 2011 haben 3852 Syrer
„zeitweiliges Asyl“ beantragt, 1585 haben es erhalten. Echtes
Asyl haben 816 Personen erhalten, davon rund 300 Sicherheitskräfte
des ehemaligen ukrainischen Diktators Viktor Janukowitsch. Und eine
eine neue Fluchtroute hat sich vor kurzem bei Murmansk in der Arktis
aufgetan: weil man die Grenze in Storskog nach Norwegen nicht zu Fuß
überschreiten darf, haben es schon 1100 Syrer mit dem Fahrrad
versucht. Aber die allermeisten Flüchtlinge werden vom
Inlandsgeheimdienst festgesetzt und nach Syrien!!! (ein sicheres
Drittland???) abgeschoben. Und das in diesem riesigen Land, das sich
immer seines Sechstel der Erdoberfläche gerühmt hat und das eh zu
zwei Drittel unbewohnt ist. Marine Le Pen, Putins Freundin, ist
besonders originell, wenn sie in Madame Merkel selbst die
Hauptverantwortliche für die Massenflucht sieht. Madame Le Pen,
schon etwas vom Gesetz von Ursache und Wirkung gehört? Andere
sehen die Schuld bei den Amerikanern, weil sie die Kriege in
Afghanistan und Irak geführt haben, weil sie unser Öl wollen und
uns versklaven. Die in historischen Dimensionen Denkenden meinen,
dass es vor allem die Engländer und Franzosen mit ihrem
Kolonialismus waren, die uns in die Katastrophe geführt haben. Klar,
die große Anti-Israel-Fraktion ist auch da, hässlich und
lautstark. Neulich ließ einer Ihrer Parteikollegen aufhorchen mit
der Prognose, dass mit jedem Flüchtling mehr in Deutschland Marine
Le Pen vom FN, der HC Strache und die AfD einen Wähler mehr und
Pegida einen Demonstranten mehr kriegt, ein Flüchtlingsheim mehr
brennt und ein Politiker mehr attackiert wird. Sogar die toleranten
Niederländer, Dänen und Schweden sind von der nationalistischen
Pest schon angesteckt und schicken uns zum Teufel. Das klingt
lustiger als es ist, denn die Flucht ist die Hölle und der Tod auch,
das kann ich schwören, Frau Bundeskanzlerin!
Viele
meinen, dass wir Muslime selbst schuld sind, weil wir uns immer nur
streiten, einander vertreiben und umbringen wegen irgendeines Neffen
oder Enkels, weil sich die einen geißeln wollen und die anderen
lieber steinigen. Ich habe sogar schon gehört, wir gehen nach
Europa, um es zum Islam zu bekehren, mit Feuer und Schwert, wie wir
es immer schon getan haben. Mit Verlaub, das ist reiner Unsinn. Warum
nehmen sie dann alle ihre Babys und Kinder mit, ihre alten Opas,
Krüppel im Rollstuhl und mit Krücken, die schwangeren Frauen und
all die jungen Burschen allein? Eine Bekehrungs- oder Eroberungsarmee
sieht anders aus. Aber ich versichere Sie, es ist nicht der Islam
als Religion, der Schuld trägt an der Misere in der muslimischen
Welt, sondern die politischen Rahmenbedingungen in den arabischen
Ländern, der Mangel an Demokratie, Arbeitsmarkt und Bildung. Der
Islam zerstört sich selbst. Seit ich im Paradies bin, nehme ich eine
andere Perspektive ein, die ich Ihnen ans Herz legen will. Die jungen
syrischen Männer, die nach Europa kommen, wollen nicht kämpfen, sie
fliehen vor Gewalt und Blutvergießen. Es ist ein großer
Protestmarsch gegen den Wahnsinn, dass ein Regime seit vier Jahren
sein eigenes Volk bekämpft und ausrottet. Das sind Friedensmärsche!
Schauen Sie einmal aus diesem Blickwinkel drauf. Wenn Sie oder
andere das nicht glauben, dann sehen Sie sich noch einmal das Foto
von mir in Bodrum an, sehen Sie in die verängstigten, erschöpften,
ausgemergelten Gesichter der Flüchtlinge auf ihren Elendsmärschen,
der Friedenssucher, die alles aufgegeben, alles hinter sich gelassen,
ihr Leben riskiert haben, um in Europa Schutz zu suchen, in Europa
als eine Verheißung. Sie klopfen an die Türen einer Utopie.
