Montag, 23. November 2015

König Winter




Slavko regte sich unbehaglich auf seiner Bank im Park. Sein Gehirn registrierte, dass er fror und sagte ihm, dass der Winter nicht mehr weit war. Ein dürres Blatt segelte von der Platane auf sein Gesicht. Es war die Visitenkarte des strengen Herrn Frost. Seine Banknachbarn in dem kleinen Park zwischen Gerhard-Bronner- , Elias-Canetti- und Sir Karl-Popperstraße hatten ihre Adressen schon verlassen und waren auf ihre angestammten Standorte gezogen. Er spürte Hunger in den Gedärmen und beschloss, ein Ein-Mann-Hilfskomitee zu gründen. Er war noch nicht lange in Wien und kannte die Stadt nicht gut. Das stimmte nicht ganz, denn Slavko hatte schon seit dem Frühsommer auf einer Baustelle gearbeitet, während der Woche im Containerdorf seiner Firma gewohnt und war an den Wochenenden nach Hause, nach Petrzalka zu seiner Familie gefahren. Aber an diesem Freitag, ein schwarzer, Freitag, der 13., hatte der Chef, anstatt den Wochenlohn auszuzahlen, gesagt, die Firma ist pleite und hat kein Geld, keinen Cent, sorry, Leute, vielleicht später. Alle arbeitslos gemeldet. Aber das galt nicht für ihn, den Slowaken, nur für die Österreicher, die kriegen auch Arbeitslose, die Ausländer nicht. So ein feine EU haben wir. Aber wenn er gerecht sein wollte, musste er zugeben, dass die Firma einem Slowaken gehörte und nichts mit der EU zu tun hatte. Also feinste Ostblock-Korruption.
Gestern Abend, als sich die Parkbänke und Baucontainer mit den Nachtgästen füllten, schnappte er auf, dass sich nicht weit von hier eine private Hilfsorganisation für Flüchtlinge niedergelassen hatte, zum Teil im hinteren Bereich des Hauptbahnhofes, zum Teil in Zelten und Containern auf dem Vorplatz. Alles soll es dort geben, Kleider, Schuhe, erste Hilfe und sogar warme Speisen. Fast stieg ihm schon der Duft von Suppen und Gulasch in die Nase, dazu Tee, Kaffee, Marmelade- und Nutellasemmeln, Reis und Nudeln, Käse, Sandwiches, Obstsalat, Joghurt, Mineralwasser, Orangensaft, sogar Kuchen und Süßigkeiten soll es geben. Von solchen Wunderdingen hatten seine Parkkumpel gefaselt.
Aber sie lassen niemanden rein, sagte ein alter, weißbärtiger Mann ohne Beine im Rollstuhl. Was soll das heißen, niemanden, für wen ist denn das ganze Zeug? Nicht für uns, nur für Araber, Asiaten und Afrikaner, Europäer schmeißen sie raus, aber wie, sagte ein junger Dicker mit einer Decke über die Schultern, und wie, in hohem Bogen, aber so was von Rausschmeißen, ja, nur noch die A-A-A-löcher, bekräftige ein mittelgroßer Bulle, der Boss hier gerade offenbar, weil er zwei 6-er-Kartons mit Bierflaschen verwaltete. Slavko traute seinen Ohren nicht. Naiv. Das kann nicht sein, wenn schon eine Hilfsorganisation, dann doch für alle, die gerade Hilfe brauchen. Ja, aber nicht für Europäer, das war einmal, Araber, Afrikaner und Asiaten, die sind jetzt groß in Mode.

Slavko war ungläubig, beschloss aber trotzdem, es zu probieren und verließ seine Bank. Mühsam holte er die Blätter von drei rosa Wochenendzeitungen unter seinem Pullover hervor, streckte und dehnte seinen Körper, er war steif und kalt wie eine Leiche, klopfte sich heftig mit seinen Bauarbeiterfäusten auf Brust und Oberschenkel, sprang am Platz auf und ab, schüttelte und drehte sich mehrmals um seine Achse, hauchte in die Hände und rückte seine Kleidung zurecht. Langsam strömte wieder Leben, Wärme in ihn ein. Dann nahm er Rucksack und Billa-Sackerl von der Bank, schaute sich im Morgenlicht um: Das war ja nicht einmal ein Park, vielleicht der Anfang eines Parks, irgendwann vielleicht, jetzt aber nur der Hinterhof einer Baustelle. Ein „Hotel plus one“ sollte es einmal werden. Die frisch gesetzten Bäume waren noch so niedrig und mickrig, dass sogar die russischen Saatkrähen sie als Schlafplätze verachteten. Slavko machte sich auf den Weg zum „Trainofhope“.
