Der alte Törki watschelte hinter Arpad her, vom Bernauer-Hof über
den Feldweg bis zum Spörk, einem Hügel, von dem der
Gutsverwalter die beste Aussicht hatte. Wenn sie jemand aus der
Ferne beobachtet hätte, so wie sie sich am Rande der Kuppe gegen den
Horizont abzeichneten, würden sie, wenn sie mehr gewesen wären,
ausgesehen haben wie ein General, der seiner Armee die Parade
abnimmt. Sie stellten sich in Reih und Glied auf und nahmen den Hof
ins Visier.
Arpad, von Wuchs ein Riese mit Beinen wie Herkules-Säulen, hatte
die Arme vor seinem mächtigen Brustkorb verschränkt, als müsste er
einen Angriff abwehren, wobei er selbst nicht wusste, von wem und
wo eine Gefahr für ihn ausgehen könnte. Seine
Puzsta-Peitsche hatte er immer dabei. Anstatt zu sprechen, schlug
er damit von Zeit zu Zeit an seine ledernen Reiterstiefel. Er
trug khakifarbene Knickerbocker, straff in die Stiefel gesteckt,
das hielt er für Respekt einflößend. Auf dem runden Kopf trug er
eine schwarze Baseballkappe mit den Buchstaben NYPD, New York Police
Departement. Sie drückte auf seine rosigen Ohren, sodass diese
senkrecht abstanden wie kleine Blechfahnen. Wenn er die Kappe
abgenommen hätte, würde man eine Glatze gesehen haben, glänzend
wie ein feuchter Seehundrücken. Das Arpad- Gesicht war rot,
blatternnarbig und mit misstrauisch spähenden Vogelaugen
ausgestattet, im Nacken perlten Schweißtropfen aus den
Fettwülsten, auf dem rechten Oberarm prangte eine tätowierte
Stephanskrone in Blau, links am Handgelenk ein Armband aus
Stephanskreuzen, und aus dem Hemdausschnitt drängte ein graues
Bärenfell hervor, das einmal blond gewesen sein dürfte. Arpad
sprach so wenig, dass niemand seine Stimme kannte, meist brüllte er
nur seine Befehle in Splittern von Ungarisch, Deutsch und einigem
Balkan-Sprachen-Mix, der klang, als hätte er Stroh in der Kehle.
Am ehesten könnte der Truthahn Törki seine Stimme gekannt haben,
weil Arpad die Gewohnheit hatte, laut vor sich hin zu fluchen und
und dabei die Wörter zusammen mit dem Grashalm im Mundwinkel
zu zerquetschen.
„Teufel, das war`s dann, ich hab`s gewusst, es musste so kommen“,
er schlug dabei mit der Peitsche gegen seinen rechten Lederstiefel,
dass es nur so schnalzte. Er zog tief auf, spuckte nach links und
starrte seinem kupfermünzenfarbigen Auswurf nach, als hätte er
gerade etwas Bedeutendes gesagt und erwartete eine Antwort. Törki,
der getreue Gefährte des Gutsverwalters, nahm den Schlatz mit der
ihn umgebenden Grasnarbe begierig auf, als hätte er eine Belobigung
bekommen, wich aber schnell wieder drei Truthahnschritte zurück,
um dem Peitschen-Stakkato zu entgehen.
Der
Spörk, das war Arpads Turm, sein Ausguck über den ganzen
Bernauer-Hof in Roschitz - Ortsteil Burg, zwischen Mühlbach und
Kirschwald, Bezirk Oberwart, Burgenland. Weiter im Osten lag der
Kreuzstadl, die Ruine der ehemaligen Schloss- Meierei, fast
unsichtbar im Säulenwald des Windparks Ost, zwischen den
verfallenden Silos der alten Bernauer-Mühlen und dem neuen Lagerhaus
mit dem Logo der gekreuzten Pferdeköpfe. Gegen Südwesten stand
in der weißlichen Nachmittagssonne die ausgefranste Hügelkette des
Leitha-Gebirges wie eine umgedrehte Krummsäge in den Himmel. Die
sanften Abhänge hielten ihre Füße im blauen Dunst verborgen und
verliefen sich im großen Steppensee; im Gegensatz zu den Menschen
schert der sich nicht um Länder, Staaten, Grenzen und Nationen,
und das schon seit dem Pliozän.
Arpad
hasste dieses reiche, fruchtbare, satte, Land, diesen Ort, seine
Menschen, und sogar die Sonne mit ihrem verschwenderisch gleißenden
Licht; sogar die Wolken, die sich über den Hügelzügen ballten,
schienen ihm unangemessen selbstsicher. Genauso wie das dichte
Efeugestrüpp an den Mauern des Bernauerhofes, das sich mit Weinreben
verwoben hatten, er empfand die gestutzten, um Fenster und Türen
fein säuberlich ausgeschnittenen hell- und dunkelgrünen Ranken als
arrogant und feindselig.
Auch
all die Hollunder- und Maulbeerbüsche, die Oleanderstauden und
Blautannen, die mickrigen Palmen in ihren bereiften Holzkübeln, der
schneeweiße Kies und das granitgraue, in der Juni-Sonne glitzernde
Katzenkopfpflaster schienen ihn so zu verhöhnen wie die darunter
lagernden Tschuschen, der Mirko, Milo, Osso und der neue Adi.
Nichts
davon gefiel ihm, weil ihm grundsätzlich nichts gefiel, was nicht in
Ordnung war, und hier war vieles nicht in Ordnung, überhaupt nix in
Ordnung.
Sie
wollte ihn loswerden wie einen räudigen Hund, ausspucken wie eine
unverdaute Blutwurst und vernichten wie eine Krebszelle. Aber er
würde es nicht zulassen, das kann sie mit ihm nicht machen, nicht
mit ihm, einem Arpad, er würde sich wehren und am Ende als Sieger
dastehen wie sein magyarischer Namensgeber.
Während
Arpad mit solchen Gedanken die Vogelaugen langsam über sein Reich
gleiten ließ, nahm Törki in einer seichten Grube des Lehmweges ein
Sandbad, schlug mit den Stummelflügeln um sich und wirbelte
gelbliche Wolken auf. Der rote Hautlappen baumelte dabei zwischen
Augen und Schnabel, den nackten, blauroten Faltenhals hielt er
gegen seinen Herrn gereckt und nickte dabei beständig wie eine
chinesische Katze. Mehr Liebe konnte Törki nicht zeigen, denn er
war im Alter stumm geworden.
Arpad
verachtete Truthähne und fand sie in jeder Hinsicht abstoßend.