Wir
werden auch nicht wie Prometheus die Welt in Brand stecken im Protest
gegen die Götter.
Sie
sprechen mit so vielen Menschen, Frau Merkel, eines sollten Sie
wissen und weitergeben: Viele Menschen in diesen Elendszügen sind
keine Kriegsflüchtlinge. Wenn Sie uns Vertriebenen helfen wollen,
sollten Sie wirklich Unterschiede machen, wer da aller kommt. Ich
habe selbst nur einen Teil dieses Weges mitgemacht, aber von meiner
himmlischen Warte aus krieg ich alles mit. Im serbischen TV B-92 habe
ich einen Polizisten bei Horgos in die Kamera sagen gehört, dass
sie an der ungarischen Grenze Berge von zerrissenen afghanischen,
indischen, pakistanischen, tadschikischen, usbekischen, iranischen
chinesischen und sogar mongolischen Papieren gefunden haben. Von
Flüchtlingen hat er gehört: „Sollen die Westeuropäer doch selbst
herausfinden, was wir sind und woher wir kommen“. Ihre „
Wir-schaffen-das-Begrüßungskultur“ in Ehren, aber inzwischen hat
sie sich das bis in den letzten Slum von Karatschi und ins hinterste
Bergtal am Hindukusch und in Uigurien herumgesprochen. Und wer
irgendwie kann, zieht mit.
Gestern
stand am Wiener Westbahnhof eine riesige Gruppe von Inderinnen in
einer Wolke von Seidensaris. Passen Sie auf, viele sehen Europa nur
als dumme Melkkuh. Glauben Sie mir, ich habe von hier heroben den
Überblick. Und uns wird zurecht nachgesagt, dass wir in die Seelen
der Lebenden schauen können. Die FAZ schrieb kürzlich, wenn die
Deutschen über Flüchtlinge nachdenken, denken sie über sich selbst
nach. Und ihre großen Nachbarn sagen: Wenn die Franzosen oder
Engländer über Flüchtlinge nachdenken, denken sie über
Deutschland nach. Wer ist dieser mad man in der Mitte des Kontinents?
Dieses Irrlicht. Vom Hippie-Staat ist schon die Rede, von einem
besinnungslosen Gutmenschentum, von der entfesselten Barmherzigkeit,
vor der sich die anderen fürchten müssen wie vor dem Gegenteil.
Auch
angesichts der deutschen Vergangenheit weckt das intensiven Argwohn,
da muss man nicht bei Pegida mitmarschieren. Von alter Schuld
reinwaschen und sich mit frischen Kräften verjüngen? Also, passen
Sie auf, welches Bild Sie abgeben, denn dass die Deutschen auf lange
Sicht nur das Gute wollen, ohne Berechnung, trauen ihnen nicht einmal
die gutmütigsten Nachbarn zu. Und erst recht misstrauisch sind die
Amerikaner. In der New York Times stand neulich, dass die Behandlung
der Migranten Erinnerungen an Europas dunkelste Stunden wach. Jediot
Acharonot titelte „Und wieder die Bahnsteige“. Frau Merkel, Sie
sind mir nicht böse, wenn ich Sie auf einen Fehler aufmerksam mache,
der Ihnen – vielen anderen auch - unterlaufen ist. Die
Verwechslung von Menschen- und Bürgerrechten.In Ihrer Sommer-PK
beharrten Sie auf den „universellen Bürgerrechten, die mit der
europäischen Geschichte bislang eng verbunden waren“.
Entschuldigung, die gibt es nicht, sie stellen einen inneren
Widerspruch dar. Universalität ist eine Eigenschaft aller Menschen,
wohingegen die exklusive Gruppe der Bürger die Flüchtlinge nicht
einschließt.
Ihre
Redenschreiber müssen noch mehr darüber nachdenken – nicht nur
diese – was eigentlich Menschenrechte sind. Sie wurden noch nie, in
einem vernünftigen, modernen Sinn ausreichend begründet. Nicht
durch die Declaration of Rights noch durch die Declaration des Droits
de l` et du Citoyen Das ist ein Dilemma, ein Problem, für das es nur
eine himmlische, eine metaphysische Lösung gibt, die dann nur
post-metaphysisch sein kann. Das ist die Verlegenheit, die Europa
gerade erlebt. Glauben Sie nicht, dass das ein akademisches,
philosophisches Problem ist, nein ein ganz praktisches, ohne dessen
Lösung es keine Lösung der Flüchtlingsfrage gibt. Mehr möchte
ich jetzt dazu nicht sagen, vielleicht beim nächsten Telefonat. Sie
und Ihre Mitarbeiter sollten sich dazu aber inzwischen wieder einmal
Kant zu Gemüte führen, „Zum ewigen Frieden“, von 1795, kann
nicht schaden.
Buntes Volk treibt sich im Paradies herum, in der Dichterecke sitzen
Vergil, Petrarca und Dante, die Inferno -Spezialisten. Sie murmeln
immer nur im Dreiklang: Pestpestpest, Rattenrattenratten, werfen
einander Verse an den Kopf, die sich nicht mehr reimen. An einem
Katzentisch, Robert Schindel, der Dichter aus Wien. Er nimmt noch
immer die Worte beim Kopf und an der Kehle, würgt sie, schleudert
sie durch die Sprachen und Geschichten, geht mit ihnen herum durch
die Städte. Ich weiß nicht, was da noch alles herauskommt.
Vielleicht
doch noch ein Talent? Ein guttar Mänsch?
Der
Mord - ,Totschlag – und Katastrophenfachmann Shakespeare läuft
nachdenklich herum, hält seinen Skalp in der Hand und murmelt vor
sich hin: „Sein, oder Nichtsein, das ist hier die Frage.“ Milton
ist nervös und sucht sein Paradise lost, Klopstock den Messias und
Beethoven seine 10. Symphonie. Das Scheusal Abraham, der auf Gottes
Befehl ohne Wimpernzucken bereit war, seinen Sohn zu ermorden –
opfern nennt man das in der Religion - ist natürlich auch im
Paradies. Das war heftig, selbst Gott hätte das nicht erwartet
und war so schockiert, dass er einen Engel zur Rettung Isaaks
schickte. Das große Proletariat des Jenseits stellen die Soldaten
dar – Myriaden von Jungengesichtern unter Stahlhelmen und
Bärenfellmützen, Turbanen und Dreispitzen. Statistisch gesehen muss
das Paradies völlig mit Kindern bevölkert sein. Eine furchtbare
Gegend voller gewickelter Bündel, Säuglinge, Kleinkinder mit
spindelholzdürren Beinchen und hervorquellenden Bäuche oder die
blauen, ertrunkenen so wie ich in Bodrum gefunden wurde.
Frau
Bundeskanzlerin, Sie sind eine Naturwissenschafterin und haben die
Gesetze des Lebens studiert, Chemie und Biologie. Wenn man die
schrecklichen Götter außen vor lässt, dann sind wir Menschen doch
auch nur Natur und werden nur zu Menschen in der Liebe, in der
Gesellschaft, in der wir Platz haben, das Beste in uns zu entwickeln.
Jede Pflanze sucht doch auch nur einen Platz an der Sonne, jedes
Tier, sei es eine Ameise oder ein Lemming, will nur eines –
überleben. Eine Wespe taumelt tausend Mal gegen die Fensterscheibe
und sucht einen Weg ins Freie. So sind wir auch. Das ist das Prinzip
des Lebens. Ist das wirklich so schwer zu verstehen? Denn wir sind
nicht einfach „Kriegsflüchtlinge“, sondern „Lebenssucher“.
Wir wollen doch wie alle in einer Welt leben, in der man nicht
überleben muss.
