Dienstag, 19. Juli 2016

Kafka tanzen

Der Kopf mißt anders als die Füße.“

Über Charlotte Spitzers Kafka-Rezitationen und Zigas Tanz



Kafkas Prag, Kafkas Wien, Kafkas Berlin, Kafka und das Judentum, Kafka und die Frauen, Kafka und die Psychoanalyse, die Musik, die Kunst, das Recht, Kafka und sein literarischen Blutsbrüder Dostojewski, Flaubert, Kleist und Grillparzer, Kafka liest, Kafka reist, Essen mit Kafka, Kafka am Strand, Kafka macht Urlaub – man versucht Kafka in Untersuchungen und Beobachtungen von möglichst vielen Teilaskpekten nahezukommen und ihn, den Ungreifbaren, „in den Griff“ zu bekommen. Verfilmungen, Vetonungen und Theater-Bearbeitungen, kaum ein Winkel der Welt und von Kafkas Seele, der noch nicht beleuchtet worden wäre. Am 26. August 1911 notiert Kafka in seinem Tagebuch: „Im Kino gesesen. Geweint.“ Für Hanns Zischler der Aufhänger für ein ganzes Buch „Kafka geht ins Kino“, eines der erhellendsten über Kafka überhaupt. Aber für mich unerhört war, was ich im Programm für den 3. Juni 2015, Kafkas 71. Todestag, im Sterbehaus Kierling las: „Kafka tanzt. Rezitation und Tanz von Charlotte Spitzer und Ziga Jereb.

Ich gebe zu, dass ich anfangs skeptisch war und innerlich stöhnte:
Oh Gott, nicht schon schon wieder eine von der unseligen Kafka-Verballhornungen, sicher ein Übergriff, dachte ich hochmütig und abschätzig. Kafka lesen, Kafka hören, über Kafka sitzen und brüten. Im Deutsch-Unterricht meines Altnazi-Lehrers kam Kafka nicht vor, aber im Elternhaus war er vorhanden und gegenwärtig. Im Germanistik-Studium schrieb ich die zweite Proseminararbeit unter dem jungen Assistenten Wendelin-Schmidt-Dengler über „In der Strafkolonie“, 1968 lag die Parallele zu den KZs und Gulags greifbar in der Luft. Das reine Kafka-Lesen war etwas, was ich betrieb wie einen Geheimkult, gleich nach der Rilke-Besessenheit der frühen Jugendjahre. Ich lese seit Schul- und Studententagen Kafka, erfreue mich immer wieder von Neuem an seinen Texten oder plagte mich um Verständnis, unterschiedlich je nach meinem Alter und meinem Geisteszustand. Viele Jahre habe ich als Deutschlehrerin in einem Wiener Gymnasium meine Schüler mit Kafka „traktiert“ und oft von den Jugendlichen interessante Auslegungen bei Aufsätzen und Maturaarbeiten zu lesen bekommen. Dabei bin ich zur Ansicht gelangt, dass Kafka ein idealer Ansprechpartner und Projektionsfäche für Heranwachsende ist, weil er ihnen alle Möglichkeiten gibt, die sie zu ihrer Enfaltung brauchen, ohne sie festzulegen. Warum nicht auch: Kafka geht zum Friseur, Kafka ißt, schwimmt, wandert, reitet, spielt Tennis, hustet, niest, fährt Motorrad, der Gärtner Kafka.

Zurück zum Open House am 3. Juni 2015 im neugestalteten Kafka-Gedenkraum im Sanatorium Hoffmann. Charlotte Spitzer, in der Einladung ausgewiesen als Vizepräsidentin der Österreichischen Kafka-Gesellschaft, trug einige kurze Texte auswendig vor, allein vor dem Publikum sitzend, ohne Kostümierung, ohne irgendwelche Umrahmungen oder Zutaten anderer Künste.
Der unprätenziöse, genaue Vortrag der Texte, bei dem ich mich fragte, ob sie eine professionelle Schauspielerin sei und wo genau sie herkam, schlug die ersten Breschen in die chinesische Mauer meines Kafka-Purismus. Es müsste dort eigentlich gerumpelt und gedröhnt haben vor so vielen einstürzenden Mauern. Unter diesem Eindruck merkte ich, dass ich zum erstenmal von meiner konservatorischen Einstellung abrücken musste, dass man mit Kafka nicht herumfummeln sollte, sondern immer nur lesen und wieder lesen. Wie jemand die Bibel oder sein Brevier. Ich errinnere mich, dass ich auf der harten Bank nach hinten an die Wand sank und gerade noch sehen konnte, dass vieler der Besucher die Augen geschlossen hatten. Sie gaben sich offensichtlich an den Klang der Worte hin genauso wie ich und schwelgten in den viel gelesenen Texten und auswendig gewußten Worten. Aber irgendetwas zwang mich, ich musste wieder aufschauen, wollte wissen, was
diesen neuen Kafka-Ton ausmachte. Neuer Kafka-Ton? Kafka , das waren Buchstaben, immer in Büchern, aus den Eindruck ausmachte. Das war mein Kafka, ich erkannte ihn in jedem Wort. Aber es war noch mehr, es kam etwas dazu. Aber was war dieses Mehr?
Zuerst kann ich nur einen Rezeptionsvorgang beobachten.
Die Worte dringen tiefer ein als beim einfachen Lesen. Sie greifen tiefer in das Herz hinein und wühlen darin mit blutigen Fingern herum. Ich spüre das und muss mir das eingestehen, wenn auch noch mit Widerstand. Aber der schmolz und schmolz und irgendetwas breitete sich aus auf dem Boden unter den Füßen, ich stand unten knöcheltief im Schmelzwasser der Eisberge, oben stürzten immer noch die Steine dröhnend aus der Mauer. Ich wünschte mir ein Pfingstwunder, alle haben die Flammen über dem Kopf und verstehen das gleiche. Aufgehen in einer Flamme.
Charlotte verschwindet kurz hinter der Zwischenwand und kommt wieder mit einem Mann, einem jungen Tänzer, zurück, sie rezitiert weiter, scheinbar unbeindruckt, als sei er nicht da. Er umwindet sie wie Efeu ein Gemäuer, stumm, in unhörbaren Schritten. Jetzt starrte ich nur noch mit offenem Mund auf die Kafka-Worte, die sich im Raum zu materialisieren schienen wie in die Luft oder an die Mauern geschriebenen Menetekel. Charlotte und Ziga machten aus ihrer Präsentation eine 3-D-Animation in meinem Kopf. Ich suche nach den Worten, um den Vorgang zu beschreiben, komme aber nicht weiter als bis zu einer oberflächlichen Feststellung, dass etwas mit mir passiert, dass etwas geschieht, dass sich hier etwas Dramatisches abspielt.

Das Erklingen und Erlebnis des Textes im Raum vergegenständlicht sich in den Bewegungen der Rezitatorin und des Tänzers. „Der Kopf mißt anders als die Füße“, schreibt Kafka an Minze Eisner. Indem die Rezitatorin die Worte in den Raum entläßt, ihn also in Schallwellen, ihn in Physik umsetzt, und der Tänzer mit seinen raumgreifenden Bewegungen die Worte, die Sätze, den Text in Skulpturen umsetzt, werden sie sichtbar und erfahrbar.
Sie entwickeln und erweitern aneinander ihr Bewegungsvokabular. Wenn das stille Lesen sozusagen eindimensional ist, wird Rezitation und Tanz mehrdimensional. Sie fügen also dem Text ein Mehr hinzu, indem sie im Raum ein Koordinatensystem aufbauen.

Charlotte nimmt das Wort beim Wort und bringt es zur Besinnung. „Die Sprache spricht“, sagt Martin Heidegger. Sie lotet einen altneuen Sinn der Wörter aus. So nah kann man einer Sprache nur kommen, wenn sie sich – auswendig gelernt und im Gedächtnis abgelegt - in der Ferne befindet. Ihr gelingt, was Ingeborg Bachmann formulierte: „Einen einzelnen Satz haltbar zu machen, auszuhalten in dem Bimbam von Worten.“ Sie legt aus dem Bergwerk der deutschen Sprache Zusammenhänge frei, die einem Leser vielleicht nicht (mehr) bewußt sind. Die Distanz schärft den Blick für das Verborgene, das sich ansonsten der Wahrnehmung entzieht. Kafkas Worte begleiten dann die Hörer wie Vorsätze und Merksätze durch das Leben. Eine unerschöpfliche Quelle des Mit- und Nachdenkens. Spät erst entdeckte Kafka in sich eine verborgene Verwandtschaft mit den alten Talmudisten. Diese sahen in der Bibel ein Buch voller verschlüsselter Bedeutungen, denen nachzuspüren der Zweck unseres Erdenwandels ist. Kafka selbst: „Man liest, um Fragen zu stellen“. Charlottes Rezitationen als Talmudistenübungen? Hat sie Kafka „gebibelt“?

Zu den als „kafkaesk“ beschriebenen Phänomenen gehört sicher die ständige Auflösung von Nähe und Ferne, etwas oder jemand scheint nahe, driftet aber im nächsten Augenblick davon und verkehrt sich in sein traumartiges Gegenteil. Ein Detail gerät in den Blick, verhindert den Überblick und entschwindet gleich wieder. Als Beispiel dafür möchte ich die Szene im Atelier des Malers Titorelli im „Prozess“ anführen. Titorelli ist nicht einfach ein Bildermaler, sondern gehört ebenso zum „Gericht“, wie die zudringlichen Mädchen in dem Wohnhaus, das gleichzeitig auch Teil des labyrinthischen Gerichts ist, seine Rückseite oder ein Nebenflügel mit einem Gewirr von Treppen und Korridoren, in denen überall die frechen Mädchen lauern oder unvermittelt auftauchen und wieder verschwinden. Auch sind die Gegenstände nicht das, was sie vorzugeben scheinen. Eine Tür, zum Beispiel, die Schutz bieten soll, wird selbst schutzbedürftig. Obwohl der Eisenofen nicht geheizt ist, verbreitet er eine Hitze und Schwüle im Zimmer. Raumbegrenzungen wie Wände, Türen und Fenster sind durchlässig und verstärken die Ohnmachtserfahrungen des Angeklagten. Alles scheint offen zu sein, und doch gibt es kein Entkommen aus dem Alptraum des Nicht-von-der-Stelle-Kommens.
Beide bauen mit Text und Tanz an der Raumskulptur und entwickeln einen Erlebnisraum, in dem der Sprecher, sei es nun K., der Kübelreiter oder der Hungerkünstler mehr über die innere Verfassung der Figuren aussagen können. Das efeuartige, verschlungene An-nähern und Ent-fernen zeigt die Symbiose, die Kongruenz der beiden Bewegungen. Das Annähern ist ja doch nur das Verschwindenmachen der Entfernung. Sie richten sich nach einander aus
Der nimmermüder Versuch von K., sich aus der Ferne dem Schloss zu nähern. Der Versuch, sich dem angeblich nahen Schloss zu nähern, scheitert. Es bleibt nur der ent-fernte Blick auf das Erhoffte und Verwüschschte. Ein Vis-a-Vis von unverschränkbaren Welten. In ihren Auftritten fühlt man sich in Augenblicken, als seien sie vereinbar, keine Wahrheit, nur Trost.

Veronika Seyr
11.7. 16

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