Ihre Hässlichkeit, ihre Tolpatschigkeit, den Lärm, den sie Tag und
Nacht ohne Sinn machten, ihre Flugunfähigkeit, pah, das wollen Vögel
sein? Sie sehen lebend schon aus wie Gedärme, wie ein ausgenommener
Magen. Typisch amerikanisch. Sogar die dumme Anhänglichkeit des
Törki musste er sich notgedrungen gefallen lassen. Zu seinem Glück
war Törki schon so alt, dass er nicht mehr blöd herumkollern
konnte. Nicht einmal ihr Fleisch mochte Arpad, es ekelte ihn davor.
Ihm waren die ungarischen Gänse lieber, er hielt nicht wenige
davon in seinem Garten bei Sopron und machte zwischen Martini und
Weihnachten manch gute Geschäfte.
Er
lieferte direkt in Restaurants, immer frisch. Von denen konnte man
alles verwerten, Fleisch, Daunen, Darm und Haut. Dazu fand er, dass
die weißen, glatten Gänse schöne und kluge, wenn auch bösartige
Tiere waren.
Er war froh, dass die Chefin das Geschäft mit den Truthähnen und
allen anderen Vögeln aufgegeben und war stolz, dass er dazu nicht
unerheblich beigetragen hatte. Törki war der letzte seiner Art, er
genoss ein Gnadenbrot und wurde geduldet als Erinnerung an den
alten Dr. Bernauer, den verstorbenen Ehemann der Gutsbesitzerin.
Wäre diese sentimentale Alte nicht seine Chefin, hätte er Törki
schon längst den blauroten Schrumpelhals umgedreht. Seit
Bernauers Tod hatte das Gut auf Obst umgestellt, vor allem
Kirschen, Weichseln, Marillen, Zwetschken, Mandeln, Hasel- und
Steinnüsse waren im Angebot, dazu noch viele Felder mit Erdbeeren,
Himbeeren, Ribisl, Gladiolen und Dahlien zur Selbsternte, man war
hier schließlich im „Beeren und Blumenparadies“ der Ostregion.
Große Tafeln an den Straßen priesen es von weitem an.
Burgenländische Herzkirschen, die frühen und extragroß, und die
ersten Erdbeeren waren die Spezialität des Bernauer-Hofes, BOB –
Bernauer-Obst-Burgenland hatten die Arbeiter auf ihren grünen
Latzhosen aufgedruckt so wie die Banderolen auf den Obststeigen und
Körbchen. Sie hatten seit kurzem ein Landesqualitätssiegel bekommen
und belieferten große Ketten. Auch sein Verdienst, naja, nicht nur.
Auch die Hasel- und Steinnüsse waren von hoher Qualität und
brachten ihren Preis, weil die Bernauerin ihr Personal nach deren
Genügsamkeit aussuchte und so die Arbeitskosten senkte. Und er,
Arpad, war ja auch noch da, um seine Tschuschen gefügig zu halten.
Der
damals schon alte Notar Dr. Eduard Bernauer hatte das späte,
aber reiche Mädchen Edith Daubrawa-Pick geheiratet, weil ihm gerade
seine Haushälterin gestorben war. Warum die alten Daubrawa-Picks ihr
einziges Kind Edith nicht früher mit einer passenderen Partie
versorgt hatten, wusste Arpad nicht. Sie hatten sie vom Dorf und der
Welt abgeschottet wie ein rohes Ei, sie waren einmal nach den
Batthyanys die Reichsten in der Gegend gewesen. Vielleicht weil
sie so großen Respekt vor dem Dr. jur. vor dem Namen hatten. Auch
wieder kein Funken Verstand, reine Sentimentalität.Wie sich schnell
herausstellte, hatte der Jurist nichts übrig für das
Mühlengeschäft und die Landwirtschaft, überhaupt für irgendein
Geschäft, er lebte nur für seine Kanzlei und widmete sich
nebenbei seinem Spleen, Truthähne, Enten und Strauße
aufzuziehen. Aber das war vor Arpads Zeit gewesen. Arpad
interessierte sich mehr für die Gegenwart und die Zukunft als für
die Vergangenheit, die nicht die seine war. Das Geschäft mit dem
Vogelvieh lief nie, hat er sich sagen lassen. Es war niemand da, der
sich damit richtig auskannte, mit Zucht, Vermarktung und Ähnlichem.
Ediths
Familie, den Daubrawa-Picks, gehörten einmal fünf der zwölf Mühlen
in Roschitz, die anderen den Batthyanys, die bis zur
verhängnisvollen Nacht zum Palmsonntag im April 1945 im „Öden
Schloss“ gewohnt hatten. Zehn Tage später kam die Rote Armee. Die
Batthyanys waren irgendwo im Ausland untergetaucht, die konnten sich
alles richten, war doch die letzte Gräfin eine von
Thyssen-Bornemisza. Im hin- und herwogenden Kampf um Roschitz zu
Kriegsende wurde das Schloss schwer beschädigt, noch mehr verwüstete
es die zehnjährige sowjetischen Besatzung; später wurde es ganz
abgerissen. Irgendwann begann das Mühlensterben in Roschitz.
Arpad ahnte die Gründe dafür, warum die Mühlen wortwörtlich
den Bach runtergegangen waren, Roschitz und Güns hätten genügend
Wasser gehabt, sogar bis heute.
Der Kapitalismus, die Großen fressen die Kleinen. Das hatte er
gelernt in 20 Jahren hier. Ein Naturgesetz war das.
Im Heimatmuseum von Roschitz war er nie. Er wusste nicht, dass die
Römer an diesem Ort eine große Militärstadt namens Savaria gebaut
und mit dem Wasser aus dem Günser Gebirge, das im Roschitzbach
zusammenlief, eine 22 km lange, mit Feldsteinen ausgelegte
Wasserleitung gelegt hatten, eineinhalb Meter tief unter der Erde;
auch nicht, dass es in Roschitz einmal eine große und reiche
jüdische Gemeinde gab, wo unter einem kaiserlichen Schutzbrief von
1682 36 jüdische Familien lebten; der Ort verzeichnete eine
Judengasse, einen jüdischen Friedhof und drei Synagogen. Und weil
sich damals die Mehrheit der Roschitzer zu Luther bekannte, wurden
in der nachfolgenden Gegenreformation hier besonders viele
Marienkirchen, Marienstatuen und Marterl aufgestellt, für die der
Ort heute noch berühmt ist, also ein Marien-Wallfahrtsort wurde.
Arpad kümmerte auch nicht, dass Roschitz bei den Kroaten Rohunaz
hieß, bei den Roma Rochonza, bei den Ungarn Rohoncz und bei den
Slawen überall Orechovca- Nusshain heißt. Auch, dass ein
mittelalterlicher Codex Rohonczi in der ungarischen Akademie der
Wissenschaft liegt und bis heute noch nicht entziffert ist, weiß
Arpad nicht. Die einzigen Toten während der Krise von 1956 gab es
außerhalb Ungarns im Ortsgebiet von Roschitz, als zwei sowjetische
Soldaten ungarische Flüchtlinge bis über die Grenze verfolgten und
von der zu Hilfe gerufenen österreichischen Gendarmerie erschossen
wurden. Sie wurden ausgeliefert und bekamen auf der anderen Seite
des Stacheldrahtes ein ungarisch- sowjetisches Staatsbegräbnis,
während das gerade ein Jahr alte österreichische Bundesheer auf
dieser Seite des Todesstreifens in Alarmbereitschaft versetzt war.