Eines muss ich Ihnen noch etwas gestehen, obwohl ich jetzt im
Paradies bin und friedlich sein sollte. Ich habe eine „mordsmächtige“
Wut im Bauch auf unseren Gott, der das alles zulässt, der unserem
Elend zuschaut und meint, das sei naturgegeben oder eine Prüfung,
die uns zu besseren Muslimen macht. Übrigens hat dieser Rache- und
Besserungsgedanke auch in Ihrer Kultur eine lange Tradition. Ich
finde, in ihrer Mordlust unterscheiden sich die Häuptlinge, ob
Allah, Jahwe oder Ihr Gott, überhaupt nicht. Das sind alles
Massenmörder, die sich im Blut der Menschen wälzen und sich über
unseren Tod freuen. Davon nähren sie sich und werden immer fetter
und mächtiger, je mehr Leute an diesen Hokuspokus glauben. Dafür
versprechen sie uns dann das ewige Leben, eine Seelenwanderung,
Auferstehung am Jüngsten Tag, eine unsterbliche Seele und ähnlichen
Unfug. Denken Sie an Cortez, den Spanier und Montezuma, den
Azteken. Interessant ist, dass die Azteken, die ihren Göttern
Gefangene opferten, denen sie bei lebendigem Leib das Herz
herausschnitten, zutiefst schockiert über den spanischen Brauch
waren, ihre Missetäter auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Rituale
der Religionen, die Tag für Tag nach Menschenblut verlangten. Die
aztekischen Götter forderten es, damit am nächsten Tag die Sonne
wieder aufgehen soll, der Gott der Spanier fordert es zur Ausdehnung
der Macht und als Ausweis für das ewige Leben.
Grausamkeit – nur eine Frage der Perspektive? Die griechischen
Schicksalsgöttinnen sitzen kichernd an ihren Webstühlen, während
sie sich Kriege, Hungersnöte, Überschwemmungen und Krankheiten
ausdenken und mit Millionen von Grausamkeiten das Geschehen in Gang
halten. Warum haben sie sich ausgerechnet für eine kleine,
unbedeutende Familie aus Kobane interessiert?
Ha, das muss der liebende und gerechte Gott gewesen sein, der
allmächtige, der alles wissende, alles planende, alles sehende, wie
großartig er unsere Flucht hingekriegt hat. Dabei haben wir die
ganze Zeit zu ihm gebetet und um seine Hilfe gefleht. So sieht sein
Dank aus! Und die toten Pilger auf der Mekka-Hadsch- vielleicht
waren es 2000, 4000 oder noch mehr- die waren doch auch gerade beim
Beten, Opfern und Verehren, als sie zertrampelt wurden oder
erstickten. Vor kurzem ist mir eine Notiz im Wiener Kurier
aufgefallen: Da wurde ein Mann nach einem Stromausfall in einem Lift
gefangen und erst nach Stunden befreit. Aus lauter Dankbarkeit ging
er zu einem Marterl auf den Himmel (sic!), einen Hügel im Westen
Wiens, kniete nieder, verrichtete seine Dankesgebete und wurde von
der umstürzenden Kapelle erschlagen. Das nenn` ich mir einen lieben
Gott! So einprinzipienloser Kerl! Oder doch alles nur Schicksal?
Was ist mit der Determination? Vorbestimmung – ja aber von wem? Wer
hat meinen Tod geplant, den meiner Mutter und meiner Schwester und
all der anderen 3000 Flüchtlinge heuer im Mittelmeer? Wenn Gott
alles weiß, alles sieht und alles kann, wenn er angeblich ein guter
Gott ist, warum schickt er nicht ein paar Drohnen, die uns
auskundschaften, wenn wir in Not geraten, schickt ein paar
Rettungsinseln, ein paar Schiffe? Und dann stehen sie da und zählen
die Toten. Eines habe ich verstanden: ein Toter und noch einer sind
nicht zwei. Und wenn sie 11 763 gezählt haben, machen sie weiter,
bis die Million voll ist. Schon allein mit dem Zählen fängt es an.
Auch die friedlichste Religion ist immer noch eine
Tötungsmaschinerie. Auch im Vatikan lagern Maschinenpistolen. Und in
der Zahl der toten Feinde Israels zeigt sich die Stärke seines
Gottes. Jeremias ist dafür der große Prophet. Menschen haben
manchmal Gedanken, die sie besser nicht hätten. So passiert das im
Leben. Aber davon bin ich ja jetzt befreit und darf grenzenlos
denken.
