Montag, 19. September 2016

Das Gehirn des Dmitrij Schostakowitsch


In den Morgenstunden des 22. Juni 1941 überschritt die deutsche Wehrmacht in der "Operation Barbarossa" die sowjetische Grenze - für die Menschen der Sowjetunion der Beginn des Großen Vaterländischen Krieges. Den damals schon weltberühmten Komponisten Dmitri Schostakowitsch erreichte diese Nachricht als Vorsitzenden der Prüfungskommission in der Klavierklasse des Leningrader Konservatoriums. Ohne Unterbrechung wurde der Wettbewerb weitergeführt, obwohl die ganze Stadt gleichzeitig massive Verteidigungsmaßnahmen trafen. Auch die Professoren und Studenten nahmen an dem Barrikadenbau teil. Anfang August erschienen die ersten deutschen Flugzeuge über der Stadt, es begannen die Bombardierungen und der Artilleriebeschuss. Von da an wurde die Stadt 900 Tage und Nächte bis Februar 1944 eingeschlossen und bombardiert, in der Leningrader Blockade starb fast die Hälfte der Bevölkerung, 1 ½ Millionen Menschen, sie wurden erschossen, verhungerten, erfroren oder fielen Seuchen zum Opfer.
Die allgemeine Mobilmachung wurde angeordnet. Jungen von 17 bis zu Männern von 60 wurden einberufen. Schostakowitsch hatte sich freiwillig gemeldt, aber er war nicht dabei. Als die deutsche Luftwaffe begann, Brandbomben auf die Stadt zu abzuwerfen, organisierte das Konservatorium eine Art von freiwilliger Feuerwehr, die während der Angriffe auf den Dächern ausharren musste. Ein Augenzeuge berichtet, wie man Schostakowitsch einen Feuerwehrhelm aufgesetzt und ihm gesagt hat, er soll auf das Dach steigen und sich fotografieren lassen. Die ganze Welt kennt dieses Foto. Es sollte aufrütteln, Leningrad zu Hilfe zu kommen. Schostakowitsch war keine zehn Minuten auf dem Dach, trotzdem stand er ab jetzt im Mittelpunkt der sowjetischen Propaganda, die Stalin selbst dirigierte.

Am 19. Juli 1941, einen Monat nach dem Angriff, begann er mit der Komposition einer neuen Symphonie. „Meine Symphonie Nr. 7 widme ich unserem Kampf gegen den Faschismus, dem Heldentum unseres sowjetischen Volkes, unserem Sieg über den Feind und meiner Heimatstadt Leningrad“, schrieb er auf die Titelseite. Er feierte gerade seinen 35. Geburtstag, indem er nicht feierte, sondern fast 24 Stunden an einer neuen Koposition durchschrieb.
Die Gestalt des Künstlers, der vom Kampf inspiriert, mitten in der Verteidigung eine Symphonie komponiert, war ein großartiges Werkzeug der Kriegsanstrengungen. Ausserdem entsprach das nationale Genie ganz und gar der russischen Psyche. Bald schon rankten sich viele Legenden um die Entstehung der 7. Symphonie.
Die abenteuerlichste entstammt aber nicht der sowjetischen Propaganda oder dem russischen Volksmythos, sondern den Forschungen des chinesischen Neurologen Wang Dajue. Er will wissen, dass Schostakowitsch, nicht als Feuerwehrmann auf dem Dach verletzt wurde, sondern als Trümmeraufräumer auf dem Newski-Prospekt von einem Schrapnell in die Stirn getroffen wurde. In all dem Chaos wurde die kaum sichtbare Wunde von ihm selbst, der Familie und den Ärzten als so unbedeutend eingeschätzt, dass sie nicht mehr behandelt wurde als durch einen Verband. Der Splitter blieb aber in der linken Gehirnhälfte, im Cornu inferius des linken Gehirnventrikels stecken. Ein Pekinger Neurologe, Doktor Wang Dajue, pflegte in den 50-er Jahren engen Kontakt mit sowjetischen Neurologen und konnte den Metallsplitter mit Röntgenaufnahmen lokalisieren. Wenn er den Kopf nach rechts drehte und leicht abwärts wandte, strömte ihm eine Fülle von Melodien in den Kopf, die er aufschrieb und in seine Kompositionen einwob. Der Fremdkörper hat sein Gehirn stimuliert und mit Gedankenblitzen überflutet, behauptet der Neurologe. Nichts davon ist gesichert, ausser dass Schostakowitsch an schweren Kopfschmerzen litt und sich untersuchen ließ.
Wenn irgendetwas an dieser Legende stimmen sollte, wäre es die unerträgliche Grausamkeit, dass ausgerechnet ein deutscher Bombensplitter verantwortlich sein soll für die besten Stücke der Weltmusikliteratur.
Einen Monat nach dem Überfall hat Schostakowitsch mit der Arbeit an der neuen Symphonie, der 7., der heroischen Leningrader begonnen. Beendet hat er sie am 27. Dezember 1941, nachdem er im Oktober mit der Familie nach Moskau, später nach Kuibyschew evakuiert worden war. Fünf Sätze in fünf Monaten, und zu welcher Zeit!
Sie wurde am 5. März 1942 in Kuibyschew vom ebenfalls dorthin evakuierten Orchester des Bolschoi Theaters unter Samuil Samossud uraufgeführt.
Danach zog sie in einem unvergleichlichen Siegeszug um die Welt.

22.7.16

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