Die Roschitzer sind dafür bekannt, dass sie besonders viele
Ungarn-Flüchtlinge aufgenommen haben, sie waren die ersten, die die
Menschen spontan begrüßten, mit Proviant und warmem Zeug an der
Grenze versorgten und in ihre Häuser aufnahmen, bevor sie in
staatliche und kirchliche Organisationen übergeben wurden.
Auch diese Geschichte entzieht sich Arpads Wissen, aber dass auf
dem Geschriebenstein im Dreiländereck ein Arpad-Turm steht, erfüllte
ihn nicht nur mit persönlichem Stolz, sondern bestätigte ihn in
seiner Überzeugung, dass ohnedies die ganze Ostregion ungarisch sei
und zu Ungarn gehörte, immer schon, wie halb Rumänien und die
Slowakei. Für ihn war das alles einfach Westungarn, wie schon seit
tausend Jahren.
Arpad
arbeitete schon lange am Hof der Bernauerin, an die 30 Jahre.
Anfangs kam er nur als Saisonarbeiter von jenseits des
Stacheldrahtes über Sopron herein, die Schleichwege durch die
Kukuruzfelder kannte er gut, und er hatte Freunde bei den
Grenztruppen. Später wurde es leichter, legal im
kapitalistischen Ausland zu arbeiten.. In Sopron war er Mechaniker in
einem sozialistischen Zementwerk, das wenig produzierte, dafür
aber alle Flüsse, Teiche Tümpel und Grundwasser in der Region
verseuchte. Damals war man nicht so pingelig mit der Umwelt wie
heute, es ging ja nur um Produktionszahlen und und Planerfüllung.
Nach
dem plötzlichen Tod des alten Bernauer stieg die Witwe Edith auf
den Obstbau um, das war praktisch, weil sie ja viel Land geerbt hatte
und die Plantagen am einfachsten zu bewirtschaften waren. Arpad
arbeitete sich bei der Bernauerin schnell zum Gutsverwalter hoch.
Er wusste von Anfang an, dass sie ihn nicht mochte, sich sogar ein
bisschen vor ihm fürchtete, sein Vorteil, denn sie brauchte ihn,
den Schupan, wie einen Bissen Brot, wollte sie zumindest ihren
letzten Hof erhalten und weiterführen. Als der zu prosperieren
begann, war er es, der die Tschuschen, wie Arpad sich ausdrückte,
einstellte, die neuen Gastarbeiter aus Jugoslawien und der Türkei.
Viele kamen und gingen, die Chefin war sparsam und streng, er noch
strenger.
Jetzt
arbeiteten hier ständig Milan, Tvrtko und Osman, der Anatolier,
von Arpad einfachheitshalber Milo, Tricki und Osso gerufen. Die
beiden Bosnier waren längst schon Österreicher geworden,
papirtschiki, hatten ihre Familien hier und Häuser in der Umgebung
gebaut, hatten zwei Schwestern aus ihrem bosnischen Dorf geheiratet,
und ihre Kinder wollten von Jugoslawien längst nichts mehr wissen.
Blödes Balkan-Pack, zuerst haben sie einen gemeinsamen Staat, dann
schlagen sie sich jahrelang die Köpfe ein, vertreiben einander,
flüchten, nur um hier wieder zusammenzukommen und zu leben wie
Brüder. Sie haben nicht einmal unterschiedliche Sprachen. Das soll
einer verstehen. Er, Arpad, hatte nie um einen österreichischen
Pass eingereicht. Einmal Ungar, immer Ungar, er brauchte den Fetzen
nicht.
Weil
eine gute Ernte in Aussicht stand, wurde vor der Hochsaison noch ein
Rumäne eingestellt, hoch offiziell vermittelt vom AMS. Adrian
Paulus, von Arpad sofort auf Adi gekürzt, hatte vorerst nur eine
befristete Arbeitsgenehmigung. Schnell wurde klar, dass Adi bei der
Arbeit der Beste von allen war, dazu immer lustig, höflich und
sauber, arbeitsam und anspruchslos, nie aufmüpfig oder unwillig,
auch wenn Arpad ihm die größte Drecksarbeit zuwies und diese dann
noch sinnlos drei Mal wiederholen ließ. Adrian hatte immer Stöpsel
in den Ohren, er lernte Deutsch. Arpad hasste den Rumänen vom
ersten Augenblick an aus tiefster Seele, wenn er eine solche gehabt
hätte anstatt eines kochendes Eisfachs. Er hasste ihn nicht einmal
persönlich, sondern einfach deswegen, weil Adi Rumäne war, und
Rumänien den Ungarn Dreiviertel ihres Landes weggenommen hatten.
Dass Adrian nicht einmal ein echter Rumäne vom Stamm der Draker,
der Thraker oder als Lateiner ein Abkömmling der römischen
Soldaten in ihrer Schwarzmeer-Provinz war, sondern ein Nachkomme von
Deutschen aus Temeswar, war Arpad gleichgültig, für solche
Feinheiten hatte er nichts übrig. Der Rumäne ist dem Ungarn ein
Feind, und damit basta.
Seine
alten Tschuschen nannten den Gutsverwalter gospodin, gospodar oder
hospodar – Herr. Dass sie es spöttisch sagten, hörte er nicht
heraus, dazu war die ihnen die gemeinsame Sprache zu
bruchstückhaft. Lieber war ihm die Anrede „Schupan“, der
ehrwürdige Titel für die allmächtigen Gutsverwalter der
ungarischen Magnaten, die damals in den Hauptstädten saßen, alles
verprassten und die Schupane nach ihrem Gutdünken auf den Gütern
gewähren ließen. Die Schupane waren in diesen Zeiten die wahren
Herrscher über Land und Leute und brachten es, wenn sie es nur
geschickt genug anstellten, oft selbst zum Magnaten, wenn auch ohne
den Adelstitel. Damals war noch alles geordnet und geregelt, jeder
wusste, was oben und unten ist - Peitsche und Stiefel, Stiefel und
Peitsche. Er trommelte mit der Gerte so heftig gegen seinen Stiefel,
dass Törki mit ein paar Torkelschritten zur Seite flüchtete.
Arpad
schaute nach unten zum Bernauerhof, schnaufte tief, atmete aus und
weitete seinen Brustkorb zum Anschlag wie eine Ziehharmonika. Er
wusste, obwohl er sie von hier oben nicht sehen konnte, dass seine
alten Tschuschen im Grasstück links vom Haupteingang lagerten und
unter der Deckung von dichten Hollunder- und Maulbeerbüschen,
einiger Blautannen und Oleandersträuchern die Szene im Hof
beobachteten, sie waren näher als er oben am Spörk. Arpad hatte
nicht völlig freie Sicht, denn im Kies der Hofmitte standen drei
große Holzkübel mit Palmen, die aussahen, als würden sie auf
Helgoland wachsen.
„Dieses faule Balkan-Pack, dem werde ich schon noch Beine machen,
wenn dieser Pfaffen-Zirkus vorbei ist“. Ob Schupan – Gospodin
das nur dachte, murmelte, knurrte oder es wirklich laut zwischen
seinen Lippen hervorkam, wusste er nicht, und auch Törki nicht.
Auf jeden Fall war der Fluch so furchtbar wie ein langes
Donnergrollen vor dem Gewitter, dass sich Törki mit ein paar
unbeholfenen Halbflügelschlägen im Kukuruzfeld in Sicherheit
brachte.
Die
Tschuschen unten waren nicht so wütend wie Arpad oben auf seinem
Spörker Ausguck, sondern gelassen und lustig. Milo und Tricki, der
Serbe und der Kroate aus Bosnien, hatten eine Flasche mit selbst
gebranntem Slivovitz zwischen sich. Arpad wusste, dass sie zu Hause
eine kleine Brennerei betrieben und hatte es der Chefin nie
weitergesagt. Vielleicht würde die Zeit einmal dafür kommen.
Milo,
der Serbe aus der Lika, war der Längstdienende unter den Tschuschen
am Hof, der erste Traktorfahrer und fast schon so etwas wie der
Stellvertreter des Stellvortreters. Gefährlich, dachte Arpad, aber
Milo machte keine Anstalten, ihn zu bedrängen. In seinen rot
geränderten Augen schwammen die Pupillen in einem gelblichen Weiß,
sein linkes Augenlid hing herab, sodass er aussah, als würde er
ständig zwinkern und ihm sagen: „Du weißt, Arpad, wenn ich
wollte….“
Tricki
aus Mostar war der Witzbold der Truppe und sah auch so aus: Unter
dem ausladenden Strohhut hatte er ein rot gebranntes Gesicht, die
Stupsnase glänzte wie ein lackierter Hahnenkamm, und die
Sommersprossen breiteten sich wie ein Fleckerlteppich vom Kopf über
den ganzen Körper aus. Seine Unterlippe glänzte ewig nass wie bei
einem Elefanten und darauf klebte völlig selbständig eine
Zigarette.
Zusammen
mit Milo erzählten sie sich ununterbrochen alte jugoslawische Witze,
erinnerten einander an jugoslawische Filme und soffen ihren
Selbstgebrannten.
Osso, ein Anatolier vom Van-See, war Moslem, er trank nicht und
sprach kaum, dafür rauchte er ohne Unterbrechung türkische
Zigaretten der Marke Ararat und kaute an seinen herabhängenden
Schnurrbartenden. Niemand wollte seinen Ararat-Tabak. Bei der Arbeit
war er ausdauernd und beständig wie die Esel seiner anatolischen
Bauernvorfahren. Der neue Adi war ein Poet, er klimperte
selbstvergessen auf der Gitarre vor sich hin, er kannte viele Lieder
in allen möglichen Sprachen, die ihm mit seiner rumänischen
Muttersprache nur so zuflogen. Adi, der war Arpad nicht geheuer, es
war noch weniger als eine Ahnung, mehr ein siebenter Sinn im Urin,
dass der ihm einmal gefährlich werden könnte, obwohl er sich nie
mit Arpad anlegte. Er war schlau, gebildet und überaus gutaussehend.
Bei der weiblichen Kundschaft auf den Freilandfeldern hatte er den
größten Erfolg. Er soll schon bei sich zu Hause in Temesvar
einmal eine Geflügelfarm geleitet haben, allerdings nur strafhalber,
als junger Schriftsteller wurde er von Ceaucescu aus einer
Zeitungsredaktion aufs Land verbannt.
Bis
auf den angespannten Arpad war alles so schläfrig wie am Nachmittag
des Jüngsten Tages vor der Erweckung der Toten. Hier am Rande der
pannonischen Tiefebene konnte es schon zu Sommerbeginn sehr heiß
werden, die Hitze quetschte die Hirne zusammen, und der Himmel
gegen Osten war wie aus flüssigem Blei, das trügerische,
flache Grau des Ostens, der bis zum Kaukasus keine Berge kannte. Die
Sonne brütete die Ernte aus, die Früchte, Beeren, Nüsse und die
Blumen, aber auch allerhand trübe glühende Phantasien.
Arpad kniff jetzt die Augen zusammen und blickte schärfer hin, als
ein weißer Audi langsam von der Bundesstraße S37 abbog, über
den Wiesenweg schlich und in den Hof einfuhr. Das mussten die sein,
die erwartet wurden. Er wusste, dass der Roschitzer Pastor so einen
Wagen fuhr. Frau Bernauer trat aus dem Haupthaus heraus, wie auf
Knopfdruck, als hätte sie hinter der Eingangstüre gewartet, und
ging auf das Auto zu. Sie hatte sich mit ihrem Sonntagsstaat fein
herausgeputzt, einem geblümten Kleid und einer Perlenkette, ein
kleiner, topfartiger Filzhut saß auf dem Kopf so schief wie ihr
verlegenes Lächeln im Gesicht, umrahmt von angegrauten Löckchen.
Sogar die Augenbrauen hatte sie nachgezogen und einen rosigen
Schimmer auf die Lippen gelegt.
Als erster stieg Pastor Thomas Stipschitz aus dem Wagen und
schüttelte Frau Bernauer lange die Hand, wobei er seine andere oben
drauf legte und sie tätschelte. Er war es, der vermittelt hatte,
dass diese Leute von da drüben hierher kamen. Er hatte diese Lösung
mit dem neuen Roschitzer Bürgermeister Franz-Jörg Podezin von den
„Freiheitlichen“ ausgehandelt, dafür, dass der Ort keine
weiteren Flüchtlinge aufnehmen müsste. Nachdem der Pastor endlich
Frau Bernauers Hände losgelassen hatte, öffnete er die hintere Türe
und zwei Kinder sprangen heraus, ein etwa zehnjähriger Knabe und ein
jüngeres Mädchen, danach eine Frau in schwarzem Ganzkörperschleier
mit Gesichtsgitter, keine Person, keine Figur, sondern ein Sack wie
eine Leerstelle in der bunt gestreiften Landschaft. Und
schließlich erhob sich ein Mann vom Beifahrersitz, etwa 40 Jahre,
mittelgroß, drahtig, leicht gekrümmt und mit einer randlosen
Brille auf der Nase. Arpad sah sofort, das war kein Landarbeiter,
nie und nimmer, das zu große, blaue Hemd bauschte sich und rutschte
über die Hände, und die zu langen schwarzen Hosenränder bedeckten
seine schnabeligen Schuhe fast zur Gänze, wahrscheinlich im
Pfarrhof eben frisch eingekleidet wie ein Clown für die Zirkusarena.
