Mittwoch, 28. Oktober 2015

Transkript


eines Telefonanrufes auf Angela Merkels Handy, aufgezeichnet von Veronika Seyr
(Sperrfrist bis 1.11.15)


„Hallo, Frau Merkel, sind Sie dran? Frau Bundeskanzlerin, können Sie mich hören? Ich rufe aus dem Paradies an, ja, ich bin im Himmel.
Ich bins, Aylan. Erinnern Sie sich an das Bild, das um die Welt ging, auf Instagram, ein Star, das meist geklickte Bild in diesem Jahr. Das bin ich, die Kriegsikone ohne Gesicht.
Guten Tag, Frau Bundeskanzlerin, wie geht es Ihnen?
Kürzlich habe Sie bei Erdogan auf diesem irrwitzigen Goldthron, der sogar dem Sultan Abdülaziz zu protzig war, sitzen gesehen, wie er Sie zum Aufstehen und einem hand shake für seine Kameras genötigt hat. Kann nicht sehr angenehm gewesen sein, so säuerlich wie Sie dreingeschaut haben.
Sie kennen diesen Aylan nicht persönlich, sondern wahrscheinlich nur dieses Foto von mir, wie ich mit dem Gesicht nach unten, mit einem roten T-Shirt und einer kurzen, blauen Hose am Strand von Bodrum liege. Viele Ihrer Landsleute kennen Bodrum als Touristenort mit schönen Stränden. Irgendwo dort auf der missglückten Überfahrt nach Griechenland bin ich ertrunken, tot angeschwemmt wie Treibgut, das Meer hat mich ausgespuckt wie eine Alge oder Plastikflasche, so wie meine Mutter und Schwester, Opfer von Assad, des IS und der kriminellen Schlepper.
Frau Merkel, ich kenne Sie auch nicht persönlich und habe kein Bild von Ihnen, weil ich es leider nicht bis nach Alemania geschafft habe. Ich hätte so gerne ein Selfie mit Ihnen gemacht, wie Sie es vielen anderen Flüchtlingen gewährt haben.
Mein Vater hat mich, meine Mama und meine kleine Schwester in Kobane begraben. So kleine Särge, so wenig Stoff in den niedrigen Gruben, aber immerhin eine würdige Feier. Es gibt so viele hastige Bestattungen derzeit, da ist man schon froh, wenn man überhaupt eine bekommt mit ein paar Trauernden rundherum.
Ich wünsche mir, dass Sie mit mir so sprechen wie mit dem Palästinenser-Mädchen Reem in Rostock und wie bei Anne Will in der ARD.

Heute, genau zu Allerheiligen, am 40. Tag nach meinem Tod - es war der 23. September 2015 - hat sich gemäß unserem Glauben meine Seele vom Körper gelöst und ist in das Paradies aufgestiegen. Daher kann ich auch mit Ihnen telefonieren, reden und denken wie ein Erwachsener, auch Sprachprobleme haben wir nicht, und ich muss nicht leibhaftig in Germany sein. Weil ich jetzt im Himmel bin, habe ich den Überblick über die Ereignisse, und es ist auch kein Hindernis, dass ich nur drei Jahre gelebt und im türkischen Sand gestorben bin, anstatt in einer deutscher Kita zu landen, wie es uns Papa versprochen hat.

Wir hatten so sehr gehofft, dass wir in Ihrem Land, unter Ihren Landsleuten, eine bessere, sichere Zukunft bekommen würden, ohne Krieg, Angst, Hunger und Kälte. Mein Vater war in Kobane Automechaniker und besaß eine eigene Werkstätte. Aber er hätte auch als Zimmermann oder Maurer arbeiten können, denn er hat unser Haus zusammen mit Brüdern und Schwägern selbst gebaut und bei deren Häusern geholfen. Mein Vater hätte auch als Taxifahrer oder Gärtner sein Brot verdienen können. Unsere Familie ist nicht von der legendären Sorte der Ärzte oder Ingenieure, aber wir hätten uns sicher in Alemania nützlich gemacht, wir hätten Deutsch gelernt, meine Schwester und ich in der Kita und später in der Schule, meine Eltern in Kursen und in der Arbeit, weil auch meine Mama in Syrien als Krankenschwester gearbeitet hat. Was hätten wir in den Kitas alles lernen können, meine Schwester und ich, und welchen Spaß wir haben hätten können. Welche Freude und Genugtuung bei Ihnen, uns aufwachsen zu sehen als Beispiele gelungener Integration.
Ich bin vor drei Jahren im türkischen Lager bei Suruc geboren, meine Schwester noch in Kobane, wir haben nie eine Kita gesehen – in anderen Ländern sagt man „Kindergarten“, ein schönes Wort für einen Ort, wie für Blumen, wo die Kinder wachsen, gepflegt werden und duften dürfen wie Orangen und Jasmin.
Nur mein Vater hat überlebt, hat uns Drei in der Heimaterde begraben und ist vorerst ins Lager von Suruc zurückgekehrt. Ich sage bewusst – vorerst. Er wird den Weg nach Deutschland sicher noch einmal wagen, weil wir drei das so wollen und weil es unsere Heimat Syrien nicht mehr gibt. Weil wir drei die Flucht nicht überlebt haben, muss Papa es noch einmal versuchen, das ist unser Vermächtnis. Vielleicht gelingt es ihm sogar ohne Schlepper, wenn er in der Türkei einen Antrag abgeben kann.
Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben dafür ein schönes Wort, das Sie früher schon oft benützen, auch für ganz andere, entfernte Dinge, wie zum Beispiel 20.10 oder die Energiewende: ALTERNATIVLOS. Wir sind auch alternativlos. Aber das wissen Sie wahrscheinlich alles. Alles? Wenn nicht, wird mein Papa einmal bei Ihnen in Berlin vorbeikommen und Ihnen das selbst erzählen.

