Slavko regte sich unbehaglich auf seiner Bank im Park. Sein Gehirn
registrierte, dass er fror und sagte ihm, dass der Winter nicht mehr
weit war. Ein dürres Blatt segelte von der Platane auf sein
Gesicht. Es war die Visitenkarte des strengen Herrn Frost. Seine
Banknachbarn in dem kleinen Park zwischen Gerhard-Bronner- ,
Elias-Canetti- und Sir Karl-Popperstraße hatten ihre Adressen schon
verlassen und waren auf ihre angestammten Standorte gezogen. Er
spürte Hunger in den Gedärmen und beschloss, ein
Ein-Mann-Hilfskomitee zu gründen. Er war noch nicht lange in Wien
und kannte die Stadt nicht gut. Das stimmte nicht ganz, denn Slavko
hatte schon seit dem Frühsommer auf einer Baustelle gearbeitet,
während der Woche im Containerdorf seiner Firma gewohnt und war an
den Wochenenden nach Hause, nach Petrzalka zu seiner Familie
gefahren. Aber an diesem Freitag, ein schwarzer, Freitag, der 13.,
hatte der Chef, anstatt den Wochenlohn auszuzahlen, gesagt, die Firma
ist pleite und hat kein Geld, keinen Cent, sorry, Leute, vielleicht
später. Alle arbeitslos gemeldet. Aber das galt nicht für ihn, den
Slowaken, nur für die Österreicher, die kriegen auch Arbeitslose,
die Ausländer nicht. So ein feine EU haben wir. Aber wenn er gerecht
sein wollte, musste er zugeben, dass die Firma einem Slowaken gehörte
und nichts mit der EU zu tun hatte. Also feinste Ostblock-Korruption.
Gestern Abend, als sich die Parkbänke und Baucontainer mit den
Nachtgästen füllten, schnappte er auf, dass sich nicht weit von
hier eine private Hilfsorganisation für Flüchtlinge niedergelassen
hatte, zum Teil im hinteren Bereich des Hauptbahnhofes, zum Teil in
Zelten und Containern auf dem Vorplatz. Alles soll es dort geben,
Kleider, Schuhe, erste Hilfe und sogar warme Speisen. Fast stieg ihm
schon der Duft von Suppen und Gulasch in die Nase, dazu Tee,
Kaffee, Marmelade- und Nutellasemmeln, Reis und Nudeln, Käse,
Sandwiches, Obstsalat, Joghurt, Mineralwasser, Orangensaft, sogar
Kuchen und Süßigkeiten soll es geben. Von solchen Wunderdingen
hatten seine Parkkumpel gefaselt.
Aber sie lassen niemanden rein, sagte ein alter, weißbärtiger
Mann ohne Beine im Rollstuhl. Was soll das heißen, niemanden, für
wen ist denn das ganze Zeug? Nicht für uns, nur für Araber, Asiaten
und Afrikaner, Europäer schmeißen sie raus, aber wie, sagte ein
junger Dicker mit einer Decke über die Schultern, und wie, in hohem
Bogen, aber so was von Rausschmeißen, ja, nur noch die A-A-A-löcher,
bekräftige ein mittelgroßer Bulle, der Boss hier gerade offenbar,
weil er zwei 6-er-Kartons mit Bierflaschen verwaltete. Slavko
traute seinen Ohren nicht. Naiv. Das kann nicht sein, wenn schon
eine Hilfsorganisation, dann doch für alle, die gerade Hilfe
brauchen. Ja, aber nicht für Europäer, das war einmal, Araber,
Afrikaner und Asiaten, die sind jetzt groß in Mode.
Slavko war ungläubig, beschloss aber trotzdem, es zu probieren und
verließ seine Bank. Mühsam holte er die Blätter von drei rosa
Wochenendzeitungen unter seinem Pullover hervor, streckte und
dehnte seinen Körper, er war steif und kalt wie eine Leiche,
klopfte sich heftig mit seinen Bauarbeiterfäusten auf Brust und
Oberschenkel, sprang am Platz auf und ab, schüttelte und drehte
sich mehrmals um seine Achse, hauchte in die Hände und rückte
seine Kleidung zurecht. Langsam strömte wieder Leben, Wärme in
ihn ein. Dann nahm er Rucksack und Billa-Sackerl von der Bank,
schaute sich im Morgenlicht um: Das war ja nicht einmal ein Park,
vielleicht der Anfang eines Parks, irgendwann vielleicht, jetzt
aber nur der Hinterhof einer Baustelle. Ein „Hotel plus one“
sollte es einmal werden. Die frisch gesetzten Bäume waren noch so
niedrig und mickrig, dass sogar die russischen Saatkrähen sie als
Schlafplätze verachteten. Slavko machte sich auf den Weg zum
„Trainofhope“.