Bis auf das schwarze Mutterzelt sahen sie eigentlich ganz manierlich
aus, normal, zumindest keine Bären auf zwei Beinen mit Schellen um
den Hals. Der hochaufgeschossene Junge hatte das volle, lockige Haar
in einem Scheitel streng zur Seite gekämmt, dem Mädchen hing
einen dicker, blauschwarzer Zopf über den Rücken fast bis zur
Mitte, eine kleine Schönheit, wie Arpad neidvoll feststellte.
Diese Kinder waren hübscher als seine eigenen, Geza und Ildiko,
ganz zu schweigen von seiner Frau.
Die Hauptrolle da unten auf dem Gutshof schien jetzt der Zehnjährige
zu spielen, er war offenbar als Übersetzer eingesetzt; zuerst
sprach der Geistliche auf die Chefin ein, alt, lang und in einer
schwarzen Soutane mit weißem Stehkragen um den Hals, dann der
Vater, der sich wie ein Perpendikel ständig nach allen Seiten
verneigte, dann der Knabe, der wandte sich an die Gastgeberin und
wieder zurück zu Pastor und Vater. Er musste in der Schule da
unten schon irgendetwas von einer Fremdsprache vermittelt bekommen
haben.
Arpad war eingeweiht, weil es lange Verhandlungen und
Vorbereitungsarbeiten gegeben hatte. Die Eltern heißen Mahmoud und
Faten Chalhoub, die Kinder Kameel und Kaffa, sie kamen aus Syrien,
der Vater soll in der Hauptstadt Damaskus Informatiker gewesen sein,
angeblich mit eigener Firma, jetzt würden sie in Roschitz, Spörk 1,
Ortsteil Burg, zwischen Mühlbach und Kirschwald, unweit des
Kreuzstadls im Bezirk Oberwart, leben und arbeiten.
Mit seinen Vogelaugen erfasste Arpad das Gruppenbild aus sechs
Personen wie ein Photograph, er fror es in seinem Augenhintergrund
ein, bevor es sich auflöste, als Frau Bernauer alle schnell ins Haus
führte, Tee für den Pastor und die Fremden. Er, Arpad, fast zwanzig
Jahre am Hof, hatte noch nie Tee im Salon eingenommen, weder beim
alten Bernauer noch bei der Witwe.
Welche Namen die hatten, wie für Käfer, Würmer und Vieh, dachte
Arpad, Ungeziefer von den Booten, die haben schon einmal die
Pest von dort mitgebracht. Bei dieser Vorstellung schlug er so
heftig mit der Peitsche gegen den rechten Stiefel, dass Törki
ein kleines Stück weit weg flatterte.
Während sich der Gutsverwalter jetzt mit einer heftigen Wendung
von seinem Aussichtsposten losriss und, gefolgt von Törki, zum
Gutshof hinunterstieg, zerteilte er mit der Peitsche die Luft um
sich und zerstampfte sie unter seinen Stiefeln.
Mahmoud, Kameel, Kaffa, der Name des Zeltes tat nichts zur Sache, er
fand grundsätzlich alles außer Ungarisch unanständig,
unaussprechlich und nicht der Mühe wert, dass man es sich merkte.
Er würde diese Heidennamen nie aussprechen und wusste schon, wie
er den Neuen rufen würde: Mamu, klang richtig schön tierisch.
Mamu hier, Mamu da, bzsobrzo, schnellschnell!
Diese Leute kamen einfach hier an, mit nichts, sie besaßen rein gar
nichts.
Dabei mussten sie viel Geld haben, denn Schlepper und Überfahrten
kosteten Tausende.
So, und jetzt sollen wir sie verköstigen und so tun, als seien sie
Menschen wie wir. Alles musste von irgendwo zusammen gekratzt
werden, beim Pfarrer, in der Gemeinde, auf Flohmärkten, am eigenen
Hof, Möbel, Geschirr, Wäsche, Kinderkram.
Warum auch immer, Frau Bernauer wollte es sich nicht nehmen lassen,
selbst Hand anzulegen, und hatte aus alten Geflügelfuttersäcken vom
Lagerhaus Vorhänge genäht, immer abwechselnd grün und gelb mit den
gekreuzten Pferdeköpfen als Bordüre unten. Sie hatte sie gemeinsam
mit der tauben Köchin Fanni an den Fenstern im ehemaligen
Geflügelhaus aufgehängt. Diese Armen, sie hätten ja gar nichts,
und so viel hätten sie auf dem Weg von drüben hierher durchmachen
müssen, dass sie jetzt sicher froh wären, auf einem Gut wie diesem
wohnen zu dürfen. Arpad fragte sich, ob Menschen, die die Sprache
nicht verstanden, überhaupt Farben unterscheiden konnten. Er hatte
Milo und Tricki im Auftrag der Chefin schon vor einiger Zeit
angewiesen, die leeren 50kg-Plastiksäcke, in denen der Kalk zum
Weisseln der Obstbäume vom Lagerhaus angeliefert wurde, einzusammeln
und zu reinigen. Die könnte man als Bodenbelag im alten Geflügelhaus
verwenden, hatte die Chefin gemeint. Arpad hatte gemurrt, nicht nur
weil er überhaupt nicht mit der Einquartierung der Araber
einverstanden war, sondern weil er diese Plastikplanen immer zu sich
nach Hause gebracht hatte, er fand sie praktisch für die Bespannung
seiner Gewächshäuser in Sopron.
Frau Bernauer hatte dem Personal erklärt, dass die Neuen übers
Wasser kamen, weil sie dort, wo sie geboren sind, keinen Platz mehr
für sich hatten, dass sie fortgejagt wurden und sie keiner will.
„Also werden sie kommen und hier wohnen, habt ihr verstanden?
Arpad, verstanden?“ Dabei sah sie ihn aus ihrem kleinen,
verkniffenen Faltengesicht mit ihren stahlgrauen Augen so fest an,
also wollte sie ihn durchbohren.
„Klar, hirr wonnen, shortly but lately!“ Oder so ähnlich. Er
hielt das für eine Art von „Jawoll“, salutierte dazu und sagte
es schnell dreimal hintereinander so laut, wie es seine knisternde
Strohstimme erlaubte. Obwohl Arpad sonst kein Englisch konnte,
liebte er diesen Ausdruck, den er einmal von der Innenministerin
gehört hatte. Nie hat ihm eine Frau mehr imponiert und er bedauerte,
dass sie dafür in Schwierigkeiten geraten war. Er wusste nicht
einmal, dass Törki englisch war und kein Roschitzer Lokalausdruck
für diesen Vogel.