Ich, von meiner himmlischen Warte aus, möchte Sie versichern, dass Ihnen bestätigen, bisher alles richtig gemacht zu haben. Aber darum geht es gar nicht, sicherlich werden Sie und andere Politiker Fehler machen. Aber Sie haben als erste erkannt und gesagt, dass Sie den Irrsinn des Krieges nicht länger akzeptieren. Die Frage ist: Haben wir ein Recht zu existieren oder nicht? Lassen Sie sich nicht entmutigen und irritieren von bayrischen Kläffern oder ostdeutschen Rassisten, von Zündlern, Hassparolenschreiern, Neidern, Krakeelern und anderweitigen Ansbeinpinklern. Jetzt laufen manche schon mit Galgen durch das schöne Dresden, auf denen Sie und Gabriel baumeln sollen. So eine Schandeschandeschande! Wo waren denn diese Leute selbst noch vor wenigen Jahren und wo wären sie, wenn es den Soli- ein modernes Stummelwort für das gute, alte „Teilen“ - nicht gegeben hätte? Was ich nicht verstehe – aber das kommt sicher nur daher, dass ich erst kurz im Paradies bin und eure innerdeutschen Probleme nicht nachvollvollziehen kann: Warum, um Herrgottswillen, können Sie bei all Ihrer Macht dieses entsetzliche Schauspiel nicht abstellen? Das sieht so ekelhaft braun aus und stinkt zum Himmel, dass sogar uns Seligen da heroben schlecht wird. Ab in die Müllabfuhr!

Oft werden Sie „Mutti Merkel“ genannt, und das ist nicht immer freundlich gemeint. Das stört mich schon lange, weil es nicht richtig ist. Sie sind eine Politikerin, aber in unserer traditionellen Sicht sind Sie Mutter, Vater, Onkel, Tante, Bruder, Schwester, Großeltern, Schwäger und überhaupt alle, die etwas sehr Wichtiges und das einzig Richtige verstanden haben: Dass es Menschen gibt, die eine Zeitlang Hilfe und Schutz brauchen, bis sie wieder auf eigenen Beinen stehen und sich selbst helfen können. Genau wie wir jetzt. Nicht mehr und weniger als eine Chance brauchen wir, alles andere machen wir selbst, natürlich gemeinsam mit unseren neuen Nachbarn.
Frau Merkel, Sie haben mehr verstanden als Ihre Parteifreunde mit dem großen C im Namen. Erst neulich haben Sie diese Banausen daran erinnern müssen, wie man das C zu übersetzen hat. Es hat mich amüsiert, wie Sie ihnen ein bisschen die Ohren lang gezogen haben. Jetzt sind die ein bisschen kleinlauter geworden, das ist gut, weil es geht nur miteinander, nicht gegeneinander. Wir schaffen das, aber nicht alleine, Ihre Worte.

Ich weiß nicht, ob das alles nur politisches Kalkül ist und auch nicht, wie christlich Sie selbst sind, das ist Privatsache. Aber ich weiß, dass Sie aus einer Pastorenfamilie stammen, das Evangelium und die Geschichten von Jesus wahrscheinlich gut in Erinnerung haben. Die Botschaft und den Auftrag: „Was Ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das habt Ihr mir getan“. (Mat, 25) Nur so als Beispiel. „Ich war im Gefängnis, und Ihr seid zu mir gekommen“. ( auch Matth, 25.) Oder die Legende vom barmherzigen Samariter und vom Bischof Martin, der seinen Mantel zerschnitten und die Hälfte einem nackten Bettler geschenkt hat. Ihr habt in euren Büchern viele schöne Geschichten zur Idee des Teilens und der Barmherzigkeit. Aber wie lebt ihr sie? Und wie können sie in der Politik umgesetzt werden. Das heilige Experiment der Jesuiten ist ja voll in die Hosen gegangen. Oder religiöse Sekten oder Scientology. So nicht.
Ich bin der Letzte, der Sie über Ihre Religion belehren will, sondern ich suche nur das Gemeinsame. Ich, Aylan, der ehemalige Flüchtling, jetzt im Paradies, kann es vergleichen: Das ist keine Theorie, denn teilen kann man immer, mit allen und alles, (vielleicht bis auf die Ausnahme eines Paares Schuhe, denn mit nur einem Schuh kann keiner von beiden laufen). Ich frage mich, wenn neben dem einen nackten Bettler noch ein anderer aufgetaucht wäre, was hätte Martin getan?

Frau Merkel, ich weiß nicht, ob Sie in die Kirche gehen, ob Sie beten, ich will Sie auf keinen Fall beleidigen, ich will überhaupt niemanden beleidigen, sondern Ihnen nur von meinen Erfahrungen und Erkenntnissen erzählen, nichts beschönigen und vertuschen.
Man hat mich um mein Leben betrogen und versucht, mich mit einem Firlefanz von Paradies abzuspeisen. Jeder Mensch weiß, dass er den unvermeidlichen Tod nicht abschaffen kann, aber es ist das größte Skandalon der Existenz, sich mit ihm zu arrangieren, dass wir uns über das Monströse und Unfassbare verlogen hinwegtrösten lassen. Alle Religionen sagen uns, dass wir uns mit dem Tod versöhnen sollen, sie wollen uns bestechen, anstatt dass wir ihn hassen, ihn verfolgen wie in einer Vendetta und uns stattdessen trotzig rüsten für das Leben.
Jeder Tod ist ein Skandal, unser eigener der allergrößte. Noch größer ist der im Krieg.
Das ist mein j`accuse, das ich vom Himmel auf die Erde herunterschleudere. Mehr kann ich nicht mehr tun, wenn Sie mein Foto aus Bodrum gesehen haben, wie ich da mit dem Kopf im Sand liege. Ich für meine Person wollte nicht ins Paradies, ich wollte mit meiner Schwester in eine Kita, eine Vorschule, eine Volksschule und aufs Gymnasium, weil ich so ein legendärer syrischer Arzt werden wollte oder vielleicht doch ein Dichter, ein Filmregisseur?
Wer weiß, vielleicht wäre ich ja nur ein Pizza-Austräger geworden.

