Am 27. August 2015 stieg der Mann in den weißen Bus mit drei grünen
Rebstöcken an der Seite, bezahlte beim Fahrer 15€: „Laa- an-
der- Thaya, please“, ging die Reihen entlang und wählte einen
der hinteren Plätze. Den kleinen Koffer legte er ins Gepäckfach,
auf den leeren Sitz neben sich stellte er die Papiertasche mit den
goldenen Bögen einer großen Kette. Hinter ihm lagen viele große
und kleine Städte, und seine Reise aus dem Osten in den Norden
dauerte nun schon mehr als zwei Jahre. Er war an vielen Orten
gestrandet, länger oder kürzer. Von Aleppo weg ein Jahr in Beirut
und Istanbul, dann eine griechische Insel, in Athen ein ganzes Jahr
Tellerwäscher bei Nikolas, dem Tavernenwirt, der wollte wirklich
helfen, obwohl es ihm selbst gar nicht gut ging. Später kurz
Skopje, Belgrad und Budapest, die ganze schreckliche Balkanroute
samt ungarischem Mörderdraht, schließlich Hauptbahnhof Wien. Die
Hauptstadt von Austria ist etwas größer als Aleppo einmal war.
Vienna war ihm in der alten Heimat schon ein Begriff gewesen,
weil er etwas von Sigmund Freud gelesen hatte. Laaanderthaya kannte
er natürlich nicht, und er wiederholte dieses schwierige Wort immer
wieder – sollte das vielleicht einmal seine neue Heimat werden? Er
versuchte, Assoziationen zu seiner Muttersprache zu finden:
La-andertaya. Er drehte das Wort um: Al-redna Ayat, das klang ja
fast Arabisch, freute sich der Mann und lächelte auf den
Notizzettel im Schoß hinunter: Wien-Hauptbahnhof- U1 bis
Stephansplatz- U3- Landstraße-Weinviertel- Bus Laa- an- der-
Thaya- Kirche- Pfarrhof-Seniorenheim-Caritas. Hau -ptb- ahnhof, das
ging gar nicht – ptb, das war unmöglich auszusprechen, genauso
wie das -ldv- und das -pf-, für ihn waren das keine erkennbaren
Laute und seine Sprechwerkzeuge sträubten sich dagegen wie gegen
eine tote Maus. Am Hauptbahnhof hatte eine junge Frau mit Kopftuch,
eine „helping hand“- so stand es in mehreren Sprachen auf dem
Klebeschild ihrer grünen Weste - schon ein bisschen mit ihm geübt.
Die offizielle Zuweisung der Caritas an das „Seniorenheim“ trug
er tief in der linken Innentasche des neuen Sakkos, dort, wo er auch
das Foto seiner Frau und der zwei Töchter aufbewahrte. Kein
aktuelles Foto, weil seine ältere Tochter schon früher aus Aleppo
weggegangen war.
Der
Syrer, ein Mann von etwa 50 Jahren, mittelgroß und hager, mit
Hornbrille, blauen Augen und Halbglatze, ist auf seinen vielen
Stationen seit Aleppo ein geduldiger Reisender geworden. Es war
überhaupt seine erste Reise außerhalb Syriens, sogar in der
Hauptstadt Damaskus ist er nur einmal gewesen. Und auch diese Reise
hätte er nicht angetreten, wenn ihn der Krieg nicht dazu
gezwungen hätte. Davor war es ihm und seiner Familie gut gegangen
in Aleppo, seiner Frau Rikhiel und den beiden Töchtern Daliah und
Myrnah. Schweiß trat auf seine Stirn, als ihn die Erinnerungen ohne
Schutz überfielen. Er stöhnte lautlos, senkte den Kopf tief über
die Knie und rieb sich die Schläfen, um die Bilder zu vertreiben.
Es war nicht heiß im Bus, aber er zog das Jackett aus und hängte
es über die Rückenlehne. Die schwarze Hose war ihm viel zu
weit und zu lang, er zupfte immer wieder vorsorglich die scharfe
Bügelfalte hoch, wenn er seine Beinstellung änderte. Es war ein
feiner, glatter, angenehm kühler Stoff. Mit einem weißen,
zusammengefalteten Stofftaschentuch wischte er über die
Oberschenkel, als ob er unsichtbare Tabakkrümel, Asche oder Staub
beseitigen wollte. Er nestelte mit leichten Gesten an der
Hemdbrust und klopfte mit so beweglichen Fingern auf den Knien herum,
als hätte er sein Leben am Klavier verbracht. Aber er war kein
Pianist, sondern nur Masseur, ein Handaufleger und Wunderheiler. In
Aleppo hatte er einen gutenten Ruf genossen, er galt als ein
Meister, als Künstler, manche sagten sogar Magier, seine Praxis
war überlaufen, sogar Ausländer kamen zu ihm und die Herren und
Damen des innersten Machtzirkels der Stadt durfte er von ihren Leiden
erlösen.