Ein großes Transparent mit dem Roten Kreuz wehte über der Zeltstadt, darüber Fahnen der Stadt Wien, der ÖBB und die blaue mit den zwölf Sternen, eine andere wedelte schwach über dem Container des Arbeitersamariterbundes, ein Transparent REFUGEESWELCOME , auf einem Zelt eine ausgebleichte Regenbogenfahne: Ihr sein da, wir sind da und heißen ALLE willkommen.




Slavko hat nie in Saus und Braus gelebt, war aber immer durchgekommen, auch in den schweren Jahren nach der Wende. Es war sogar ein wenig aufwärts gegangen, sodass er ein bescheidenes Haus kaufen, heiraten und zwei Kinder ernähren konnte. Jetzt hatte er nichts, nema nischta, apsolutno nischta.
Die Fäden, die er am Körper hatte, seine Arbeitskleidung im Rucksack und im Billa-Sackerl die Hälfte von einem geschenkten Salzstangerl und einer halben Flasche mit Obi-Spritz, die ihm eine Frau am Abend geschenkt hatte, als er am Bahnhofs-Vorplatz seine letzte Zigarette rauchte. Zu betteln getraute er sich noch nicht. Er war noch nie in einer solchen Lage gewesen, dass er betteln hätte müssen. Er wollte nur diesen schrecklichen, schwarzen Freitagüberleben und soviel bekommen, dass er eine Fahrkarte nach Bratislawa-Petrzalka kaufen konnte, vielleicht noch ein Packerl Marlboro light. Das wäre alles, zu Hause würde seine Frau Jana natürlich einen hysterischen Anfall bekommen, aber er wäre zu Hause und könnte mit ihr zusammen überlegen, wie es weitergehen würde.
Er hatte keine großen Ansprüche, die Kinder gut erziehen und ihnen eine bessere Zukunft sichern, normal leben, das wollte er, das war doch nicht zu viel verlangt. Dass sie vielleicht studieren und gute Jobs bekommen konnten, nicht so schmutzige und schwere wie er. Oder so schrecklich langweilige wie seine Frau in der Käsefabrik am Fließband, bevor sie zu Hause bei den Kindern geblieben war. Er hatte nie an die Riviera wollen, einen Porsche fahren oder nach Las Vegas zum Glücksspiel, keine karibische Kreuzfahrt, nicht einmal einen verbilligten Badeurlaub in Sharm-el-Sheich. Nein, so war er nicht, Jana auch nicht, da waren sie sich einig. In der Blauen Lagune dahintreiben oder auf den Kilimandscharo klettern, so ein Blödsinn! Ihnen reichten immer die zwei Wochen Bergsteigen in der Hohen Tatra, bei einem Bauern wohnen und im Zielina-Stausee mit Baden und Angeln. Die Kinder mochten die Lagerfeuer, an denen sie ihre Fische auf Äste steckten und brieten, sie spielten mit den Kindern und Tieren des Bauern und waren glücklich. Alles war einfach, aber sauber und gesund. Die Kleine wollte zwar ein junges Kätzchen mitnehmen und der Sohn einen Hund, das kam nicht in Frage, das bedeutete nur Arbeit und Geld. So gut ging es ihnen auch wieder nicht. Jana war noch bei den Kindern zu Hause und er der einzige Ernährer. Ha, jetzt das auch nicht mehr.
Slavko trabte über die Kreuzung vor dem Quartier Belvedere, überquerte die Schienen des D-Wagen und steuerte den neuen Hauptbahnhof an. Auch er hat mit seiner Firma an einem Bahnhof mitgebaut, auf dem ehemaligen Nordbahnhof, wo ein neues Wohnviertel entsteht.