Ich lege gegen dieses Paradies Protest ein, so laut ich kann. Es geht nichts über das Leben. Und wer heute nicht mit seinem Gott hadert, vor allem dem islamischen, nicht an ihm zweifelt, ihn nicht kritisch befragt, der liebt seine Religion nicht. Erst kürzlich hat der steirische Bischof Krautwaschl gesagt, dass er keine Antwort hat auf die Frage, warum Gott all dieses Leid zulässt. Wenn er einmal gestorben ist, möchte er seinen lieben Gott schon danach fragen. Denn das ist die Frage aller Fragen, die Gott abschafft.
Frau Merkel, das oberste Gebot in der Bibel lautet doch immer noch: Liebe deinen Nächsten WIE DICH SELBST. Ich weiß, dass es bei Ihnen göttliche und menschliche Gesetze gibt und dass im Gegensatz zum Koran bei Ihnen die menschlichen, staatlichen über den göttlichen stehen und für alle gleich gelten. Aber wenn schon immer vom christlichen Abendland und vom Humanismus die Rede ist, muss ich annehmen, dass die Grundlage Ihrer Gesellschaftsordnung, wo die Menschenrechte, die Gleichberechtigung und die Demokratie bilden, also doch die göttlichen Gesetze, die nach 2000 oder mehr Jahren in die allgemeinmenschlichen eingegangen sind. Vielleicht habe ich noch nicht alles richtig verstanden, vieles müssen wir noch lernen, wenn wir bei Euch leben wollen. Wir werden uns bemühen, zu verstehen, wie die Gesellschaft bei Ihnen tickt, dass es ein Grundgesetz gibt, das für alle gleich gilt und auch über dem uns heiligen Buch steht. Aber heilige Bücher haben die anderen ja auch. Zugegeben, kein einfacher Gedanke für uns mit diesem Allah. Naja, die Juden und die Christen haben es auch nicht leichter, ganz zu schweigen von den Buddhisten mit ihren 6000 Göttern. Gar erst die Tibeter, bei denen ist jeder Berg, jeder Grashalm und jeder Wind ein Gott ist, vielleicht auch noch der letzte Furz in der Jurte auf 4000 Metern. Und erst die Tschuktschen am Ochotskischen Meer, jede Robbe ein Gott. Von den indianischen Gottheiten will ich gar nicht erst anfangen. Das ist in der Wissenschaft noch zu ungesichert, obwohl man schon viele Tempel ausgegraben hat

Ich denke, gerade wir Syrer haben gute Chancen, Ärzte hin oder her, leben wir doch schon jahrhundertelang mit anderen Religionen in Frieden zusammen. Das sollte uns auch gelingen, wenn wir in einem Gastland in der Minderheit sind. In Aleppo ist eine der ältesten byzantinischen Kathedralen aus etwa 450 n.u.Z. Helena, der Mutter Konstantins I., geweiht, die Elias-Kirche ist fast so alt und mehrere stehen auf griechischen und römischen Ruinen. Ich will keineswegs rechthaberisch sein oder Geschichte und Kultur aufrechnen“.

Merkel atmet laut durch und wirft ein: „Aylan, mein Lieber, hör mal, jetzt gehst du aber zu weit. Du schmeißt viele Äpfel und Birnen durcheinander, wir haben hier ein Realproblem zu bewältigen und können jetzt keine kulturhistorischen Debatten führen, so interessant sie auch sein möö…..“

Aylan unterbricht, noch immer etwas atemlos, weil er doch gerade den Kopf aus dem Sand gesteckt hat:
„Entschuldigen Sie, Frau Bundeskanzlerin, klar, Realpolitik, das verstehe ich, aber eines möchte ich zu bedenken geben, dass Sie vielleicht nicht alles mitbedacht haben, als Sie die Grenzen öffneten, mit Bundeskanzler Faymann Telefnierten und erklärten: „Wir schaffen das.“ Wie und mit wem? Es geht doch nicht allein. Wir sind sehr, sehr viele und bringen unsere Probleme mit.
Wir kommen nicht in Ihre Länder wie eine Völkerwanderung, auch wenn dieses Wort immer wieder fälschlich verwendet wird, eine Völkerwanderung wie die vom 4. bis 6. Jahrhundert, als der Vormarsch der Mongolen eine reale Wanderbewegung von vielen Völkern zwischen der Mongolei bis nach Rom ausgelöst hat, oder wie anno dazumal vor eintausend Jahren die Kreuzritter, diese jungen Tunichtgute, angestachelt von den Mönchen und fahrenden Predigern (Internet-Anwerbung, Videos, Versprechungen), denen auf ihren Ländereien und in den Klöstern so langweilig war, dass sie nach Palästina aufbrachen, um angeblich das Heilige Land, die Lebens- und Leidensstätten Christi von den Ungläubigen zu befreien. Sogar einen Kreuzzug der Kinder haben sie organisiert, von denen die meisten - angeblich an die 30 000 - schon auf dem Weg in den Osten elendiglich umkamen. Das Zentrum der Propaganda und Requirierung zum christlichen Dschihad war damals das französische Kloster Cluny, vergleichbar vielleicht mit dem heutigen Internet, das in ganz Europa die Jugend anwirbt für einen Heiligen Krieg. Keine Videobotschaften, sondern Predigten von den Kanzeln aller Kirchen, Boten, Herolde, die auf Pferden durch ganz Europa jagten und die Jugend verführten, kauften, mit falschen Versprechungen anwarben. Gut durchdacht gesteuert von einer gut vernetzten Zentrale, dem Vatikan. Vielleicht waren die jungen Ritter damals so testosterongesteuert wie es jetzt den jungen Männern nachgesagt wird, dass sie so nebenbei mordend und brandschatzend halb Europa und alles zwischen Köln und Byzanz ausraubten und brandschatzten, das reiche, goldene Byzanz ganz besonders. Das wissen Sie, die Kreuzzüge waren der Anfang vom Ende. Aus. Basta mit Ostrom und dem ganzen Balkan.
Griechenland, Nordafrika, Rumänien, Bulgarien, Albanien, Serbien, Bosnien, Ungarn, zweimal vor Wien, das war knapp.
Saladin und Nathan mit seiner christlichen Ziehtochter Recha haben ihr Drama in Jerusalem, stammen aber aus Aleppo, diese schöne, aufklärerische Utopie von 1779. Wenn auch der Dichter ein Deutscher ist, ist doch in dem Stück etwas vom Geist und der Kultur des Nahen Ostens zu spüren. Solche Weisen mit ihrer Ringparabel könnten wir jetzt gebrauchen, wir fordern mehr Lessing, Lessing als Pflichtlektüre und zum Nachsitzen für alle Europa-Politiker, dreimal die Woche mit Abfragen, Strafen und Noten. Lessing war kein Politiker, ich weiß, aber vielleicht können Sie ein bisschen Lessing sein?
Ganz leise sage ich, Aylan, nebenbei, Lessing hat seine Figuren aus unserer Geschichte abgekupfert, aber das ist ja großartig, das können wir gerade wieder machen. Nicht zufällig war die erste Inszenierung nach Kriegsende 1945 am Deutschen Theater Berlin „Nathan der Weise“. Wenn mein Einfluss reicht, werde ich mich dafür einsetzen, dass auch in Damaskus
als erstes Friedensstück der Nathan aufgeführt wird. „Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang“ - lautet Lessings letzte Regieanweisung.
Aber vielleicht haben wir mit der Geschichte von Pater Jacques Mourad aus dem syrischen Kloster Mar Elian bei Qaryatein, die Navid Kermani in seiner Dankesrede erzählte, einen neuzeitlichen Nathan. Sie haben sicher seine Rede in der Paulskirche gehört. Pater Jacques gehört dem katholischen Orden Mar Musa an, der sich der Begegnung mit dem Islam und der Liebe zu den Muslimen verschrieben hat. Klingt aberwitzig und utopisch – eine christlich-muslimische Liebe, die bis vor kurzem noch in Syrien Wirklichkeit war und sicher noch immer ist in den Herzen vieler Syrer, eine endzeitliche Versöhnung. Pater Jacques wurde am 21. Mai 2015 von IS-Terroristen entführt. „Wir Christen gehören zu Syrien, auch wenn das die Fundamentalisten weder hier noch in Europa hören wollen. Die arabische Kultur ist unsere Kultur“, hat er zu Kermani gesagt. Drei Monate später stellte der IS Bilder ins Internet, auf denen man sieht, wie er das eintausendsiebenhundert Jahre alte Kloster mit Bulldozern niederwalzte. 200 Christen, darunter Pater Jacques, wurden entführt. Erst fünf Tage vor dem Friedenspreis erhielt Kermani die Nachricht, dass muslimische Einwohner von Qaryatein Pater Jacques befreit hatten, aber nur er. Soweit, so schön, Aber die Aufforderung in einem säkularen Raum an ein säkulares Publikum, sich zum Beten zu erheben und er selbst die Hände zur Adorationsgeste formte, empfand ich als unerträglichen Übergriff genau in der Richtung, was er am orthodoxen Islam kritisiert. Kermani ist sicher ein würdiger Friedenspreisträger, aber er liebt die Romantik zu sehr und verwischt historische Fakten. Sicher hat ein einer begrenzten Dankesrede nicht alles Platz. In der Sache Saudi Arabien stimme ich mit ihm überein. Die Bewegung der Mutazilin, die schon im 11. Jahrhundert eine Interpretation des Koran als allegorischen Text vertraten, wurden unterdrückt. Der ökonomischen Stagnation vom 12. Jahrhundert an folgte ein kompletter Niedergang ab dem 16. Jahrhundert. Produktive Arbeit hat im Islam keinen Stellenwert, gar nicht zu reden vom Despotismus, der in den islamischen Ländern bis heute mindestens so große Folgen hat wie die relativ kurze Periode westlicher Kolonisation. Bereits im 18. Jahrhundert war Al Wahab eine Reaktion auf die vollständige Zurückgebliebenheit gegenüber dem Westen.
Frau Bundeskanzlerin, ich kann jetzt am Handy nicht so ausführlich sein, man hört mir beim Telefonieren zu, und ich soll nicht blasphemisch und kritisch sein, sondern nur glücklich jubilieren. Aber wie soll das gehen, wenn ich mit meiner Familie jetzt nur noch eine Zahl in der Statistik bin. Wenn ich wütender bin als andere und die Dinge krasser sehe, liegt das am Schicksal meiner Familie.
Wissen Sie, das Paradies ist ein eigenartiger Ort, hier halten sich sehr unterschiedliche Typen auf. Ich bin noch nicht durch, aber Stalin, Hitler, Dr. Mengele, Eichmann, Pinochet, Mao, Idi Amin, mehrere Kims und den kleinen belgischen König habe ich schon erspäht.
Milosevic und Tudjman sitzen in einer Ecke und spielen Karten. Sie klatschen sie auf den Tisch und rufen abwechselnd: Bosnien mir, Herzogewina mir, die Krajina mir, Slawonien mir! Bei der Wojwodina geraten sie sich in die Haare und schmeißen die Karten auf den Tisch.

Uns ist bewusst, dass Sie nicht alles selbst machen können, das tun ja bei Ihnen und auch in anderen Ländern Ihre Organisationen und Millionen von Menschen freiwillig. Sie haben ein Volk, das dieselbe wichtige Sache ernstnimmt - das Teilen. Wir wissen auch, wie viele Polizisten, Soldaten, Feuerwehrleute, Beamte, Rotkreuzhelfer, Ärzte, Krankenschwestern und gewöhnliche Bürger am Werk sind. Das ist doch schon eine ziemlich starke Bewegung- mein Vorschlag wäre, sie nach St. Martin SMB zu benennen. Sie als Bundeskanzlerin, als Politikerin, haben die Möglichkeit eröffnet, dass auch wir einen Platz finden, wo wir in Frieden leben können. Politik ist doch die Ermöglichung des Machbaren, so habe ich es zumindest verstanden. Mehr brauchen wir nicht, wir wollen nur die Chance bekommen, dass wir uns später selbst helfen können. Wir wären nie und nimmer von Kobane weggegangen, wenn uns nicht die Bomben und das tägliche Sterben dazu gezwungen hätten. Sie, Frau Merkel, haben das verstanden und reden viel darüber, damit das immer mehr Menschen kapieren. Wenn 80 in einem Raum sind, kann man den 81. doch nicht wegschicken, oder? Jeder Mensch kann einmal in eine Situation kommen, dass er Hilfe braucht. Mein Vater sagte immer, Frau Merkel versteht uns, weil sie auch in einer Diktatur und einem Unrechtsstaat aufgewachsen ist, aus dem viele Menschen geflohen und manche dabei auch gestorben sind. Sie haben die Ostsee durchschwommen, Tunnel und Ballons gebaut, sie haben Zäune eingerissen, Botschaften gestürmt und Mauern umgelegt, damit sie in Freiheit leben können. Meine Familie ist leider nur bis Bodrum gekommen. Ich muss schon sagen, der Orban-Zaun da oben weiter nördlich ist eine Mordssache! Ist das nicht genau dort, wo das Europa-Frühstück stattgefunden hat, wo Mock und Horn gemeinsam mit der Zange den Eisernen Vorhang geknackt haben? Seltsam, das ist doch noch gar nicht so lange her, in paradiesischen Dimensionen kürzer als ein Atemzug. Diese osteuropäischen Staaten haben manches nicht richtig verstanden: Sie sind einer Solidargemeinschaft beigetreten, verweigern sich aber dem Prinzip der Solidarität und melken sie die anderen Mitglieder wie eine Kuh.

Ich bin noch zu kurz im Paradies, um beurteilen zu können, ob das alles miteinander zusammenhängt und vergleichbar ist. Es schwirren hier viele Verschwörungstheorien herum, und es gibt auch im multireligiösen Paradies Radikale und Fundamentalisten. Die einen sagen, das alles passiert, weil Putin mit den vielen Flüchtlingen Europa zerstören will. Die Europäer zerstreiten sich wegen uns und alles fliegt in die Luft, jeder gegen jeden – so wie bei uns. So wie ich das sehe, führt Putin jetzt einen 3-Fronten-Krieg; erstens gegen Europa, zweitens „hilft“ er mit seinen Bombern dem syrischen Volk und dem Diktator Assad, dessentwegen die meisten von uns fliehen, an der Macht zu bleiben. Die dritte Front kann man in Russland selbst erkennen. Seit Juni 2011 haben 3852 Syrer „zeitweiliges Asyl“ beantragt, 1585 haben es erhalten. Echtes Asyl haben 816 Personen erhalten, davon rund 300 Sicherheitskräfte des ehemaligen ukrainischen Diktators Viktor Janukowitsch. Und eine eine neue Fluchtroute hat sich vor kurzem bei Murmansk in der Arktis aufgetan: weil man die Grenze in Storskog nach Norwegen nicht zu Fuß überschreiten darf, haben es schon 1100 Syrer mit dem Fahrrad versucht. Aber die allermeisten Flüchtlinge werden vom Inlandsgeheimdienst festgesetzt und nach Syrien!!! (ein sicheres Drittland???) abgeschoben. Und das in diesem riesigen Land, das sich immer seines Sechstel der Erdoberfläche gerühmt hat und das eh zu zwei Drittel unbewohnt ist. Marine Le Pen, Putins Freundin, ist besonders originell, wenn sie in Madame Merkel selbst die Hauptverantwortliche für die Massenflucht sieht. Madame Le Pen, schon etwas vom Gesetz von Ursache und Wirkung gehört? Andere sehen die Schuld bei den Amerikanern, weil sie die Kriege in Afghanistan und Irak geführt haben, weil sie unser Öl wollen und uns versklaven. Die in historischen Dimensionen Denkenden meinen, dass es vor allem die Engländer und Franzosen mit ihrem Kolonialismus waren, die uns in die Katastrophe geführt haben. Klar, die große Anti-Israel-Fraktion ist auch da, hässlich und lautstark. Neulich ließ einer Ihrer Parteikollegen aufhorchen mit der Prognose, dass mit jedem Flüchtling mehr in Deutschland Marine Le Pen vom FN, der HC Strache und die AfD einen Wähler mehr und Pegida einen Demonstranten mehr kriegt, ein Flüchtlingsheim mehr brennt und ein Politiker mehr attackiert wird. Sogar die toleranten Niederländer, Dänen und Schweden sind von der nationalistischen Pest schon angesteckt und schicken uns zum Teufel. Das klingt lustiger als es ist, denn die Flucht ist die Hölle und der Tod auch, das kann ich schwören, Frau Bundeskanzlerin!