Er
saß allein in seiner Reihe mit den blau-rot-gemusterten Sitzen, mit
einer Fußstütze, einem aufklappbaren Tischchen und einem Netz an
der Rückseite des vorderen Sitzes, ein Luxus, wie er ihn noch in
keinem Bus erlebt hatte. Die ehemaligen Aschenbecher in den
Stuhllehnen waren verklebt. Aha, es hatte auch hier andere Zeiten für
Raucher gegeben. Aus den Lautsprechern drang leise Musik, vielleicht
klang so Wiener Walzer. Ihm gefiel es, und es überkam ihn kurz ein
behagliches Gefühl. So ging also Reisen, so sollte es immer sein.
Die
Kleidersachen hatte er heute am Morgen am Hauptbahnhof bekommen.
„Train of Hope“ (ToH) nannten die Leute ihre Hilfsaktion. Er kam
so früh aus der Caritas-Notunterkunft zum ToH, dass die Schlange vor
dem Zelt mit Männerbekleidung noch relativ kurz war. Er staunte, so
vieles war da, häufte sich in Stößen und Schachteln und quollen
aus den Regalen, von allem genug und in großer Auswahl, vor allem
jugendliche Sportbekleidung, Anoraks, Schuhzeug, Wäsche, Mützen,
Rucksäcke und Taschen aller Art. Als erstes hatte er seinen
Plastiksack von Billa-Budapest gegen einen kleinen, aber seriösen
Koffer eingetauscht. Es entsprach ihm, David Al-Bahri, dem Juden aus
Aleppo, dass er sich für diesen altmodischen Anzug entschied, dazu
ein blass-blaugestreiftes Hemd und eine orientalisch gemusterte
Seidenkrawatte. Wahrscheinlich war sie an allem Schuld, erinnerte sie
ihn doch Ornamente der Umayyaden-Moschee, oder waren es die Stoffe
im Basar oder ein Mosaikfries der frühbyzantinischen Helena-
Kathedrale von Aleppo? In seinem Leben hatte er so etwas noch
nicht getragen, aber ihm kamen diese fremden Kleidungsstücke auf
geheimnisvolle Weise vertraut vor. Irgendwann, irgendwo wollte er
jemanden fragen, was die in die Krägen und Stulpen eingenähten
Bändchen "KNIZE" bedeuteten. Dem Anzug entsprechendes
Schuhzeug hatte er im Gedränge nicht finden können. Deswegen
trug er jetzt schwarz-weiße, etwas zu große Sportschuhe an den
Füßen mit dem eigenartig arabisch klingenden Namen Adi-das. Er
genierte sich, wenn er an seinen Beinen hinuntersah, wie sich die
weiten Hosenröhren in mehreren Lagen über den Turnschuhen wölbten.
Er war in löchrigen Straßenschuhen und mit abgelaufenen
Badeschlapfen in Wien angekommen, lächerlich, wofür sollte er
sich noch schämen.