Vieles noch im Rohbau, aber schön würde es dort werden, nah an der Donau, nah am Zentrum und mit schönem Ausblick in westliche Richtung auf die Hügel des Wiener Waldes. Es erinnerte ihn an Petrzalka, ob er und seine Familie sich so etwas einmal leisten würden können? Absurder Gedanke, vorerst war er ein Bettler am Hauptbahnhof.
Er hatte keine Erfahrung als Obdachloser, darum konnte er auch nicht wissen, dass seine Leidensgenossen im Park Recht hatten. Seine Gedärme waren so leer, dass sie bis zu den Knien schepperten, umso mächtiger und willkommener tauchten jetzt in seinen Gedanken die Dinge auf, von denen die Kumpels geredet hatten. Ein feines Frühstück würde er sich zusammenstellen: Kaffee, einen Obstsalat, ein Joghurt, Brot, Käse, Wurst und Speck würde es nicht geben, aber vielleicht noch eine Banane, einen Apfel, Kuchen oder sonst irgend etwas Süßes zum Abschluss, Manner-Schnitten vielleicht.
Angeblich konnte man sich dort auch rasieren und Zähne putzen, dann würde er wieder ganz respektierlich aussehen.
Wenn der Magen zufrieden gestellt wäre, würde er genügend Kraft und Mut haben, um sich vor dem Bahnhof auf die Bank setzen und betteln zu können. Und Kraft, um seinen Stolz zu unterdrücken, abzuwürgen, zu verschlucken. Er brauchte nicht viel, wie er schnell überschlug: 10€ für das Einfach-Ticket, 5 für die Zigaretten, vielleicht noch eine Wasserflasche, wenn er keine bei den Flüchtlingen bekam. Das sollte er doch zusammen kriegen, außerdem schaute er nicht aus wie ein echter Sandler, er war ein ehrlicher Arbeiter, der gerade nur Pech gehabt hatte. Mittelgroß, nicht dick, aber stämmig, ein breiter Oberkörper und Hammerhände, wie ein Bauarbeiter, der unsere Häuser und Straßen errichtet, ein Ziegelarbeiter eben gebaut sein muss. Die Gesichtsfarbe eher rosig mit beginnenden grauen Bartstoppeln unter den hohen Wangenknochen mit einer auffälligen Stupsnase und den breit gestreuten Sommersprossen.
Slavko trottete über das Asphaltmeer der Johannitergasse und kam an ihrem Ende, wo sie in den Bahnhofsplatz mündet, an einem Restaurant mit großen Fenstern und Schautafeln vorbei: „Der RINGSMUTH, gutbürgerliche Küche, schattiger Gastgarten, dezente Preise, Reservierungen 01/603 18 35“. Obwohl er nicht stehenblieb, um die bunten Fotos der Speisen und Weinflaschen anzusehen, zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen.

Slavko versuchte, sich Mut zu machen, indem er fest an seine Familie und sein Häuschen bei Petrzalka dachte, an die Obstbäume hinten und die Hühner im Hof, an die Rosen-und Fliedersträucher vorne und den Gemüsegarten, den seine Frau pflegte wie ihren Augapfel, weil er zum Überleben der Familie notwendig war. Mut brauchte er, sogar viel davon, weil er noch nie gebettelt hatte, nicht wusste, in welcher Haltung dasitzen sollte, die Hand ausstrecken oder einen Becher, wie dreinschauen und was sagen? Sein Deutsch reichte gerade für die Baustelle, auf der aber fast kein Deutsch gesprochen wurde, sondern ein wilder Balkan-Mix, der gerade zum Arbeiten, Biertrinken und Kartenspielen reichte. Ob die Österreicher auf der Baustelle überhaupt Deutsch sprachen, konnte er als Slowake nicht beurteilen; die Ostdeutschen sagten, das ist kein Deutsch, nie und nimmer. Aber ob die Vertragsarbeiter aus Chemnitz und Rostock Deutsch sprachen, wer konnte das schon wissen.
Bitte, für Ticket, brauche 10 Euro, heimfahren. Um mehr würde er nicht bitten, die Zigaretten bekam er so irgendwie zusammen, bei anderen Rauchern.
