Es
war im Mai 1988, als ich zum ersten Mal in die Ulica Wawilowa kam,
eine große Ausfahrtsstraße in Moskaus Südwesten. Dort wohnte in
einem Diplomatenkomplex eine Freundin, die an der österreichischen
Botschaft arbeitete. Mir sagte die Wawilow-Straße nichts, und
ich fragte auch anfangs nicht nach dem Namensgeber. Auch kannte ich
die Gegend von früher nicht, eine ziemlich neue, sich endlos
hinziehende, gesichtslose Plattenbauwüste aus Chruschtowkas (schnell
und billig aufgezogene 4-stöckige Wohnhäuser) und neuen
Supermärkten. Im dritten Jahr von Gorbatschows „glasnost“ und
perestroika“ tauchten immer mehr neue Straßen- und Ortsnamen auf
oder erhielten ihre alten zurück. Die Gorki-Straße wurde wieder zur
Twerskaja, die Gerzena zur Bolshaja Dmitrowka, die Klosterstadt
Zagorsk zu Sergijew Posad, Stalingrad zu Wolgograd. Ich wußte
nichts von der Tragödie, die sich hinter dem Namen Wawilow
verbarg. Für mich ein beschämendes Beispiel, wie blind und blöd
man herumtaumeln kann, wenn man die Geschichte nicht genügend kennt.
Mir fiel bei meiner irrungsreichen Fahrt nur der gigantomanische
Neubau eines Superbaumarkts ins Auge – Baumax ist gelandet.
Erst
nachdem ich ein paarmal bei dieser Freundin zu Besuch gewesen war
und an einem Kiosk zufällig eine 5-Kopeken-Sondermarke mit dem
Konterfei des Akademik W.I. Wawilow, 1887 – 1943, entdeckt hatte,
begann ich mich dafür zu interessieren, wer dieser Mann gewesen ist.
Nikolai
Iwanowitsch Wawilow, 1887 in Moskau in einer Industriellenfamilie
geboren, war zwischen 1910 und 1940 der berühmteste Botaniker,
wenn man so will, der erste Genetiker überhaupt. Er sammelte in
allen Erdteilen Pflanzen, ihre Früchte, Samen, Wurzeln, Knollen
und Saatgut. In Petrograd richtete er die weltweit erste
Samenbank ein und in Pawlowsk eine Versuchsfarm, gründete in der
UdSSR über 40 Agrarinstitute und weitere 120
Experimentierstationen mit Testfeldern von Murmanks bis Jalta, von
Kaunas, Lemberg bis Wladiwostok. In den besten Zeiten arbeiteten 20
000 Menschen in Wawilows Forschungseinrichtungen. Er selbst hat seit
1921 ein Professur in Saratow inne und wird im Ausland mit Ehrungen
überschüttet. Er ist Mitglied in vielen Akademien, in der UdSSR
langjähriger Präsident der geografischen Gesellschaft und Leiter
des allrussischen Agrarinstituts in Leningrad. Viele Universitäten
hätten ihn gerne als Professor angeworben, ihm lag aber nichts so
sehr am Herzen wie das Wohl seines Landes.
Er
verfolgte einen größenwahnsinnigen Traum, leitete ein
wahnwitziges Unterfangen, die Welt, und vor allem sein geliebtes
Russland, für immer von Hungersnöten zu befreien, indem er alte
Pflanzenverbesserte un neue züchtete, die auch in ungünstigen
Klimatas und auf rauen Böden Höchsterträge bringen können.
1920 formulierte er das „Gesetz der homologen Reihen“, das in
Anwendung des Mendelejew`schen Periodensystems der chemischen
Elemente ermöglichte, aufgrund bekannter Daten das Vorhandensein
noch unbekannter Pflanzenformen vorauszusagen. Es hatte
durchschlagenden Erfolg und wurde ab da international angewandt.
Wawilow hat es nicht mehr erlebt, dass in den Jahrzehnten seit dem
Weltkrieg allein in der Sowjetunion 400 neue Pflanzenarten entwickelt
wurden.
Wawilow
war gut unterwegs zu seinem Ziel, aber er brauchte noch Zeit. Er
bekam sie aber nicht mehr. Denn einer glaubte nicht an seinen Traum
– Stalin.