Frau
Merkel, ich habe noch etwas verstanden, seit ich im Paradies bin,
vielleicht können Sie etwas damit anfangen: Kriege werden um ihrer
selbst willen geführt. Solange man sich das nicht zugibt, werden
sie nie wirklich zu bekämpfen sein. Anlass und Ziel sind bloße
Zutaten, rhetorische Dekorationen, um den Selbstzweck zu verstecken.
Der
Gedanke ist äußerst unangenehm; wir erwarten unbedingt, dass es
bei einem Mord um eine Frau oder zumindest eine goldene Uhr geht;
bei einem Krieg um eine Insel oder um Öl. Wenn wir den Satz ernst
nehmen - Kriege werden um ihrer selbst willen geführt - beginnt die
ganze Weltgeschichte vor unseren Augen zu tanzen. Und da sind wir
ganz schnell bei der Frage nach der Macht: Wer befiehlt das Töten?
Haben Sie sich das schon einmal gefragt?
Wenn
Sie die Frage im religiösen Sinn nicht beantworten wollen, weil das
Privatsache ist, bin ich einverstanden. Aber im politische Sinn
müssen Sie und die anderen Politiker antworten, indem Sie die
Mächte hinter dem Krieg benennen und den Massenmord vor der
europäischen Haustür beenden. Ihre Reise nach Istanbul finde ich
etwas befremdlich, steht doch neben dem Iran, Saudi Arabien, den
Golfstaaten und Russland auch die Türkei hinter dem Krieg von Assad
und IS. Ob das ein Fehler war, wird die Geschichte erweisen, aber
immerhin haben Sie gezeigt, dass Sie den Irrsinn des Mordens nicht
länger akzeptieren.
Wenn
Sie jetzt erschrocken sind und mehr erfahren wollen, gebe ich Ihnen
aus meiner elyseischen Zusammenschau einen Buchtipp: lesen Sie wieder
einmal – oder zum ersten Mal - Elias Canettis „Masse und Macht“
aus dem Jahr 1960, sehr aktuell, aufschlussreich und nützlich,
dort und auch in seinem Buch gegen den Tod steht das so wortwörtlich.
Wahrscheinlich
haben Sie „Masse und Macht“ in der DDR nicht zu lesen bekommen.
Ich finde es wichtiger, vor allem für Sie als Politikerin, wichtiger
als der überschätzte „Il principe“ von Machiavelli. „Man
muss die Kraft haben, dem Krieg in Maul und Schlund zu fahren und ihm
erbarmungslos die Eingeweide aus dem Leib ziehen.“
Ich
hoffe, ich habe Sie jetzt nicht mit den Canetti-Zitaten
erschreckt, bleiben Sie mutig auf Ihrem Weg, auch wenn es Sie
vielleicht die Kanzlerschaft kostet. Ich muss jetzt schon schmunzeln
bei dem Gedanken, wie das aussieht, wenn Sie den Friedensnobelpreis
bekommen, aber Ihr Amt verlieren. Wenn Sie erlauben, werde ich Sie
wieder anrufen oder, wie gesagt, kommt mein Vater bei Ihnen vorbei.
Er denkt wie ich und Sie: „Wir schaffen das.“ Seien Sie sicher,
dass wir von hier oben genau auf Sie schauen. Und ob es mein Papa
bis Berlin schafft.
Schade,
ich muss jetzt Schluss machen, der Märtyrer-Chor mit seinen Posaunen
und Zimbeln ruft zum allgemeinen Gotteslob, außerdem ist mein Akku
fast leer. Dabei hätte ich Ihnen noch so viel zu sagen. Wenn Sie
mir all das nicht glauben, weil es so unglaublich klingt, kann ich
Ihnen von meinem Ipod die Bilder schicken, da ist nichts getürkt und
getrickst, nicht einmal verpixelt habe ich die Gesichter, alles echt.
Trotzdem danke, dass Sie mir so lange zugehört haben. Ich habe es
genossen, mit Ihnen zu sprechen.
Wiederhören,
tschüühüüss, ich ruf bei Gelegenheit wieder an, darf ich, ok?
Danke
Ihnen und liebe Grüße aus dem Paradies!
Das
war der Aylan
Aufzeichnung:
Veronika Seyr
1040
Wien
Wiedner
Hauptstr. 39/IV/34
00431(0)
676/664 16 08