Der Himmelbauerplatz unterhalb der Kierlinger Kirche ist eine
Asphaltfläche mit sechs Parkplätzen für Anrainer, weitere vier
sind dem Ärztezentrum vorbehalten. Zur Kierlinger Hauptstrasse hin,
gegenüber der Volksschule, blühen gerade die Linden und setzen
sich trotz ihrer Jugend mit ihrem Duft gegen die Autoabgase durch.
An der Ostseite steht das Denkmal für den am 3. Juni 1924 im
Sanatorium Hoffmann verstorbenen Schriftsteller Franz Kafka, gelegen
zehn Hausnummern weiter stadtauswärts. Der grobe Steinblock sieht
aus, als wäre ein Meteorit vom Himmel gefallen und hätte sich
hier in den Asphalt eingerammt. Aus einer Einbuchtung an der
Vorderseite ragt eine schwarz-metallene Büste heraus, es soll
wohl Kafka sein. An der rechten Seite ist eine
rotgesprenkelte Marmortafel mit vier groben Metallschrauben
befestigt, und mit gold- gerahmten Lettern sind die
Lebensdaten des Schriftstellers eingraviert: Dr. Franz Kafka, *1883
in Prag, +1924 in Kierling.
Zumindest
seit Picasso verlangt niemand eine anatomische Ähnlichkeit, aber
die Sehnsucht nach einem Schimmer von einer geistigen Nähe,
Anhänglichkeit, sogar Liebe bleibt angesichts dieses Denkmals
ungestillt. Es ist in seiner ganzen massiven Erscheinung
abweisend und so aufgestellt, das man es unbedingt über- oder
darüber hinwegsehen muss. Das tun die an- und abfahrenden
Autofahrer auch. Von Rosen- und anderen im Juni blühenden Büschen
eingerahmt, so wie sie überall auf jedem öffentlichen Platz und in
Einfamilienhäusergärten wachsen.
Ich
sitze auf einer Bank des Verschönerungsvereins Klbg. neben dem
Klotz. Alles ist sehr nett und adrett, offensichtlich gepflegt,
ich kann nicht feststellen, ob für den Parkplatz, das Ärztezentrum
oder das Kafka-Denkmal; kein Müll, keine Papierln, keine Kippen,
und alle Parker gliedern sich brav in die weißen Parkstreifen ein,
die Radfahrer in einen raiffeisengelben Ständer. Es ein ewiges
Geheimnis der Gemeinderatssitzung wird bleiben, warum man dem
deutsch schreibenden, jüdischen Schriftsteller aus Prag, den
ansehnlichen Platz vor der Jugendstilkirche, nur fünf Stufen
aufwärts, nicht zugestanden hat.
Die
letzten Spazeirgänge durch das Maibachtal, die letzten Blicke von
seinem Balkon in die Hügel, die letzten Gerüche von Straße und
Pfingstrosen.
Im
Ort gibt es neben dem Sterbehaus noch einen Kafka-Steg und eine
Kafkagasse.
Absicht,
ja und nein, gedenken wollen und doch nicht oder nicht zu sehr,
frage ich mich, als ich auf der Bank neben dem Denkmal sitze, an
meinem Sandwich nage und aus meiner Thermoskanne lauwarmen Kaffee
trinke. Es ist der 3. Juni 2016, ich mache Pause von meinem
Raumdienst im Sterbesanatorium an seinem 92. Todestag. Ich bin die
dienstjüngste der vier ehrenamtlichen Kafka-Witwen.
Über
den Asphaltplatz schaue ich auf die Baustelle der Firma Bosnj. Dom
(bosnisches Haus), die gerade einen Wohnkomplex hochzieht, an der
Ecke, wo seit 1788 der Gasthof "Zum grünen Baum" stand,
bis er vor einem Jahr abgerissen wurde. Die Arbeiter machen den
Dachstuhl fertig und geben ein kakophonisches Konzert aus Hämmern
und Elektrobohrern ab. Eine barbarische, aber sicherlich vernünftige
Entscheidung der Gemeinde Klosterneuburg-Kierling, die sicher
Wohnraumbedarf im Grünen hat. Der Gasthof war schon lange
leergestanden. Die Hintergründe kenne ich nicht, aber für mich ist
es eine Demolierung von kulturellem Erbgut. Ich erinnere mich gut
an dieses Gasthaus, nicht nur das älteste weit und breit mit einem
schattigen Garten aus alten Kastanien und Linden, ein hinterbrühliger
Ort, an dem man sich Schubert in Gesellschaft seiner Freunde gut
vorstellen konnte. Die ganze sich vier Kilometer lange im öden
Autoverkehr windende Hauptstraße entlang gibt es kein einziges
Einkehrlokal mehr. Das erinnert mich daran, dass diese Gemeinde
schon früher auch die Überreste der Synagoge abgerissen und
stattdessen eine Gedenktafel angebracht hat.
Ob diese verkehrsumbrauste Ecke ein attraktiver Wohnort sein würde,
fragte ich mich zwischen dem Jausenbrot und den immer noch
befremdeten Blicken auf den Kafka-Klotz neben mir, meines Wissens
das einzige Monument in Österreich.
Gedankenloser
ist nur noch der Wackelstein beim Sanatorium von Matliary in der
Hohen Tatra.
Man
muss Milde walten lassen und darüber nachdenken, warum bis auf
diese zwei Denkmäler - schwankend zwischen Hilflosigkeit und
Verhöhnung - keine Kafka-Skulpturen bekannt sind. Wie viele gibt
es denn von Shakespeare, Mozart, Goethe, Schiller, Puschkin, Heine,
Hugo, Rodin oder Chaplin, alle diese Victorias, Friedriche und Franz
Josephe. Und viele andere. Vielleicht kommt das daher, dass
bisher niemand Kafka mit einer Skulptur gerecht werden konnte, es
gewagt hat, seine schmale, mit 182 Zentimertern hochgewachsene
Körperlichkeit in den Raum zu stellen. Vielleicht haben sich viele
bekannte und unbekannte Künstler schon an Kafka abgemüht, wer
weiss, mit welchen Materialien: Stein, Metall, Holz, Gips, Gold,
Silber, Porzellan, Glas, Alabaster, Perlmutt, Elfenbein, Bernstein,
Sandelholz, Plastik, Papier, Pappe, Titan oder Tüll. Und alles
wieder verworfen, in Scham und Demut alle Versuche zerstört und
tief eingegraben haben. Einer, der das nicht getan hat, ist Jaroslav
Roda, er hat einen Bronze-Koloss von 3,75 Metern Höhe und 700
Kilogramm Gewicht in Prag aufgestellt. Auf den Schultern eines
riesigen leeren Mantels reitet ein Zwerg, der wahrscheinlich Kafka
darstellen soll – er ist angeblich der „Beschreibung eines
Kampfes“ nachempfunden. Ich persönlich vermisse Kafka-Monumente
nicht, mir genügen seine Worte. Vielleicht liegt es auch daran,
dass die relativ neue Kunst der Fotografie Kafka am ehesten
entspricht. Es existieren viele dokumentierte Fotografien von Kafka,
die meisten aus dem Familien- und Freundeskreis. Bis auf die
erzwungenen Kinderbilder, allein oder mit den Schwestern, zeigt er
keine Scheu vor der Kamera. Immer schaut er mild-freundlich in die
Kamera, er läßt sich mit dem Apparat ein, fast kokettiert er mit
ihr und bleibt doch leicht entfernt von der Szene. Man sieht einen
überschlanken, gutaussehenden, ausgewählt elegant gekleideten
Mann, leicht nach vorne geneigt, mit mild angedeutetem Lächeln, im
scharf geschnittenen Gesicht auffallend große Augen, der Kopf oft
gekrönt mit einem hohen, breitkrempigen Hut. Auch sein ausgeprägter
Hinterkopf und schlanker Hals könnten einen Bildhauer entzücken.
Soweit bekannt, ist Kafka nie anderen als Fotokünstlern Modell
gestanden.
Die
Gedenkstätte im Sterbehaus auf der Kierlinger Hauptstraße 187 –
ein Stiegenhaus, zwei Zimmer und ein Balkon- kommt einer adäquaten
Würdigung am nähesten. Nachdem sie seit 1982 in düsteren,
grindigen Räumen mit einigen Schaukästen dahingedämmert hatte,
nahm sich die Kafka-Gesellschaft einer umfassenden Umgestaltung an
mit dem Architekten Michael Balgary und der Vizepräsidentin
Charlotte Spitzer als von Kafka beseelter Designerin.
Seit
der Wiedereröffnung vor zwei Jahren sprechen diese zwei Räume eine
vorsichtige, ehrerbietige, weil nichts und niemanden vereinnahmende
Einladung aus, sich dem Menschen Franz Kafka, seinem Werk und seinen
letzten sechs Lebenswochen zu nähern. Voll und minimalistisch
gleichzeitig, als sollten die letzten Atemzüge nicht gestört
werden. Fotos, Gegenstände und Dokumente an Wänden und in Vitrinen,
die Lebensdaten affichiert, eine nachgebaute Ecke mit einem damals
üblichen Spitalsbett, gebrochenes Licht, weisse Laken mit Zitaten,
Bücherborde, zeitgemäße Aufnahmen von Kierling und seiner
Umgebung, so wie sie Kafka damals gesehen haben könnte. Etwa den
Blick von seinem Sonnenbalkon in den Garten des Sanatoriums und auf
den gegenüberliegenden Wienerwaldhang. Man kann ihn betreten und
sich einlassen auf die inneren Bilder von den letzten Blicken, man
kann seinen Augen nach links zur Kierlinger Kirche folgen, von der
jetzt durch nachgewachsene Bäume und Neubauten nur noch das
Turmkreuz wahrzunehmen ist; der Bergrücken im Blick geradeaus ist
jetzt viel dichter bewachsen als vor 92 Jahren. Er reicht hinunter
bis ins Maibachtal, ein großer Name für einen schmalen Weg entlang
einem nicht einmal einem Meter breiten Bacherl, das aus Maria
Gugging kommt. Biegt man am großen, neueröffneten Hofer-Markt links
zum Maibach ein, kommt man an der Rückseite des Gartens an einer
versteckten Pforte vorbei, auf der man, wenn man einen Tip bekommen
hat, noch ein verwittertes und verwachsenes Schild „Sanatorium
Hoffmann“ erkennen kann. Da könnte Kafka, gerahmt und gestützt
von Dora Diamant und Robert Klopstock, durchgetreten sein auf ihrem
Spaziergang zum „Grünen Baum“.
Wenn
ich auf diesem Balkon stehe und zum Maibach hinunterschaue, mag ich
die Vorstellung, dass Kafka einmal, vielleicht mehrmals, sicher
nicht später als Ende April, Anfang Mai 1924, weil er danach schon
zu schwach war, durch den Garten, durch die Pforte, durch das
Maibachtal zum „Grünen Baum“ und zur Post spaziert ist, Briefe
und Karten aufgegeben hat an die Eltern, die Geschwister, an Onkel
Siegfried, an Max Brod, Manuskripte an den Verlag.
Das
dreistöckige Haus Nummer 187 auf der Kierlinger Hauptstraße ist
ein unscheinbarer, spätklassizistischer Bau, der an der Westseite
seltsam abgerissen wirkt, wie ein verstümmelter Stockzahn. Immer
wenn ich mich von der Station des 239A an der Lenaugasse dem
ehemaligen Sanatorium nähere, bedauere ich, dass ich nicht über
die Inbrunst einer Gläubigen verfüge, die sich einem Heiligtum
nähert. Aber sobald ich das Haustor aufsperre, hinter dem
eigenartigerweise links immer ein Besen steht, als würde ein Odradek
auf mich warten, spüre ich ein hauchfeines Momentum. In einem
kindlichen Orakelspiel bemühe ich mich, nicht auf die im Fussboden
des Vorhauses eingelassenen Mosaiksteine mit der Jahreszahl 1906 zu
treten, damit ich die unsichtbaren Fußstapfen nicht zer-störe. So
wie wir als Kinder manche Ritzen zwischen den Steinen ausgelassen
haben, damit etwas Bestimmtes eintritt oder ausbleibt. Da ist Kafka
darübergegangen. Es gibt auf der ganzen Welt sonst keinen Ort, von
dem man das mit Sicherheit sagen kann. Wenn man sich in diesem
nüchternen Haus in frühere Zeiten hineinschwelgen möchte, muss
man das innerlich tun, mit Hilfe der Vorstellungskraft.
Und
dann wieder Kafka lesen.
Am
3. Juni 2016 stehen in prächtigster Rosafülle Pfingstrosenstöcke
im Vor- und Hintergarten des ehemaligen Sanatoriums. Eine seiner
letzten Sorgen hat er auf einem Sprechzettel festgehalten. Sie gilt
der richtigen Behandlung des Pfingstrosenstrausses in seinem Zimmer.
(Wer hat sie ihm gebracht? Woher stammen sie? Aus dem
Sanatoriumsgarten, wo solche immer noch wachsen und blühen. ) Wie
auch immer: Er hat sie wahrgenommen und genossen. In einer flachen
Schale, damit die Stengel nicht am Boden anstehen, so halten sie
lange, ewig.
Charlotte
Spitzer schneidet die mitgebrachten Pfingstrosen, ihre sind voll und
weiss mit gelben Blütenständen, genau nach dieser Anweisung
zurecht, verteilt sie in Glasvasen an mehreren Stellen, zündet
neben der Fischer-Gesamtausgabe eine dicke Kerze an und zieht sich
zur Sterbestunde zum Meditieren auf den Balkon zurück. Im Blick
die letzten Blicke.
Veronika
Seyr
Wien,
4./5. Juni 16
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