Er wusste eine Lösung: Ab mit ihnen mit all ihrer rehäugigen Brut,
hinein in die Viehwaggons und tschüss, ab durch den Zaun nach Süden,
wo sie hergekommen waren. Natürlich sagte er nie ein Wort davon,
Arpad war bekannt dafür, dass er schweigen konnte. Er wandte sich
ab, damit die Chefin sein Gesicht mit dem kurz aufblitzenden Lächeln
wie von einer Messerklinge nicht sehen konnte.
Fanni fädelte gerade den letzten gelb-grünen Vorhang am Fenster des
Geflügelhauses auf und nickte. Sie zumindest war mit dem
Zimmerschmuck zufrieden, hübsch, geht doch.
Syrien und alle diese Länder da unten, Arpad hatte die Bilder aus
dem Fernsehen klar im Kopf, die zerstörten Städte und Dörfer, die
endlosen Zeltreihen in irgendwelchen Wüsten, dazwischen die Kinder
mit ihren hungrigen Gesichtern in Wind und Schneematsch, barfuß
oder mit Gummilatschen an den nackten Füßen, die Flüchtlingsboote
im Mittelmeer und die Fußkolonnen von da unten herauf bis nach
Roschitz.
Er hatte es satt, dass sie kamen, ständig und immer mehr von denen.
Sicher schleppten sie zusammen mit ihren Tiernamen auch noch
Typhusflöhe mit übers Wasser, dazu eine zurückgebliebene,
grausame Religion mit grausamen Sitten, dem Kopf-Abschlagen und bei
lebendigem Leib- Verbrennen, ist ja wahr, sie haben es im Fernsehen
gezeigt. Die haben die gleiche Religion wie vor tausend Jahren,
barbarisch, nie reformiert, und immer schon schlagen sie einander
die Köpfe ein und ab. Immer haben sie Streit, immer Krieg. Das
ist bei denen ein Volkssport oder Folklore. Sollen sie doch einmal
bei sich selbst, unter sich Ordnung und Frieden schaffen, anstatt
rauf zukommen und bei uns Unruhe zu stiften. Wahrscheinlich haben
sie keinen Verstand, oder gerade so viel, dass sie bei uns herum
spionieren und uns in Schwierigkeiten bringen. Sie werden sich
sowieso nicht wohlfühlen, weil alles so anders ist als bei ihnen,
da, wo sie herkommen, hier bei uns ist alles modern und vernünftig,
naja, fast alles. Sie gehören nicht hier her. Und dann ziehen sie
einen auch noch mit rein. Teufel sind das, sagte sich Arpad, obwohl
er weder an Teufel noch an Heilige glaubte, weil er an gar nichts
glaubte, sondern sich immer nur daran hielt, was ihm nützte, was er
mit seinen Augen sah, mit seinen Händen greifen und mit seiner
Peitsche erreichen konnte.
Und er sah es plötzlich vor sich, dass da noch fünf, zehn oder 20
Millionen warteten und übers Meer kommen würden. Das hat ja kein
Ende.
„Und was ist dann mit unseren alten Tschuschen?“
„Arbeitet gut, dann können alle dableiben. Ich hab auch nichts zu
verschenken. Was die Sachen alles kosten, und erst die Steuern. Sie
haben ja keine Ahnung, was ich alles zahlen muss. Und immer diese
Konkurrenz!“ Arpad kannte die alte Leier seiner Chefin und verzog
angewidert die Mundwinkel. Wie immer, die, die es am Dicksten
haben, jammern am meisten.
Was Arpad zutiefst missfiel, war nicht der Umstand, dass jetzt
Araber hier wohnen und arbeiten sollten und dass er dafür auf seine
Plastiksäcke verzichten musste, sondern dass die Chefin den Neuen,
den Mamu, zum Mechaniker bestimmt hatte, obwohl sie gar nicht wusste,
ob der überhaupt eine Ahnung von der Technik hatte. Aber das hing
wahrscheinlich mit ihrem dummen Respekt vor Akademikern zusammen.
Deswegen hatte sie schon vor 20 Jahren den alten Notar Doktor
Bernauer geheiratet, von dem so wenig Kinder zu erwarten waren wie
Pinguine je fliegen konnten oder Törki kobbeln. Bevor Arpad zum
Verwalter, zum Schupan, aufgestiegen war, hatte er die Maschinen
gewartet, weil er das ja auch in seiner Zementfabrik gemacht hatte.
Nachdem er zum Verwalter aufgestiegen war, hatte die Chefin immer
einen Jugo dafür eingesetzt, die konnten gut an Motoren basteln, das
lag denen im Blut, weil ihre Autos so schlecht waren und jeder sein
eigener Majstor sein musste. Die Jugos hatte er immer unter
Kontrolle gehabt, vor allem solange sie noch keinen österreichischen
Pass hatten. Damit ließ sich immer alles drechseln. Schwupp, und weg
waren sie. Anstellen und entlassen. Das war auch Frau Bernauers
Prinzip, da verstanden sie sich. Und jetzt dieses unbekannte Tier
von Mamu, nur weil der sich angeblich mit Computern auskannte. Aber
was ist mit den Traktoren, Gabelstaplern, Treckern, Pflügen,
Spritzen, Destillatoren, Silo- und Heupressen, Vertikulierern,
Mähern, Wendern und den Minivans mit ihren komplizierten
Obstbrockern oben drauf? Hatte jemand von da unten solche Maschinen
überhaupt schon zu Gesicht bekommen? Und dann noch reparieren! Die
kennen doch nichts anderes als Schafe, Esel und Maultiere. In Arpad
kochte die Wut. Er hätte lieber einen von den alten Jugos genommen,
an die hatte er sich schon gewöhnt, mit denen kannte er sich aus,
wusste von ihren Schwächen, konnte sie für sich einzusetzen und
ihnen Beine zu machen. Diesem Mamu geb ich drei Wochen, dann ist er
weg mitsamt seiner Barbarenbrut, verschwunden in den Weiten Asiens
oder Afrikas oder wo immer diese Teufel herkommen. Das hatte Orban
wirklich gut gesagt, aus den Weiten Asiens und Afrikas, einmal ein
klares Wort. Und Taten: Zaun, vier Meter hoch, NATO-Stacheldraht
obendrauf, Viehwaggons und ab in die Weiten. Aber hier, alles die
Schuld von diesem Pfaffen, der ist schließlich auch kein Hiesiger,
bei dem Namen, das sagt ja schon alles – Stipschitz.