Im
spärlich besetzten Weinviertel-Bus merkt niemand, wie er zu kämpfen
hat, dass er nicht rauchen darf, wie ihm der Schweiß auf dem
Gesicht steht und über Hals und Nacken läuft. Er öffnet das
Hemd und wischt mit dem Taschentuch über die Brust, nimmt die
Seidenkrawatte ab, kaut an einem Zündholz und schiebt es mit der
Zunge ständig von einem Mundwinkel in den anderen. Für einen
starken Raucher wie ihn war das Rauchverbot eine Qual, noch eine zu
den vielen der Flucht. Aber David Al-Bahri ist ein geduldiger
Fahrgast. Und ein aufmerksamer. Als sie aus der Stadt heraus waren,
stiegen immer wieder Menschen vorne ein und hinten aus, sehr
diszipliniert, langsam und immer in Reih und Glied, fast alle
Passagiere waren älter als er, alt oder sehr alt, aber rosig und
gut gelaunt. Wo war die Jugend dieses Landes, wunderte er sich. Zwei
Frauen in der Reihe vor ihm hatten bunte Taschen mit Einkäufen bei
sich, redeten laut, lachten und schwatzten wie Junge, offenbar
miteinander vertraut, obwohl sie an verschiedenen Stationen
eingestiegen waren. Alle sprachen den Fahrer an, als wäre er ein
Familienmitglied. Am rechten Vordersitz unterhielt sich ein
schwerhöriger Mann lautstark und gestenreich mit sich selbst und
legte immer wieder die linke Hand ans Ohr, als wollte er sich selbst
zuhören. An einem Halt - er konnte die Ortstafel nicht so schnell
entziffern - beobachtete er eine Szene: Der Fahrer bekam ein
zwitscherndes Lautsignal, ähnlich einem Vogelruf, da er stieg
aus, kam zur Mitteltür und klappte eine Plattform so exakt aus
dem Boden des Busses, dass eine einzige Rollstuhlfahrerin, grotesk
deformiert an Gesicht und Körper, fast ebenerdig hereinrollen
konnte; sie war in Begleitung einer jungen Frau, die den Rollstuhl an
dem vorgesehenen Platz in einer leeren Ecke mit einem Riemen
befestigte. Gab es irgend etwas, was sie nicht vorhersahen? So
viel Aufwand für eine einzige Invalide. Nach nur zwei Stationen
stiegen sie genauso wieder aus.
An einem anderen Ort – Ober- oder Unter-Hollabrunn? schwang sich
ein lauter Schwarm von bunten Teenagern in den Bus, Schüler und
Schülerinnen mit Rucksäcken. Sie besetzten die hinterste Sitzreihe
und wälzten sich so hungrig und durstig über ihre elektronischen
Geräte, als seien sie gerade mit dem letzten Wasserschluck der Wüste
entkommen. In einem größeren Ort mit zwei Kirchtürmen stiegen sie
genauso lärmend wieder aus.
-
Ein junger Mann, wahrscheinlich noch keine 25, mit einem nagelneuen Seesack über der Schulter an Bord stieg zu. Der schaute sich suchend um, ging in den hinteren Teil des Busses und setzte sich genau hinter David. Die lächelnden Augen in dem jungenhaften, rotbackigen Gesicht grüßten ihn bei Vorbeigehen stumm, und David nickte zurück. Als sich der junge Mann auf seinem Platz eingerichtet hatte, griff David neben sich und wandte sich mit dem geöffneten Sack nach hinten. „Please, take some“. Der junge Mann errötete tief und sagte: “Danke, thank you, very nice, sehr freundlich. My name is August.“ „David, very pleased“
Der Junge schämte sich ein bisschen dafür, dass er nichts nichts
anzubieten hatte und wurde noch röter. Aber er fuhr ja nur 85
Kilometer bis nach Hause.
Am Bahnhof hatten David ein paar freundliche Jugendliche zwei
gigantische, in Stanniol verpackte Veggy-Burger, zwei Apfeltaschen,
zwei Bananen und zwei Wasserflaschen „Vöslauer mild“
überreicht. Sie trugen den Proviant in großen Plastikboxen durch
die Menge und lächelten jeden an. Bitte, please, bitte please und
das noch in Arabisch und rund 20 östlichen Sprachen, die an den
Palstik-Aufklebern ihrer Westen angeschrieben waren. David kam aus
dem Staunen nicht heraus. Wer waren diese Jugendlichen, warum
waren sie nicht in der Schule oder in der Arbeit? Was war das hier
überhaupt, wohin war er geraten?
Bahnhofshallen und ein Vorplatz, Fahnen mit OeBB, auf einem
Container eine Regenbogenfahne, über anderen Containern wehte eine
mit dem Roten Kreuz und „Arbeitersameriterbund“, ein schon
etwas vergilbten Transparent mit der Aufschrift „Refugees WELCOME“,
daneben ein großes, weißes Zelt mit aufgedruckten
Äskulap-Nattern, „First Aid“ und vielen in Arabisch
geschriebenen Zetteln mit hingekritzelten Notizen und
Telefonnummern, davor einfache Holzbänke, alle vollbesetzt mit
Wartenden. Die meisten hatten offenbar Fußprobleme, sah er in einem
schnellen Blick. David war gut davongekommen, er musste damals, vor
einem Jahr, nur auf seiner ersten griechischen Insel 30 Kilometer
gehen, um in die Hauptstadt Mitilini zu kommen und auf eine Fähre
nach Athen gebracht zu werden. Aber er war ja schon vor einem Jahr
aus Aleppo aufgebrochen und hatte in Athen bei Nikolas gearbeitet,
gehofft, dass er seine Familie zumindest bis Athen nachholen könnte.
