Dienstag, 19. Juli 2016

Sieben Meere

Meditationen über Karl Lubomirskis Gedichtband, Wien, Löcker 2015, 155 S.
Von Veronika Seyr


Zuerst ist da eine Zweierbeziehung, eine zwischen Karl Lubomirski und der Welt, ihren Dingen, Menschen, Orten, Zuständen.
Er schaut, beobachtet und lauscht. Er betrachtet die Dinge, und sie schauen auf ihn zurück. Er spricht die Dinge an, und sie sprechen zurück. Er horcht in sie hinein. Daher verraten sie ihm etwas, haben Botschaften, weil da jemand ist, der ihnen zuhört. Sehr genau, mit feinstem Ohr, tiefster Spurensuche dreht er sie um sie und sich herum, entläßt sie, fängt sie wieder ein, läßt sie ins Gegenteil kippen und macht sie so zu Instrumenten, um aus Dingen Leben zu machen. Er klopft die Worte ab, er klopft an die Worte wie an Geheimtüren und dringt in sie vor wie ein in sein Metier verliebter Höhlenforscher. Ein Leben wie ein Kaleidoskop auf einem Karussell, nach dem Regen unter dem Regenbogen im Sonnenuntergang, aus den Gruften in die Morgensonne. Alle Worte sind frisch und tragen doch Moosbärte. Die Sinnesorgane noch völlig verklebt vom eigenen Untergang, jubilieren wir wie die Schwalben über dem Dom von Krakau, den Gräbern der Via Appia und den sardinischen Eichenwäldern. Der Reichtum der Erde und ihrer Freuden kennt keine Grenzen. Hallo Leute, wacht auf, läutet er aus eingewanderten Kirchtürmen in Sardienen, oder er spendet Trost mit dem Haiku: HERBST/dich liebe ich/Frühling des Winters.
Jahreszeiten atmen, Bäume reichen dir die Hände, Steine sind nicht tot, sie verflüssigen sich unter den lebendigen Flechten, Türme sind eingefallen wie Wanderfalken und fliegen wieder weg, im Feuer zwei Körper, sie verbrennen nicht.
Lubomirski macht eine große, einfache Liebesumarmung um die Welt, die mich, alle und alles einschließt. Ich fühle mich genannt und einbezogen in den Kosmos seiner Poesie.
Wirklicheres ist mir kaum zugestoßen.

Die Dinge sprechen, weil ihr Betrachter sie liebt, bedingungslos, sie so sein läßt, wie sie sind, weil es für Liebe ja nie Bedingungen geben kann. Indem er sie in Liebe betrachtet und ihnen das Innerste ablauscht, kommen sie als Worte auf die Welt, werden sie zu Welt und Wirklichkeit. Jedes Gedicht eine Geburt.
Ein betörender Gedanke, dass Lubomirskis Schreiben eine Form des Liebens ist. Wenn Liebe auf Worte trifft, ist das Poesie. Liebende haben immer eine besondere Hörfähigkeit.

Er schreibt in der Gewissheit, dass die Zugänglichkeit der Dinge die Zulänglichkeit der Worte sichert. Aufschreiben heisst immer Mitteilen, Lesbarmachen, Bedeutung geben. Bei Lubomirski noch intensiver: Beseelen, die anima einhauchen.
Ich erinnere mich dabei an zwei spätmittelalterliche Darstellungen von Marias Empfängnis: die eine, in der eine Taube an ihr Ohr heranfliegt und sie auf diese Weise mit dem zukünftigen Erlöser befruchtet; in einer anderen, späteren, die ich besonders liebe, flattert die Taube vor Marias Mund, nicht ohne dass der Maler gestrichelte Linien zwischen dem knienden Engel, der Taube und Marias Mund zu zieht - ein überdeutliches Comic, fast eine Sprechblase, aha, da kommt alles her! Empfangen durch Ohr oder Mund? Dazwischen liegt, meine ich, der feine Bruch zwischen Alt- und Neuzeit. Das Ohr, das immer offene, empfangsbereite, aber passive Organ, der Mund, der aktive, der sich schließen oder öffnen läßt. Das Ohr hört, der Mund kann etwas sagen.
Und dann ein Gedicht.

Dazu kommt jetzt die Dreierbeziehung. Was machen diese Gedichte mit mir, mit ihren in Zeichen, in Buchstaben gedruckten Worten? Die in ihren vom Dichter genau gesetzten Formen weitere Bedeutungsebenen erschließen, je nachdem, wie man sie liest, vorallem, wenn man sie immer und immer wieder liest. Sie vervielfachen sich, aber nicht in Wiederholungen, auch nicht in Serien oder in Variationen wie in einer Fuge, sondern am ehesten wie vielstufige Kaskaden eines Wasserfalles, über dem Regenbögen aufsteigen und in vielfältige Farben zerspringen.
Ich kann nichts interpretieren, sondern nur feststellen, dass die Bilder, die sich auftun, etwas anstellen, etwas bewirken, etwas tief in einem ergreifen und zum Klingen bringen. Lubomirskis Gedichte haben einen Hallraum, der den eigenen, vielleicht verschütteten, aufschließen wie einen vergessenen Goldaderstollen, eine Diamantenmine. Diese Gedichte tun einem gut, wie eine über den Kopf streichelnde Hand oder eine zärtlich ins Ohr geflüsterte Tröstung. Liebevolle Erschütterungen.

Man kann sagen: Wir kennen uns nicht persönlich, aber auf der Via Appia oder in Sardinien war ich auch schon. An vielen anderen Orten seiner Gedichte auch, aber an den meisten noch nie. Ob in den kaiserlichen Gärten von Kyoto oder in den Steppen Tibets, er macht einen zu Hause dort. Irgendein Gegenüber muss ihm vor Augen gestanden sein, ein Du, oft aber Selbstansprache, und im Wir und Ihr sollen, kann jeder gemeint sein, der die Einladung annimmt. Verdammt hinter all den längst schon besiedelten und beseelten ästhetischen Kulturorten, die schon lange vor uns bessiedelt waren. Diese Tiefe der Zeit, das Vorleben der Dinge, die Prähistorie der Beziehungen bis hin zum betroffenen Leser des heutigen Tages – das zieht einen in eine Karl Lubomirski eigene Ewigigkeit und Raum der Unendlichkeit. Was ist ein Magier? Ein Überwinder von Raum und Zeit, an dessen Tätigkeit ich teilnehmen darf.

Wenn man zu den Formen kommt, zu den angeblich klassischen und deren Definitionen,
stehe ich bei Lubomirski vollkommen an. Aber ich bin ja keine philologische Leserin, sondern habe mit jeder Lektüre ein Privatissmum mit Poesie. Soviel verstehe ich: Er beugt sich keiner einzigen Form oder besser, er beugt sie alle, sogar das minimalistische Haiku bricht er noch einmal herunter.

Soviel zu Gestalt und Inhalt. Es lohnt sich, einen Blick auf die gängigste Denkfigur zu werfen, für die L. eine besondere Vorliebe hat. (Gewagt, denn ich weiss nicht, ob man das „Technik“ nennen darf und ob er sie bewußt anwendet). Sie besteht in der Technik, dem Leser in einer einer scheinbar hoffnungslosen Situation doch noch dadurch eine positive Aussicht zu eröffnen, dass ihm durch einen plötzlichen Gedankensprung oder eine abrupte Volte die Möglichkeit geboten wird, die Situation aus einer anderen Perspektive zu überschauen oder sogar zu seinen Gunsten zu wenden.
GEDICHTE/ Die Eisblumen/der Erwartung. DER HIMMEL/wird dich töten/. Der Himmel,/ aber er stellt keine Fallen.
L. denkt aber auch in die umgekehrte Richtung. SCHULAUSFLUG/Beneide sie nicht,/ diese Jungen und Mädchen,/die die Gruben nicht kennen/und nicht die Löwen,/und nicht/die Schrift/an der Wand.
Für ihn gilt Novalis` ästhetischer Merksatz: Beim Kunstwerk soll das Chaos durch den Flor der Ordnung durchschimmern.

In dem Buchtitel gebenden Gedicht „Sieben Meere“ heisst es: Keine Zeit mehr/für Weiß, Schwarz, Sichel/Hammer/Grün und Rot, Streifen, Sterne/Kreuze, Moscheen, Tempel/keine Zeit mehr/…/Hinter der Zukunft/Sieben Meere der Hoffnung.
Wie düster auch immer die Welt aussehen mag, an ihrem Ende und am Ende des Verstandes steht immer eine Hoffnung, wenn man offen und bereit genug ist, diese wahrzunehmen. Dazu ruft er auf. Das ist die Botschaft, sollte es eine geben. Das ist die Verführungskunst des Dichters. So lasse ich mich gerne verführen.

Lubomirski ist ein Nomade zwischen Himmel und Erde, ein Nomade zwischen Zeiten, Menschen und Ländern. Sein lebenslanges Reisen findet seinen Niederschlag in Gedichten über seine Wahlheimat Italien, im Näheren Milano, aber sie führen einen in einem ganzen Zyklus nach Sardinien, nach Norwegen, China, Tibet, Japan, Krakau, Cernowitz, auf die Malediven und immer wieder nach Griechenland. Es tönt die Luft/vom Blühen der Linden;/aber/in der Tiefe des Baumes/schläft ein Boot/über den Styx.

Obwohl oder gerade weil L. fast sein ganzes Leben mit und in der Sprache verbracht hat – es ist sein 14. Gedichtsband – weiß er um ihre Grenzen und die Gefahren des Sprachgebrauchs. L. glaubt nicht an große Welterklärungen, sondern steht immer voller Staunen vor Rätseln, die oft eine schöne Gestalt haben, aber nicht zu lösen sind. DEZEMBERTAG/Ich weiß nicht,/was mir die Sonne/erzählen wollte./ Aber ich ahne,/ dass es etwas sehr/Schönes war.
Oft nimmt L. einen scheinbar kleinen Gegenstand ins Auge – eine Blume, einen Baum, Stein, Vogelflug, Ort, Traum und läßt daraus einen ganzen Kosmos entstehen.
ALB/Mir träumte/ich war eine Maus/Und du/eine lautlos Eule,/und als ich erwachte,/ staken im Herzen/geschliffene Krallen.
GEDICHTE/Die Eisblumen/ der Erwartung.
KEIN VULKAN/speit/ fremde Lava.
EWIG LEBEN?/Wem?
Man erlebt die die Wucht der Schlichtheit, das kleinstmögliche Chaos gebändigt in Form eines blitzenden Apercus.

Welche Welten und philosophische Gedankenräume können aus nur fünf, drei Worten sich auftun, wenn sie so aufgestellt sind, wie Karl Lubomirski es tut.
Ich stehe in Staunen und Dankbarkeit vor Wundern und muss immer wieder innehalten: Er kennt mich. Er meint mich. Er hat mich durchschaut, erkannt und will mir nichts Böses. Von wem läßt sich si etwas schon sagen. Er hat mich in unserer gemeinsamen, wie lange vergessenen Ursprache angesprochen. Von der Lyra eines Orpheus im Lorberhain angeschlagen, die Klangschale im Wind.

Lubomirski lesen heißt, eine Reise machen durch die Herzen der Menschen. Von diesem liebenden Dichter lasse ich mir freiwillig und freudig ins Herz greifen.



Veronika Seyr
Pfingsten 2016

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