Dienstag, 19. Juli 2016

Open House mit Kafka am 3. Juni 2016 in Kierling

Der Himmelbauerplatz unterhalb der Kierlinger Kirche ist eine Asphaltfläche mit sechs Parkplätzen für Anrainer, weitere vier sind dem Ärztezentrum vorbehalten. Zur Kierlinger Hauptstrasse hin, gegenüber der Volksschule, blühen gerade die Linden und setzen sich trotz ihrer Jugend mit ihrem Duft gegen die Autoabgase durch. An der Ostseite steht das Denkmal für den am 3. Juni 1924 im Sanatorium Hoffmann verstorbenen Schriftsteller Franz Kafka, gelegen zehn Hausnummern weiter stadtauswärts. Der grobe Steinblock sieht aus, als wäre ein Meteorit vom Himmel gefallen und hätte sich hier in den Asphalt eingerammt. Aus einer Einbuchtung an der Vorderseite ragt eine schwarz-metallene Büste heraus, es soll wohl Kafka sein. An der rechten Seite ist eine rotgesprenkelte Marmortafel mit vier groben Metallschrauben befestigt, und mit gold- gerahmten Lettern sind die Lebensdaten des Schriftstellers eingraviert: Dr. Franz Kafka, *1883 in Prag, +1924 in Kierling.

Zumindest seit Picasso verlangt niemand eine anatomische Ähnlichkeit, aber die Sehnsucht nach einem Schimmer von einer geistigen Nähe, Anhänglichkeit, sogar Liebe bleibt angesichts dieses Denkmals ungestillt. Es ist in seiner ganzen massiven Erscheinung abweisend und so aufgestellt, das man es unbedingt über- oder darüber hinwegsehen muss. Das tun die an- und abfahrenden Autofahrer auch. Von Rosen- und anderen im Juni blühenden Büschen eingerahmt, so wie sie überall auf jedem öffentlichen Platz und in Einfamilienhäusergärten wachsen.
Ich sitze auf einer Bank des Verschönerungsvereins Klbg. neben dem Klotz. Alles ist sehr nett und adrett, offensichtlich gepflegt, ich kann nicht feststellen, ob für den Parkplatz, das Ärztezentrum oder das Kafka-Denkmal; kein Müll, keine Papierln, keine Kippen, und alle Parker gliedern sich brav in die weißen Parkstreifen ein, die Radfahrer in einen raiffeisengelben Ständer. Es ein ewiges Geheimnis der Gemeinderatssitzung wird bleiben, warum man dem deutsch schreibenden, jüdischen Schriftsteller aus Prag, den ansehnlichen Platz vor der Jugendstilkirche, nur fünf Stufen aufwärts, nicht zugestanden hat.
Die letzten Spazeirgänge durch das Maibachtal, die letzten Blicke von seinem Balkon in die Hügel, die letzten Gerüche von Straße und Pfingstrosen.
Im Ort gibt es neben dem Sterbehaus noch einen Kafka-Steg und eine Kafkagasse.

Absicht, ja und nein, gedenken wollen und doch nicht oder nicht zu sehr, frage ich mich, als ich auf der Bank neben dem Denkmal sitze, an meinem Sandwich nage und aus meiner Thermoskanne lauwarmen Kaffee trinke. Es ist der 3. Juni 2016, ich mache Pause von meinem Raumdienst im Sterbesanatorium an seinem 92. Todestag. Ich bin die dienstjüngste der vier ehrenamtlichen Kafka-Witwen.
Über den Asphaltplatz schaue ich auf die Baustelle der Firma Bosnj. Dom (bosnisches Haus), die gerade einen Wohnkomplex hochzieht, an der Ecke, wo seit 1788 der Gasthof "Zum grünen Baum" stand, bis er vor einem Jahr abgerissen wurde. Die Arbeiter machen den Dachstuhl fertig und geben ein kakophonisches Konzert aus Hämmern und Elektrobohrern ab. Eine barbarische, aber sicherlich vernünftige Entscheidung der Gemeinde Klosterneuburg-Kierling, die sicher Wohnraumbedarf im Grünen hat. Der Gasthof war schon lange leergestanden. Die Hintergründe kenne ich nicht, aber für mich ist es eine Demolierung von kulturellem Erbgut. Ich erinnere mich gut an dieses Gasthaus, nicht nur das älteste weit und breit mit einem schattigen Garten aus alten Kastanien und Linden, ein hinterbrühliger Ort, an dem man sich Schubert in Gesellschaft seiner Freunde gut vorstellen konnte. Die ganze sich vier Kilometer lange im öden Autoverkehr windende Hauptstraße entlang gibt es kein einziges Einkehrlokal mehr. Das erinnert mich daran, dass diese Gemeinde schon früher auch die Überreste der Synagoge abgerissen und stattdessen eine Gedenktafel angebracht hat.
Ob diese verkehrsumbrauste Ecke ein attraktiver Wohnort sein würde, fragte ich mich zwischen dem Jausenbrot und den immer noch befremdeten Blicken auf den Kafka-Klotz neben mir, meines Wissens das einzige Monument in Österreich.
Gedankenloser ist nur noch der Wackelstein beim Sanatorium von Matliary in der Hohen Tatra.

Man muss Milde walten lassen und darüber nachdenken, warum bis auf diese zwei Denkmäler - schwankend zwischen Hilflosigkeit und Verhöhnung - keine Kafka-Skulpturen bekannt sind. Wie viele gibt es denn von Shakespeare, Mozart, Goethe, Schiller, Puschkin, Heine, Hugo, Rodin oder Chaplin, alle diese Victorias, Friedriche und Franz Josephe. Und viele andere. Vielleicht kommt das daher, dass bisher niemand Kafka mit einer Skulptur gerecht werden konnte, es gewagt hat, seine schmale, mit 182 Zentimertern hochgewachsene Körperlichkeit in den Raum zu stellen. Vielleicht haben sich viele bekannte und unbekannte Künstler schon an Kafka abgemüht, wer weiss, mit welchen Materialien: Stein, Metall, Holz, Gips, Gold, Silber, Porzellan, Glas, Alabaster, Perlmutt, Elfenbein, Bernstein, Sandelholz, Plastik, Papier, Pappe, Titan oder Tüll. Und alles wieder verworfen, in Scham und Demut alle Versuche zerstört und tief eingegraben haben. Einer, der das nicht getan hat, ist Jaroslav Roda, er hat einen Bronze-Koloss von 3,75 Metern Höhe und 700 Kilogramm Gewicht in Prag aufgestellt. Auf den Schultern eines riesigen leeren Mantels reitet ein Zwerg, der wahrscheinlich Kafka darstellen soll – er ist angeblich der „Beschreibung eines Kampfes“ nachempfunden. Ich persönlich vermisse Kafka-Monumente nicht, mir genügen seine Worte. Vielleicht liegt es auch daran, dass die relativ neue Kunst der Fotografie Kafka am ehesten entspricht. Es existieren viele dokumentierte Fotografien von Kafka, die meisten aus dem Familien- und Freundeskreis. Bis auf die erzwungenen Kinderbilder, allein oder mit den Schwestern, zeigt er keine Scheu vor der Kamera. Immer schaut er mild-freundlich in die Kamera, er läßt sich mit dem Apparat ein, fast kokettiert er mit ihr und bleibt doch leicht entfernt von der Szene. Man sieht einen überschlanken, gutaussehenden, ausgewählt elegant gekleideten Mann, leicht nach vorne geneigt, mit mild angedeutetem Lächeln, im scharf geschnittenen Gesicht auffallend große Augen, der Kopf oft gekrönt mit einem hohen, breitkrempigen Hut. Auch sein ausgeprägter Hinterkopf und schlanker Hals könnten einen Bildhauer entzücken. Soweit bekannt, ist Kafka nie anderen als Fotokünstlern Modell gestanden.
Die Gedenkstätte im Sterbehaus auf der Kierlinger Hauptstraße 187 – ein Stiegenhaus, zwei Zimmer und ein Balkon- kommt einer adäquaten Würdigung am nähesten. Nachdem sie seit 1982 in düsteren, grindigen Räumen mit einigen Schaukästen dahingedämmert hatte, nahm sich die Kafka-Gesellschaft einer umfassenden Umgestaltung an mit dem Architekten Michael Balgary und der Vizepräsidentin Charlotte Spitzer als von Kafka beseelter Designerin.
Seit der Wiedereröffnung vor zwei Jahren sprechen diese zwei Räume eine vorsichtige, ehrerbietige, weil nichts und niemanden vereinnahmende Einladung aus, sich dem Menschen Franz Kafka, seinem Werk und seinen letzten sechs Lebenswochen zu nähern. Voll und minimalistisch gleichzeitig, als sollten die letzten Atemzüge nicht gestört werden. Fotos, Gegenstände und Dokumente an Wänden und in Vitrinen, die Lebensdaten affichiert, eine nachgebaute Ecke mit einem damals üblichen Spitalsbett, gebrochenes Licht, weisse Laken mit Zitaten, Bücherborde, zeitgemäße Aufnahmen von Kierling und seiner Umgebung, so wie sie Kafka damals gesehen haben könnte. Etwa den Blick von seinem Sonnenbalkon in den Garten des Sanatoriums und auf den gegenüberliegenden Wienerwaldhang. Man kann ihn betreten und sich einlassen auf die inneren Bilder von den letzten Blicken, man kann seinen Augen nach links zur Kierlinger Kirche folgen, von der jetzt durch nachgewachsene Bäume und Neubauten nur noch das Turmkreuz wahrzunehmen ist; der Bergrücken im Blick geradeaus ist jetzt viel dichter bewachsen als vor 92 Jahren. Er reicht hinunter bis ins Maibachtal, ein großer Name für einen schmalen Weg entlang einem nicht einmal einem Meter breiten Bacherl, das aus Maria Gugging kommt. Biegt man am großen, neueröffneten Hofer-Markt links zum Maibach ein, kommt man an der Rückseite des Gartens an einer versteckten Pforte vorbei, auf der man, wenn man einen Tip bekommen hat, noch ein verwittertes und verwachsenes Schild „Sanatorium Hoffmann“ erkennen kann. Da könnte Kafka, gerahmt und gestützt von Dora Diamant und Robert Klopstock, durchgetreten sein auf ihrem Spaziergang zum „Grünen Baum“.
Wenn ich auf diesem Balkon stehe und zum Maibach hinunterschaue, mag ich die Vorstellung, dass Kafka einmal, vielleicht mehrmals, sicher nicht später als Ende April, Anfang Mai 1924, weil er danach schon zu schwach war, durch den Garten, durch die Pforte, durch das Maibachtal zum „Grünen Baum“ und zur Post spaziert ist, Briefe und Karten aufgegeben hat an die Eltern, die Geschwister, an Onkel Siegfried, an Max Brod, Manuskripte an den Verlag.

Das dreistöckige Haus Nummer 187 auf der Kierlinger Hauptstraße ist ein unscheinbarer, spätklassizistischer Bau, der an der Westseite seltsam abgerissen wirkt, wie ein verstümmelter Stockzahn. Immer wenn ich mich von der Station des 239A an der Lenaugasse dem ehemaligen Sanatorium nähere, bedauere ich, dass ich nicht über die Inbrunst einer Gläubigen verfüge, die sich einem Heiligtum nähert. Aber sobald ich das Haustor aufsperre, hinter dem eigenartigerweise links immer ein Besen steht, als würde ein Odradek auf mich warten, spüre ich ein hauchfeines Momentum. In einem kindlichen Orakelspiel bemühe ich mich, nicht auf die im Fussboden des Vorhauses eingelassenen Mosaiksteine mit der Jahreszahl 1906 zu treten, damit ich die unsichtbaren Fußstapfen nicht zer-störe. So wie wir als Kinder manche Ritzen zwischen den Steinen ausgelassen haben, damit etwas Bestimmtes eintritt oder ausbleibt. Da ist Kafka darübergegangen. Es gibt auf der ganzen Welt sonst keinen Ort, von dem man das mit Sicherheit sagen kann. Wenn man sich in diesem nüchternen Haus in frühere Zeiten hineinschwelgen möchte, muss man das innerlich tun, mit Hilfe der Vorstellungskraft.
Und dann wieder Kafka lesen.
Am 3. Juni 2016 stehen in prächtigster Rosafülle Pfingstrosenstöcke im Vor- und Hintergarten des ehemaligen Sanatoriums. Eine seiner letzten Sorgen hat er auf einem Sprechzettel festgehalten. Sie gilt der richtigen Behandlung des Pfingstrosenstrausses in seinem Zimmer. (Wer hat sie ihm gebracht? Woher stammen sie? Aus dem Sanatoriumsgarten, wo solche immer noch wachsen und blühen. ) Wie auch immer: Er hat sie wahrgenommen und genossen. In einer flachen Schale, damit die Stengel nicht am Boden anstehen, so halten sie lange, ewig.
Charlotte Spitzer schneidet die mitgebrachten Pfingstrosen, ihre sind voll und weiss mit gelben Blütenständen, genau nach dieser Anweisung zurecht, verteilt sie in Glasvasen an mehreren Stellen, zündet neben der Fischer-Gesamtausgabe eine dicke Kerze an und zieht sich zur Sterbestunde zum Meditieren auf den Balkon zurück. Im Blick die letzten Blicke.


Veronika Seyr
Wien, 4./5. Juni 16

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