Beim Eingang zum Terrain des TRAINOFHOPE gab es keine Sperren oder Zäune, nur zwei Personen standen zwischen zwei Containern, ein junger Mann und eine ältere Frau, Marius und Brigitte war auf den Aufklebern an ihren grünen Westen zu lesen.
Sie sahen ihn mit seinem schmalen Rucksack, dem gelben Plastiksackerl und seinem Bauarbeiterkapperl, lächelten und nickten einander zu und deuteten mit dem Kopf nach dem Inneren. In Slavko stieg das Vertrauen, die erste Hürde zum ersehnten Frühstück ist genommen. Auf dem Platz dahinter nahm er ein großes, weißes „Kärcher“-Zelt wahr mit dem Schild: SPENDEN HIER. Vor einem Tisch standen einige Menschen mit großen Säcken, Taschen und Koffern, die Kleidung und Decken auspackten und den Leuten hinter dem Tisch überreichten. Slavko hörte, wie sie laut „Dankedanke, sehr schön, super! Genau das brauchen wir.“ sagten und dabei lachten. Daneben waren einige junge Männer damit beschäftigt, die Spenden auf Stapelwagen zu laden und zu Containern und Zelten zu führen, die sich der ganzen Bahnhofsmauer entlang zogen.
Daran kam er auch glatt vorbei, vor ihm eine blaue Plastikplane mit der Aufschrift „FIRST AID“ und wild darum herum geklebte Zettel in allen arabischen und asiatischen Schriften, die wahrscheinlich das gleiche bedeuteten. Daneben wies ein Schild auf ein „OFFICE“ hin, davor einige Bänke, Tische mit und viele Menschen, die rauchen, reden und Kaffee trinken. Lustig und entspannt, junge und ältere, alle reden intensiv miteinander und haben offenbar etwas ganz Wichtiges miteinander zu besprechen.
Alle tragen gelbe, grüne und orange Westen mit Namen und verschiedenen Aufschriften, die Slavko nicht entziffern kann, weil sie in Arabisch und allen möglichen anderen asiatischen Buchstaben geschrieben sind. die Auch die an Bändern baumelnden Ausweiskarten konnte er auf die Schnelle nicht lesen, irgendwelche Offizielle, aber doch waren sie so ganz anders, sicher keine Polizei der sonstige Ordnungskräfte, wie er sie aus seinem Leben kannte. Ein Chaos, schien ihm. Wer sind diese Leute? Junge, Alte, Frauen, Männer, Frauen mit Kopftüchern und langbärtige Männer mit Sikh-Turbanen, auf den gelben Westen vorne und hinten groß und fett „SIKH-HELP-AUSTRIA. Etwas schäbig alles, fand Slavko, zusammen gehudelt wie seine Containersiedlung auf der Baustelle am Nordbahnhof. Nur mit andern Leuten, klar ganz anderen. Das war eine andere Baustelle. Ein großes Schild auf blauen Zeltplanen lautete
„Helping hands – Anmeldung hier“ mit einem Pfeil in einen ebenerdigen Raum unter dem Bahnhof.
Durch die zweite Schleuse schlüpfte Slavko leicht, weil die beiden jungen Männer an der Zaunverengung, angebliche securities mit gelben Westen, mit elektronischen Geräten so beschäftigt waren, dass sie nicht einmal aufschauten.
So gelangte er in einem Strom von jungen Männern ins Innere der Halle. Gleich links bemerkte er dichte Trauben von Männern um einem Tisch mit vielen Kabeln, die Handy-Ladestation, rechts davon lange Tische mit in Schachteln fein säuberlichen Batterien, sortierten Hygienäne-Artikeln, Zahnpasten- und Bürsten, Rasierklingen, Seifen, Shampoos, Taschentüchern, Socken und Unterwäsche. Alles war neu und original verpackt wie in einem improvisierten Supermarkt, aber zur freien Entnahme, dargeboten von jungen und alten Frauen, mit Kopftüchern und auch ohne, jungen und alten Männern mit lächelnden Gesichtern, als hätten sie auch noch Spaß dabei.









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