Die Neuankömmlinge dieses Sommers haben es viel schwerer als er.
Auf allen seinen Stationen hatte er so etwas noch nicht erlebt. An einem Stand in dieser Bahnhofhalle hing ein Plakat mit der Aufschrift LAWYER, umringt von Zetteln in arabischen und einem Dutzend anderer asiatischer Schriftzeichen. SIKH HELP AUSTRIA in knallgelben Westen fiel ihm auf, die langbärtigen, turbanbekrönten Männer in Gelb fielen ihm auf. Sie verteilten Reis und Linsensuppe aus Hundertlitertöpfen an der Essensausgabe. Andere hatten Aufkleber auf ihren roten Helferjacken, „Legal advice“ las er. Dieser Kiosk war noch dichter belagert als die Tische bei der Essensausgabe und denen mit Hygiene-Artikeln. David bekam Rasierzeug, Zahnpaste und Bürste, alles fabriksneu verpackt, ein ebensolches Paket mit
Auf allen seinen Stationen hatte er so etwas noch nicht erlebt. An einem Stand in dieser Bahnhofhalle hing ein Plakat mit der Aufschrift LAWYER, umringt von Zetteln in arabischen und einem Dutzend anderer asiatischer Schriftzeichen. SIKH HELP AUSTRIA in knallgelben Westen fiel ihm auf, die langbärtigen, turbanbekrönten Männer in Gelb fielen ihm auf. Sie verteilten Reis und Linsensuppe aus Hundertlitertöpfen an der Essensausgabe. Andere hatten Aufkleber auf ihren roten Helferjacken, „Legal advice“ las er. Dieser Kiosk war noch dichter belagert als die Tische bei der Essensausgabe und denen mit Hygiene-Artikeln. David bekam Rasierzeug, Zahnpaste und Bürste, alles fabriksneu verpackt, ein ebensolches Paket mit
T-Shirts und Socken. Am lautesten und engsten war es bei der
Handy-Ladestation in einer Ecke beim Eingang. Jeder wollte nur seine
Verbindungen herstellen, dorthin wohin sie wollten und woher sie
kamen. David hatte kein Handy und kein Iphone. Als er am Stand der
LAWERS an die Reihe kam, stellte sich heraus, dass er eine
Erstzuweisung entweder nach Traiskirchen oder nach Laa an der Thaya
bekommen könnte; er entschied sich für das unaussprechliche
Laaanderthaya. Im Treck von Athen nach Wien hatte er
aufgeschnappt, dass in Austria Traiskirchen zu vermeiden sei, es sei
ein Lager, ein Camp. Camp klang nicht gut in Davids Ohren. Dort sei
es nicht gut, und von dort komme man schwer wieder weg, lautete das
Gerücht. Hinter dem Tisch der laywers saß eine ältere Frau, zu
der er sagte: „Please, Laanderthaya, please.“ Sie gratulierte
ihm mit einer vorgestreckten Hand, die er nicht annehmen konnte, aber
sie lachte und überreichte ihm ihm ein dickes, abgenutztes
rotes Buch in der Größe eines Ziegels, das Cassels-Wörterbuch –
Classical Oxford Dictionary/ Deutsch-Englisch/Englisch-Deutsch. „It
could be useful to you, maybee.“ Und lächelte. David nahm den
Schatz an sich, er war glücklich, wollte er doch so schnell und so
gut wie möglich die Landessprache erlernen, damit er sich selbst
erhalten und seine Familie nachholen konnte. Die österreichischen
lawyers erklärten ihm, wie das ging, der Arabisch-Dolmetsch, ein
junger Syrer, der neben Deutsch auch noch Englisch, Kurdisch und
Türkisch sprach, übersetzte so, dass er meinte, alles
verstanden zu haben. Er würde in einem „Seniorenheim“ der
Caritas ein Zimmer bekommen, als Pfleger und vielleicht später in
seinem Beruf arbeiten dürfen, aber außer einem kleinen Taschengeld
noch nichts verdienen, solange er keinen positiven Asylbescheid
hatte. Dass das schnell ging, darüber hatten sie ihm keine großen
Hoffnungen gemacht. Warten, Monate, vielleicht Jahre, aber für
einen Juden aus Syrien wahrscheinlich mit positivem Ausgang - „
eine gute Bleibeperspektive“ hatte er. Was sie ihm in der Kürze
nicht vollständig erklären konnten, war der Begriff
„Seniorenresidenz, Altenheim“. Bei ihm zu Hause blieben die
Alten in der Familie, wurden von allen gemeinsam gepflegt bis zum
Ende. Niemand wurde in ein Heim oder eine Residenz gebracht. Wohin
sollte er also kommen, was sollte er dort machen, und was war eine
„Caritas“? Oh Gott, wie viel hatte er noch zu lernen. Aber David
dachte an seine Wunderheilerhände, breitete sie vor sich im Schoß
aus und schaute zuversichtlich auf sie herab. Hatte er seine Gabe
mitnehmen können in die unbekannte Zukunft?