Arpad war kein religiöser Mensch, im Gegenteil, er verachtete
Menschen, die eine Religion praktizierten und hielt sie für dumm
oder zumindest so minderbemittelt, dass sie sich nicht auf ihren
Verstand verließen, sondern glaubten, etwas „Höheres“ zu
brauchen. Er hielt Religion für eine Sache für Leute, die nicht
genügend Krips und Mumm hatten, auch ohne Religion dem Bösen aus
dem Weg zu gehen. Das war immer schon sein Glauben gewesen, so hatte
er sein Leben gestaltet. Aber nun musste er sich die Sache genauer
ansehen, denn da gab es ein familiäres Problem. Sein Sohn Geza
wollte sich zu einem Choralsänger ausbilden lassen. Er hatte
tatsächlich eine schöne, tragende Stimme. Aber warum denn unbedingt
in einer Kirche, hatte er ihm vorgehalten. Der 20-jährige Geza hat
schon vieles probiert und wieder aufgegeben, von der Schule bis zur
Mechanikerlehre, nirgends hat er Fuß gefasst. Er war so groß und
blond wie sein Vater, aber sein Geist war leider nicht so beweglich.
Er liebte Bier und Fußball, vom Rand aus. Geza war in der Clique
seiner Freunde auch der beste und lauteste Schreier beim FC Sopron.
Was dem Vater aber die meisten Sorgen machte, war die Tatsache, dass
Geza kein Interesse an Mädchen zeigte. Noch nie hatte er eine
Freundin nach Hause mitgebracht, und nicht einmal seine Kumpels
stellte er den Eltern vor, sie hingen nur in Kneipen und auf dem
Fußballplatz herum. Arpad hatte noch eine Hoffnung, dass es nicht
bei den Chorälen bleiben würde. Geza war der frisch gegründeten
„Neuen Ungarischen Kirche- NUK“ beigetreten, weil er da die
Chorausbildung erhielt. Die NUK war eine Idee der Jobbik-Partei
gewesen, die kennen sich aus in der Geschichte, das bewunderte Arpad.
Unter den ungarischen Pfeilkreuzlern hatte es ebenso wie unter den
deutschen Nazis eine Reihe von Freikirchen gegeben, wo sich die
faschistischen Neuheiden sammeln konnten, ohne dabei von so einem
Plunder wie Christus und Bibel und so altmodisches Zeug wie
Nächstenliebe und Gewissen gestört zu werden. Und wenn Geza genug
vom geselligen Choralsingen hatte, konnte er ja in der Partei eine
Karriere machen, das wäre dem Vater recht, und da sang man auch
viele schöne, patriotische Lieder. Dass man damit weiterkommen
konnte, sah man ja im ganzen Land ohne Lupe. Dass sich der Sohn im
August dieser Hitler-Pilgerfahrt anschließen wollte, ging dem Vater
gegen den Strich. Diese Hitlerei von „Blut&Ehre“ war nicht
sein Ding, das war nichts Ungarisches, wir brauchen das nicht, wir
Ungarn haben unsere eigene Heldentradition.
Ildiko war die kleinere Sorge, obwohl auch sie nicht mehr in die
Schule gehen wollte, sondern Model werden. 17 Jahr, blondes Haar,
lang bis zu den Pobacken, das war wirklich schön an ihr, ein echtes
Honiggelb, das Bullige von ihm hat sie nicht geerbt, eher das
Dünne, Längliche von seiner Frau. Ildiko hat ein Stutengesicht und
schielt so stark, dass sie die halbe Kindheit mit einem Pflaster über
einem Auge verbracht hatte, ohne Erfolg. Ildiko nahm das auf die
leichte Schulter und meinte, mit Photoshop kann man heutzutage schon
alles machen. Seine Frau war so vernarrt in ihre Tochter, dass sie
den Balaton für sie austrinken würde, um sie glücklich zu sehen.
Die beiden lagen ihm seit einem halben Jahr in den Ohren, dass
Ildiko heuer im August bei der Miss-Balaton-Wahl antreten dürfe. Mal
sehen, Mädchen, dachte Arpad, nicht so schlimm, sie wird heiraten
und schnell ein paar kleine Magyaren in die Welt setzen.
Mahmoud stellte sich in der Tat als begabter Mechaniker heraus,
obwohl er das nicht gelernt hatte. Er löste zuerst immer alles im
Kopf, logisch überlegte er, das müsste so sein, daher das andere
so, und immer so weiter. Arpad musste ihm auch nichts anschaffen,
weil Mamu von selbst sah, was notwendig war. Er war auch immer der
Erste bei der Arbeit und am Abend der Letzte. Schon in aller Früh
krabbelte er im Maschinenhaus herum, saß auf dem Traktor, horchte
auf den Motor, stieg wieder herunter, beugte sich über die offene
Motorhaube und schraubte, schmirgelte, schmierte und lötete, was
das Zeug hielt. Oder er lag unter einem Trecker, einem Pflug, einer
Spritze oder einer Obstpflückerkarre. In kürzester Zeit
beherrschte er alle Maschinen mit einer Wendigkeit, als hätte er
sein ganzes Leben nichts anderes gemacht als Traktoren, Gabelstapler
und Obstpflücker auf Minivans zu fahren.
Den Rest der Familie C. sah man am Hof praktisch nie. Die Kinder
gingen im Ort in die Schule, das schwarze Frauenzelt war sowieso
unsichtbar, die Raiffeisen-Vorhänge vor dem Geflügelhaus blieben
immer zugezogen. Das Haus verließen sie durch die Hintertüre, die
über alte Misthaufen, Brennnesselwälder und Brombeerhecken in die
Wiesen führte. Nur wer genau hingeschaut hätte, könnte das Zelt
mit den zwei Kindern in der Abenddämmerung durch die Obstplantagen
wandern oder auf einer Wiese sitzen gesehen haben.