Viele meinen, dass wir Muslime selbst schuld sind, weil wir uns immer nur streiten, einander vertreiben und umbringen wegen irgendeines Neffen oder Enkels, weil sich die einen geißeln wollen und die anderen lieber steinigen. Ich habe sogar schon gehört, wir gehen nach Europa, um es zum Islam zu bekehren, mit Feuer und Schwert, wie wir es immer schon getan haben. Mit Verlaub, das ist reiner Unsinn. Warum nehmen sie dann alle ihre Babys und Kinder mit, ihre alten Opas, Krüppel im Rollstuhl und mit Krücken, die schwangeren Frauen und all die jungen Burschen allein? Eine Bekehrungs- oder Eroberungsarmee sieht anders aus. Aber ich versichere Sie, es ist nicht der Islam als Religion, der Schuld trägt an der Misere in der muslimischen Welt, sondern die politischen Rahmenbedingungen in den arabischen Ländern, der Mangel an Demokratie, Arbeitsmarkt und Bildung. Der Islam zerstört sich selbst. Seit ich im Paradies bin, nehme ich eine andere Perspektive ein, die ich Ihnen ans Herz legen will. Die jungen syrischen Männer, die nach Europa kommen, wollen nicht kämpfen, sie fliehen vor Gewalt und Blutvergießen. Es ist ein großer Protestmarsch gegen den Wahnsinn, dass ein Regime seit vier Jahren sein eigenes Volk bekämpft und ausrottet. Das sind Friedensmärsche! Schauen Sie einmal aus diesem Blickwinkel drauf. Wenn Sie oder andere das nicht glauben, dann sehen Sie sich noch einmal das Foto von mir in Bodrum an, sehen Sie in die verängstigten, erschöpften, ausgemergelten Gesichter der Flüchtlinge auf ihren Elendsmärschen, der Friedenssucher, die alles aufgegeben, alles hinter sich gelassen, ihr Leben riskiert haben, um in Europa Schutz zu suchen, in Europa als eine Verheißung. Sie klopfen an die Türen einer Utopie.
Wir werden auch nicht wie Prometheus die Welt in Brand stecken im Protest gegen die Götter.
Sie sprechen mit so vielen Menschen, Frau Merkel, eines sollten Sie wissen und weitergeben: Viele Menschen in diesen Elendszügen sind keine Kriegsflüchtlinge. Wenn Sie uns Vertriebenen helfen wollen, sollten Sie wirklich Unterschiede machen, wer da aller kommt. Ich habe selbst nur einen Teil dieses Weges mitgemacht, aber von meiner himmlischen Warte aus krieg ich alles mit. Im serbischen TV B-92 habe ich einen Polizisten bei Horgos in die Kamera sagen gehört, dass sie an der ungarischen Grenze Berge von zerrissenen afghanischen, indischen, pakistanischen, tadschikischen, usbekischen, iranischen chinesischen und sogar mongolischen Papieren gefunden haben. Von Flüchtlingen hat er gehört: „Sollen die Westeuropäer doch selbst herausfinden, was wir sind und woher wir kommen“. Ihre „ Wir-schaffen-das-Begrüßungskultur“ in Ehren, aber inzwischen hat sie sich das bis in den letzten Slum von Karatschi und ins hinterste Bergtal am Hindukusch und in Uigurien herumgesprochen. Und wer irgendwie kann, zieht mit.
Gestern stand am Wiener Westbahnhof eine riesige Gruppe von Inderinnen in einer Wolke von Seidensaris. Passen Sie auf, viele sehen Europa nur als dumme Melkkuh. Glauben Sie mir, ich habe von hier heroben den Überblick. Und uns wird zurecht nachgesagt, dass wir in die Seelen der Lebenden schauen können. Die FAZ schrieb kürzlich, wenn die Deutschen über Flüchtlinge nachdenken, denken sie über sich selbst nach. Und ihre großen Nachbarn sagen: Wenn die Franzosen oder Engländer über Flüchtlinge nachdenken, denken sie über Deutschland nach. Wer ist dieser mad man in der Mitte des Kontinents? Dieses Irrlicht. Vom Hippie-Staat ist schon die Rede, von einem besinnungslosen Gutmenschentum, von der entfesselten Barmherzigkeit, vor der sich die anderen fürchten müssen wie vor dem Gegenteil.
Auch angesichts der deutschen Vergangenheit weckt das intensiven Argwohn, da muss man nicht bei Pegida mitmarschieren. Von alter Schuld reinwaschen und sich mit frischen Kräften verjüngen? Also, passen Sie auf, welches Bild Sie abgeben, denn dass die Deutschen auf lange Sicht nur das Gute wollen, ohne Berechnung, trauen ihnen nicht einmal die gutmütigsten Nachbarn zu. Und erst recht misstrauisch sind die Amerikaner. In der New York Times stand neulich, dass die Behandlung der Migranten Erinnerungen an Europas dunkelste Stunden wach. Jediot Acharonot titelte „Und wieder die Bahnsteige“. Frau Merkel, Sie sind mir nicht böse, wenn ich Sie auf einen Fehler aufmerksam mache, der Ihnen – vielen anderen auch - unterlaufen ist. Die Verwechslung von Menschen- und Bürgerrechten.In Ihrer Sommer-PK beharrten Sie auf den „universellen Bürgerrechten, die mit der europäischen Geschichte bislang eng verbunden waren“. Entschuldigung, die gibt es nicht, sie stellen einen inneren Widerspruch dar. Universalität ist eine Eigenschaft aller Menschen, wohingegen die exklusive Gruppe der Bürger die Flüchtlinge nicht einschließt.
Ihre Redenschreiber müssen noch mehr darüber nachdenken – nicht nur diese – was eigentlich Menschenrechte sind. Sie wurden noch nie, in einem vernünftigen, modernen Sinn ausreichend begründet. Nicht durch die Declaration of Rights noch durch die Declaration des Droits de l` et du Citoyen Das ist ein Dilemma, ein Problem, für das es nur eine himmlische, eine metaphysische Lösung gibt, die dann nur post-metaphysisch sein kann. Das ist die Verlegenheit, die Europa gerade erlebt. Glauben Sie nicht, dass das ein akademisches, philosophisches Problem ist, nein ein ganz praktisches, ohne dessen Lösung es keine Lösung der Flüchtlingsfrage gibt. Mehr möchte ich jetzt dazu nicht sagen, vielleicht beim nächsten Telefonat. Sie und Ihre Mitarbeiter sollten sich dazu aber inzwischen wieder einmal Kant zu Gemüte führen, „Zum ewigen Frieden“, von 1795, kann nicht schaden.

Buntes Volk treibt sich im Paradies herum, in der Dichterecke sitzen Vergil, Petrarca und Dante, die Inferno -Spezialisten. Sie murmeln immer nur im Dreiklang: Pestpestpest, Rattenrattenratten, werfen einander Verse an den Kopf, die sich nicht mehr reimen. An einem Katzentisch, Robert Schindel, der Dichter aus Wien. Er nimmt noch immer die Worte beim Kopf und an der Kehle, würgt sie, schleudert sie durch die Sprachen und Geschichten, geht mit ihnen herum durch die Städte. Ich weiß nicht, was da noch alles herauskommt.
Vielleicht doch noch ein Talent? Ein guttar Mänsch?

Der Mord - ,Totschlag – und Katastrophenfachmann Shakespeare läuft nachdenklich herum, hält seinen Skalp in der Hand und murmelt vor sich hin: „Sein, oder Nichtsein, das ist hier die Frage.“ Milton ist nervös und sucht sein Paradise lost, Klopstock den Messias und Beethoven seine 10. Symphonie. Das Scheusal Abraham, der auf Gottes Befehl ohne Wimpernzucken bereit war, seinen Sohn zu ermorden – opfern nennt man das in der Religion - ist natürlich auch im Paradies. Das war heftig, selbst Gott hätte das nicht erwartet und war so schockiert, dass er einen Engel zur Rettung Isaaks schickte. Das große Proletariat des Jenseits stellen die Soldaten dar – Myriaden von Jungengesichtern unter Stahlhelmen und Bärenfellmützen, Turbanen und Dreispitzen. Statistisch gesehen muss das Paradies völlig mit Kindern bevölkert sein. Eine furchtbare Gegend voller gewickelter Bündel, Säuglinge, Kleinkinder mit spindelholzdürren Beinchen und hervorquellenden Bäuche oder die blauen, ertrunkenen so wie ich in Bodrum gefunden wurde.

Frau Bundeskanzlerin, Sie sind eine Naturwissenschafterin und haben die Gesetze des Lebens studiert, Chemie und Biologie. Wenn man die schrecklichen Götter außen vor lässt, dann sind wir Menschen doch auch nur Natur und werden nur zu Menschen in der Liebe, in der Gesellschaft, in der wir Platz haben, das Beste in uns zu entwickeln. Jede Pflanze sucht doch auch nur einen Platz an der Sonne, jedes Tier, sei es eine Ameise oder ein Lemming, will nur eines – überleben. Eine Wespe taumelt tausend Mal gegen die Fensterscheibe und sucht einen Weg ins Freie. So sind wir auch. Das ist das Prinzip des Lebens. Ist das wirklich so schwer zu verstehen? Denn wir sind nicht einfach „Kriegsflüchtlinge“, sondern „Lebenssucher“. Wir wollen doch wie alle in einer Welt leben, in der man nicht überleben muss.
Eines muss ich Ihnen noch etwas gestehen, obwohl ich jetzt im Paradies bin und friedlich sein sollte. Ich habe eine „mordsmächtige“ Wut im Bauch auf unseren Gott, der das alles zulässt, der unserem Elend zuschaut und meint, das sei naturgegeben oder eine Prüfung, die uns zu besseren Muslimen macht. Übrigens hat dieser Rache- und Besserungsgedanke auch in Ihrer Kultur eine lange Tradition. Ich finde, in ihrer Mordlust unterscheiden sich die Häuptlinge, ob Allah, Jahwe oder Ihr Gott, überhaupt nicht. Das sind alles Massenmörder, die sich im Blut der Menschen wälzen und sich über unseren Tod freuen. Davon nähren sie sich und werden immer fetter und mächtiger, je mehr Leute an diesen Hokuspokus glauben. Dafür versprechen sie uns dann das ewige Leben, eine Seelenwanderung, Auferstehung am Jüngsten Tag, eine unsterbliche Seele und ähnlichen Unfug. Denken Sie an Cortez, den Spanier und Montezuma, den Azteken. Interessant ist, dass die Azteken, die ihren Göttern Gefangene opferten, denen sie bei lebendigem Leib das Herz herausschnitten, zutiefst schockiert über den spanischen Brauch waren, ihre Missetäter auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Rituale der Religionen, die Tag für Tag nach Menschenblut verlangten. Die aztekischen Götter forderten es, damit am nächsten Tag die Sonne wieder aufgehen soll, der Gott der Spanier fordert es zur Ausdehnung der Macht und als Ausweis für das ewige Leben.
Grausamkeit – nur eine Frage der Perspektive? Die griechischen Schicksalsgöttinnen sitzen kichernd an ihren Webstühlen, während sie sich Kriege, Hungersnöte, Überschwemmungen und Krankheiten ausdenken und mit Millionen von Grausamkeiten das Geschehen in Gang halten. Warum haben sie sich ausgerechnet für eine kleine, unbedeutende Familie aus Kobane interessiert?
Ha, das muss der liebende und gerechte Gott gewesen sein, der allmächtige, der alles wissende, alles planende, alles sehende, wie großartig er unsere Flucht hingekriegt hat. Dabei haben wir die ganze Zeit zu ihm gebetet und um seine Hilfe gefleht. So sieht sein Dank aus! Und die toten Pilger auf der Mekka-Hadsch- vielleicht waren es 2000, 4000 oder noch mehr- die waren doch auch gerade beim Beten, Opfern und Verehren, als sie zertrampelt wurden oder erstickten. Vor kurzem ist mir eine Notiz im Wiener Kurier aufgefallen: Da wurde ein Mann nach einem Stromausfall in einem Lift gefangen und erst nach Stunden befreit. Aus lauter Dankbarkeit ging er zu einem Marterl auf den Himmel (sic!), einen Hügel im Westen Wiens, kniete nieder, verrichtete seine Dankesgebete und wurde von der umstürzenden Kapelle erschlagen. Das nenn` ich mir einen lieben Gott! So einprinzipienloser Kerl! Oder doch alles nur Schicksal? Was ist mit der Determination? Vorbestimmung – ja aber von wem? Wer hat meinen Tod geplant, den meiner Mutter und meiner Schwester und all der anderen 3000 Flüchtlinge heuer im Mittelmeer? Wenn Gott alles weiß, alles sieht und alles kann, wenn er angeblich ein guter Gott ist, warum schickt er nicht ein paar Drohnen, die uns auskundschaften, wenn wir in Not geraten, schickt ein paar Rettungsinseln, ein paar Schiffe? Und dann stehen sie da und zählen die Toten. Eines habe ich verstanden: ein Toter und noch einer sind nicht zwei. Und wenn sie 11 763 gezählt haben, machen sie weiter, bis die Million voll ist. Schon allein mit dem Zählen fängt es an. Auch die friedlichste Religion ist immer noch eine Tötungsmaschinerie. Auch im Vatikan lagern Maschinenpistolen. Und in der Zahl der toten Feinde Israels zeigt sich die Stärke seines Gottes. Jeremias ist dafür der große Prophet. Menschen haben manchmal Gedanken, die sie besser nicht hätten. So passiert das im Leben. Aber davon bin ich ja jetzt befreit und darf grenzenlos denken.
Frau Merkel, ich habe noch etwas verstanden, seit ich im Paradies bin, vielleicht können Sie etwas damit anfangen: Kriege werden um ihrer selbst willen geführt. Solange man sich das nicht zugibt, werden sie nie wirklich zu bekämpfen sein. Anlass und Ziel sind bloße Zutaten, rhetorische Dekorationen, um den Selbstzweck zu verstecken.
Der Gedanke ist äußerst unangenehm; wir erwarten unbedingt, dass es bei einem Mord um eine Frau oder zumindest eine goldene Uhr geht; bei einem Krieg um eine Insel oder um Öl. Wenn wir den Satz ernst nehmen - Kriege werden um ihrer selbst willen geführt - beginnt die ganze Weltgeschichte vor unseren Augen zu tanzen. Und da sind wir ganz schnell bei der Frage nach der Macht: Wer befiehlt das Töten? Haben Sie sich das schon einmal gefragt?
Wenn Sie die Frage im religiösen Sinn nicht beantworten wollen, weil das Privatsache ist, bin ich einverstanden. Aber im politische Sinn müssen Sie und die anderen Politiker antworten, indem Sie die Mächte hinter dem Krieg benennen und den Massenmord vor der europäischen Haustür beenden. Ihre Reise nach Istanbul finde ich etwas befremdlich, steht doch neben dem Iran, Saudi Arabien, den Golfstaaten und Russland auch die Türkei hinter dem Krieg von Assad und IS. Ob das ein Fehler war, wird die Geschichte erweisen, aber immerhin haben Sie gezeigt, dass Sie den Irrsinn des Mordens nicht länger akzeptieren.