Der
junge Mann griff in den angebotenen Sack mit dem goldenen M und nahm
sich von allem die Hälfte, nur die Banane ließ er liegen. Er
strahlte ihn mit einem Dankedanke, thank you! an. So aßen und
tranken sie schweigend, bis der Junge seine Finger an den Jeans
abwischte, und der Fremde Hosenbeine, Lippen und Fingerspitzen mit
dem Taschentuch abtupfte. David schaute aus dem Fenster und hätte
gerne gewusst, was das für Pflanzen waren, lange Reihen von
blattreichen, niedrigen Büschen mit weißen und rosa-bläulichen
Blüten. Schnell blätterte er im Wörterbuch und deutete mit dem
Kinn auf die Felder hinaus: „What is that?“ Der junge Mann
strengte seine Augen an und verstand nicht. Was wollte der Mann, da
war nichts, Felder eben. „Tobacco?“ versuchte es David, der
leidenschaftliche Raucher. Jetzt fiel der Groschen, und der junge
Mann lachte herzlich: “Nein, nein, Tabak wächst hier nicht, nicht
bei uns! Das sind Erdäpfel, potatoes, patates, pommes.“
Der
junge Mann konnte ein wenig Englisch und einige Bruchstücke von
anderen Sprachen. Er hatte Kellner gelernt und war mehrere Jahre auf
einem deutschen Frachtschiff als Küchengehilfe zur See gefahren.
Sein Kollegen waren meist Asiaten, und ihre gemeinsame Sprache war
das kitchen-english. Jetzt kehrte er nach Hause zurück, in seine
Heimat Gnadendorf bei Laa an der Thaya, zu seiner schwangeren
Schwester, und der Schwager konnte vielleicht Hilfe auf dem kleinen
Hof gebrauchen.
Es
war auch sein Heimatort gewesen, solange die Eltern gelebt hatten.
Schön ist es dort, ruhig und viel Grün, es gab viele potatoes
dort und trees, Bäume, viel Wald. Er würde sich im Dorf ein
hübsches, tüchtiges Mädchen suchen, heiraten, eine Familie gründen
und ein Haus bauen. Oder doch in umgekehrter Reihenfolge? Da musste
David so herzlich lachen, dass sich sein Gesicht völlig veränderte.
Der Junge lachte mit, obwohl der Spaß auf seine Kosten ging.
Dann spitzte er die Lippen, als ob er pfeifen wollte, schnalzte mit
der Zunge und schmatzte mit den Lippen. Sie verstanden einander und
lachten gemeinsam mit zurückgeworfenen Köpfen. Dann beugte er
sich zwischen den Sitzen wieder zu dem Mann vor und machte noch
einen Versuch, diesmal mit tiefer, verstellter Stimme, um höflich
zu wirken: „Sie sind Ausländer – Araber, Muslim?“ David
zuckte zusammen. Ja und nein, wie sollte er es diesem Provinzler
erklären – ein syrischer Jude aus Aleppo, das war schon in Syrien
schwer zu verstehen. Und was und wer war er überhaupt, seit er ohne
seine Familie auf der Flucht war? Ein Syrer, aber kein Araber, seit
zwei Jahren auf einer Odyssee und nun auf dem Weg zu einem
Caritas-Heim Sancta Monica in Laa an der Thaya, Waldviertel,
Niederösterreich. Sicher kein Araber, aber was für ein Jude war
er, der noch nie in einer Synagoge war und dessen Vorfahren aus
Marrakesch stammten?
Der
junge Mann seufzte, gab aber noch nicht auf, sondern versuchte eine
doch ziemlich peinliche Frage zu formulieren: „Wo sind Sie daheim?“
Auch diese Frage war schwer zu beantworten. David stach mit dem
Zeigefinger auf seine Brust und sagte: “I am from Syria, I am
jewish, I am a masseur, now in Laa- an- der- Thaya“ - das ging
ihm schon ganz gut von den Lippen. Es entstand eine längere Pause,
und beide Männer wandten ihre Blicke aus dem Fenster auf die
vorüberziehende Landschaft, auf saubere Dörfer, Kirchtürme,
Hügel, Wälder und grüne Wiesen, soweit das Auge reichte, und die
weiß-rosa-lila blühenden Stauden. Es gab auch noch andere Felder,
Getreide und Pflanzen mit runden Kapselköpfen, die kannte er aus
seiner Heimat, aber er wunderte sich, dass Mohn hier abwechselnd mit
potatoes wuchs.
Er
wird diesem freundlichen, neugierigen Provinzjungen jetzt noch nicht
erklären können, was es bedeutete, kein gewöhnlicher Reisender zu
sein so wie er, auf einem Handelsschiff in der Ostsee oder wie
jetzt auf dem Weg zur Schwester in Langschlag.
Er
war ein Flüchtling auf Reisen. Dass seine Reise nicht nach Stunden
gemessen wurde, sondern nach Jahren, nicht nach Hunderten von
Kilometern, sondern nach Tausenden. Die Reise des Flüchtlings glich
eher einem Geisteszustand als einem Reisestadium, das sich mit
Landkarten und Fahrplänen errechnen lässt. Laa an der
Thaya-Caritas. Und wieder seine Marotte, die Worte umzudrehen,
Satirac, um vielleicht eine Sprachverwandtschaft zu finden. „Do you
have family? Where are they?“ Der Junge steckte wieder den Kopf
zwischen die Sitze nach vorne. David atmete tief durch, als müsste
er einen Anlauf nehmen, setzte seine Hornbrille ab und wischte mit
dem Taschentuch daran herum. Er nickte: „Yes, over there, back in
Turkey“ und holte das Foto aus der Tasche. Der Junge fand seine
Frau und die Töchter nice, very nice. David betrachtete lange das
Bild und steckte es wieder zurück. Das hätte er nicht tun sollen,
sein Herz schien doppelt so schnell zu schlagen und wollte das
Jackett sprengen, so sehr regte es ihn auf, direkt in ihre
Gesichter zu sehen. Als sei sie ein Rettungsring, hielt er sich mit
beiden Händen an der Wasserflasche fest, dass die Sehnen an den
Händen hervortraten. Mehrmals schlug er die Beine in den schwarzen
Knize-Hosen übereinander, zupfte die Bügelfalte sorgfältig zurecht
und betrachtete seine lächerlichen schwarz-weißen Sportschuhe.
Seine Frau Rikhiel und die kleine Daliah würden früher oder später
nachkommen, darüber sorgte er sich weniger. Aber seine Große, die
jetzt zwanzigjährige Myrnah, war schon vor drei Jahren weggegangen,
sie wollte nach Israel und Schauspielerin werden. Ich bin Jüdin,
hatte sie selbstbewusst gesagt, sie müssen mich reinlassen. Ja,
hübsch und klug war Myrnah auch noch, aber von allem zu viel, für
diese Zeiten. Diese alten, düsteren Sorgen. Zuletzt hatte er von
ihr in einem abgebrochenen Telefonat aus Kairo gehört. Später
viele Anrufversuche mit Krachen und Rauschen, ohne dass eine
Verbindung zustande kam. Er wollte glauben , dass diese schon aus
Israel kamen. Wann und wo würden sie noch einmal zu Viert
zusammenkommen? Er würde mit Rikhiel und Daliah seinen Weg
machen, ob in Laa an der Thaya oder anderswo, wenn ihn seine
Zauberhände nicht im Stich ließen, wenn sie auch hier ihre Kraft
entfalten würden so wie in seinem früheren Leben.
Der
Junge hinter ihm schien zufrieden zu sein, er hatte sich in seinem
Sitz zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Wenn der Bus rüttelte
oder in eine Kurve ging, fiel ihm der Kopf auf die Brust. Sie hatten
zusammen gegessen, getrunken, geredet und gelacht. David breitete das
Taschentuch zwischen die Kopfstütze und das Fenster und spürte, wie
sich zum ersten Mal seine Beine entspannten und unter dem Vordersitz
ausstreckten. Als der Bus an der Endstation hielt, legte er dem
schlafenden Jungen die Hand auf die Schulter, und sie stiegen
gemeinsam aus.
Veronika
Seyr, 6.10. 15
0676/664
16 08
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