Wenn schon alle anderen gegangen waren und Feierabend machten, stand
Mahmoud mit seiner nicht so kräftigen Statur und seinen randlosen
Brillen in der riesigen Obstlagerhalle und spritze mit einem Kärcher
den Boden sauber und noch sauberer, sogar mit dem Besen ging er den
Wasserschlieren noch nach und trieb sie hinaus auf den Obsthof. Er
schien Vergnügen daran zu haben, diese unendliche Fülle an Wasser
machte ihn glücklich und er dachte dabei vielleicht an die syrischen
Wüsten. Neben dem Reparieren der Geräte war seine bevorzugte
Tätigkeit, die Obststeigen fein säuberlich zu ordnen, und dazu
benützte er den Gabelstapler, „Ameise“ hieß das Gefährt, wie
er von den anderen Arbeitern gelernt hatte. Niemand konnte die Kisten
und Körbe so akkurat schlichten wie der Syrer, er arbeitete mit
der Präzision eines Computers, chirurgisch genau standen die
Oststeigen in hohen Stapeln bis unter die Decke. Er bediente die
Ameise so flink und wendig wie ein Lausbub sein Go-cart und hatte
offensichtlich Spaß daran. Er pfiff und sang etwas in seiner
Sprache vor sich hin wie ein Ziegenhirt auf der Weide, als würde er
Gold dafür bekommen. Wenn man ihn so in seinem Strohhut im Overall
mit dem aufgedruckten Logo BOB von Bernauer-Obst-Burgenland am Latz
und den Gummistiefeln sah, konnte man ihn von einem Einheimischen
nicht unterscheiden, wenn er nicht diese feine Brille auf der Nase
gehabt hätte. Die würde ihn für immer zum Aussätzigen machen
gegenüber dem Balkan-Volk. Was Arpad am meisten aufregte und zur
Weißglut brachte, war, dass dieser Mamu die Arbeit gerne machte und
das auch noch zeigte. Das hatte noch niemand aus dem ganzen
Balkan-Pöbel gemacht und auch kein Mann aus Anatolien: Vergnügen
an der Arbeit zu haben, so was von unerhört. Das würde die Sitten
am Hof verderben, das konnte auf die anderen abfärben. Und wenn Frau
Bernauer das bemerkte, würde sie verlangen, dass die Angestellten
für das Vergnügen der Arbeit ihr auch noch bezahlten. So weit würde
es kommen, wenn dann immer mehr von diesen zehn Millionen die
Grenzen überwinden, alles aus dem Gleichgewicht bringen und alles
von oben nach unten kehren würden, gute Nacht, Gospodin Schupan,
gute Nacht, schöner Plan, gute Nacht, rosige Zukunft. Er musste
erreichen, dass sie diesen Mamou vorher feuerte und das bald. Wenn
das so weiterging und er bald besser Deutsch konnte als Arpad, dann
sah er nur noch das Schwärzeste vom Schwarzen. Dass der Pastor nur
noch bei Herrn Mahmoud Besuch machte, störte Arpad nicht so sehr,
weil er`s sowieso nicht mit den Pfaffen hatte. Aber wenn er
zusehen musste, dass die Chefin hinter Mamou herlief, ihn umflatterte
wie eine aufgeregte Henne und immer wieder Monsieur Mahmoud hier,
Monsieur Mahmoud dort flötete. Der letzte Rest vom
Ursulinen-Internat, in das sie ihre Eltern gesteckt hatten. Sie war
nicht anders als der blöde Törki in seiner Art hinter Arpad her
war. Seine Seele füllte sich mit solchem Grimm, dass er
schnaubte wie das wildestes Pferd, das je ein Bein auf die geheiligte
Puszta gesetzt hatte.
Die syrischen Kinder redeten schon recht munter mit ihren
Schulkameraden, im Dorf und im Schulbus. Einmal waren sie sogar von
Schulkameraden auf ein Eis eingeladen worden.
Das Zelt blieb weiter unsichtbar hinter den Gardinen. Arpad hatte
im Lagerhaus zufällig mitbekommen, dass sich Mamu nach einem
Grundstück erkundigt hatte, draußen neben der Bahn, da war das Land
billiger. Aha, ein Haus will sich Monsieur also bauen, so ein
Schlauer, und noch eins und dann alles hier übernehmen gleich die
ganze Bude mit ihren Großfamilien aus den Weiten Asiens und Afrikas.
Genau daran arbeitete Arpad schon 20 Jahre lang, sicher auf kleinerer
Basis, aber das sollte dem Wilden nicht gelingen, da würde er ihm
schon vorher einen Strich durch die Rechnung machen, bevor der auch
nur einen einzigen Quadratmeter gekauft hatte. Plan A ging ungefähr
so, ihn zu denunzieren, dass er absichtlich etwas kaputt gemacht
oder gestohlen habe. Fraglich, ob das funktionieren würde, denn der
machte nichts kaputt und stahl auch nichts, absichtlich. Außerdem
ließ sich eine so misstrauische Chefin wie die Bernauerin nicht so
leicht hinters Licht führen. Anstellen und feuern, ihre Devise,
immer hatte sie ihren Vorteil abgewogen. Das wusste er nur zu gut
nach den 30 Jahren auf dem Bernauer-Hof. Es musste ein Plan B her,
den hatte er aber noch nicht ausgegoren, aber es gab da eine Idee im
Hinterkopf, fast schon ein Plan. An den wagte er sich kaum zu
denken und war froh, dass er nicht dazu neigte, im Schlaf zu
sprechen. Auf Törki spuckte er, wenn der etwas verraten sollte.
Aber Törki schwieg. Plan B bestand darin, dass er einfach passieren
musste, einfach so, wenn die Gelegenheit dazu da und die Zeit
dafür reif war. Geduld, Arpad, Geduld, das wurde sein Morgen-
Mittag- und Abendgebet, so innig, dass Törki, wenn er kein stummer
Truthahn, sondern ein Papagei gewesen wäre, es ihm sicher
nachgeplappert hätte, Geduld, Geduld.
Eines Abends am Ende der Saison war Edith Bernauer, wie so oft,
hinter ihrem Liebling Mamu her in die Lagerhalle gestiefelt. Unter
irgendeinem Vorwand wollte sie ein paar französische Brocken an in
richten, an ihren Monsieur Mamou. Ab sie fand ihn nicht, sie sah
nur, wie die Beine im blauen Overall unter der Ameise hervorragten,
grotesk verdreht wie bei einer achtlos hingeworfenen Stoffpuppe,
daneben der Sonnenhut und etwas weiter weg ein paar zerquetschte
Silberbügel mit Glassplittern. Adrian war es, der es bemerkte,
aber für sich behielt, dass die Bremsen der Ameise nicht angezogen
waren.
Am 30. Oktober war unter Vermischtes im Roschitzer Boten eine
Notiz zu lesen:
Am Bernauer Obst-Hof, Spörk 1, hat sich ein tragischer
Arbeitsunfall ereignet. Der aus Syrien stammende Landarbeiter
Mahmoud C. geriet unter einen Gabelstapler und wurde von der
Maschine erdrückt. Im Krankenhaus Eisenstadt kämpfte ein Ärzteteam
vergeblich um sein Leben. Er hinterlässt eine Frau und zwei
minderjährige Kinder.
Edith Bernauer ging nach dem Vorfall kaum noch aus dem Haus, sie
soll ständig gezittert und mit sich selbst gesprochen haben;
schließlich kam ein weißer Kastenwagen mit einem roten Kreuz,
und sie verschwand in der BLaNG, der Burgenländischen Landes-
Nervenheilanstalt Geschriebenstein. Arpad machte sich mit seinem
schwarzen Mercedes rüber nach Ungarn, und der Rest der Familie C.
fuhr in einem weißen Audi in unbekannter Richtung davon. Törki
hatte sich kurz nach diesem Ereignis in den Truthahnhimmel
verabschiedet.
Veronika Seyr
20.8.15
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