Ein großes Transparent mit dem Roten Kreuz wehte über der
Zeltstadt, darüber Fahnen der Stadt Wien, der ÖBB und die blaue
mit den zwölf Sternen, eine andere wedelte schwach über dem
Container des Arbeitersamariterbundes, ein Transparent
REFUGEESWELCOME , auf einem Zelt eine ausgebleichte Regenbogenfahne:
Ihr sein da, wir sind da und heißen ALLE willkommen.
Slavko hat nie in Saus und Braus gelebt, war aber immer
durchgekommen, auch in den schweren Jahren nach der Wende. Es war
sogar ein wenig aufwärts gegangen, sodass er ein bescheidenes Haus
kaufen, heiraten und zwei Kinder ernähren konnte. Jetzt hatte er
nichts, nema nischta, apsolutno nischta.
Die Fäden, die er am Körper hatte, seine Arbeitskleidung im
Rucksack und im Billa-Sackerl die Hälfte von einem geschenkten
Salzstangerl und einer halben Flasche mit Obi-Spritz, die ihm eine
Frau am Abend geschenkt hatte, als er am Bahnhofs-Vorplatz seine
letzte Zigarette rauchte. Zu betteln getraute er sich noch nicht.
Er war noch nie in einer solchen Lage gewesen, dass er betteln hätte
müssen. Er wollte nur diesen schrecklichen, schwarzen
Freitagüberleben und soviel bekommen, dass er eine Fahrkarte nach
Bratislawa-Petrzalka kaufen konnte, vielleicht noch ein Packerl
Marlboro light. Das wäre alles, zu Hause würde seine Frau Jana
natürlich einen hysterischen Anfall bekommen, aber er wäre zu Hause
und könnte mit ihr zusammen überlegen, wie es weitergehen würde.
Er hatte keine großen Ansprüche, die Kinder gut erziehen und ihnen
eine bessere Zukunft sichern, normal leben, das wollte er, das war
doch nicht zu viel verlangt. Dass sie vielleicht studieren und gute
Jobs bekommen konnten, nicht so schmutzige und schwere wie er. Oder
so schrecklich langweilige wie seine Frau in der Käsefabrik am
Fließband, bevor sie zu Hause bei den Kindern geblieben war. Er
hatte nie an die Riviera wollen, einen Porsche fahren oder nach Las
Vegas zum Glücksspiel, keine karibische Kreuzfahrt, nicht einmal
einen verbilligten Badeurlaub in Sharm-el-Sheich. Nein, so war er
nicht, Jana auch nicht, da waren sie sich einig. In der Blauen Lagune
dahintreiben oder auf den Kilimandscharo klettern, so ein Blödsinn!
Ihnen reichten immer die zwei Wochen Bergsteigen in der Hohen Tatra,
bei einem Bauern wohnen und im Zielina-Stausee mit Baden und Angeln.
Die Kinder mochten die Lagerfeuer, an denen sie ihre Fische auf Äste
steckten und brieten, sie spielten mit den Kindern und Tieren des
Bauern und waren glücklich. Alles war einfach, aber sauber und
gesund. Die Kleine wollte zwar ein junges Kätzchen mitnehmen und der
Sohn einen Hund, das kam nicht in Frage, das bedeutete nur Arbeit und
Geld. So gut ging es ihnen auch wieder nicht. Jana war noch bei den
Kindern zu Hause und er der einzige Ernährer. Ha, jetzt das auch
nicht mehr.
Slavko trabte über die Kreuzung vor dem Quartier Belvedere,
überquerte die Schienen des D-Wagen und steuerte den neuen
Hauptbahnhof an. Auch er hat mit seiner Firma an einem Bahnhof
mitgebaut, auf dem ehemaligen Nordbahnhof, wo ein neues Wohnviertel
entsteht.
Vieles noch im Rohbau, aber schön würde es dort werden, nah an der
Donau, nah am Zentrum und mit schönem Ausblick in westliche Richtung
auf die Hügel des Wiener Waldes. Es erinnerte ihn an Petrzalka, ob
er und seine Familie sich so etwas einmal leisten würden können?
Absurder Gedanke, vorerst war er ein Bettler am Hauptbahnhof.
Er hatte keine Erfahrung als Obdachloser, darum konnte er auch nicht
wissen, dass seine Leidensgenossen im Park Recht hatten. Seine
Gedärme waren so leer, dass sie bis zu den Knien schepperten, umso
mächtiger und willkommener tauchten jetzt in seinen Gedanken die
Dinge auf, von denen die Kumpels geredet hatten. Ein feines Frühstück
würde er sich zusammenstellen: Kaffee, einen Obstsalat, ein Joghurt,
Brot, Käse, Wurst und Speck würde es nicht geben, aber vielleicht
noch eine Banane, einen Apfel, Kuchen oder sonst irgend etwas Süßes
zum Abschluss, Manner-Schnitten vielleicht.
Angeblich konnte man sich dort auch rasieren und Zähne putzen, dann
würde er wieder ganz respektierlich aussehen.
Wenn der Magen zufrieden gestellt wäre, würde er genügend Kraft
und Mut haben, um sich vor dem Bahnhof auf die Bank setzen und
betteln zu können. Und Kraft, um seinen Stolz zu unterdrücken,
abzuwürgen, zu verschlucken. Er brauchte nicht viel, wie er schnell
überschlug: 10€ für das Einfach-Ticket, 5 für die Zigaretten,
vielleicht noch eine Wasserflasche, wenn er keine bei den
Flüchtlingen bekam. Das sollte er doch zusammen kriegen, außerdem
schaute er nicht aus wie ein echter Sandler, er war ein ehrlicher
Arbeiter, der gerade nur Pech gehabt hatte. Mittelgroß, nicht dick,
aber stämmig, ein breiter Oberkörper und Hammerhände, wie ein
Bauarbeiter, der unsere Häuser und Straßen errichtet, ein
Ziegelarbeiter eben gebaut sein muss. Die Gesichtsfarbe eher rosig
mit beginnenden grauen Bartstoppeln unter den hohen Wangenknochen mit
einer auffälligen Stupsnase und den breit gestreuten
Sommersprossen.
Slavko trottete über das Asphaltmeer der Johannitergasse und kam an
ihrem Ende, wo sie in den Bahnhofsplatz mündet, an einem Restaurant
mit großen Fenstern und Schautafeln vorbei: „Der RINGSMUTH,
gutbürgerliche Küche, schattiger Gastgarten, dezente Preise,
Reservierungen 01/603 18 35“. Obwohl er nicht stehenblieb, um die
bunten Fotos der Speisen und Weinflaschen anzusehen, zog sich sein
Magen schmerzhaft zusammen.
Slavko versuchte, sich Mut zu machen, indem er fest an seine Familie
und sein Häuschen bei Petrzalka dachte, an die Obstbäume hinten
und die Hühner im Hof, an die Rosen-und Fliedersträucher vorne und
den Gemüsegarten, den seine Frau pflegte wie ihren Augapfel, weil er
zum Überleben der Familie notwendig war. Mut brauchte er, sogar
viel davon, weil er noch nie gebettelt hatte, nicht wusste, in
welcher Haltung dasitzen sollte, die Hand ausstrecken oder einen
Becher, wie dreinschauen und was sagen? Sein Deutsch reichte
gerade für die Baustelle, auf der aber fast kein Deutsch gesprochen
wurde, sondern ein wilder Balkan-Mix, der gerade zum Arbeiten,
Biertrinken und Kartenspielen reichte. Ob die Österreicher auf der
Baustelle überhaupt Deutsch sprachen, konnte er als Slowake nicht
beurteilen; die Ostdeutschen sagten, das ist kein Deutsch, nie und
nimmer. Aber ob die Vertragsarbeiter aus Chemnitz und Rostock
Deutsch sprachen, wer konnte das schon wissen.
Bitte, für Ticket, brauche 10 Euro, heimfahren. Um mehr würde er
nicht bitten, die Zigaretten bekam er so irgendwie zusammen, bei
anderen Rauchern.
Beim Eingang zum Terrain des TRAINOFHOPE gab es keine Sperren oder
Zäune, nur zwei Personen standen zwischen zwei Containern, ein
junger Mann und eine ältere Frau, Marius und Brigitte war auf den
Aufklebern an ihren grünen Westen zu lesen.
Sie sahen ihn mit seinem schmalen Rucksack, dem gelben
Plastiksackerl und seinem Bauarbeiterkapperl, lächelten und
nickten einander zu und deuteten mit dem Kopf nach dem Inneren. In
Slavko stieg das Vertrauen, die erste Hürde zum ersehnten
Frühstück ist genommen. Auf dem Platz dahinter nahm er ein
großes, weißes „Kärcher“-Zelt wahr mit dem Schild: SPENDEN
HIER. Vor einem Tisch standen einige Menschen mit großen Säcken,
Taschen und Koffern, die Kleidung und Decken auspackten und den
Leuten hinter dem Tisch überreichten. Slavko hörte, wie sie laut
„Dankedanke, sehr schön, super! Genau das brauchen wir.“ sagten
und dabei lachten. Daneben waren einige junge Männer damit
beschäftigt, die Spenden auf Stapelwagen zu laden und zu Containern
und Zelten zu führen, die sich der ganzen Bahnhofsmauer entlang
zogen.
Daran kam er auch glatt vorbei, vor ihm eine blaue Plastikplane mit
der Aufschrift „FIRST AID“ und wild darum herum geklebte Zettel
in allen arabischen und asiatischen Schriften, die wahrscheinlich das
gleiche bedeuteten. Daneben wies ein Schild auf ein „OFFICE“
hin, davor einige Bänke, Tische mit und viele Menschen, die
rauchen, reden und Kaffee trinken. Lustig und entspannt, junge und
ältere, alle reden intensiv miteinander und haben offenbar etwas
ganz Wichtiges miteinander zu besprechen.
Alle tragen gelbe, grüne und orange Westen mit Namen und
verschiedenen Aufschriften, die Slavko nicht entziffern kann, weil
sie in Arabisch und allen möglichen anderen asiatischen Buchstaben
geschrieben sind. die Auch die an Bändern baumelnden Ausweiskarten
konnte er auf die Schnelle nicht lesen, irgendwelche Offizielle,
aber doch waren sie so ganz anders, sicher keine Polizei der sonstige
Ordnungskräfte, wie er sie aus seinem Leben kannte. Ein Chaos,
schien ihm. Wer sind diese Leute? Junge, Alte, Frauen, Männer,
Frauen mit Kopftüchern und langbärtige Männer mit Sikh-Turbanen,
auf den gelben Westen vorne und hinten groß und fett
„SIKH-HELP-AUSTRIA. Etwas schäbig alles, fand Slavko, zusammen
gehudelt wie seine Containersiedlung auf der Baustelle am
Nordbahnhof. Nur mit andern Leuten, klar ganz anderen. Das war eine
andere Baustelle. Ein großes Schild auf blauen Zeltplanen lautete
„Helping hands – Anmeldung hier“ mit einem Pfeil in einen
ebenerdigen Raum unter dem Bahnhof.
Durch die zweite Schleuse schlüpfte Slavko leicht, weil die beiden
jungen Männer an der Zaunverengung, angebliche securities mit gelben
Westen, mit elektronischen Geräten so beschäftigt waren, dass sie
nicht einmal aufschauten.
So gelangte er in einem Strom von jungen Männern ins Innere der
Halle. Gleich links bemerkte er dichte Trauben von Männern um
einem Tisch mit vielen Kabeln, die Handy-Ladestation, rechts davon
lange Tische mit in Schachteln fein säuberlichen Batterien,
sortierten Hygienäne-Artikeln, Zahnpasten- und Bürsten,
Rasierklingen, Seifen, Shampoos, Taschentüchern, Socken und
Unterwäsche. Alles war neu und original verpackt wie in einem
improvisierten Supermarkt, aber zur freien Entnahme, dargeboten von
jungen und alten Frauen, mit Kopftüchern und auch ohne, jungen und
alten Männern mit lächelnden Gesichtern, als hätten sie auch noch
Spaß dabei.
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