1932/33, nach dem 1. Fünfjahresplan, herrschte die schlimmste
Hungersnot der Menschheitsgeschichte, die der Diktator durch seine
kurzsichtige und unbarmherzige Zwangskollektivierung und den Kampf
gegen das sogenannte „Kulakentum“ selbst verursacht hatte, den
Golodomor in der Unkraine und Westrusssland mit Millionen von Toten.
Um den Volkszorn zu beschwichtigen und die eigenen Fehler zu
vertuschen, braucht Stalin Sündenböcke, und so schlug er sich auf
die Seite von Wawilows Gegnern und Neidern, die mit Scheintheorien
ein schnelleres Wachstum versprachen. Allen voran steht der
Halbanalphabet Trofim Lyssenko, ein kleiner Funktionär in einer
aserbeidschanischen Pflanzenzuchtstation. Ironischerweise hat Wawilow
diesen „proletarischen Vorzeigewissenschafter“ anfangs sogar
gefördert. Lyssenko bemächtigt sich einiger Forschungsergebnisse,
fälscht Daten und verspricht, innerhalb von drei Jahren neue
Supersorten zu kreieren, die um 40 Prozent höhere Ernteerträge
erbringen, obwohl jeder Biologe weiss, dass das unmöglich ist. Aber
ein Lyssenko paßt gerade gut ins marxistische Weltbild: Sowohl
Lyssenkos reiner, proletarischer Lebenslauf als auch seine
Behauptung, dass er Pflanzen „erziehen“ könne, so wie andere
Wissenschaftszweige den neuen Menschen, den „homo sowjeticus“,
vorhersagten. Lyssenkos These hat nichts mit Wissenschaft zu tun,
sonern ist reine Ideologie. Zwingt man etwa Getreide, in Kälte zu
wachsen, zeugt es Nachkommen, die frostresistent sind. Setzt man
Pflanzen seinen Schädlingen aus, werden sie diese besiegen. Eine
veraltete Theorie aus dem 19. Jahrhundert, die nicht zuletzt schon
1853 Mendel widerlegt hat. Mit fantastischen Versprechungen,
irrwitzigen, antinatürlichen Visionen, sogar im Permafrost
Sibiriens Weizen und Roggen, Äpfel und Orangen wachsen lassen zu
können, gewinnt er Stalin für sich. Natürlich nicht direkt, von
Peron zu Person, sondern über korrupte Funktionäre, die die
zurückgebliebene Republik Aserbeidschan ins rechte Licht rücken
wollten. Ein irrer Tanz, von einem Irren von anderen Irren
angetrieben, für den alles entscheidenen Superirren. Jenseits aller
Realität. Weil Stalin schnell Ergebnisse braucht, will er einfach
dem letztklassigsten Scharlatan glauben und läßt Lyssenko als den
„besten Vertreter des wissenschaftlichen Sozialismus“ rühmen.
Zwar scheitern Lyssenkos Versuche im Experiment, aber er war ein
gevievter Demagoge und hat eine starke Lobby hinter sich.
Wie lange Lyssenko als der proletarische Wunderknabe hochgehalten
wird, zeigt die groteske Kontroverse Chruschtschows mit den USA
über die überragenden Vorzüge des sowjetischen Weizens und des
Mais, gerade zu einem Zeitpunkt, als die UdSSR diese Getreide aus den
USA importieren müssen. Die berühmte Schuh-Klopf-Szene
Chruschtschows vor den Vereinten Nationen hat den Streit um
Lyssenkos Lügen zum Hintergrund. Weizen und Reis wachsen noch immer
nicht in den Himmel, dafür aber kommt Gagarins erste Erdumrungung.
Aber am Mond wachsen nun mal keine Äpfel und Orangen,
kein Getreide, keine Erbsen und nicht einmal Gras. Daran kann auch
die sowjetische Wissenschaft nichts ändern.
Irgendeinmal möchte ich in Science oder Nature oder einen adäquaten
russischen Organ eine Analyse lesen, was alles Stalins Dummheit,
dass er Wawilow nicht weiterforschen ließ, eingebrockt hat, uns,
Russland und der ganzen Welt. One world.
Stalins sukkzesive Machtergreifung nach Lenins Tod läßt sich an
der Biografie Wawilows ersehen. 1926 erhält er die höchste
Auszeichnung, den Leninpreis, Jahr für Jahr wird er auf
internationalen Kongressen zum Vorsitzenden gewählt, er hat einen
Lehrstuhl in Saratow, leitet in Leningrad das
„Allunionsagrarinstitut“, ist Leiter der Akademie der
Wissenschaften der UdSSR, Präsindent der Geografischen Gesellschaft.
Undundund. Trotzdem – oder gerade deashalb - legt 1930 Stalins
Geheimdienst NCHWD eine Akte über Wawilow an, um ihn des
Vaterlandsverrates zu überführen. Während er noch fieberhaft durch
die Welt reiste und Samen sammelte, verschwanden immer wieder
Mitarbeiter seiner Institute oder tauchten wieder auf, nachdem sie
Wawilow staatsschädigendes Verhalten bezeugt hatten. Spitzel wurden
in seinem Umfeld eingeschleust, die ihn auf Schritt und Tritt
beobachteten. 1935 nahm er an der „Deutschen Hindukusch-Expedition“
teil und brachte von dort fast 50 000 unbekannte, noch nie
erforschte Samen mit.
Wawilow spürte wohl die Gefahr. Er hätte rechtzeitig ins Ausland
fliehen können, wo er für seine Arbeiten gefeiert wurde. Aber der
glühende Patriot blieb und sagte: „Wir werden auf dem
Scheiterhaufen brennen, aber unsere Überzeugungen werden wir nicht
verraten.“ Am 6. August 1940 verhafteten Geheimdienstler den
Forscher und klagten ihn des Hochverrats an. In den folgenden elf
Monaten wird er 400mal verhört, oft nachts und bis zu dreizehn
Stunden, in denen er ununterbrochen stehen muss.
Die Zelle ist zweimaldrei Meter groß, von der Decke baumelt eine
nackte Glühbirne, das Mobilar besteht aus einem Tisch und einem
Bett, auf dem sich drei Gefangene zusammendrücken. Es stinkt
bestialisch im fensterlosen Raum mit einem Exkrementenkübel in einer
Ecke. Einer ist der Philosoph Iwan Luppol, der darüber nachsinnt,
mit welchen seiner Gedanken er bei Stalin angeeckt sein könnte,
also, wofür er schuldig war. Iwan Filatow hat es einfacher –
ein klarer Klassenverrat, weil sein Onkel einst einen blühenden
Holzhandel führte. Nikolaj Wawilow glaubt an ein Missverständins,
er ist Ethnobiologe, vielleicht der größte, den die Welt je hatte.
Aber Wawilow gibt auch in diesem Elend nicht auf. Er ermuntert seine
Zellengenossen, einander Vorträge zu halten: Issipow über den
Holzhandel, den Philosophen über seine Thesen, er selbst referiert
über seine Vision von einer hungerfreien Welt. Lange bevor das
erste Genom der Pflanzen entschlüsselt wurde, lange bevor DNA,
Biodiversität und Gen-Pool überhaupt Begriffe waren. Mit
Karawanen zog er durch Afghanistan, Indien, Eritrea, drang in den
Dschungel Brasiliens vor und bereiste viele Länder Asiens, Afrikas
und fast alle Inseln der Welt. Überall sammelte er Pflanzen,
Wurzeln, Triebe und Samen, um sie nach St.
Petersburg/Petrograd/Leningrad an seine Samenbank zu schicken.
Aus Kamerun notiert er einmal: „Drei Tage und Nächte nur
eingesackt, dokumentiert und weggeschickt. 67 000, Hände blutig.“
Er ist überzeugt, dass nur mit der Vielfalt der Erbanlagen sich
immer wieder Gewächse finden und erfinden lassen, die langfristig
das Überleben der Menschheit sichern können. Schon bei seinen
ersten Expeditionen zu Beginn der 10-er Jahre erkennt er, dass Arten
verschwinden.
Im Leningrader „Allunioninstitut für Pflanzenzüchtung“ am
Isaaksplatz sammeln sich im Laufe seiner Expeditionen 250 000
Samenproben an; diese Anzahl wird kein Land je erreichen. In
hunderten von Laboratorien und Versuchsfarmen quer durch die
Sowjetunion werden sie gezogen, gekreuzt, erprobt und
wissenschaftlich ausgewertet. Wenn er nicht auf Expedition oder auf
internatinalen Kongressen ist, steht er selbst in seinem Labor an
der Universität Saratow. Wurzeln, Knollen, Bohnen, Nüsse, Früchte
und Gewebeproben werden eingetütet und in Containern verwahrt. Es
sind Tonnen, die im Zentralinstitut in Leningrad gesammelt,
katalogisiert und auf Versuchfarmen erprobt werden.
Am 6. August 1940 holt eine schwarze Limusine den Chef ab, zu einem
„wichtigen Termin in Moskau“; seine Mitarbeiter wissen zwei
Jahre nichts über seinen Verbleib.
Ihnen und dem eigens zusammengerufenen Wachpersonal gelingt nach
dem deutschen Überfall trotzdem das Wunderbare: Den biologischen
Weltschatz vor der hungernden Bevölkerung zu behüten und zu
verstecken, bis zu ihrem eigenen letzten Lebenstropfen. In eisigen
Räumen stehen sie, hungernd kratzen sie die letzten Reste aus den
Zuckerdosen, kochen Gras, Baumrinden, Lindenblätter, Ledergürtel
und Schuhe, werden krank, schwach und sterben. Aber einigen
gelingt es, den größten Teil dieses Schatzes ins Umfeld hinter
Leningrad zu retten, in Metallkisten, damit die Millionenrattenplage
nicht an sie herankommt. Sie streifen nachts durch die Stadt auf der
Suche nach Holz, sitzen tief in Kellern an Feuern, damit die
Kartoffelknollen und Reis- Zwiebel-und Bohnensamples aus aller Welt
nicht erfrieren, und sie erfrieren dabei selber. Sie trauern um die
Kollegen, die nächsten treten an und machen weiter. Niemandem kommt
in den Sinn, sich am Saatgut zu vergreifen Sie verhungern lieber,
als etwas selbst zu nehmen, wie lebensrettend fett- oder zuckerreich
die Kartoffel, Nüsse oder Bohnen gewesen sein mochten. Sie halten
an dem höheren Zweck Wawilows Forschungen fest und opfern sich für
Wawilows Zukunftstraum. Ein Mitarbeiter wird tot an seinem
Schreibtisch gefunden, in der Hand ein geschlossenes Päckchen mit
nahrhaften Erdnüssen aus den Drachenbergen, die ihm vielleicht das
Leben retten hätten können.
Wer soll das verstehen? Eine Tautologie, nur der, Russland versteht.
Ich meine, es ist umgekehrt: Wer sich auf Wawilow einläßt, hat die
Chance, etwas von Russland zu verstehen.
Nach dieser Folter gesteht Wawilow, einer konterrevolutionären
Organisation anzugehören. Am 9. Juli 1941 verurteilt ihn das
Militärgericht in Saratow zum Tod, wo es ihn später zu 20 Jahren
Arbeitslager „begnadigt.“ Am 24. Jänner 1943 wird Wawilow in
die GULAG - Sanitätsstation eingeliefert. Er fiebert stark, ist bis
auf Haut und Knochen abgemagert, er hat Durchfall, und auf den Beinen
haben sich juckende Hungerödeme gebildet. Er steckt in einem Sack
mit Löchern für Kopf und Beine, an den nackten Füßen hat er
Sandalen aus Baumrindenbast. Der Mann, der auch auf den höchsten
Bergen, im tiefsten Dschungel, auf dem Packpferd oder Kamel immer in
Dreireiher, mit Hut und Uhrkette auftrat. Der Patriot, Forscher
und Humanist, der sein Leben lang dafür gearbeitet hatte, den Hunger
zu bekämpfen, stirbt zwei Tage später. Er ist verhungert.
Den Hungerlöser hat man elendiglich verhungern lassen.
Unter all den Millionen Schicksalen empfinde ich das Wawilows als
eines der tragischsten, das vollständig dokumentiert ist. Und
entfacht meinen immer noch größer werdenden heiligen Zorn auf
dieses menschenverachtende Regime. So folgenreich können Besuche an
Adressen mit ungekannten Namen sein, wenn man einmal nachgefragt hat.
Wawilow wurde 1955 unter Chruschtschow formell rehabiliert. Zur
Anerkennung als sowjetischer Held, zum Straßennamen der Wawilowa,
zur 5-Kopeken-Sondermarke und bis zu meinem jetzigen Wissen
dauerte es noch einmal 33 Jahre. Die von ihm entwickelte Süßlupine
der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae) und der Zwergstern
2862 wurden nach ihm benannt. Bis jetzt konnte ich nicht mit
Sicherheit feststellen, ob die Wawilowa-Straße davor tatsächlich
Bulevard Lyssenko geheissen hat.
Als im Juni 1941 die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel,
war Wawilow schon in den Verliesen des NCHWD verschwunden. Von der
900- tägigen Belagerung Leningrads bekam er nichts mit. Fast eine
Gnade, dass Wawilow nicht weiss, wie grauenhaft es um die Bevölkerung
und auch um seine Mitarbeiter steht. Schon im ersten Winter, einem
besonders strengen mit bis zu 40 Grad, sterben 200 000 Leningrader an
Hunger, Kälte und Dauerbeschuß der deutschen Artillerie. Bis zum
Ende der Belagerung werden es fast eine Millionen sein, darunter 9
Mitarbeiter des Wawilow-Instituts. Wie durch ein Wunder bleibt die
Sammlung der Samenvorräte fast vollständig erhalten.
In den folgenden 4 Jahrzehnten gelingt es der Sowjeunion, 400 neue
Sorten aus Wawilows Samen zu züchten. 1980 wird geschätzt, dass auf
vier Fünftel der sowjetischen Anbauflächen Pflanzen aus der
Wawilow-Sammlung wachsen, darunter auch besonders
krankheitsresistente Kichererbsen und frühkeimender Weizen. Die Zahl
der Hungersnöte ist in der ganzen UdSSR drastisch gesenkt worden.
Viele Jahre nach seinem Heldentod haben andere Staaten und
Institutionen den Wert von Wawilows Forschungen erkannt und
Saatenbanken eingerichtet, derzeit sind es weltweit fast 1500.
Zusätzlich öffnete 2008 auf Spitzbergen der „Global Seed
Vault“, in den alle Genbanken der Welt Duplikate ihrer Sammlungen
einlagern können. Eine solche „Rückversicherung“ ist nötig,
weil nationale Genbanken durch Kriege, Budgetkrisen oder technische
Pannen anfällig für Zerstörung sind.
Ein Hohn der Geschichte: Ausgerechnet Wawilows Erbe ist derzeit
akut bedroht, und dabei kommt die Gefahr diesmal nicht von einem
Außenfeind, sondern ist hausgemacht. Die Gier der Neukapitalisten
und die Korruption der Behörden – oft in Personalunion - machen
auch vor den wertvollsten Schätzen der Menschheit nicht Halt. So
gieren St. Petersburger Baulöwen mit Unterstützung des
Stadtrates nach dem Gelände der Zuchtplantagen von Pawlowsk, um
hier in Nähe des Zarensommerpalastes Luxuswohnsiedlungen für
Superreiche zu errichten. Genau auf den Flächen, auf denen die
Pflanzen aus der einzigartigen Obst- und Beerensammlung des
Wawilow-Instituts wachsen. Diese enthält mehr als 5700 Arten,
darunter allein 893 Sorten von Schwarzen Johannisbeeren aus 40
Ländern, 634 Sorten von Apfelbäumen aus 35 Ländern. 90 Prozent
der Obst- und Beerensorten aus Pawlowsk sind nirgendwo sonst auf der
Welt zu finden. Nach dem Hilfeschrei der letzten heldenhaften
Biologen von Pawlowsk, TV-Berichten, Geo- und Greenpeace-Aufrufen
letztendlich auch internationalen Protesten will die russische
Regierung angeblich die Entscheidung zur Absiedlung „noch einmal
überdenken.“ Präsident Putin mit seiner Allmacht und als
gebürtiger Leningrader wäre natürlich der erste, der diesen Unfug
und die Schändung von Wawilows Werk mit einem einzigen Strich
einstellen könnte. Davon war aber bisher kein Ton zu hören.
Experten bezweifeln, dass die raren Züchtungen von Pawlowsk aus der
Wawilow-Saatbank ohne Schaden umgepflanzt werden können.
Ein trauriges Beispiel für Russlands fragwürdiges Talent, im
Krieg die Feinde zu besiegen, im Frieden aber sich selbst zu
bekriegen.
Veronika Seyr
25.8.16
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