Wenn Sie jetzt erschrocken sind und mehr erfahren wollen, gebe ich Ihnen aus meiner elyseischen Zusammenschau einen Buchtipp: lesen Sie wieder einmal – oder zum ersten Mal - Elias Canettis „Masse und Macht“ aus dem Jahr 1960, sehr aktuell, aufschlussreich und nützlich, dort und auch in seinem Buch gegen den Tod steht das so wortwörtlich.
Wahrscheinlich haben Sie „Masse und Macht“ in der DDR nicht zu lesen bekommen. Ich finde es wichtiger, vor allem für Sie als Politikerin, wichtiger als der überschätzte „Il principe“ von Machiavelli. „Man muss die Kraft haben, dem Krieg in Maul und Schlund zu fahren und ihm erbarmungslos die Eingeweide aus dem Leib ziehen.“

Ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht mit den Canetti-Zitaten erschreckt, bleiben Sie mutig auf Ihrem Weg, auch wenn es Sie vielleicht die Kanzlerschaft kostet. Ich muss jetzt schon schmunzeln bei dem Gedanken, wie das aussieht, wenn Sie den Friedensnobelpreis bekommen, aber Ihr Amt verlieren. Wenn Sie erlauben, werde ich Sie wieder anrufen oder, wie gesagt, kommt mein Vater bei Ihnen vorbei. Er denkt wie ich und Sie: „Wir schaffen das.“ Seien Sie sicher, dass wir von hier oben genau auf Sie schauen. Und ob es mein Papa bis Berlin schafft.

Schade, ich muss jetzt Schluss machen, der Märtyrer-Chor mit seinen Posaunen und Zimbeln ruft zum allgemeinen Gotteslob, außerdem ist mein Akku fast leer. Dabei hätte ich Ihnen noch so viel zu sagen. Wenn Sie mir all das nicht glauben, weil es so unglaublich klingt, kann ich Ihnen von meinem Ipod die Bilder schicken, da ist nichts getürkt und getrickst, nicht einmal verpixelt habe ich die Gesichter, alles echt. Trotzdem danke, dass Sie mir so lange zugehört haben. Ich habe es genossen, mit Ihnen zu sprechen.

Wiederhören, tschüühüüss, ich ruf bei Gelegenheit wieder an, darf ich, ok?
Danke Ihnen und liebe Grüße aus dem Paradies!
Das war der Aylan



Aufzeichnung: Veronika Seyr


1040 Wien
Wiedner Hauptstr. 39/IV/34
00431(0) 676/664 16 08






Keine Kommentare: