„Der
Kopf mißt anders als die Füße.“
Über
Charlotte Spitzers Kafka-Rezitationen und Zigas Tanz
Kafkas
Prag, Kafkas Wien, Kafkas Berlin, Kafka und das Judentum, Kafka und
die Frauen, Kafka und die Psychoanalyse, die Musik, die Kunst,
das Recht, Kafka und sein literarischen Blutsbrüder Dostojewski,
Flaubert, Kleist und Grillparzer, Kafka liest, Kafka reist,
Essen mit Kafka, Kafka am Strand, Kafka macht Urlaub – man
versucht Kafka in Untersuchungen und Beobachtungen von möglichst
vielen Teilaskpekten nahezukommen und ihn, den Ungreifbaren, „in
den Griff“ zu bekommen. Verfilmungen, Vetonungen und
Theater-Bearbeitungen, kaum ein Winkel der Welt und von Kafkas
Seele, der noch nicht beleuchtet worden wäre. Am 26. August 1911
notiert Kafka in seinem Tagebuch: „Im Kino gesesen. Geweint.“
Für Hanns Zischler der Aufhänger für ein ganzes Buch „Kafka geht
ins Kino“, eines der erhellendsten über Kafka überhaupt. Aber für
mich unerhört war, was ich im Programm für den 3. Juni 2015,
Kafkas 71. Todestag, im Sterbehaus Kierling las: „Kafka tanzt.
Rezitation und Tanz von Charlotte Spitzer und Ziga Jereb.
Ich
gebe zu, dass ich anfangs skeptisch war und innerlich stöhnte:
Oh
Gott, nicht schon schon wieder eine von der unseligen
Kafka-Verballhornungen, sicher ein Übergriff, dachte ich hochmütig
und abschätzig. Kafka lesen, Kafka hören, über Kafka sitzen und
brüten. Im Deutsch-Unterricht meines Altnazi-Lehrers kam Kafka
nicht vor, aber im Elternhaus war er vorhanden und gegenwärtig.
Im Germanistik-Studium schrieb ich die zweite Proseminararbeit unter
dem jungen Assistenten Wendelin-Schmidt-Dengler über „In der
Strafkolonie“, 1968 lag die Parallele zu den KZs und Gulags
greifbar in der Luft. Das reine Kafka-Lesen war etwas, was ich
betrieb wie einen Geheimkult, gleich nach der Rilke-Besessenheit
der frühen Jugendjahre. Ich lese seit Schul- und Studententagen
Kafka, erfreue mich immer wieder von Neuem an seinen Texten oder
plagte mich um Verständnis, unterschiedlich je nach meinem Alter und
meinem Geisteszustand. Viele Jahre habe ich als Deutschlehrerin in
einem Wiener Gymnasium meine Schüler mit Kafka „traktiert“ und
oft von den Jugendlichen interessante Auslegungen bei Aufsätzen und
Maturaarbeiten zu lesen bekommen. Dabei bin ich zur Ansicht gelangt,
dass Kafka ein idealer Ansprechpartner und Projektionsfäche für
Heranwachsende ist, weil er ihnen alle Möglichkeiten gibt, die sie
zu ihrer Enfaltung brauchen, ohne sie festzulegen. Warum nicht
auch: Kafka geht zum Friseur, Kafka ißt, schwimmt, wandert, reitet,
spielt Tennis, hustet, niest, fährt Motorrad, der Gärtner
Kafka.
Zurück
zum Open House am 3. Juni 2015 im neugestalteten Kafka-Gedenkraum
im Sanatorium Hoffmann. Charlotte Spitzer, in der Einladung
ausgewiesen als Vizepräsidentin der Österreichischen
Kafka-Gesellschaft, trug einige kurze Texte auswendig vor, allein
vor dem Publikum sitzend, ohne Kostümierung, ohne irgendwelche
Umrahmungen oder Zutaten anderer Künste.
Der
unprätenziöse, genaue Vortrag der Texte, bei dem ich mich fragte,
ob sie eine professionelle Schauspielerin sei und wo genau sie
herkam, schlug die ersten Breschen in die chinesische Mauer meines
Kafka-Purismus. Es müsste dort eigentlich gerumpelt und gedröhnt
haben vor so vielen einstürzenden Mauern. Unter diesem Eindruck
merkte ich, dass ich zum erstenmal von meiner konservatorischen
Einstellung abrücken musste, dass man mit Kafka nicht herumfummeln
sollte, sondern immer nur lesen und wieder lesen. Wie jemand die
Bibel oder sein Brevier. Ich errinnere mich, dass ich auf der harten
Bank nach hinten an die Wand sank und gerade noch sehen konnte, dass
vieler der Besucher die Augen geschlossen hatten. Sie gaben sich
offensichtlich an den Klang der Worte hin genauso wie ich und
schwelgten in den viel gelesenen Texten und auswendig gewußten
Worten. Aber irgendetwas zwang mich, ich musste wieder
aufschauen, wollte wissen, was
diesen
neuen Kafka-Ton ausmachte. Neuer Kafka-Ton? Kafka , das waren
Buchstaben, immer in Büchern, aus den Eindruck ausmachte. Das war
mein Kafka, ich erkannte ihn in jedem Wort. Aber es war noch mehr,
es kam etwas dazu. Aber was war dieses Mehr?
Zuerst
kann ich nur einen Rezeptionsvorgang beobachten.
Die
Worte dringen tiefer ein als beim einfachen Lesen. Sie greifen
tiefer in das Herz hinein und wühlen darin mit blutigen Fingern
herum. Ich spüre das und muss mir das eingestehen, wenn auch noch
mit Widerstand. Aber der schmolz und schmolz und irgendetwas
breitete sich aus auf dem Boden unter den Füßen, ich stand unten
knöcheltief im Schmelzwasser der Eisberge, oben stürzten immer noch
die Steine dröhnend aus der Mauer. Ich wünschte mir ein
Pfingstwunder, alle haben die Flammen über dem Kopf und verstehen
das gleiche. Aufgehen in einer Flamme.
Charlotte
verschwindet kurz hinter der Zwischenwand und kommt wieder mit einem
Mann, einem jungen Tänzer, zurück, sie rezitiert weiter, scheinbar
unbeindruckt, als sei er nicht da. Er umwindet sie wie Efeu ein
Gemäuer, stumm, in unhörbaren Schritten. Jetzt starrte ich nur noch
mit offenem Mund auf die Kafka-Worte, die sich im Raum zu
materialisieren schienen wie in die Luft oder an die Mauern
geschriebenen Menetekel. Charlotte und Ziga machten aus ihrer
Präsentation eine 3-D-Animation in meinem Kopf. Ich suche nach den
Worten, um den Vorgang zu beschreiben, komme aber nicht weiter als
bis zu einer oberflächlichen Feststellung, dass etwas mit mir
passiert, dass etwas geschieht, dass sich hier etwas Dramatisches
abspielt.
Das
Erklingen und Erlebnis des Textes im Raum vergegenständlicht sich
in den Bewegungen der Rezitatorin und des Tänzers. „Der Kopf mißt
anders als die Füße“, schreibt Kafka an Minze Eisner. Indem die
Rezitatorin die Worte in den Raum entläßt, ihn also in
Schallwellen, ihn in Physik umsetzt, und der Tänzer mit seinen
raumgreifenden Bewegungen die Worte, die Sätze, den Text in
Skulpturen umsetzt, werden sie sichtbar und erfahrbar.
Sie
entwickeln und erweitern aneinander ihr Bewegungsvokabular. Wenn das
stille Lesen sozusagen eindimensional ist, wird Rezitation und
Tanz mehrdimensional. Sie fügen also dem Text ein Mehr hinzu, indem
sie im Raum ein Koordinatensystem aufbauen.
Charlotte
nimmt das Wort beim Wort und bringt es zur Besinnung. „Die Sprache
spricht“, sagt Martin Heidegger. Sie lotet einen altneuen Sinn der
Wörter aus. So nah kann man einer Sprache nur kommen, wenn sie sich
– auswendig gelernt und im Gedächtnis abgelegt - in der Ferne
befindet. Ihr gelingt, was Ingeborg Bachmann formulierte: „Einen
einzelnen Satz haltbar zu machen, auszuhalten in dem Bimbam von
Worten.“ Sie legt aus dem Bergwerk der deutschen Sprache
Zusammenhänge frei, die einem Leser vielleicht nicht (mehr) bewußt
sind. Die Distanz schärft den Blick für das Verborgene, das sich
ansonsten der Wahrnehmung entzieht. Kafkas Worte begleiten dann die
Hörer wie Vorsätze und Merksätze durch das Leben. Eine
unerschöpfliche Quelle des Mit- und Nachdenkens. Spät erst
entdeckte Kafka in sich eine verborgene Verwandtschaft mit den alten
Talmudisten. Diese sahen in der Bibel ein Buch voller verschlüsselter
Bedeutungen, denen nachzuspüren der Zweck unseres Erdenwandels ist.
Kafka selbst: „Man liest, um Fragen zu stellen“. Charlottes
Rezitationen als Talmudistenübungen? Hat sie Kafka „gebibelt“?
Zu
den als „kafkaesk“ beschriebenen Phänomenen gehört sicher die
ständige Auflösung von Nähe und Ferne, etwas oder jemand scheint
nahe, driftet aber im nächsten Augenblick davon und verkehrt sich in
sein traumartiges Gegenteil. Ein Detail gerät in den Blick,
verhindert den Überblick und entschwindet gleich wieder. Als
Beispiel dafür möchte ich die Szene im Atelier des Malers
Titorelli im „Prozess“ anführen. Titorelli ist nicht einfach ein
Bildermaler, sondern gehört ebenso zum „Gericht“, wie die
zudringlichen Mädchen in dem Wohnhaus, das gleichzeitig auch Teil
des labyrinthischen Gerichts ist, seine Rückseite oder ein
Nebenflügel mit einem Gewirr von Treppen und Korridoren, in denen
überall die frechen Mädchen lauern oder unvermittelt auftauchen und
wieder verschwinden. Auch sind die Gegenstände nicht das, was sie
vorzugeben scheinen. Eine Tür, zum Beispiel, die Schutz bieten soll,
wird selbst schutzbedürftig. Obwohl der Eisenofen nicht geheizt ist,
verbreitet er eine Hitze und Schwüle im Zimmer. Raumbegrenzungen
wie Wände, Türen und Fenster sind durchlässig und verstärken die
Ohnmachtserfahrungen des Angeklagten. Alles scheint offen zu sein,
und doch gibt es kein Entkommen aus dem Alptraum des
Nicht-von-der-Stelle-Kommens.
Beide
bauen mit Text und Tanz an der Raumskulptur und entwickeln einen
Erlebnisraum, in dem der Sprecher, sei es nun K., der Kübelreiter
oder der Hungerkünstler mehr über die innere Verfassung der Figuren
aussagen können. Das efeuartige, verschlungene An-nähern und
Ent-fernen zeigt die Symbiose, die Kongruenz der beiden Bewegungen.
Das Annähern ist ja doch nur das Verschwindenmachen der Entfernung.
Sie richten sich nach einander aus
Der
nimmermüder Versuch von K., sich aus der Ferne dem Schloss zu
nähern. Der Versuch, sich dem angeblich nahen Schloss zu nähern,
scheitert. Es bleibt nur der ent-fernte Blick auf das Erhoffte und
Verwüschschte. Ein Vis-a-Vis von unverschränkbaren Welten. In
ihren Auftritten fühlt man sich in Augenblicken, als seien sie
vereinbar, keine Wahrheit, nur Trost.
Veronika
Seyr
11.7.
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