Mittwoch, 28. Oktober 2015

Der Schupan


Der alte Törki watschelte hinter Arpad her, vom Bernauer-Hof über den Feldweg bis zum Spörk, einem Hügel, von dem der Gutsverwalter die beste Aussicht hatte. Wenn sie jemand aus der Ferne beobachtet hätte, so wie sie sich am Rande der Kuppe gegen den Horizont abzeichneten, würden sie, wenn sie mehr gewesen wären, ausgesehen haben wie ein General, der seiner Armee die Parade abnimmt. Sie stellten sich in Reih und Glied auf und nahmen den Hof ins Visier.
Arpad, von Wuchs ein Riese mit Beinen wie Herkules-Säulen, hatte die Arme vor seinem mächtigen Brustkorb verschränkt, als müsste er einen Angriff abwehren, wobei er selbst nicht wusste, von wem und wo eine Gefahr für ihn ausgehen könnte. Seine Puzsta-Peitsche hatte er immer dabei. Anstatt zu sprechen, schlug er damit von Zeit zu Zeit an seine ledernen Reiterstiefel. Er trug khakifarbene Knickerbocker, straff in die Stiefel gesteckt, das hielt er für Respekt einflößend. Auf dem runden Kopf trug er eine schwarze Baseballkappe mit den Buchstaben NYPD, New York Police Departement. Sie drückte auf seine rosigen Ohren, sodass diese senkrecht abstanden wie kleine Blechfahnen. Wenn er die Kappe abgenommen hätte, würde man eine Glatze gesehen haben, glänzend wie ein feuchter Seehundrücken. Das Arpad- Gesicht war rot, blatternnarbig und mit misstrauisch spähenden Vogelaugen ausgestattet, im Nacken perlten Schweißtropfen aus den Fettwülsten, auf dem rechten Oberarm prangte eine tätowierte Stephanskrone in Blau, links am Handgelenk ein Armband aus Stephanskreuzen, und aus dem Hemdausschnitt drängte ein graues Bärenfell hervor, das einmal blond gewesen sein dürfte. Arpad sprach so wenig, dass niemand seine Stimme kannte, meist brüllte er nur seine Befehle in Splittern von Ungarisch, Deutsch und einigem Balkan-Sprachen-Mix, der klang, als hätte er Stroh in der Kehle. Am ehesten könnte der Truthahn Törki seine Stimme gekannt haben, weil Arpad die Gewohnheit hatte, laut vor sich hin zu fluchen und und dabei die Wörter zusammen mit dem Grashalm im Mundwinkel zu zerquetschen.
„Teufel, das war`s dann, ich hab`s gewusst, es musste so kommen“, er schlug dabei mit der Peitsche gegen seinen rechten Lederstiefel, dass es nur so schnalzte. Er zog tief auf, spuckte nach links und starrte seinem kupfermünzenfarbigen Auswurf nach, als hätte er gerade etwas Bedeutendes gesagt und erwartete eine Antwort. Törki, der getreue Gefährte des Gutsverwalters, nahm den Schlatz mit der ihn umgebenden Grasnarbe begierig auf, als hätte er eine Belobigung bekommen, wich aber schnell wieder drei Truthahnschritte zurück, um dem Peitschen-Stakkato zu entgehen.

Der Spörk, das war Arpads Turm, sein Ausguck über den ganzen Bernauer-Hof in Roschitz - Ortsteil Burg, zwischen Mühlbach und Kirschwald, Bezirk Oberwart, Burgenland. Weiter im Osten lag der Kreuzstadl, die Ruine der ehemaligen Schloss- Meierei, fast unsichtbar im Säulenwald des Windparks Ost, zwischen den verfallenden Silos der alten Bernauer-Mühlen und dem neuen Lagerhaus mit dem Logo der gekreuzten Pferdeköpfe. Gegen Südwesten stand in der weißlichen Nachmittagssonne die ausgefranste Hügelkette des Leitha-Gebirges wie eine umgedrehte Krummsäge in den Himmel. Die sanften Abhänge hielten ihre Füße im blauen Dunst verborgen und verliefen sich im großen Steppensee; im Gegensatz zu den Menschen schert der sich nicht um Länder, Staaten, Grenzen und Nationen, und das schon seit dem Pliozän.
Arpad hasste dieses reiche, fruchtbare, satte, Land, diesen Ort, seine Menschen, und sogar die Sonne mit ihrem verschwenderisch gleißenden Licht; sogar die Wolken, die sich über den Hügelzügen ballten, schienen ihm unangemessen selbstsicher. Genauso wie das dichte Efeugestrüpp an den Mauern des Bernauerhofes, das sich mit Weinreben verwoben hatten, er empfand die gestutzten, um Fenster und Türen fein säuberlich ausgeschnittenen hell- und dunkelgrünen Ranken als arrogant und feindselig.
Auch all die Hollunder- und Maulbeerbüsche, die Oleanderstauden und Blautannen, die mickrigen Palmen in ihren bereiften Holzkübeln, der schneeweiße Kies und das granitgraue, in der Juni-Sonne glitzernde Katzenkopfpflaster schienen ihn so zu verhöhnen wie die darunter lagernden Tschuschen, der Mirko, Milo, Osso und der neue Adi.

Nichts davon gefiel ihm, weil ihm grundsätzlich nichts gefiel, was nicht in Ordnung war, und hier war vieles nicht in Ordnung, überhaupt nix in Ordnung.
Sie wollte ihn loswerden wie einen räudigen Hund, ausspucken wie eine unverdaute Blutwurst und vernichten wie eine Krebszelle. Aber er würde es nicht zulassen, das kann sie mit ihm nicht machen, nicht mit ihm, einem Arpad, er würde sich wehren und am Ende als Sieger dastehen wie sein magyarischer Namensgeber.

Während Arpad mit solchen Gedanken die Vogelaugen langsam über sein Reich gleiten ließ, nahm Törki in einer seichten Grube des Lehmweges ein Sandbad, schlug mit den Stummelflügeln um sich und wirbelte gelbliche Wolken auf. Der rote Hautlappen baumelte dabei zwischen Augen und Schnabel, den nackten, blauroten Faltenhals hielt er gegen seinen Herrn gereckt und nickte dabei beständig wie eine chinesische Katze. Mehr Liebe konnte Törki nicht zeigen, denn er war im Alter stumm geworden.
Arpad verachtete Truthähne und fand sie in jeder Hinsicht abstoßend. Ihre Hässlichkeit, ihre Tolpatschigkeit, den Lärm, den sie Tag und Nacht ohne Sinn machten, ihre Flugunfähigkeit, pah, das wollen Vögel sein? Sie sehen lebend schon aus wie Gedärme, wie ein ausgenommener Magen. Typisch amerikanisch. Sogar die dumme Anhänglichkeit des Törki musste er sich notgedrungen gefallen lassen. Zu seinem Glück war Törki schon so alt, dass er nicht mehr blöd herumkollern konnte. Nicht einmal ihr Fleisch mochte Arpad, es ekelte ihn davor. Ihm waren die ungarischen Gänse lieber, er hielt nicht wenige davon in seinem Garten bei Sopron und machte zwischen Martini und Weihnachten manch gute Geschäfte.
Er lieferte direkt in Restaurants, immer frisch. Von denen konnte man alles verwerten, Fleisch, Daunen, Darm und Haut. Dazu fand er, dass die weißen, glatten Gänse schöne und kluge, wenn auch bösartige Tiere waren.

Er war froh, dass die Chefin das Geschäft mit den Truthähnen und allen anderen Vögeln aufgegeben und war stolz, dass er dazu nicht unerheblich beigetragen hatte. Törki war der letzte seiner Art, er genoss ein Gnadenbrot und wurde geduldet als Erinnerung an den alten Dr. Bernauer, den verstorbenen Ehemann der Gutsbesitzerin. Wäre diese sentimentale Alte nicht seine Chefin, hätte er Törki schon längst den blauroten Schrumpelhals umgedreht. Seit Bernauers Tod hatte das Gut auf Obst umgestellt, vor allem Kirschen, Weichseln, Marillen, Zwetschken, Mandeln, Hasel- und Steinnüsse waren im Angebot, dazu noch viele Felder mit Erdbeeren, Himbeeren, Ribisl, Gladiolen und Dahlien zur Selbsternte, man war hier schließlich im „Beeren und Blumenparadies“ der Ostregion. Große Tafeln an den Straßen priesen es von weitem an. Burgenländische Herzkirschen, die frühen und extragroß, und die ersten Erdbeeren waren die Spezialität des Bernauer-Hofes, BOB – Bernauer-Obst-Burgenland hatten die Arbeiter auf ihren grünen Latzhosen aufgedruckt so wie die Banderolen auf den Obststeigen und Körbchen. Sie hatten seit kurzem ein Landesqualitätssiegel bekommen und belieferten große Ketten. Auch sein Verdienst, naja, nicht nur. Auch die Hasel- und Steinnüsse waren von hoher Qualität und brachten ihren Preis, weil die Bernauerin ihr Personal nach deren Genügsamkeit aussuchte und so die Arbeitskosten senkte. Und er, Arpad, war ja auch noch da, um seine Tschuschen gefügig zu halten.

Der damals schon alte Notar Dr. Eduard Bernauer hatte das späte, aber reiche Mädchen Edith Daubrawa-Pick geheiratet, weil ihm gerade seine Haushälterin gestorben war. Warum die alten Daubrawa-Picks ihr einziges Kind Edith nicht früher mit einer passenderen Partie versorgt hatten, wusste Arpad nicht. Sie hatten sie vom Dorf und der Welt abgeschottet wie ein rohes Ei, sie waren einmal nach den Batthyanys die Reichsten in der Gegend gewesen. Vielleicht weil sie so großen Respekt vor dem Dr. jur. vor dem Namen hatten. Auch wieder kein Funken Verstand, reine Sentimentalität.Wie sich schnell herausstellte, hatte der Jurist nichts übrig für das Mühlengeschäft und die Landwirtschaft, überhaupt für irgendein Geschäft, er lebte nur für seine Kanzlei und widmete sich nebenbei seinem Spleen, Truthähne, Enten und Strauße aufzuziehen. Aber das war vor Arpads Zeit gewesen. Arpad interessierte sich mehr für die Gegenwart und die Zukunft als für die Vergangenheit, die nicht die seine war. Das Geschäft mit dem Vogelvieh lief nie, hat er sich sagen lassen. Es war niemand da, der sich damit richtig auskannte, mit Zucht, Vermarktung und Ähnlichem.
Ediths Familie, den Daubrawa-Picks, gehörten einmal fünf der zwölf Mühlen in Roschitz, die anderen den Batthyanys, die bis zur verhängnisvollen Nacht zum Palmsonntag im April 1945 im „Öden Schloss“ gewohnt hatten. Zehn Tage später kam die Rote Armee. Die Batthyanys waren irgendwo im Ausland untergetaucht, die konnten sich alles richten, war doch die letzte Gräfin eine von Thyssen-Bornemisza. Im hin- und herwogenden Kampf um Roschitz zu Kriegsende wurde das Schloss schwer beschädigt, noch mehr verwüstete es die zehnjährige sowjetischen Besatzung; später wurde es ganz abgerissen. Irgendwann begann das Mühlensterben in Roschitz.
Arpad ahnte die Gründe dafür, warum die Mühlen wortwörtlich den Bach runtergegangen waren, Roschitz und Güns hätten genügend Wasser gehabt, sogar bis heute.
Der Kapitalismus, die Großen fressen die Kleinen. Das hatte er gelernt in 20 Jahren hier. Ein Naturgesetz war das.
Im Heimatmuseum von Roschitz war er nie. Er wusste nicht, dass die Römer an diesem Ort eine große Militärstadt namens Savaria gebaut und mit dem Wasser aus dem Günser Gebirge, das im Roschitzbach zusammenlief, eine 22 km lange, mit Feldsteinen ausgelegte Wasserleitung gelegt hatten, eineinhalb Meter tief unter der Erde; auch nicht, dass es in Roschitz einmal eine große und reiche jüdische Gemeinde gab, wo unter einem kaiserlichen Schutzbrief von 1682 36 jüdische Familien lebten; der Ort verzeichnete eine Judengasse, einen jüdischen Friedhof und drei Synagogen. Und weil sich damals die Mehrheit der Roschitzer zu Luther bekannte, wurden in der nachfolgenden Gegenreformation hier besonders viele Marienkirchen, Marienstatuen und Marterl aufgestellt, für die der Ort heute noch berühmt ist, also ein Marien-Wallfahrtsort wurde.
Arpad kümmerte auch nicht, dass Roschitz bei den Kroaten Rohunaz hieß, bei den Roma Rochonza, bei den Ungarn Rohoncz und bei den Slawen überall Orechovca- Nusshain heißt. Auch, dass ein mittelalterlicher Codex Rohonczi in der ungarischen Akademie der Wissenschaft liegt und bis heute noch nicht entziffert ist, weiß Arpad nicht. Die einzigen Toten während der Krise von 1956 gab es außerhalb Ungarns im Ortsgebiet von Roschitz, als zwei sowjetische Soldaten ungarische Flüchtlinge bis über die Grenze verfolgten und von der zu Hilfe gerufenen österreichischen Gendarmerie erschossen wurden. Sie wurden ausgeliefert und bekamen auf der anderen Seite des Stacheldrahtes ein ungarisch- sowjetisches Staatsbegräbnis, während das gerade ein Jahr alte österreichische Bundesheer auf dieser Seite des Todesstreifens in Alarmbereitschaft versetzt war.
Die Roschitzer sind dafür bekannt, dass sie besonders viele Ungarn-Flüchtlinge aufgenommen haben, sie waren die ersten, die die Menschen spontan begrüßten, mit Proviant und warmem Zeug an der Grenze versorgten und in ihre Häuser aufnahmen, bevor sie in staatliche und kirchliche Organisationen übergeben wurden.
Auch diese Geschichte entzieht sich Arpads Wissen, aber dass auf dem Geschriebenstein im Dreiländereck ein Arpad-Turm steht, erfüllte ihn nicht nur mit persönlichem Stolz, sondern bestätigte ihn in seiner Überzeugung, dass ohnedies die ganze Ostregion ungarisch sei und zu Ungarn gehörte, immer schon, wie halb Rumänien und die Slowakei. Für ihn war das alles einfach Westungarn, wie schon seit tausend Jahren.

Arpad arbeitete schon lange am Hof der Bernauerin, an die 30 Jahre. Anfangs kam er nur als Saisonarbeiter von jenseits des Stacheldrahtes über Sopron herein, die Schleichwege durch die Kukuruzfelder kannte er gut, und er hatte Freunde bei den Grenztruppen. Später wurde es leichter, legal im kapitalistischen Ausland zu arbeiten.. In Sopron war er Mechaniker in einem sozialistischen Zementwerk, das wenig produzierte, dafür aber alle Flüsse, Teiche Tümpel und Grundwasser in der Region verseuchte. Damals war man nicht so pingelig mit der Umwelt wie heute, es ging ja nur um Produktionszahlen und und Planerfüllung.
Nach dem plötzlichen Tod des alten Bernauer stieg die Witwe Edith auf den Obstbau um, das war praktisch, weil sie ja viel Land geerbt hatte und die Plantagen am einfachsten zu bewirtschaften waren. Arpad arbeitete sich bei der Bernauerin schnell zum Gutsverwalter hoch. Er wusste von Anfang an, dass sie ihn nicht mochte, sich sogar ein bisschen vor ihm fürchtete, sein Vorteil, denn sie brauchte ihn, den Schupan, wie einen Bissen Brot, wollte sie zumindest ihren letzten Hof erhalten und weiterführen. Als der zu prosperieren begann, war er es, der die Tschuschen, wie Arpad sich ausdrückte, einstellte, die neuen Gastarbeiter aus Jugoslawien und der Türkei. Viele kamen und gingen, die Chefin war sparsam und streng, er noch strenger.
Jetzt arbeiteten hier ständig Milan, Tvrtko und Osman, der Anatolier, von Arpad einfachheitshalber Milo, Tricki und Osso gerufen. Die beiden Bosnier waren längst schon Österreicher geworden, papirtschiki, hatten ihre Familien hier und Häuser in der Umgebung gebaut, hatten zwei Schwestern aus ihrem bosnischen Dorf geheiratet, und ihre Kinder wollten von Jugoslawien längst nichts mehr wissen. Blödes Balkan-Pack, zuerst haben sie einen gemeinsamen Staat, dann schlagen sie sich jahrelang die Köpfe ein, vertreiben einander, flüchten, nur um hier wieder zusammenzukommen und zu leben wie Brüder. Sie haben nicht einmal unterschiedliche Sprachen. Das soll einer verstehen. Er, Arpad, hatte nie um einen österreichischen Pass eingereicht. Einmal Ungar, immer Ungar, er brauchte den Fetzen nicht.

Weil eine gute Ernte in Aussicht stand, wurde vor der Hochsaison noch ein Rumäne eingestellt, hoch offiziell vermittelt vom AMS. Adrian Paulus, von Arpad sofort auf Adi gekürzt, hatte vorerst nur eine befristete Arbeitsgenehmigung. Schnell wurde klar, dass Adi bei der Arbeit der Beste von allen war, dazu immer lustig, höflich und sauber, arbeitsam und anspruchslos, nie aufmüpfig oder unwillig, auch wenn Arpad ihm die größte Drecksarbeit zuwies und diese dann noch sinnlos drei Mal wiederholen ließ. Adrian hatte immer Stöpsel in den Ohren, er lernte Deutsch. Arpad hasste den Rumänen vom ersten Augenblick an aus tiefster Seele, wenn er eine solche gehabt hätte anstatt eines kochendes Eisfachs. Er hasste ihn nicht einmal persönlich, sondern einfach deswegen, weil Adi Rumäne war, und Rumänien den Ungarn Dreiviertel ihres Landes weggenommen hatten. Dass Adrian nicht einmal ein echter Rumäne vom Stamm der Draker, der Thraker oder als Lateiner ein Abkömmling der römischen Soldaten in ihrer Schwarzmeer-Provinz war, sondern ein Nachkomme von Deutschen aus Temeswar, war Arpad gleichgültig, für solche Feinheiten hatte er nichts übrig. Der Rumäne ist dem Ungarn ein Feind, und damit basta.

Seine alten Tschuschen nannten den Gutsverwalter gospodin, gospodar oder hospodar – Herr. Dass sie es spöttisch sagten, hörte er nicht heraus, dazu war die ihnen die gemeinsame Sprache zu bruchstückhaft. Lieber war ihm die Anrede „Schupan“, der ehrwürdige Titel für die allmächtigen Gutsverwalter der ungarischen Magnaten, die damals in den Hauptstädten saßen, alles verprassten und die Schupane nach ihrem Gutdünken auf den Gütern gewähren ließen. Die Schupane waren in diesen Zeiten die wahren Herrscher über Land und Leute und brachten es, wenn sie es nur geschickt genug anstellten, oft selbst zum Magnaten, wenn auch ohne den Adelstitel. Damals war noch alles geordnet und geregelt, jeder wusste, was oben und unten ist - Peitsche und Stiefel, Stiefel und Peitsche. Er trommelte mit der Gerte so heftig gegen seinen Stiefel, dass Törki mit ein paar Torkelschritten zur Seite flüchtete.

Arpad schaute nach unten zum Bernauerhof, schnaufte tief, atmete aus und weitete seinen Brustkorb zum Anschlag wie eine Ziehharmonika. Er wusste, obwohl er sie von hier oben nicht sehen konnte, dass seine alten Tschuschen im Grasstück links vom Haupteingang lagerten und unter der Deckung von dichten Hollunder- und Maulbeerbüschen, einiger Blautannen und Oleandersträuchern die Szene im Hof beobachteten, sie waren näher als er oben am Spörk. Arpad hatte nicht völlig freie Sicht, denn im Kies der Hofmitte standen drei große Holzkübel mit Palmen, die aussahen, als würden sie auf Helgoland wachsen.
„Dieses faule Balkan-Pack, dem werde ich schon noch Beine machen, wenn dieser Pfaffen-Zirkus vorbei ist“. Ob Schupan – Gospodin das nur dachte, murmelte, knurrte oder es wirklich laut zwischen seinen Lippen hervorkam, wusste er nicht, und auch Törki nicht. Auf jeden Fall war der Fluch so furchtbar wie ein langes Donnergrollen vor dem Gewitter, dass sich Törki mit ein paar unbeholfenen Halbflügelschlägen im Kukuruzfeld in Sicherheit brachte.
Die Tschuschen unten waren nicht so wütend wie Arpad oben auf seinem Spörker Ausguck, sondern gelassen und lustig. Milo und Tricki, der Serbe und der Kroate aus Bosnien, hatten eine Flasche mit selbst gebranntem Slivovitz zwischen sich. Arpad wusste, dass sie zu Hause eine kleine Brennerei betrieben und hatte es der Chefin nie weitergesagt. Vielleicht würde die Zeit einmal dafür kommen.
Milo, der Serbe aus der Lika, war der Längstdienende unter den Tschuschen am Hof, der erste Traktorfahrer und fast schon so etwas wie der Stellvertreter des Stellvortreters. Gefährlich, dachte Arpad, aber Milo machte keine Anstalten, ihn zu bedrängen. In seinen rot geränderten Augen schwammen die Pupillen in einem gelblichen Weiß, sein linkes Augenlid hing herab, sodass er aussah, als würde er ständig zwinkern und ihm sagen: „Du weißt, Arpad, wenn ich wollte….“
Tricki aus Mostar war der Witzbold der Truppe und sah auch so aus: Unter dem ausladenden Strohhut hatte er ein rot gebranntes Gesicht, die Stupsnase glänzte wie ein lackierter Hahnenkamm, und die Sommersprossen breiteten sich wie ein Fleckerlteppich vom Kopf über den ganzen Körper aus. Seine Unterlippe glänzte ewig nass wie bei einem Elefanten und darauf klebte völlig selbständig eine Zigarette.
Zusammen mit Milo erzählten sie sich ununterbrochen alte jugoslawische Witze, erinnerten einander an jugoslawische Filme und soffen ihren Selbstgebrannten.
Osso, ein Anatolier vom Van-See, war Moslem, er trank nicht und sprach kaum, dafür rauchte er ohne Unterbrechung türkische Zigaretten der Marke Ararat und kaute an seinen herabhängenden Schnurrbartenden. Niemand wollte seinen Ararat-Tabak. Bei der Arbeit war er ausdauernd und beständig wie die Esel seiner anatolischen Bauernvorfahren. Der neue Adi war ein Poet, er klimperte selbstvergessen auf der Gitarre vor sich hin, er kannte viele Lieder in allen möglichen Sprachen, die ihm mit seiner rumänischen Muttersprache nur so zuflogen. Adi, der war Arpad nicht geheuer, es war noch weniger als eine Ahnung, mehr ein siebenter Sinn im Urin, dass der ihm einmal gefährlich werden könnte, obwohl er sich nie mit Arpad anlegte. Er war schlau, gebildet und überaus gutaussehend. Bei der weiblichen Kundschaft auf den Freilandfeldern hatte er den größten Erfolg. Er soll schon bei sich zu Hause in Temesvar einmal eine Geflügelfarm geleitet haben, allerdings nur strafhalber, als junger Schriftsteller wurde er von Ceaucescu aus einer Zeitungsredaktion aufs Land verbannt.

Bis auf den angespannten Arpad war alles so schläfrig wie am Nachmittag des Jüngsten Tages vor der Erweckung der Toten. Hier am Rande der pannonischen Tiefebene konnte es schon zu Sommerbeginn sehr heiß werden, die Hitze quetschte die Hirne zusammen, und der Himmel gegen Osten war wie aus flüssigem Blei, das trügerische, flache Grau des Ostens, der bis zum Kaukasus keine Berge kannte. Die Sonne brütete die Ernte aus, die Früchte, Beeren, Nüsse und die Blumen, aber auch allerhand trübe glühende Phantasien.

Arpad kniff jetzt die Augen zusammen und blickte schärfer hin, als ein weißer Audi langsam von der Bundesstraße S37 abbog, über den Wiesenweg schlich und in den Hof einfuhr. Das mussten die sein, die erwartet wurden. Er wusste, dass der Roschitzer Pastor so einen Wagen fuhr. Frau Bernauer trat aus dem Haupthaus heraus, wie auf Knopfdruck, als hätte sie hinter der Eingangstüre gewartet, und ging auf das Auto zu. Sie hatte sich mit ihrem Sonntagsstaat fein herausgeputzt, einem geblümten Kleid und einer Perlenkette, ein kleiner, topfartiger Filzhut saß auf dem Kopf so schief wie ihr verlegenes Lächeln im Gesicht, umrahmt von angegrauten Löckchen. Sogar die Augenbrauen hatte sie nachgezogen und einen rosigen Schimmer auf die Lippen gelegt.
Als erster stieg Pastor Thomas Stipschitz aus dem Wagen und schüttelte Frau Bernauer lange die Hand, wobei er seine andere oben drauf legte und sie tätschelte. Er war es, der vermittelt hatte, dass diese Leute von da drüben hierher kamen. Er hatte diese Lösung mit dem neuen Roschitzer Bürgermeister Franz-Jörg Podezin von den „Freiheitlichen“ ausgehandelt, dafür, dass der Ort keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen müsste. Nachdem der Pastor endlich Frau Bernauers Hände losgelassen hatte, öffnete er die hintere Türe und zwei Kinder sprangen heraus, ein etwa zehnjähriger Knabe und ein jüngeres Mädchen, danach eine Frau in schwarzem Ganzkörperschleier mit Gesichtsgitter, keine Person, keine Figur, sondern ein Sack wie eine Leerstelle in der bunt gestreiften Landschaft. Und schließlich erhob sich ein Mann vom Beifahrersitz, etwa 40 Jahre, mittelgroß, drahtig, leicht gekrümmt und mit einer randlosen Brille auf der Nase. Arpad sah sofort, das war kein Landarbeiter, nie und nimmer, das zu große, blaue Hemd bauschte sich und rutschte über die Hände, und die zu langen schwarzen Hosenränder bedeckten seine schnabeligen Schuhe fast zur Gänze, wahrscheinlich im Pfarrhof eben frisch eingekleidet wie ein Clown für die Zirkusarena.

Bis auf das schwarze Mutterzelt sahen sie eigentlich ganz manierlich aus, normal, zumindest keine Bären auf zwei Beinen mit Schellen um den Hals. Der hochaufgeschossene Junge hatte das volle, lockige Haar in einem Scheitel streng zur Seite gekämmt, dem Mädchen hing einen dicker, blauschwarzer Zopf über den Rücken fast bis zur Mitte, eine kleine Schönheit, wie Arpad neidvoll feststellte. Diese Kinder waren hübscher als seine eigenen, Geza und Ildiko, ganz zu schweigen von seiner Frau.
Die Hauptrolle da unten auf dem Gutshof schien jetzt der Zehnjährige zu spielen, er war offenbar als Übersetzer eingesetzt; zuerst sprach der Geistliche auf die Chefin ein, alt, lang und in einer schwarzen Soutane mit weißem Stehkragen um den Hals, dann der Vater, der sich wie ein Perpendikel ständig nach allen Seiten verneigte, dann der Knabe, der wandte sich an die Gastgeberin und wieder zurück zu Pastor und Vater. Er musste in der Schule da unten schon irgendetwas von einer Fremdsprache vermittelt bekommen haben.

Arpad war eingeweiht, weil es lange Verhandlungen und Vorbereitungsarbeiten gegeben hatte. Die Eltern heißen Mahmoud und Faten Chalhoub, die Kinder Kameel und Kaffa, sie kamen aus Syrien, der Vater soll in der Hauptstadt Damaskus Informatiker gewesen sein, angeblich mit eigener Firma, jetzt würden sie in Roschitz, Spörk 1, Ortsteil Burg, zwischen Mühlbach und Kirschwald, unweit des Kreuzstadls im Bezirk Oberwart, leben und arbeiten.
Mit seinen Vogelaugen erfasste Arpad das Gruppenbild aus sechs Personen wie ein Photograph, er fror es in seinem Augenhintergrund ein, bevor es sich auflöste, als Frau Bernauer alle schnell ins Haus führte, Tee für den Pastor und die Fremden. Er, Arpad, fast zwanzig Jahre am Hof, hatte noch nie Tee im Salon eingenommen, weder beim alten Bernauer noch bei der Witwe.
Welche Namen die hatten, wie für Käfer, Würmer und Vieh, dachte Arpad, Ungeziefer von den Booten, die haben schon einmal die Pest von dort mitgebracht. Bei dieser Vorstellung schlug er so heftig mit der Peitsche gegen den rechten Stiefel, dass Törki ein kleines Stück weit weg flatterte.

Während sich der Gutsverwalter jetzt mit einer heftigen Wendung von seinem Aussichtsposten losriss und, gefolgt von Törki, zum Gutshof hinunterstieg, zerteilte er mit der Peitsche die Luft um sich und zerstampfte sie unter seinen Stiefeln.

Mahmoud, Kameel, Kaffa, der Name des Zeltes tat nichts zur Sache, er fand grundsätzlich alles außer Ungarisch unanständig, unaussprechlich und nicht der Mühe wert, dass man es sich merkte. Er würde diese Heidennamen nie aussprechen und wusste schon, wie er den Neuen rufen würde: Mamu, klang richtig schön tierisch. Mamu hier, Mamu da, bzsobrzo, schnellschnell!
Diese Leute kamen einfach hier an, mit nichts, sie besaßen rein gar nichts.
Dabei mussten sie viel Geld haben, denn Schlepper und Überfahrten kosteten Tausende.
So, und jetzt sollen wir sie verköstigen und so tun, als seien sie Menschen wie wir. Alles musste von irgendwo zusammen gekratzt werden, beim Pfarrer, in der Gemeinde, auf Flohmärkten, am eigenen Hof, Möbel, Geschirr, Wäsche, Kinderkram.
Warum auch immer, Frau Bernauer wollte es sich nicht nehmen lassen, selbst Hand anzulegen, und hatte aus alten Geflügelfuttersäcken vom Lagerhaus Vorhänge genäht, immer abwechselnd grün und gelb mit den gekreuzten Pferdeköpfen als Bordüre unten. Sie hatte sie gemeinsam mit der tauben Köchin Fanni an den Fenstern im ehemaligen Geflügelhaus aufgehängt. Diese Armen, sie hätten ja gar nichts, und so viel hätten sie auf dem Weg von drüben hierher durchmachen müssen, dass sie jetzt sicher froh wären, auf einem Gut wie diesem wohnen zu dürfen. Arpad fragte sich, ob Menschen, die die Sprache nicht verstanden, überhaupt Farben unterscheiden konnten. Er hatte Milo und Tricki im Auftrag der Chefin schon vor einiger Zeit angewiesen, die leeren 50kg-Plastiksäcke, in denen der Kalk zum Weisseln der Obstbäume vom Lagerhaus angeliefert wurde, einzusammeln und zu reinigen. Die könnte man als Bodenbelag im alten Geflügelhaus verwenden, hatte die Chefin gemeint. Arpad hatte gemurrt, nicht nur weil er überhaupt nicht mit der Einquartierung der Araber einverstanden war, sondern weil er diese Plastikplanen immer zu sich nach Hause gebracht hatte, er fand sie praktisch für die Bespannung seiner Gewächshäuser in Sopron.
Frau Bernauer hatte dem Personal erklärt, dass die Neuen übers Wasser kamen, weil sie dort, wo sie geboren sind, keinen Platz mehr für sich hatten, dass sie fortgejagt wurden und sie keiner will.
„Also werden sie kommen und hier wohnen, habt ihr verstanden? Arpad, verstanden?“ Dabei sah sie ihn aus ihrem kleinen, verkniffenen Faltengesicht mit ihren stahlgrauen Augen so fest an, also wollte sie ihn durchbohren.
„Klar, hirr wonnen, shortly but lately!“ Oder so ähnlich. Er hielt das für eine Art von „Jawoll“, salutierte dazu und sagte es schnell dreimal hintereinander so laut, wie es seine knisternde Strohstimme erlaubte. Obwohl Arpad sonst kein Englisch konnte, liebte er diesen Ausdruck, den er einmal von der Innenministerin gehört hatte. Nie hat ihm eine Frau mehr imponiert und er bedauerte, dass sie dafür in Schwierigkeiten geraten war. Er wusste nicht einmal, dass Törki englisch war und kein Roschitzer Lokalausdruck für diesen Vogel.
Er wusste eine Lösung: Ab mit ihnen mit all ihrer rehäugigen Brut, hinein in die Viehwaggons und tschüss, ab durch den Zaun nach Süden, wo sie hergekommen waren. Natürlich sagte er nie ein Wort davon, Arpad war bekannt dafür, dass er schweigen konnte. Er wandte sich ab, damit die Chefin sein Gesicht mit dem kurz aufblitzenden Lächeln wie von einer Messerklinge nicht sehen konnte.
Fanni fädelte gerade den letzten gelb-grünen Vorhang am Fenster des Geflügelhauses auf und nickte. Sie zumindest war mit dem Zimmerschmuck zufrieden, hübsch, geht doch.
Syrien und alle diese Länder da unten, Arpad hatte die Bilder aus dem Fernsehen klar im Kopf, die zerstörten Städte und Dörfer, die endlosen Zeltreihen in irgendwelchen Wüsten, dazwischen die Kinder mit ihren hungrigen Gesichtern in Wind und Schneematsch, barfuß oder mit Gummilatschen an den nackten Füßen, die Flüchtlingsboote im Mittelmeer und die Fußkolonnen von da unten herauf bis nach Roschitz.
Er hatte es satt, dass sie kamen, ständig und immer mehr von denen. Sicher schleppten sie zusammen mit ihren Tiernamen auch noch Typhusflöhe mit übers Wasser, dazu eine zurückgebliebene, grausame Religion mit grausamen Sitten, dem Kopf-Abschlagen und bei lebendigem Leib- Verbrennen, ist ja wahr, sie haben es im Fernsehen gezeigt. Die haben die gleiche Religion wie vor tausend Jahren, barbarisch, nie reformiert, und immer schon schlagen sie einander die Köpfe ein und ab. Immer haben sie Streit, immer Krieg. Das ist bei denen ein Volkssport oder Folklore. Sollen sie doch einmal bei sich selbst, unter sich Ordnung und Frieden schaffen, anstatt rauf zukommen und bei uns Unruhe zu stiften. Wahrscheinlich haben sie keinen Verstand, oder gerade so viel, dass sie bei uns herum spionieren und uns in Schwierigkeiten bringen. Sie werden sich sowieso nicht wohlfühlen, weil alles so anders ist als bei ihnen, da, wo sie herkommen, hier bei uns ist alles modern und vernünftig, naja, fast alles. Sie gehören nicht hier her. Und dann ziehen sie einen auch noch mit rein. Teufel sind das, sagte sich Arpad, obwohl er weder an Teufel noch an Heilige glaubte, weil er an gar nichts glaubte, sondern sich immer nur daran hielt, was ihm nützte, was er mit seinen Augen sah, mit seinen Händen greifen und mit seiner Peitsche erreichen konnte.
Und er sah es plötzlich vor sich, dass da noch fünf, zehn oder 20 Millionen warteten und übers Meer kommen würden. Das hat ja kein Ende.
„Und was ist dann mit unseren alten Tschuschen?“
„Arbeitet gut, dann können alle dableiben. Ich hab auch nichts zu verschenken. Was die Sachen alles kosten, und erst die Steuern. Sie haben ja keine Ahnung, was ich alles zahlen muss. Und immer diese Konkurrenz!“ Arpad kannte die alte Leier seiner Chefin und verzog angewidert die Mundwinkel. Wie immer, die, die es am Dicksten haben, jammern am meisten.
Was Arpad zutiefst missfiel, war nicht der Umstand, dass jetzt Araber hier wohnen und arbeiten sollten und dass er dafür auf seine Plastiksäcke verzichten musste, sondern dass die Chefin den Neuen, den Mamu, zum Mechaniker bestimmt hatte, obwohl sie gar nicht wusste, ob der überhaupt eine Ahnung von der Technik hatte. Aber das hing wahrscheinlich mit ihrem dummen Respekt vor Akademikern zusammen. Deswegen hatte sie schon vor 20 Jahren den alten Notar Doktor Bernauer geheiratet, von dem so wenig Kinder zu erwarten waren wie Pinguine je fliegen konnten oder Törki kobbeln. Bevor Arpad zum Verwalter, zum Schupan, aufgestiegen war, hatte er die Maschinen gewartet, weil er das ja auch in seiner Zementfabrik gemacht hatte. Nachdem er zum Verwalter aufgestiegen war, hatte die Chefin immer einen Jugo dafür eingesetzt, die konnten gut an Motoren basteln, das lag denen im Blut, weil ihre Autos so schlecht waren und jeder sein eigener Majstor sein musste. Die Jugos hatte er immer unter Kontrolle gehabt, vor allem solange sie noch keinen österreichischen Pass hatten. Damit ließ sich immer alles drechseln. Schwupp, und weg waren sie. Anstellen und entlassen. Das war auch Frau Bernauers Prinzip, da verstanden sie sich. Und jetzt dieses unbekannte Tier von Mamu, nur weil der sich angeblich mit Computern auskannte. Aber was ist mit den Traktoren, Gabelstaplern, Treckern, Pflügen, Spritzen, Destillatoren, Silo- und Heupressen, Vertikulierern, Mähern, Wendern und den Minivans mit ihren komplizierten Obstbrockern oben drauf? Hatte jemand von da unten solche Maschinen überhaupt schon zu Gesicht bekommen? Und dann noch reparieren! Die kennen doch nichts anderes als Schafe, Esel und Maultiere. In Arpad kochte die Wut. Er hätte lieber einen von den alten Jugos genommen, an die hatte er sich schon gewöhnt, mit denen kannte er sich aus, wusste von ihren Schwächen, konnte sie für sich einzusetzen und ihnen Beine zu machen. Diesem Mamu geb ich drei Wochen, dann ist er weg mitsamt seiner Barbarenbrut, verschwunden in den Weiten Asiens oder Afrikas oder wo immer diese Teufel herkommen. Das hatte Orban wirklich gut gesagt, aus den Weiten Asiens und Afrikas, einmal ein klares Wort. Und Taten: Zaun, vier Meter hoch, NATO-Stacheldraht obendrauf, Viehwaggons und ab in die Weiten. Aber hier, alles die Schuld von diesem Pfaffen, der ist schließlich auch kein Hiesiger, bei dem Namen, das sagt ja schon alles – Stipschitz.

Arpad war kein religiöser Mensch, im Gegenteil, er verachtete Menschen, die eine Religion praktizierten und hielt sie für dumm oder zumindest so minderbemittelt, dass sie sich nicht auf ihren Verstand verließen, sondern glaubten, etwas „Höheres“ zu brauchen. Er hielt Religion für eine Sache für Leute, die nicht genügend Krips und Mumm hatten, auch ohne Religion dem Bösen aus dem Weg zu gehen. Das war immer schon sein Glauben gewesen, so hatte er sein Leben gestaltet. Aber nun musste er sich die Sache genauer ansehen, denn da gab es ein familiäres Problem. Sein Sohn Geza wollte sich zu einem Choralsänger ausbilden lassen. Er hatte tatsächlich eine schöne, tragende Stimme. Aber warum denn unbedingt in einer Kirche, hatte er ihm vorgehalten. Der 20-jährige Geza hat schon vieles probiert und wieder aufgegeben, von der Schule bis zur Mechanikerlehre, nirgends hat er Fuß gefasst. Er war so groß und blond wie sein Vater, aber sein Geist war leider nicht so beweglich. Er liebte Bier und Fußball, vom Rand aus. Geza war in der Clique seiner Freunde auch der beste und lauteste Schreier beim FC Sopron. Was dem Vater aber die meisten Sorgen machte, war die Tatsache, dass Geza kein Interesse an Mädchen zeigte. Noch nie hatte er eine Freundin nach Hause mitgebracht, und nicht einmal seine Kumpels stellte er den Eltern vor, sie hingen nur in Kneipen und auf dem Fußballplatz herum. Arpad hatte noch eine Hoffnung, dass es nicht bei den Chorälen bleiben würde. Geza war der frisch gegründeten „Neuen Ungarischen Kirche- NUK“ beigetreten, weil er da die Chorausbildung erhielt. Die NUK war eine Idee der Jobbik-Partei gewesen, die kennen sich aus in der Geschichte, das bewunderte Arpad. Unter den ungarischen Pfeilkreuzlern hatte es ebenso wie unter den deutschen Nazis eine Reihe von Freikirchen gegeben, wo sich die faschistischen Neuheiden sammeln konnten, ohne dabei von so einem Plunder wie Christus und Bibel und so altmodisches Zeug wie Nächstenliebe und Gewissen gestört zu werden. Und wenn Geza genug vom geselligen Choralsingen hatte, konnte er ja in der Partei eine Karriere machen, das wäre dem Vater recht, und da sang man auch viele schöne, patriotische Lieder. Dass man damit weiterkommen konnte, sah man ja im ganzen Land ohne Lupe. Dass sich der Sohn im August dieser Hitler-Pilgerfahrt anschließen wollte, ging dem Vater gegen den Strich. Diese Hitlerei von „Blut&Ehre“ war nicht sein Ding, das war nichts Ungarisches, wir brauchen das nicht, wir Ungarn haben unsere eigene Heldentradition.
Ildiko war die kleinere Sorge, obwohl auch sie nicht mehr in die Schule gehen wollte, sondern Model werden. 17 Jahr, blondes Haar, lang bis zu den Pobacken, das war wirklich schön an ihr, ein echtes Honiggelb, das Bullige von ihm hat sie nicht geerbt, eher das Dünne, Längliche von seiner Frau. Ildiko hat ein Stutengesicht und schielt so stark, dass sie die halbe Kindheit mit einem Pflaster über einem Auge verbracht hatte, ohne Erfolg. Ildiko nahm das auf die leichte Schulter und meinte, mit Photoshop kann man heutzutage schon alles machen. Seine Frau war so vernarrt in ihre Tochter, dass sie den Balaton für sie austrinken würde, um sie glücklich zu sehen. Die beiden lagen ihm seit einem halben Jahr in den Ohren, dass Ildiko heuer im August bei der Miss-Balaton-Wahl antreten dürfe. Mal sehen, Mädchen, dachte Arpad, nicht so schlimm, sie wird heiraten und schnell ein paar kleine Magyaren in die Welt setzen.

Mahmoud stellte sich in der Tat als begabter Mechaniker heraus, obwohl er das nicht gelernt hatte. Er löste zuerst immer alles im Kopf, logisch überlegte er, das müsste so sein, daher das andere so, und immer so weiter. Arpad musste ihm auch nichts anschaffen, weil Mamu von selbst sah, was notwendig war. Er war auch immer der Erste bei der Arbeit und am Abend der Letzte. Schon in aller Früh krabbelte er im Maschinenhaus herum, saß auf dem Traktor, horchte auf den Motor, stieg wieder herunter, beugte sich über die offene Motorhaube und schraubte, schmirgelte, schmierte und lötete, was das Zeug hielt. Oder er lag unter einem Trecker, einem Pflug, einer Spritze oder einer Obstpflückerkarre. In kürzester Zeit beherrschte er alle Maschinen mit einer Wendigkeit, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes gemacht als Traktoren, Gabelstapler und Obstpflücker auf Minivans zu fahren.

Den Rest der Familie C. sah man am Hof praktisch nie. Die Kinder gingen im Ort in die Schule, das schwarze Frauenzelt war sowieso unsichtbar, die Raiffeisen-Vorhänge vor dem Geflügelhaus blieben immer zugezogen. Das Haus verließen sie durch die Hintertüre, die über alte Misthaufen, Brennnesselwälder und Brombeerhecken in die Wiesen führte. Nur wer genau hingeschaut hätte, könnte das Zelt mit den zwei Kindern in der Abenddämmerung durch die Obstplantagen wandern oder auf einer Wiese sitzen gesehen haben.
Wenn schon alle anderen gegangen waren und Feierabend machten, stand Mahmoud mit seiner nicht so kräftigen Statur und seinen randlosen Brillen in der riesigen Obstlagerhalle und spritze mit einem Kärcher den Boden sauber und noch sauberer, sogar mit dem Besen ging er den Wasserschlieren noch nach und trieb sie hinaus auf den Obsthof. Er schien Vergnügen daran zu haben, diese unendliche Fülle an Wasser machte ihn glücklich und er dachte dabei vielleicht an die syrischen Wüsten. Neben dem Reparieren der Geräte war seine bevorzugte Tätigkeit, die Obststeigen fein säuberlich zu ordnen, und dazu benützte er den Gabelstapler, „Ameise“ hieß das Gefährt, wie er von den anderen Arbeitern gelernt hatte. Niemand konnte die Kisten und Körbe so akkurat schlichten wie der Syrer, er arbeitete mit der Präzision eines Computers, chirurgisch genau standen die Oststeigen in hohen Stapeln bis unter die Decke. Er bediente die Ameise so flink und wendig wie ein Lausbub sein Go-cart und hatte offensichtlich Spaß daran. Er pfiff und sang etwas in seiner Sprache vor sich hin wie ein Ziegenhirt auf der Weide, als würde er Gold dafür bekommen. Wenn man ihn so in seinem Strohhut im Overall mit dem aufgedruckten Logo BOB von Bernauer-Obst-Burgenland am Latz und den Gummistiefeln sah, konnte man ihn von einem Einheimischen nicht unterscheiden, wenn er nicht diese feine Brille auf der Nase gehabt hätte. Die würde ihn für immer zum Aussätzigen machen gegenüber dem Balkan-Volk. Was Arpad am meisten aufregte und zur Weißglut brachte, war, dass dieser Mamu die Arbeit gerne machte und das auch noch zeigte. Das hatte noch niemand aus dem ganzen Balkan-Pöbel gemacht und auch kein Mann aus Anatolien: Vergnügen an der Arbeit zu haben, so was von unerhört. Das würde die Sitten am Hof verderben, das konnte auf die anderen abfärben. Und wenn Frau Bernauer das bemerkte, würde sie verlangen, dass die Angestellten für das Vergnügen der Arbeit ihr auch noch bezahlten. So weit würde es kommen, wenn dann immer mehr von diesen zehn Millionen die Grenzen überwinden, alles aus dem Gleichgewicht bringen und alles von oben nach unten kehren würden, gute Nacht, Gospodin Schupan, gute Nacht, schöner Plan, gute Nacht, rosige Zukunft. Er musste erreichen, dass sie diesen Mamou vorher feuerte und das bald. Wenn das so weiterging und er bald besser Deutsch konnte als Arpad, dann sah er nur noch das Schwärzeste vom Schwarzen. Dass der Pastor nur noch bei Herrn Mahmoud Besuch machte, störte Arpad nicht so sehr, weil er`s sowieso nicht mit den Pfaffen hatte. Aber wenn er zusehen musste, dass die Chefin hinter Mamou herlief, ihn umflatterte wie eine aufgeregte Henne und immer wieder Monsieur Mahmoud hier, Monsieur Mahmoud dort flötete. Der letzte Rest vom Ursulinen-Internat, in das sie ihre Eltern gesteckt hatten. Sie war nicht anders als der blöde Törki in seiner Art hinter Arpad her war. Seine Seele füllte sich mit solchem Grimm, dass er schnaubte wie das wildestes Pferd, das je ein Bein auf die geheiligte Puszta gesetzt hatte.
Die syrischen Kinder redeten schon recht munter mit ihren Schulkameraden, im Dorf und im Schulbus. Einmal waren sie sogar von Schulkameraden auf ein Eis eingeladen worden.
Das Zelt blieb weiter unsichtbar hinter den Gardinen. Arpad hatte im Lagerhaus zufällig mitbekommen, dass sich Mamu nach einem Grundstück erkundigt hatte, draußen neben der Bahn, da war das Land billiger. Aha, ein Haus will sich Monsieur also bauen, so ein Schlauer, und noch eins und dann alles hier übernehmen gleich die ganze Bude mit ihren Großfamilien aus den Weiten Asiens und Afrikas. Genau daran arbeitete Arpad schon 20 Jahre lang, sicher auf kleinerer Basis, aber das sollte dem Wilden nicht gelingen, da würde er ihm schon vorher einen Strich durch die Rechnung machen, bevor der auch nur einen einzigen Quadratmeter gekauft hatte. Plan A ging ungefähr so, ihn zu denunzieren, dass er absichtlich etwas kaputt gemacht oder gestohlen habe. Fraglich, ob das funktionieren würde, denn der machte nichts kaputt und stahl auch nichts, absichtlich. Außerdem ließ sich eine so misstrauische Chefin wie die Bernauerin nicht so leicht hinters Licht führen. Anstellen und feuern, ihre Devise, immer hatte sie ihren Vorteil abgewogen. Das wusste er nur zu gut nach den 30 Jahren auf dem Bernauer-Hof. Es musste ein Plan B her, den hatte er aber noch nicht ausgegoren, aber es gab da eine Idee im Hinterkopf, fast schon ein Plan. An den wagte er sich kaum zu denken und war froh, dass er nicht dazu neigte, im Schlaf zu sprechen. Auf Törki spuckte er, wenn der etwas verraten sollte. Aber Törki schwieg. Plan B bestand darin, dass er einfach passieren musste, einfach so, wenn die Gelegenheit dazu da und die Zeit dafür reif war. Geduld, Arpad, Geduld, das wurde sein Morgen- Mittag- und Abendgebet, so innig, dass Törki, wenn er kein stummer Truthahn, sondern ein Papagei gewesen wäre, es ihm sicher nachgeplappert hätte, Geduld, Geduld.

Eines Abends am Ende der Saison war Edith Bernauer, wie so oft, hinter ihrem Liebling Mamu her in die Lagerhalle gestiefelt. Unter irgendeinem Vorwand wollte sie ein paar französische Brocken an in richten, an ihren Monsieur Mamou. Ab sie fand ihn nicht, sie sah nur, wie die Beine im blauen Overall unter der Ameise hervorragten, grotesk verdreht wie bei einer achtlos hingeworfenen Stoffpuppe, daneben der Sonnenhut und etwas weiter weg ein paar zerquetschte Silberbügel mit Glassplittern. Adrian war es, der es bemerkte, aber für sich behielt, dass die Bremsen der Ameise nicht angezogen waren.

Am 30. Oktober war unter Vermischtes im Roschitzer Boten eine Notiz zu lesen:
Am Bernauer Obst-Hof, Spörk 1, hat sich ein tragischer Arbeitsunfall ereignet. Der aus Syrien stammende Landarbeiter Mahmoud C. geriet unter einen Gabelstapler und wurde von der Maschine erdrückt. Im Krankenhaus Eisenstadt kämpfte ein Ärzteteam vergeblich um sein Leben. Er hinterlässt eine Frau und zwei minderjährige Kinder.


Edith Bernauer ging nach dem Vorfall kaum noch aus dem Haus, sie soll ständig gezittert und mit sich selbst gesprochen haben; schließlich kam ein weißer Kastenwagen mit einem roten Kreuz, und sie verschwand in der BLaNG, der Burgenländischen Landes- Nervenheilanstalt Geschriebenstein. Arpad machte sich mit seinem schwarzen Mercedes rüber nach Ungarn, und der Rest der Familie C. fuhr in einem weißen Audi in unbekannter Richtung davon. Törki hatte sich kurz nach diesem Ereignis in den Truthahnhimmel verabschiedet.

Veronika Seyr
20.8.15





Keine Kommentare: