GOOD NEWS sind manchmal (viel zu selten) einfach nur GOOD NEWS
Die Integrations-Geschichte eines Neu-Österreichers, ganz am Anfang
Neulich auf einer Vernissage in der Wollzeile lernte ich einen jungen Mann kennen, Fazil*)
Name geändert, ist ein 28jähriger syrischer Kurde, der gerade politisches Asyl in Österreich erhalten hat. Bei einem Glas nach der Eröffnung kam ich mit ihm ins Gespräch. Sein Deutsch ist noch nicht wirklich gut, aber für eine Unterhaltung mit Erstinformationen reicht es schon. Seit einem Jahr hat er einen österreichischen Pass, den grauen, den Flüchtlingspass, in dem zwischen vielen österreichischen Stempeln und Siegeln gedruckt steht: „Für alle Staaten der Welt außer Syrien“. Ich blättere, drehe und wende das Dokument, ungläubig staunend, die Fälscher sitzen im Kopf - nicht 5, 7 oder 12 Jahre hat er gewartet - sondern nur 2 Monate, und das Asylverfahren war positiv abgeschlossen! Ich denke an seine Eltern, seine Geschwister, stelle mir seine sorgenvolle Mutter vor. Und jetzt, einmal im Monat ein Anruf ihres Sohnes, eines Verbrechers, eines Staatsfeindes, eines Flüchtlings in einem Land, dessen Namen sie vielleicht nicht einmal kannte. Sie liebte schon immer Strauss-Walzer, erzählte mir Fazil, wusste aber nicht, woher diese kamen. Ob sie ihren Sohn jemals wieder sehen und in ihre Arme schließen kann?
Als anerkannter Flüchtling erhält gesetzesgemäß Sozialhilfe und ist Besitzer eines Kulturpasses, damit besucht er fünfmal in der Woche einen dreistündigen Deutschkurs an der Uni, daneben jobbt er geringfügig in einer Pizzaria. Fazil stammt aus dem Nordosten Syriens, in dem die Kurden konzentriert leben. Er studierte in Damaskus Malerei und Literatur, hat einen Lyrik-Band in arabischer Sprache veröffentlicht, in Galerien ausgestellt und sogar schon Bilder verkauft. Neben der arabischen Staatssprache und seinem privaten Kurdisch kann er noch Farsi und Türkisch. Eine europäische Sprache hat er nicht gelernt.
Und was machte ihn auf einmal zum Staatsfeind, der flüchten musste? Und was brachte ihn zu uns nach Österreich? Zusammen mit mehreren Künstlerfreunden veranstaltete Fazil in Damaskus eine Ausstellung, in der sie Bilder mit Elementen aus der kurdischen Kultur zeigten: Männer in kurdischer Tracht, den typischen Kopfbedeckungen, Kaffeekännchen und Pfeifen, dazu lasen die jungen Künstler aus ihren Gedichten in arabischer Sprache, aber es war offenbar doch zu deutlich kurdische Poesie – und die ist verboten in Syrien. Es dauerte nicht lange, bis die syrische Polizei die Galerie stürmte und Fazil und seine Freunde ins Gefängnis warf. Denn in Syrien sind die Kurden als Volksgruppe nicht anerkannt, fast alles Kurdische ist per Gesetz als staatsfeindlich verboten, die Sprache darf nur privat gesprochen werden und wird in Schulen nicht unterrichtet. Dabei machen die Kurden mit 10% der Bevölkerung rund 2 Millionen aus, von denen noch einmal mehr als 10% ihre Staatsbürgerschaft verloren haben und so zu Ausländern, zu Unpersonen im eigenen Land wurden. Vertreibungen, Umsiedlungen, keine kurdischen Namen, keine Geschäfte, keine Schulen, keine Kultureinrichtungen. Die humanitäre Lage in Syrien ist so schlimm, dass Kurden sogar in die nicht gerade kurdenfreundliche Türkei flüchten. Das alles sind Fakten und Daten, erhoben von UNO, Human Rights Watch, Amnesty International und der Gesellschaft für bedrohte Völker.
Nach vier Hunger-, Krankheits- und Foltermonaten gelingt Fazil die Flucht aus dem Gefängnis, Nach einer osteuropäischen Odyssee findet er Zuflucht in Österreich, wo ihm schon nach nur 2 Monaten der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird. Etwa 700 Kurden aus Syrien leben derzeit als anerkannte Flüchtlinge in Österreich, so klar und schrecklich ist die Menschenrechtslage in Syrien.
Als ich Fazil im Oktober kennen lerne, schläft er schon 2 Monate auf Bänken rund um die Westbahnhof-Baustelle, ein, zwei Stunden, bis die Polizei kommt und ihn und andere Schicksalsgenossen aufscheucht. Dann lange Spaziergänge, Wien bei Nacht für einen Neuankömmling. Fazil ist ein außergewöhnlich gut aussehender junger Mann mit großen Mandelaugen und wallenden Locken, er hat ein fröhliches, offenes Wesen und spricht zu schnell ein nicht immer sofort verständliches Deutsch, ist aber inständig um Kommunikation bemüht, fragt einen Löcher in den Bauch über Österreich und ist an allem und jedem interessiert. Ganz besonders gefällt ihm die städtische Architektur in Wien, oft unterbricht er den gemeinsamen Spaziergang über den Ring, um Skizzen zu machen. Dabei ist sein viel zu magerer Körper nur von dünnen Gewandfähnchen bedeckt, den steifen Novemberwind mit Regenschauern ignoriert er. Sein ganzes Eigentum steckt in einer Umhängetasche, angefüllt mit Skizzenblöcken, Schreibutensilien und Wörterbüchern. Immer und überall fliegt sein Bleistift übers Papier, in der U-Bahn, im Kaffeehaus, beim Reden, beim Rauchen und beim Essen, Porträts von Zufallsgegenübern: Frauen, Männer, Tiere, Häuser, er ist kein gläubiger Moslem, für ihn gilt kein Bilderverbot. Zwischen Pizzeria und Deutsch-Kursen klappert er Museen, Galerien, Ausstellungen und Dichterlesungen ab, sogar eine kleine Schau mit seinen Bildern ist ihm schon gelungen- mit zwei verkauften Bildern. Studieren möchte er und malen, zeichnen, schreiben und ausstellen, derzeit arbeitet er an einem Roman, die Liebe ist sein Thema, und die Gedichte fließen aus ihm heraus wie schon immer seit seiner frühesten Jugend.
Aber vor all dem ist klar, dass Fazil eine Wohnung braucht. Seine neuen österreichischen Freunde begleiten ihn zu einem Makler und aufs Sozialamt. Er hat ein günstiges Angebot in einem zentrumsnahen Bezirk bekommen. Bei einem schnell fixierten Termin mit seiner Sozialarbeiterin geschieht - nach seiner geglückten Flucht und der Asylzuerkennung das dritte Wunder – oder ist es doch die Normalität bei uns? Ich kann nicht entscheiden, ob Fazil bei seiner Geburt von den Göttern geküsst wurde oder ob diese Beamtin einen Narren an ihm gefressen hat – sicher im Rahmen der geltenden Gesetze- oder ob er einfach nur Glück hatte.
Die Begleitung, die Übersetzung, mit einem Wort: die Patenschaft hat ihm geholfen, steht für mich fest und die Vermutung, dass Fazil nicht nur eine Begabung für Auge und Ohr hat, sondern auch eine fürs Glücklichsein. Hinter geschlossenen Türen kämpft die Beamtin bei ihren Vorgesetzten um die Wohnung für Fazil, mit Erfolg: Das Sozialamt übernimmt die erste Monatsmiete, die Kaution und die Vermittlungsgebühr, alles zusammen legt sie ihm vor unseren Augen die beträchtliche Summe auf den Tisch. Keine milde Gabe, sondern so sind die Bestimmungen bei uns. Die Rechtslage versteht er trotz der freundlich-bemühten Erklärungen der Beraterin nicht ganz, scheint mir, sie ist zu weit entfernt von seiner sozialen Wirklichkeit; wiederholt versichert er, dass er alles zurückzahlen werde, sobald er mehr Geld verdiene. Beim Arbeitsamt sei er schon gewesen und habe Aussicht auf eine Stelle als Koch. Kochen könne er gut, das habe zu Hause gelernt. „Jajaja, ist schon ok. Alles Gute für die Zukunft! Kommen Sie wieder.“ Die Beamtin- ein zartes Persönchen mit liebenswürdiger Ausstrahlung-steht auf, kommt hinter ihrem Schreibtisch hervor und reicht ihm mit einer leichten Verbeugung die Hand. Ich habe den Eindruck, dass auch sie sich freut und stolz ist auf ihren Erfolg. Hat sie vielleicht verstanden, dass sie eher für Ute Bock arbeiten sollte oder Picasso vergessen und Fazil denken soll?
Als wir das Büro verlassen, kann Fazil vor Glück nicht mehr an sich halten. Gleich vor der Tür beginnt er sich um sich zu drehen, zu tanzen und zu kreiseln auf engstem Platz, Tasche, Schal und Kappe wirft er nach einander in die Luft, die Beine wehen um ihn und die Locken um den Kopf. Die Wartenden im engen Sozialamtsgang taxieren uns schweigend mit befremdeten oder fragenden Blicken. Hat da einmal jemand Glück gehabt? Oder nur nach dem Buchstaben des Gesetzes sein Recht bekommen? Mit immer schnelleren und komplizierteren Schritten wirbelt Fazil um sich selbst, sein dürrer Körper verwandelt sich in eine oszillierendeSäule. Ein tanzender Derwisch ist bei uns angekommen. Dabei trällert er immer wieder von den höchsten bis in die tiefsten Töne: „Österreich ist guut! Österreich ist guut! Gutgutgut, Österreich!“ Sein erstes Gedicht auf Deutsch. Genügend deutsch für so viel Freude hat Fazil schon gelernt.
Donnerstag, 4. Februar 2010
Jüdisches Museum 29.10.09
Vortrag zu Malach-Buch
Sehr geehrte Damen und Herren!
Lieber Isaak Michailowitsch!
Es ist eine große Freude und Ehre für mich, Ihnen das Buch von Isaak Michailowitsch Malach vorstellen zu dürfen. Als mich Konstantin Kaiser vor einem Jahr fragte, ob ich eine deutsche Fassung – nach seiner langwierigen Bearbeitung - und das Nachwort zu einem russischen Kriegsmemoiren-Buch übernehmen würde, fiel ich zuerst fast in einen Schockzustand bei so viel Zufall oder - Schicksal? Denn es war genau 40 Jahre her, seit ich auf der Wiener Slawistik als Dissertationsthema über die Memoirenliteratur zum „Großen Vaterländischen Krieg“ zu arbeiten begann. Bald stellte sich jedoch heraus, dass damals in der Sowjetunion noch zuwenig offizielle Literatur zur Verfügung stand und ich von Wien aus zum Samizdat nur schwer Zugang fand, so dass ich später ein anderes Thema zu Ende führte.
Es existierte damals fast nur die so genannte Generalsliteratur, die Triumphliteratur von oben. Die kritische Auseinandersetzung mit dem 2. WK wie etwa von Vassilij Grossman, Lew Kopelew, Alexander Solschenizyn, Anatolij Rybakow, Ilja Ehrenburg oder Natalija Ginzburg hatte noch nicht das Licht der Welt erblickt, lag in den Verliesen des KGB oder in den geheimen Schubladen der Autoren. Manches wird auch mit ihnen in die Gräber gesunken sein.
Auch die Literatur von unten, die so genannte Leutnants-Literatur, die Erinnerungen der einfachen Soldaten, der Panzerfahrer, der Kampfpiloten und der Lazaretthelferinnen kam erst viel später.
Seit der Gorbatschow`schen Glasnost ab Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist die Flut an Titeln unüberschaubar geworden, wurden Dissidenten neu oder erstmals aufgelegt, von der Leningrader Belagerung bis zum letzten Schützengraben blieb fast nichts unbehandelt.
2 Themen scheinen mir allerdings bis jetzt ausgespart zu sein: Kindheit im Krieg und der sowjetische Antisemitismus.
Es ist ein großes Verdienst des Isaak Michailowitsch Malach, dass er sich der Mühe - ich würde sagen - der Tortur des Erinnerns unterzog.
Jahrzehnte nach der eigenen Kindheit, in denen so vieles passiert ist erlebt und erlitten wurde, in denen Weltreiche eingestürzt und Landkarten verändert wurden, in denen sich tiefe Einschnitte im persönlichen Leben aufgetan haben und viele Abschiede überlebt wurden.
Das Erinnern, jedes Erinnern ist ein komplizierter Prozess; die Erinnerungen können verblassen, sich verändern oder sich – nach Karl Kraus- ganz entziehen, je näher man hinschaut. Nur eines lässt nie nach und bleibt immer deutlich: der Schmerz des Verlustes.
Malach hat die Methode gewählt, das Kind Issja von vor mehr als 60 Jahren, als er 5, 6, 7 und 8 Jahre alt war, noch einmal an die Hand zu nehmen, sich mit ihm einzulassen, nachzusehen und nachzufühlen, wie es diesem Kind damals ging. Er tut dies auf Augenhöhe mit seinem Kind, ohne vor ihm in die Knie zu gehen. Der große Vorzug dieser Methode liegt darin, dass ein Kind die Welt zum ersten Mal sieht und es aus der Kindperspektive Dinge sagen kann, die sich anders nicht oder kaum darstellen lassen. Das Grauen des Krieges wird durch den unwissenden, „unschuldigen“ und unverstellten Kinderblick nicht verniedlicht, sondern im Gegenteil noch unheilvoller, eindringlicher, verstörender.
Isaak Michailowitsch Malach wird 1936 in einer jüdischen, angepasst-sowjetischen Familie in der westukrainischen Kleinstadt Tschundnow geboren.
Den deutschen Überfall auf die Sowjetunion erlebt er als 5-Jähriger an der vordersten Front. Der Vater wird eingezogen, der Mutter gelingt mit ihren 2 Kindern die entbehrungsreiche Flucht in den Osten, zuerst nach Aralsk, später weiter in die usbekische Wüste, wo sie bis Kriegsende bleiben.
So genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind. Wir versuchen, die Wirklichkeit wieder zu geben, aber je angestrengter wir es versuchen, desto mehr drängt sich uns das auf, was auf den historischen Theaterbühnen von jeher zu sehen war: hin und her wallende Schlachtfelder, ein sterbender Infanterist, der noch einen anderen niedersticht, das brechende Auge eines Pferdes, ein brennender Panzer, der unverwundbare Führer.
Unsere Beschäftigung mit Geschichte ist eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, auf die wir andauernd starren, während die Wahrheit irgend wo anders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt.
Issja wird ein Bild nie vergessen- und der Leser seines Buches auch nicht: das Bild vom Sarg der geliebten kleinen Schwester Lolja, die unterwegs an Unterernährung und Lungenentzündung stirbt: ein gleichgültiger Totengräber verscharrt das Holzkistchen im fliegenden Sand der Wüste. Kurz tanzt noch eine kleine Sandhose über der Mulde, aber schon nach wenigen Augenblicken ist die Stelle verweht und die Spur der Schwester für immer von der Erdoberfläche verschwunden. Auch das ist ein Gesicht des Krieges, abseits von den großen Schlachten. In solchen Momenten öffnet sich der ganze Abgrund einer Kriegszeit, und Malachs Erinnerungen werden zu großer, bleibender Literatur.
Hunger, Durst, Krankheiten und Schwerarbeit können nicht quälender sein als die Ungewissheit über das Schicksal der in den besetzten Gebieten Zurückgeliebenen. Als die Familie nach Kriegsende in Lemberg wieder zusammen findet, ist es Gewissheit: die gesamte Familie der Mutter wurde schon in den allerersten Kriegstagen von erschossen, und auch auf der väterlichen Seite fordert der Krieg noch Jahre später seine Opfer: durch Sucht, Selbstmord oder Wahnsinn.
Issja ist ein hoch begabtes Kind, vor allem sein gutes Gedächtnis und seine schöne Stimme fallen auf, einer Sängerkarriere scheint nichts im Wege zu stehen. Aber immer wieder trifft er auf unerklärliche Hindernisse für sein Weiterkommen: eine falsch behandelte Krankheit wirft ihn aus der Sängerlaufbahn, ein ungeliebtes Technikstudium wird gegen seinen Willen erzwungen.
Hier endet – muss enden – die Kindperspektive, denn das Kind kann nichts wissen von den antisemitischen Kampagnen Stalins, angefangen von der Zerschlagung des jüdischen antifaschistischen Komitees, der Ermordung seines berühmtesten Repräsentanten Solomon Michoels bis zur Ärztekampagne kurz von Stalins Tod. Die Trauer darüber blieb privat und unausgesprochen, der Massenmord an den Juden auf dem Gebiet der Sowjetunion war tabu und ist es bis heute mehr oder weniger geblieben. Denn unter Stalin herrschte die Maxime: es gibt nur ein Opfer, das sowjetische Volk; Stalin ließ keine Erwähnung, kein Gedenken und keine Ehrung von Gruppen- oder Separat-Opfern zu. Das an Denkmälern so reiche Russland hat bis jetzt keines für seine jüdischen Opfer, keine Gedenkstätte und mit Not angebrachte Gedenktafeln werden nach kürzester Zeit zerstört. Der übergroße Anteil sowjetischer Juden am Befreiungskampf – vom einfachen Soldaten über todesmutige Kampfpiloten bis in die höchsten Ränge der Armee, in der Kultur und der Wissenschaft – blieb unerwähnt oder wurde gar geleugnet. Begriffe wie „Holocaust“ oder „Shoa“ waren noch im gewendeten Russland der 90er Jahre unverständliche Fremdworte. Der erwachsene, wissende Erzähler hadert zu Recht mit dieser sowjetisch/ russischen Praxis der Geschichtsfälschung, entfernt sich damit aber weit von der Erinnerungsposition des Kindes. Der Autor verlässt das enge Spektrum des authentischen Erinnerns und schildert, wie er sich schon früh und unter gossen Schwierigkeiten ein Privatwissen über den Holocaust aneignete. Aber damit stellt er die großen Zusammenhänge her, die seinem Thema angemessen sind. Diesen Perspektiven-Brüchen begegnet der Autor mit der Einführung eines „running gag“ und der aus dem Film entlehnten Techniken von Schnitt, Rückblende und Überblendung.
Nach seiner Emigration 1972 nach Wien arbeitet Malach als Ordner im Jüdischen Museum, in dem gerade eine Ausstellung über den Holocaust gezeigt wird. Er schreitet einen Saal ab, 30 Schritte vorwärts, 30 Schritte zurück, von einer Wand zur anderen: Nie stehen bleiben, nie niedersetzen, immer freundlich antworten, auf Provokationen nicht reagieren, dabei das Geschwätz der Schulklassen und ihrer Lehrer im Ohr, und immer gleichzeitig konfrontiert mit den Totenmasken von Opfern, die sich in den Spiegeln ins Unendliche zu vervielfältigen scheinen. Sind das vielleicht die Gesichter seiner ermordeten Verwandten? Es werden immer mehr, sie kommen einfach daher, dringen durch die geschliffenen Spiegel, als wären sie nicht tot, er hat keine Kraft, sie abzuwehren, sie drohen ihn mit zu reißen. Dazwischen tauchen die Gesichter der Angeklagten im Nürnberger Prozess in seinem Gedächtnis auf, Fratzen, die eitel ins Scheinwerferlicht lächeln, vor Langeweile Nasen bohren oder an ihren Goldbrillen rücken, sich als unschuldig, abhängig oder nur Befehlen gehorchend verteidigen. 30 Schritte vorwärts, 30 Schritte zurück. Ein grausamer, quälender Film in Endlosschleife. Mit solch kinematografischem Erzählen geht er den Geschehnissen auf den Grund. Ein Tip für Drehbuchautoren: ich meine, Isaak Malach hat schon ein Drehbuch für einen Film geschrieben.
In Rückblenden drängen dann wieder die ersten Kriegstage im Juni 1941 herauf: die deutschen Kampfflieger fliegen so tief, dass das fünfjährige Kind ihr Lächeln, ihre Abzeichen und Kappen in den gläsernen Kanzeln erkennen kann, oder die mit naiver Freude betrachteten Leuchtraketen, wie sie in aller Pracht im Abendhimmel verglühen, oder die vertrauten Lieder der Kinder im Bunker, bis er die Todesangst der Eltern, der Nachbarn und der panisch flüchtenden Rotarmisten wahrnimmt, mitfühlen und verstehen lernt. Der Krieg hat viele Gesichter. So wächst das Kind allmählich in das Grauen hinein. Das sind dichte Momentaufnahmen eines unvorstellbar schweren Lebens, das den Namen Kind-heit nicht verdient.
Dann: das mühsame Überleben in der usbekischen Wüste unter den eben erst zu Kolchosbauern gezwungenen Nomaden. Das offenbar intelligente und aufnahmebereite Kind Issja hat ein scharfes Auge für die großen zivilisatorischen Unterschiede zwischen den Flüchtlingen aus dem europäischen Teil und dem sowjetischen Osten. Zuerst gibt es nur das zweifache Sterben, das an den Fronten, von dem die Flüchtlinge nur wenig erfahren, und das alltägliche im Hinterland, an Entbehrungen, an Krankheiten, durch Mangel an Ärzten, Medikamenten und Transportmitteln, der allgemeinen Unterentwicklung und der lebensfeindlichen Natur Zentralasiens. Aber bei aller Armut und Primitivität erinnert er auch Freundschaften, Solidarität und Hilfsbereitschaft.
Malach zeichnet ein eindringliches Bild davon, dass der deutsche Überfall auf die Sowjetunion abseits von den bekannten Schlachtfeldern in allen Familien, in allen Landesteilen von Lemberg, Leningrad, Kursk und Stalingrad bis in die usbekischen Wüsten unermessliche Opfer gefordert hat. Von da nach dort und mittendrin, Issja, ein Kind des Krieges.
Von dem dritten großen Sterben – dem Massenmord an den sowjetischen Juden in den eroberten Gebieten- dringt kein Laut, kein Wort in Wüsten Usbekistans.
Ein Museumswärter geworden, 30 Schritte vor, 30 Schritte zurück zwischen den eleganten Spiegelwänden und dem Stuck an den Decken, die Füße schleifen über das blanke Parkett im Wald der Totenmasken seiner ermordeten Familie; hier ist Issja wieder ganz da in seiner Kindheit, allein mit seinem Erinnern, seinem Wissen und seiner Vergangenheit, die nie aufhört zu vergehen. Dazwischen baut der Autor seinen Text dicht und kunstvoll zusammen, wie eine Fuge, wie ein menschliches Weberschiffchen webt er seinen Teppich aus Schmerz und Trauer, von Spiegel zu Spiegel, angekettet im Käfig der Erinnerungen, und doch vielleicht erlöst durch sein erinnerndes Schreiben.
Dass Isaak Malachs Schaffen ein breites Spektrum hat, zeigen die Gedichte im zweiten Teil des Buches; darüber hinaus schreibt Isaak Malach Erzählungen und Essays in russischer Sprache. Er ist auch Vertoner seiner eigenen Verse. Die vielen persönlichen Fotos reichern das Familien- Buch an zu einem Buch über eine gemordete Epoche.
Ich wünsche dem Buch viele interessierte und einfühlsame Leser, und Ihnen, Isaak Michailowitsch, viel Erfolg und eine lange, gute Gesundheit! Vam, mnogouvashaemi Isaak Michailowitsch, uspechov i dolgowo, choroschewo zdorovja!
Und wenn ich schon mal hier stehe, möchte ich noch einen Wunsch äußern, oder vielleicht ist es eine Vision: dass es genügend Energie und Mittel geben möge, eine russische Version herzustellen, für einen Re-Import, eine Remigration sozusagen. Denn ein solches Buch fehlt bis jetzt in Russland.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Lieber Isaak Michailowitsch!
Es ist eine große Freude und Ehre für mich, Ihnen das Buch von Isaak Michailowitsch Malach vorstellen zu dürfen. Als mich Konstantin Kaiser vor einem Jahr fragte, ob ich eine deutsche Fassung – nach seiner langwierigen Bearbeitung - und das Nachwort zu einem russischen Kriegsmemoiren-Buch übernehmen würde, fiel ich zuerst fast in einen Schockzustand bei so viel Zufall oder - Schicksal? Denn es war genau 40 Jahre her, seit ich auf der Wiener Slawistik als Dissertationsthema über die Memoirenliteratur zum „Großen Vaterländischen Krieg“ zu arbeiten begann. Bald stellte sich jedoch heraus, dass damals in der Sowjetunion noch zuwenig offizielle Literatur zur Verfügung stand und ich von Wien aus zum Samizdat nur schwer Zugang fand, so dass ich später ein anderes Thema zu Ende führte.
Es existierte damals fast nur die so genannte Generalsliteratur, die Triumphliteratur von oben. Die kritische Auseinandersetzung mit dem 2. WK wie etwa von Vassilij Grossman, Lew Kopelew, Alexander Solschenizyn, Anatolij Rybakow, Ilja Ehrenburg oder Natalija Ginzburg hatte noch nicht das Licht der Welt erblickt, lag in den Verliesen des KGB oder in den geheimen Schubladen der Autoren. Manches wird auch mit ihnen in die Gräber gesunken sein.
Auch die Literatur von unten, die so genannte Leutnants-Literatur, die Erinnerungen der einfachen Soldaten, der Panzerfahrer, der Kampfpiloten und der Lazaretthelferinnen kam erst viel später.
Seit der Gorbatschow`schen Glasnost ab Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist die Flut an Titeln unüberschaubar geworden, wurden Dissidenten neu oder erstmals aufgelegt, von der Leningrader Belagerung bis zum letzten Schützengraben blieb fast nichts unbehandelt.
2 Themen scheinen mir allerdings bis jetzt ausgespart zu sein: Kindheit im Krieg und der sowjetische Antisemitismus.
Es ist ein großes Verdienst des Isaak Michailowitsch Malach, dass er sich der Mühe - ich würde sagen - der Tortur des Erinnerns unterzog.
Jahrzehnte nach der eigenen Kindheit, in denen so vieles passiert ist erlebt und erlitten wurde, in denen Weltreiche eingestürzt und Landkarten verändert wurden, in denen sich tiefe Einschnitte im persönlichen Leben aufgetan haben und viele Abschiede überlebt wurden.
Das Erinnern, jedes Erinnern ist ein komplizierter Prozess; die Erinnerungen können verblassen, sich verändern oder sich – nach Karl Kraus- ganz entziehen, je näher man hinschaut. Nur eines lässt nie nach und bleibt immer deutlich: der Schmerz des Verlustes.
Malach hat die Methode gewählt, das Kind Issja von vor mehr als 60 Jahren, als er 5, 6, 7 und 8 Jahre alt war, noch einmal an die Hand zu nehmen, sich mit ihm einzulassen, nachzusehen und nachzufühlen, wie es diesem Kind damals ging. Er tut dies auf Augenhöhe mit seinem Kind, ohne vor ihm in die Knie zu gehen. Der große Vorzug dieser Methode liegt darin, dass ein Kind die Welt zum ersten Mal sieht und es aus der Kindperspektive Dinge sagen kann, die sich anders nicht oder kaum darstellen lassen. Das Grauen des Krieges wird durch den unwissenden, „unschuldigen“ und unverstellten Kinderblick nicht verniedlicht, sondern im Gegenteil noch unheilvoller, eindringlicher, verstörender.
Isaak Michailowitsch Malach wird 1936 in einer jüdischen, angepasst-sowjetischen Familie in der westukrainischen Kleinstadt Tschundnow geboren.
Den deutschen Überfall auf die Sowjetunion erlebt er als 5-Jähriger an der vordersten Front. Der Vater wird eingezogen, der Mutter gelingt mit ihren 2 Kindern die entbehrungsreiche Flucht in den Osten, zuerst nach Aralsk, später weiter in die usbekische Wüste, wo sie bis Kriegsende bleiben.
So genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind. Wir versuchen, die Wirklichkeit wieder zu geben, aber je angestrengter wir es versuchen, desto mehr drängt sich uns das auf, was auf den historischen Theaterbühnen von jeher zu sehen war: hin und her wallende Schlachtfelder, ein sterbender Infanterist, der noch einen anderen niedersticht, das brechende Auge eines Pferdes, ein brennender Panzer, der unverwundbare Führer.
Unsere Beschäftigung mit Geschichte ist eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, auf die wir andauernd starren, während die Wahrheit irgend wo anders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt.
Issja wird ein Bild nie vergessen- und der Leser seines Buches auch nicht: das Bild vom Sarg der geliebten kleinen Schwester Lolja, die unterwegs an Unterernährung und Lungenentzündung stirbt: ein gleichgültiger Totengräber verscharrt das Holzkistchen im fliegenden Sand der Wüste. Kurz tanzt noch eine kleine Sandhose über der Mulde, aber schon nach wenigen Augenblicken ist die Stelle verweht und die Spur der Schwester für immer von der Erdoberfläche verschwunden. Auch das ist ein Gesicht des Krieges, abseits von den großen Schlachten. In solchen Momenten öffnet sich der ganze Abgrund einer Kriegszeit, und Malachs Erinnerungen werden zu großer, bleibender Literatur.
Hunger, Durst, Krankheiten und Schwerarbeit können nicht quälender sein als die Ungewissheit über das Schicksal der in den besetzten Gebieten Zurückgeliebenen. Als die Familie nach Kriegsende in Lemberg wieder zusammen findet, ist es Gewissheit: die gesamte Familie der Mutter wurde schon in den allerersten Kriegstagen von erschossen, und auch auf der väterlichen Seite fordert der Krieg noch Jahre später seine Opfer: durch Sucht, Selbstmord oder Wahnsinn.
Issja ist ein hoch begabtes Kind, vor allem sein gutes Gedächtnis und seine schöne Stimme fallen auf, einer Sängerkarriere scheint nichts im Wege zu stehen. Aber immer wieder trifft er auf unerklärliche Hindernisse für sein Weiterkommen: eine falsch behandelte Krankheit wirft ihn aus der Sängerlaufbahn, ein ungeliebtes Technikstudium wird gegen seinen Willen erzwungen.
Hier endet – muss enden – die Kindperspektive, denn das Kind kann nichts wissen von den antisemitischen Kampagnen Stalins, angefangen von der Zerschlagung des jüdischen antifaschistischen Komitees, der Ermordung seines berühmtesten Repräsentanten Solomon Michoels bis zur Ärztekampagne kurz von Stalins Tod. Die Trauer darüber blieb privat und unausgesprochen, der Massenmord an den Juden auf dem Gebiet der Sowjetunion war tabu und ist es bis heute mehr oder weniger geblieben. Denn unter Stalin herrschte die Maxime: es gibt nur ein Opfer, das sowjetische Volk; Stalin ließ keine Erwähnung, kein Gedenken und keine Ehrung von Gruppen- oder Separat-Opfern zu. Das an Denkmälern so reiche Russland hat bis jetzt keines für seine jüdischen Opfer, keine Gedenkstätte und mit Not angebrachte Gedenktafeln werden nach kürzester Zeit zerstört. Der übergroße Anteil sowjetischer Juden am Befreiungskampf – vom einfachen Soldaten über todesmutige Kampfpiloten bis in die höchsten Ränge der Armee, in der Kultur und der Wissenschaft – blieb unerwähnt oder wurde gar geleugnet. Begriffe wie „Holocaust“ oder „Shoa“ waren noch im gewendeten Russland der 90er Jahre unverständliche Fremdworte. Der erwachsene, wissende Erzähler hadert zu Recht mit dieser sowjetisch/ russischen Praxis der Geschichtsfälschung, entfernt sich damit aber weit von der Erinnerungsposition des Kindes. Der Autor verlässt das enge Spektrum des authentischen Erinnerns und schildert, wie er sich schon früh und unter gossen Schwierigkeiten ein Privatwissen über den Holocaust aneignete. Aber damit stellt er die großen Zusammenhänge her, die seinem Thema angemessen sind. Diesen Perspektiven-Brüchen begegnet der Autor mit der Einführung eines „running gag“ und der aus dem Film entlehnten Techniken von Schnitt, Rückblende und Überblendung.
Nach seiner Emigration 1972 nach Wien arbeitet Malach als Ordner im Jüdischen Museum, in dem gerade eine Ausstellung über den Holocaust gezeigt wird. Er schreitet einen Saal ab, 30 Schritte vorwärts, 30 Schritte zurück, von einer Wand zur anderen: Nie stehen bleiben, nie niedersetzen, immer freundlich antworten, auf Provokationen nicht reagieren, dabei das Geschwätz der Schulklassen und ihrer Lehrer im Ohr, und immer gleichzeitig konfrontiert mit den Totenmasken von Opfern, die sich in den Spiegeln ins Unendliche zu vervielfältigen scheinen. Sind das vielleicht die Gesichter seiner ermordeten Verwandten? Es werden immer mehr, sie kommen einfach daher, dringen durch die geschliffenen Spiegel, als wären sie nicht tot, er hat keine Kraft, sie abzuwehren, sie drohen ihn mit zu reißen. Dazwischen tauchen die Gesichter der Angeklagten im Nürnberger Prozess in seinem Gedächtnis auf, Fratzen, die eitel ins Scheinwerferlicht lächeln, vor Langeweile Nasen bohren oder an ihren Goldbrillen rücken, sich als unschuldig, abhängig oder nur Befehlen gehorchend verteidigen. 30 Schritte vorwärts, 30 Schritte zurück. Ein grausamer, quälender Film in Endlosschleife. Mit solch kinematografischem Erzählen geht er den Geschehnissen auf den Grund. Ein Tip für Drehbuchautoren: ich meine, Isaak Malach hat schon ein Drehbuch für einen Film geschrieben.
In Rückblenden drängen dann wieder die ersten Kriegstage im Juni 1941 herauf: die deutschen Kampfflieger fliegen so tief, dass das fünfjährige Kind ihr Lächeln, ihre Abzeichen und Kappen in den gläsernen Kanzeln erkennen kann, oder die mit naiver Freude betrachteten Leuchtraketen, wie sie in aller Pracht im Abendhimmel verglühen, oder die vertrauten Lieder der Kinder im Bunker, bis er die Todesangst der Eltern, der Nachbarn und der panisch flüchtenden Rotarmisten wahrnimmt, mitfühlen und verstehen lernt. Der Krieg hat viele Gesichter. So wächst das Kind allmählich in das Grauen hinein. Das sind dichte Momentaufnahmen eines unvorstellbar schweren Lebens, das den Namen Kind-heit nicht verdient.
Dann: das mühsame Überleben in der usbekischen Wüste unter den eben erst zu Kolchosbauern gezwungenen Nomaden. Das offenbar intelligente und aufnahmebereite Kind Issja hat ein scharfes Auge für die großen zivilisatorischen Unterschiede zwischen den Flüchtlingen aus dem europäischen Teil und dem sowjetischen Osten. Zuerst gibt es nur das zweifache Sterben, das an den Fronten, von dem die Flüchtlinge nur wenig erfahren, und das alltägliche im Hinterland, an Entbehrungen, an Krankheiten, durch Mangel an Ärzten, Medikamenten und Transportmitteln, der allgemeinen Unterentwicklung und der lebensfeindlichen Natur Zentralasiens. Aber bei aller Armut und Primitivität erinnert er auch Freundschaften, Solidarität und Hilfsbereitschaft.
Malach zeichnet ein eindringliches Bild davon, dass der deutsche Überfall auf die Sowjetunion abseits von den bekannten Schlachtfeldern in allen Familien, in allen Landesteilen von Lemberg, Leningrad, Kursk und Stalingrad bis in die usbekischen Wüsten unermessliche Opfer gefordert hat. Von da nach dort und mittendrin, Issja, ein Kind des Krieges.
Von dem dritten großen Sterben – dem Massenmord an den sowjetischen Juden in den eroberten Gebieten- dringt kein Laut, kein Wort in Wüsten Usbekistans.
Ein Museumswärter geworden, 30 Schritte vor, 30 Schritte zurück zwischen den eleganten Spiegelwänden und dem Stuck an den Decken, die Füße schleifen über das blanke Parkett im Wald der Totenmasken seiner ermordeten Familie; hier ist Issja wieder ganz da in seiner Kindheit, allein mit seinem Erinnern, seinem Wissen und seiner Vergangenheit, die nie aufhört zu vergehen. Dazwischen baut der Autor seinen Text dicht und kunstvoll zusammen, wie eine Fuge, wie ein menschliches Weberschiffchen webt er seinen Teppich aus Schmerz und Trauer, von Spiegel zu Spiegel, angekettet im Käfig der Erinnerungen, und doch vielleicht erlöst durch sein erinnerndes Schreiben.
Dass Isaak Malachs Schaffen ein breites Spektrum hat, zeigen die Gedichte im zweiten Teil des Buches; darüber hinaus schreibt Isaak Malach Erzählungen und Essays in russischer Sprache. Er ist auch Vertoner seiner eigenen Verse. Die vielen persönlichen Fotos reichern das Familien- Buch an zu einem Buch über eine gemordete Epoche.
Ich wünsche dem Buch viele interessierte und einfühlsame Leser, und Ihnen, Isaak Michailowitsch, viel Erfolg und eine lange, gute Gesundheit! Vam, mnogouvashaemi Isaak Michailowitsch, uspechov i dolgowo, choroschewo zdorovja!
Und wenn ich schon mal hier stehe, möchte ich noch einen Wunsch äußern, oder vielleicht ist es eine Vision: dass es genügend Energie und Mittel geben möge, eine russische Version herzustellen, für einen Re-Import, eine Remigration sozusagen. Denn ein solches Buch fehlt bis jetzt in Russland.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Bogdan Bogdanovic
Der verdammte Bürgermeister oder vom Unglück in den Städten
Kulturnotizen aus Belgrad
Was ich jetzt vorhabe, gleicht am ehesten der Überquerung eines Minenfeldes: dass die Explosiva eingegraben sind und hochgehen können, das weiß ich, nicht aber, wo, welche, und wie sie hochgehen. Nach längerem Abwägen habe ich entschieden, dass ich da durch muss, es weder einen Weg aussenrum gibt, noch ein Stehenbleiben oder ein Umkehren.
Bei meinem jüngsten Besuch in Belgrad erzählte ich in einer Runde von Freunden – allesamt Anti-Nationalisten, Kriegs- und Milosevicgegner der ersten Stunde, von denen aber keiner emigriert ist - von der Ausstellung über ihren alten Landsmann, den Architekten und Schriftsteller Bogdan Bogdanovic mit Wohnsitz in Wien seit 1993. Es ist sicher keine Belgrader Spezialität, dass die Daheimgebliebenen die (erfolgreichen) Emigranten mit skeptischer Aufmerksamkeit beäugen oder sie gerne rupfen wie eine eifersüchtige Rabenschar. Wir kamen auf den Medien-Hype um Bogdan Bogdanovic, als Architekt, Essayist, Schriftsteller, Urbanologe, Poet, Mythologe, getaufter Surrealist und Humanist hoch gelobt, die Veranstaltungsreihen, die Buchpräsentationen, die TV- und Radiosendungen, die Vorträge und die Artikelflut. Er wird in den Medien weit über Österreich hinaus in den höchsten Tönen gelobt und mit so gleich lautenden Epitheta wie: ideologie- und pathosfrei, anti-sozrealistisch, originell oder unkonventionell bedacht, als hätte ein Klappen-, Reden- und Katalogtexter vom anderen abgeschrieben einschließlich aller Fehler oder ein einziger sie alle verfasst.
Beim Gespräch über B.B. kommen noch zwei Facetten hinzu: ihm wird von den Belgradern erstens der Emigrantentitel abgesprochen, und zweitens die neue Liebe der Österreicher für die Serben in Zweifel gezogen. Meinen Freunden - zum Großteil dem liberalen Zirkel des „Belgrader Kreises“ nahe stehend oder alte, echte, immer schon, auch zu Titozeiten selbstverständliche Europäer- schwellen die Zornesadern an, haben sie den B.B. nicht so sehr als Denkmalbaumeister- und Architekturprofessor oder gar als Widerstandskämpfer gegen den Milosevic-Nationalismus in Erinnerung, sondern als kommunistischen Bürgermeister von Belgrad der Jahre1982 – 1987, der sich mit mutwilligen Stromabschaltungen ins Gedächtnis der Bürger eingeätzt hat. Auf eine Diskussion über die künstlerischen Qualitäten seiner 20 antifaschistischen Denkmäler, Partisanengedenkstätten und Kriegsfriedhöfe im ehemaligen Jugoslawien will sich hier niemand einlassen; die Frage, ob sie wirklich anti-sozrealistisch, überideologisch, unpathetisch, phantasievoll, unkonventionell, fortschrittlich, surrealistisch uswusf. seien, belächeln meine höflichen Freunde milde, Mumpitz, Schnee aus vergangenen Jahren, darum geht es doch gar nicht, sondern um Politik und Moral. Sie sind streng und geradlinig, meine Belgrader Freunde, schütteln, je nach Temperament, zornig oder lächelnd die Köpfe über die naiven Westler wie auch schon beim Fall Handke.
Milan, ein Journalist, erinnert sich an des Bürgermeisters Fernsehansprache mitten in einem besonders kalten Winter, als er, in einen lächerlichen Schal gehüllt, den Mitbürgern den Stromsparrat gab, den Kühlschrank abzustellen und die Lebensmittel auf dem Balkon oder auf dem Fenstersims aufzubewahren. Ebenso verbot er das tägliche Bad, einmal in der Woche oder noch seltener sollte genügen, damit Warmwasser gespart werden könne. Er verlangte, dass die Nachbarn, die sich nicht daran hielten, bei der Miliz zu denunzieren seien, ebenso die, bei denen keine Plastiktüten auf Balkonen und Fenstern zu sehen seien, bedeutete dies doch, dass diese Übeltäter den Kühlschrank nicht ausgeschaltet hätten. Die Leute seien damals durch stockfinstere Straßen und Stiegenhäuser gestolpert und in kalten Wohnungen gesessen. Und nie hat er sich danach bei den Mitbürgern entschuldigt, der Herr Emigrant, erzürnt sich Milan immer noch. „Soll er doch einmal versuchen, bei Kerzenlicht eine kalte Dusche zu nehmen, wenn es draußen minus 20 hat“.
Djordje, der 80jährige Filmemacher, erinnert daran, dass jemand, der so viele Staatsaufträge bekam und praktisch ein antifaschistisches Denk/mal/bau/monopol hatte, nur ein absolut treuer Vollstrecker der Parteipolitik gewesen sein kann. Als Bürgermeister war B.B. automatisch auch Mitglied des städtischen und Republikskomitees der kommunistischen Partei (Bund der Kommunisten Jugoslawiens), ereifert er sich, er hat die Politik von Milosevic lange mitgetragen, und dieser hat vom älteren Parteigenossen gelernt, wie man in stalinistischer Tradition die Bevölkerung quält, vor allem die des bürgerlichen Belgrad.
Die Dramaturgin Vesna ärgert sich über die ignoranten Westler, die aus jedem Milosevic-Gegner gleich einen Demokraten machen: das sei vollkommener Unsinn, es gab doch auch noch andere Gründe, zum Beispiel die Konkurrenz oder aus anderen nicht-demokratischen Motiven gegen Milosevic zu sein, wie etwa die Altstalinisten den Kurswechsel zum Nationalismus nicht mitmachen wollten. Milosevic kam 1985 durch einen internen Putsch als Belgrader Stadtparteichef an die Macht, erst 13 Jahre später übersiedelte Bogdanovic nach Wien, was heißt denn hier Widerstand? Ja, es gab Schmierereien an den Mauern seines Wohnhauses, vielleicht hat er auch unangenehme Anrufe bekommen, räumt Vesna ein, aber die galten dem verhassten Bürgermeister und nicht seiner angeblichen Milosevic-Gegnerschaft. Er habe seine Wohnung immer behalten, ihm und seiner Bibliothek sei kein Härchen gekrümmt worden. Aber natürlich lebt es sich feiner in Wien, wo man nicht mit Stromabschaltungen rechnen muss, giftet Vesna, die damals ihre alte, kranke Mutter kaum durch die Kälte brachte. „Ich kann diesen Unsinn einfach nicht mehr hören, dass ihn die Nationalisten vertrieben haben und er nach Wien flüchten musste.“ Dieses unbedingte Festhalten am Nicht-Wissen-Wollen treibt Vesna auf die Zimmerpalme. Als würde man noch immer behaupten, die Erde sei eine Scheibe, und dass die Scheinemigranten nicht die Kugel propagieren werden, ist wohl sonnenklar.
Aber eines freut Vesna: dass man seit kurzem die Gespräche über den Alt-Bürgermeister aus den Niederungen von Gerüchten und persönlichen Erinnerungen herausführen kann ans Licht der historischen Dokumentation. Die Belgrader Kulturhistorikerin Irina Subotic hat kürzlich einen umfangreichen Dokumenten-Band über die jugoslawische Avantgardistenbewegung „Zenit“ aus der Zwischenkriegszeit herausgebracht. Die Zenitler bezeichneten sich als „Kinder von Kandinski, Malevic, Schiele, Ilja Erenburg, El Lisizki, Max Ernst und Gropius“, die die Moderne in den jungen Staat brachten. Ihr gehörten die bedeutendsten jugoslawischen Künstler wie Milos Crnjanski, Vinaver, Dedinac, Petrov, und Poljanski an - die Liste lässt sich lange fortsetzen. Als Irina Subotic 1983 im Belgrader Volksmuseum eine Ausstellung über die Zenit-Künstler einrichtete, startete der damalige Bürgermeister eine Hetzkampagne in allerschlimmster stalinistischer Manier, besonders bösartig und lächerlich die Verspätung, meint Vesna, 30 Jahre nach Stalins Tod! Darum mag man hier nicht über den angeblichen „Surrealisten“, „Modernisierer“, „Versöhner“ und „Friedensaktivisten“ B.B. debattieren, als der er sich jetzt feiern lässt. Und ob er aus Überzeugung gehandelt habe oder im Auftrag der kommunistischen Partei, interessiert diese auch Runde nicht, er hat schändlich gehandelt und damit basta! Ein Buch wie das von Irina Subotic, das sei die wahre„Architektur der Erinnerung“, meinen meine Freunde, und dass Autorin und Herausgeber Ljubomir Micic zur Präsentation nach Zagreb eingeladen wurden. Ein Gast fehlte allerdings in Zagreb, spottet die Runde, die Hauptperson ist im schönen Wien geblieben.
Sonja, eine ehemalige, von Milosevic relegierte Universitätsprofessorin und Studienkollegin des Architekturstudenten B.B., bringt den „originellen Kulturkämpfer“ der frühen Tage ein: Jeans waren bei der Jugend de frühen 50er Jahren äußerst beliebt und ein rares Westgut, der Nomenklatura dagegen waren sie als Symbol des amerikanischen Imperialismus und der westlichen Dekadenz ein Dorn im Auge. Als ganz besonders unproletarisch galten die damals modischen superengen Röhrenhosen. Sonja schildert, wie der Parteiaktivist B.B. zusammen mit als Studenten getarnten Geheimdienstlern Jagd auf die Jeansträger machte, diese verprügelt und ihnen die unmoralischen Hosenbeine aufgeschlitzt wurden. Es sei bekannt gewesen, dass an seiner Fakultät besonders viele Studenten denunziert und relegiert worden seien. Lächerlich? Nein, das war damals höchste Parteikulturpolitik. „Wie viele Leben und Karrieren hat dieser furchtbare Stalinist vernichtet“, die feine, alte Dame verliert fast ihre Kontenance, „aber es gab damals so viele davon.“ Ist das ein Trost? „Nein, aber sie sollten sich doch irgendwann entschuldigen, solange sie noch können und nicht neue Lügen verbreiten.“ Was sie damit meint? Diese Bücher, die er in Wien schreibt, schöne Titel erfindet er dafür: „Die Stadt und der Tod“, „Der verdammte Baumeister“ und „Vom Glück in den Städten“. Die Freundesrunde bricht in sarkastisches Gelächter aus, der weiß, wovon er spricht; sie haben die Bücher schon längst umbenannt: Der verdammte Bürgermeister. Vom Unglück in den Städten. Der Kommunist und der Tod.
Warum scheint denn Wien ein so fruchtbarer Boden für Geschichtsfälschungen, Ausblendungen und Halbwahrheiten zu sein, will ich von diesem erlauchten Kreis wissen. Was meinen sie zu diesem Abjubeln und schallenden Schweigen? Da gehen die Meinungen auseinander. Die einen halten das schlechte Gewissen an der Mitschuld für den Zerfall/die Zerschlagung Jugoslawiens für den Grund, also eine Art von Wiedergutmachung, andere die effektive Arbeit der in Wien tätigen serbischen Geheimdienste, also die beliebten Balkanverschwörungsmythen. Ob denn die Schwierigkeiten im Umgang mit der Vergangenheit eine Gemeinsamkeit sein könnte? Da wiegen sie die Köpfe, darüber müssten sie erst noch nachdenken.
In der Belgrader Presse lese ich in den Tagen meines Besuches das Interview eines alten Partei-Funktionärs der Markovic-Ära. Miloje Popovic war ein prominenter Journalist, Mitarbeiter von Ministerpräsident Stambolic und in der Jugend mit den Brüdern Milosevic befreundet. „Nach Titos Tod gab es zwar keinen Krieg, aber in Serbien herrschte ein schrecklicher allgemeiner Mangel an wichtigen Artikeln des täglichen Lebens. Wir hatten keinen Strom, und sicher erinnern sich viele an jene grausamen Stromabschaltungen. Es gab allgemeines Entsetzen, als bekannt wurde, dass sogar dem Generalstab der Strom abgedreht wurde. Der Belgrader Bürgermeister wandte sich an die Öffentlichkeit mit den Worten; wenn ihr irgendwo Licht brennen seht, zeigt eure Nachbarn an. Einige Politiker haben sogar dazu aufgerufen, die beleuchteten Fenster mit Ziegelsteinen einzuwerfen.“
Noch interessanter ist, dass auch von der Jugend an Bogdanovics Bürgermeisterjahre erinnert wird. Anlässlich des 6. Jahrestages des Mordes am ersten nicht-kommunistischen Bürgermeister Zoran Djindjic (später Ministerpräsident) schreibt ein junger Dragan in einem Blog des unabhängigen Radio B92: „Was hat denn Bogdanovic Nützliches für Belgrad getan? Er gab unseren Eltern den zynischen Ratschlag, wenn sie denn unter der Kälte so sehr litten, sollen sie doch einen Pullover mehr anziehen. Und die Nachbarn anzuzeigen, könne auch das Herz erwärmen“.
Ein anderer Blogger, Mladen 21, schildert eine Episode, die ihm sein Vater erzählte: Dieser sei während der Stromabschaltungen einmal durch die stockdunkle Knez Mihajlova (Belgrads Fussgängerzone) getaumelt, als er Ohrenzeuge eines intimen Gespräches einer Kollegin, die er verehrte, mit ihrem unsichtbaren Liebhaber wurde. Nur an der Stimme habe er sie erkannt und zur Kenntnis nehmen müssen, dass er bei ihr keine Chance habe. „Ich wünsche Bogdan Bogdanovic alles Mögliche, aber nicht die Qualen, die mein Vater erleiden musste“, schließt Mladen, 21.
Und warum sich freiwillig ins Minenfeld begeben? Ich persönlich habe doch nicht unter B.B.s Stromabschaltungen gelitten, nur ein Jahrzehnt später unter denen des Slobodan Milosevic, während der ich auch Zeugin wurde, dass man S.M. immer zähneknirschend mit B.B. verglich; und ich habe erlebt, mit welcher Freude, Begeisterung und Erleichterung Zoran Djindjic nach den heiß umkämpften Kommunalwahlen im Jänner 1997 als erster nicht kommunistischer Bürgermeister gefeiert wurde. „Belgrad hat sein Herz zurückbekommen“, hieß es damals, denn das weltoffene, multinationale, liberale Belgrad behauptete von sich, nie mehrheitlich kommunistisch gewählt zu haben.
Minenfeld? Sicher! Aber vielleicht bin ich es meinen Belgrader Freunden schuldig.
Kulturnotizen aus Belgrad
Was ich jetzt vorhabe, gleicht am ehesten der Überquerung eines Minenfeldes: dass die Explosiva eingegraben sind und hochgehen können, das weiß ich, nicht aber, wo, welche, und wie sie hochgehen. Nach längerem Abwägen habe ich entschieden, dass ich da durch muss, es weder einen Weg aussenrum gibt, noch ein Stehenbleiben oder ein Umkehren.
Bei meinem jüngsten Besuch in Belgrad erzählte ich in einer Runde von Freunden – allesamt Anti-Nationalisten, Kriegs- und Milosevicgegner der ersten Stunde, von denen aber keiner emigriert ist - von der Ausstellung über ihren alten Landsmann, den Architekten und Schriftsteller Bogdan Bogdanovic mit Wohnsitz in Wien seit 1993. Es ist sicher keine Belgrader Spezialität, dass die Daheimgebliebenen die (erfolgreichen) Emigranten mit skeptischer Aufmerksamkeit beäugen oder sie gerne rupfen wie eine eifersüchtige Rabenschar. Wir kamen auf den Medien-Hype um Bogdan Bogdanovic, als Architekt, Essayist, Schriftsteller, Urbanologe, Poet, Mythologe, getaufter Surrealist und Humanist hoch gelobt, die Veranstaltungsreihen, die Buchpräsentationen, die TV- und Radiosendungen, die Vorträge und die Artikelflut. Er wird in den Medien weit über Österreich hinaus in den höchsten Tönen gelobt und mit so gleich lautenden Epitheta wie: ideologie- und pathosfrei, anti-sozrealistisch, originell oder unkonventionell bedacht, als hätte ein Klappen-, Reden- und Katalogtexter vom anderen abgeschrieben einschließlich aller Fehler oder ein einziger sie alle verfasst.
Beim Gespräch über B.B. kommen noch zwei Facetten hinzu: ihm wird von den Belgradern erstens der Emigrantentitel abgesprochen, und zweitens die neue Liebe der Österreicher für die Serben in Zweifel gezogen. Meinen Freunden - zum Großteil dem liberalen Zirkel des „Belgrader Kreises“ nahe stehend oder alte, echte, immer schon, auch zu Titozeiten selbstverständliche Europäer- schwellen die Zornesadern an, haben sie den B.B. nicht so sehr als Denkmalbaumeister- und Architekturprofessor oder gar als Widerstandskämpfer gegen den Milosevic-Nationalismus in Erinnerung, sondern als kommunistischen Bürgermeister von Belgrad der Jahre1982 – 1987, der sich mit mutwilligen Stromabschaltungen ins Gedächtnis der Bürger eingeätzt hat. Auf eine Diskussion über die künstlerischen Qualitäten seiner 20 antifaschistischen Denkmäler, Partisanengedenkstätten und Kriegsfriedhöfe im ehemaligen Jugoslawien will sich hier niemand einlassen; die Frage, ob sie wirklich anti-sozrealistisch, überideologisch, unpathetisch, phantasievoll, unkonventionell, fortschrittlich, surrealistisch uswusf. seien, belächeln meine höflichen Freunde milde, Mumpitz, Schnee aus vergangenen Jahren, darum geht es doch gar nicht, sondern um Politik und Moral. Sie sind streng und geradlinig, meine Belgrader Freunde, schütteln, je nach Temperament, zornig oder lächelnd die Köpfe über die naiven Westler wie auch schon beim Fall Handke.
Milan, ein Journalist, erinnert sich an des Bürgermeisters Fernsehansprache mitten in einem besonders kalten Winter, als er, in einen lächerlichen Schal gehüllt, den Mitbürgern den Stromsparrat gab, den Kühlschrank abzustellen und die Lebensmittel auf dem Balkon oder auf dem Fenstersims aufzubewahren. Ebenso verbot er das tägliche Bad, einmal in der Woche oder noch seltener sollte genügen, damit Warmwasser gespart werden könne. Er verlangte, dass die Nachbarn, die sich nicht daran hielten, bei der Miliz zu denunzieren seien, ebenso die, bei denen keine Plastiktüten auf Balkonen und Fenstern zu sehen seien, bedeutete dies doch, dass diese Übeltäter den Kühlschrank nicht ausgeschaltet hätten. Die Leute seien damals durch stockfinstere Straßen und Stiegenhäuser gestolpert und in kalten Wohnungen gesessen. Und nie hat er sich danach bei den Mitbürgern entschuldigt, der Herr Emigrant, erzürnt sich Milan immer noch. „Soll er doch einmal versuchen, bei Kerzenlicht eine kalte Dusche zu nehmen, wenn es draußen minus 20 hat“.
Djordje, der 80jährige Filmemacher, erinnert daran, dass jemand, der so viele Staatsaufträge bekam und praktisch ein antifaschistisches Denk/mal/bau/monopol hatte, nur ein absolut treuer Vollstrecker der Parteipolitik gewesen sein kann. Als Bürgermeister war B.B. automatisch auch Mitglied des städtischen und Republikskomitees der kommunistischen Partei (Bund der Kommunisten Jugoslawiens), ereifert er sich, er hat die Politik von Milosevic lange mitgetragen, und dieser hat vom älteren Parteigenossen gelernt, wie man in stalinistischer Tradition die Bevölkerung quält, vor allem die des bürgerlichen Belgrad.
Die Dramaturgin Vesna ärgert sich über die ignoranten Westler, die aus jedem Milosevic-Gegner gleich einen Demokraten machen: das sei vollkommener Unsinn, es gab doch auch noch andere Gründe, zum Beispiel die Konkurrenz oder aus anderen nicht-demokratischen Motiven gegen Milosevic zu sein, wie etwa die Altstalinisten den Kurswechsel zum Nationalismus nicht mitmachen wollten. Milosevic kam 1985 durch einen internen Putsch als Belgrader Stadtparteichef an die Macht, erst 13 Jahre später übersiedelte Bogdanovic nach Wien, was heißt denn hier Widerstand? Ja, es gab Schmierereien an den Mauern seines Wohnhauses, vielleicht hat er auch unangenehme Anrufe bekommen, räumt Vesna ein, aber die galten dem verhassten Bürgermeister und nicht seiner angeblichen Milosevic-Gegnerschaft. Er habe seine Wohnung immer behalten, ihm und seiner Bibliothek sei kein Härchen gekrümmt worden. Aber natürlich lebt es sich feiner in Wien, wo man nicht mit Stromabschaltungen rechnen muss, giftet Vesna, die damals ihre alte, kranke Mutter kaum durch die Kälte brachte. „Ich kann diesen Unsinn einfach nicht mehr hören, dass ihn die Nationalisten vertrieben haben und er nach Wien flüchten musste.“ Dieses unbedingte Festhalten am Nicht-Wissen-Wollen treibt Vesna auf die Zimmerpalme. Als würde man noch immer behaupten, die Erde sei eine Scheibe, und dass die Scheinemigranten nicht die Kugel propagieren werden, ist wohl sonnenklar.
Aber eines freut Vesna: dass man seit kurzem die Gespräche über den Alt-Bürgermeister aus den Niederungen von Gerüchten und persönlichen Erinnerungen herausführen kann ans Licht der historischen Dokumentation. Die Belgrader Kulturhistorikerin Irina Subotic hat kürzlich einen umfangreichen Dokumenten-Band über die jugoslawische Avantgardistenbewegung „Zenit“ aus der Zwischenkriegszeit herausgebracht. Die Zenitler bezeichneten sich als „Kinder von Kandinski, Malevic, Schiele, Ilja Erenburg, El Lisizki, Max Ernst und Gropius“, die die Moderne in den jungen Staat brachten. Ihr gehörten die bedeutendsten jugoslawischen Künstler wie Milos Crnjanski, Vinaver, Dedinac, Petrov, und Poljanski an - die Liste lässt sich lange fortsetzen. Als Irina Subotic 1983 im Belgrader Volksmuseum eine Ausstellung über die Zenit-Künstler einrichtete, startete der damalige Bürgermeister eine Hetzkampagne in allerschlimmster stalinistischer Manier, besonders bösartig und lächerlich die Verspätung, meint Vesna, 30 Jahre nach Stalins Tod! Darum mag man hier nicht über den angeblichen „Surrealisten“, „Modernisierer“, „Versöhner“ und „Friedensaktivisten“ B.B. debattieren, als der er sich jetzt feiern lässt. Und ob er aus Überzeugung gehandelt habe oder im Auftrag der kommunistischen Partei, interessiert diese auch Runde nicht, er hat schändlich gehandelt und damit basta! Ein Buch wie das von Irina Subotic, das sei die wahre„Architektur der Erinnerung“, meinen meine Freunde, und dass Autorin und Herausgeber Ljubomir Micic zur Präsentation nach Zagreb eingeladen wurden. Ein Gast fehlte allerdings in Zagreb, spottet die Runde, die Hauptperson ist im schönen Wien geblieben.
Sonja, eine ehemalige, von Milosevic relegierte Universitätsprofessorin und Studienkollegin des Architekturstudenten B.B., bringt den „originellen Kulturkämpfer“ der frühen Tage ein: Jeans waren bei der Jugend de frühen 50er Jahren äußerst beliebt und ein rares Westgut, der Nomenklatura dagegen waren sie als Symbol des amerikanischen Imperialismus und der westlichen Dekadenz ein Dorn im Auge. Als ganz besonders unproletarisch galten die damals modischen superengen Röhrenhosen. Sonja schildert, wie der Parteiaktivist B.B. zusammen mit als Studenten getarnten Geheimdienstlern Jagd auf die Jeansträger machte, diese verprügelt und ihnen die unmoralischen Hosenbeine aufgeschlitzt wurden. Es sei bekannt gewesen, dass an seiner Fakultät besonders viele Studenten denunziert und relegiert worden seien. Lächerlich? Nein, das war damals höchste Parteikulturpolitik. „Wie viele Leben und Karrieren hat dieser furchtbare Stalinist vernichtet“, die feine, alte Dame verliert fast ihre Kontenance, „aber es gab damals so viele davon.“ Ist das ein Trost? „Nein, aber sie sollten sich doch irgendwann entschuldigen, solange sie noch können und nicht neue Lügen verbreiten.“ Was sie damit meint? Diese Bücher, die er in Wien schreibt, schöne Titel erfindet er dafür: „Die Stadt und der Tod“, „Der verdammte Baumeister“ und „Vom Glück in den Städten“. Die Freundesrunde bricht in sarkastisches Gelächter aus, der weiß, wovon er spricht; sie haben die Bücher schon längst umbenannt: Der verdammte Bürgermeister. Vom Unglück in den Städten. Der Kommunist und der Tod.
Warum scheint denn Wien ein so fruchtbarer Boden für Geschichtsfälschungen, Ausblendungen und Halbwahrheiten zu sein, will ich von diesem erlauchten Kreis wissen. Was meinen sie zu diesem Abjubeln und schallenden Schweigen? Da gehen die Meinungen auseinander. Die einen halten das schlechte Gewissen an der Mitschuld für den Zerfall/die Zerschlagung Jugoslawiens für den Grund, also eine Art von Wiedergutmachung, andere die effektive Arbeit der in Wien tätigen serbischen Geheimdienste, also die beliebten Balkanverschwörungsmythen. Ob denn die Schwierigkeiten im Umgang mit der Vergangenheit eine Gemeinsamkeit sein könnte? Da wiegen sie die Köpfe, darüber müssten sie erst noch nachdenken.
In der Belgrader Presse lese ich in den Tagen meines Besuches das Interview eines alten Partei-Funktionärs der Markovic-Ära. Miloje Popovic war ein prominenter Journalist, Mitarbeiter von Ministerpräsident Stambolic und in der Jugend mit den Brüdern Milosevic befreundet. „Nach Titos Tod gab es zwar keinen Krieg, aber in Serbien herrschte ein schrecklicher allgemeiner Mangel an wichtigen Artikeln des täglichen Lebens. Wir hatten keinen Strom, und sicher erinnern sich viele an jene grausamen Stromabschaltungen. Es gab allgemeines Entsetzen, als bekannt wurde, dass sogar dem Generalstab der Strom abgedreht wurde. Der Belgrader Bürgermeister wandte sich an die Öffentlichkeit mit den Worten; wenn ihr irgendwo Licht brennen seht, zeigt eure Nachbarn an. Einige Politiker haben sogar dazu aufgerufen, die beleuchteten Fenster mit Ziegelsteinen einzuwerfen.“
Noch interessanter ist, dass auch von der Jugend an Bogdanovics Bürgermeisterjahre erinnert wird. Anlässlich des 6. Jahrestages des Mordes am ersten nicht-kommunistischen Bürgermeister Zoran Djindjic (später Ministerpräsident) schreibt ein junger Dragan in einem Blog des unabhängigen Radio B92: „Was hat denn Bogdanovic Nützliches für Belgrad getan? Er gab unseren Eltern den zynischen Ratschlag, wenn sie denn unter der Kälte so sehr litten, sollen sie doch einen Pullover mehr anziehen. Und die Nachbarn anzuzeigen, könne auch das Herz erwärmen“.
Ein anderer Blogger, Mladen 21, schildert eine Episode, die ihm sein Vater erzählte: Dieser sei während der Stromabschaltungen einmal durch die stockdunkle Knez Mihajlova (Belgrads Fussgängerzone) getaumelt, als er Ohrenzeuge eines intimen Gespräches einer Kollegin, die er verehrte, mit ihrem unsichtbaren Liebhaber wurde. Nur an der Stimme habe er sie erkannt und zur Kenntnis nehmen müssen, dass er bei ihr keine Chance habe. „Ich wünsche Bogdan Bogdanovic alles Mögliche, aber nicht die Qualen, die mein Vater erleiden musste“, schließt Mladen, 21.
Und warum sich freiwillig ins Minenfeld begeben? Ich persönlich habe doch nicht unter B.B.s Stromabschaltungen gelitten, nur ein Jahrzehnt später unter denen des Slobodan Milosevic, während der ich auch Zeugin wurde, dass man S.M. immer zähneknirschend mit B.B. verglich; und ich habe erlebt, mit welcher Freude, Begeisterung und Erleichterung Zoran Djindjic nach den heiß umkämpften Kommunalwahlen im Jänner 1997 als erster nicht kommunistischer Bürgermeister gefeiert wurde. „Belgrad hat sein Herz zurückbekommen“, hieß es damals, denn das weltoffene, multinationale, liberale Belgrad behauptete von sich, nie mehrheitlich kommunistisch gewählt zu haben.
Minenfeld? Sicher! Aber vielleicht bin ich es meinen Belgrader Freunden schuldig.
„Die maßlose Kaste der Frühpensionisten“
Profil, von Gernot Bauer und Eva Linsinger
Bravo, Gernot Bauer und Eva Linsinger und danke, dass Sie endlich den wahren Feind unserer Gesellschaft und vor allem der Jugend ausgespäht und dingfest gemacht haben!
Die maßlose Kaste der Frühpensionisten, die graue Gefahr. Grossartig! Dabei glaubte ich, dass Finanzkapital, Neoliberalismus, Alt- und Neofaschismus, Klimawandel und Achmedineschad unsere Welt in den Untergang ritten. Was da mit einem Wust von Zahlen, Statistiken und Promi-Zitaten verbrämt wird, ist nichts anderes als versuchte Volksverhetzung. Kohorten von Frühpensionisten und Langzeitrentnern rasen auf ihren Motorrädern, bewaffnet mit Golfschlägern und Carverschis, Luxusstaubsaugern und Tiefkühlgermknödeln zwischen Grammatneusiedl und Montafon durch die Lande, maßlos diebisch, plündernd und mordend, gar nicht so Golden, sondern grau, kleptomanisch, aussaugend, sittenwidrig, gierig die Jungen verschlingend. Währenddessen sitzt Bernd Marin nur noch wutschäumend in seinem Weinviertler Garten, die Politik hat versagt und zieht den Schwanz ein vor dieser Kaste der maßlosen Gerontokraten.
Nur die zwei edlen, tapferen Drachentöter G.B. und E.L. wagen es, sich dem grauen Ungeheuer (i.e. Frühpensionisten und Langzeitrentner) mit ihren Wortkeulen in den Weg zu stellen. Chapeau diesen offenbar zwei sehr Jungen! Hunde, wollt ihr ewig leben? Stirb schneller, Genosse! Wäre Masseneuthanasie angesichts dieses extremen Bedrohungsszenarios vielleicht nicht auch eine Möglichkeit? Vielleicht mit Germknödel?
Dabei komme ich gerade aus meinem Supermarkt, wo mir die Kassierin ihr Leid klagte, dass sie jetzt mit 51 Jahren in Rente geschickt wird, weil sie wegen ihres Rheumas weder die Kassa bedienen, noch auspreissen noch lagern könne, sie bringt`s nicht mehr, meint ihr Chef. Dabei sind ihre beiden Kinder noch in Ausbildung, und sie bräuchte das Geld (phantastische 997 € monatlich für 45 Stunden, von deren 65% sie sich einen wie von G.B. und E.L. geschilderten Lenz machen kann) so dringend. Sollen sie auch an der S-Kassa enden wie sie? Hätte ich den Profil-Artikel schon gelesen, müsste ich ihr eine passende Antwort nicht schuldig geblieben sein. Und gestern erzählte mir meine Schwester, dass es ihren Mann erwischt hat. Jetzt hat er einen Knacks weg, der derfängt sich nimmer. Der dänische Konzern hat den erfolgreichen 59-jährigen Manager in die Frühpension entlassen, weil seine Firma nach Deutschland verlegt wurde und er für den Neuanfang am neuen Standort zu alt sei.
Und erst meine Freundin vom ORF, die mit gerade 54 in den „golden hand shake“ (hausintern: der blecherne Fußtritt) gezwungen wurde, mit 50% ihrer Pension. Aber sie darf ja noch arbeiten, wenn die lebenslange Journalistin jemand nimmt. Beim Gedanken an das AMS verfällt sie in Depression und denkt an Selbstmord. Aber das sind ja nur 3 beliebige Beispiele, die nichts beweisen.
G.B. und E.L. sind sicher gebildet genug, um ihre Wortgeschwader vorher gegoogelt zu haben: Kaste- gleichgültig ob oberster Brahmane oder unberührbarer Harijan – man wird in das Kastensystem hinein geboren, dessen Grenzen für den Einzelnen unüberwindbar sind. Auf jeden Fall soll der Leser etwas durch und durch Negatives damit assoziieren. Oder Gerontokratie: da herrscht eine verschworene Gruppe von jungen Mummelgreisen über den Rest der Gesellschaft, saugt sie aus bis aufs Blut wie die Plutokraten oder Oligarchen. Fehlt nur noch das benachbarte Gefühlsfeld der Vampire. Und noch so ein Totschlagwort: Kohorte- eine römische Reitereinheit, laut Wikipaedia ihrem Führer durch und durch ergeben, für die es im Kampf kein Hindernis gibt. Da wären wir ja wieder bei den gierigen, brandschatzenden, plündernden, mordenden und sittenwidrigen Gray Boys&Girls.
Wenn irgendetwas sittenwidrig ist, dann dieser Artikel!
Bravo, Gernot Bauer und Eva Linsinger und danke, dass Sie endlich den wahren Feind unserer Gesellschaft und vor allem der Jugend ausgespäht und dingfest gemacht haben!
Die maßlose Kaste der Frühpensionisten, die graue Gefahr. Grossartig! Dabei glaubte ich, dass Finanzkapital, Neoliberalismus, Alt- und Neofaschismus, Klimawandel und Achmedineschad unsere Welt in den Untergang ritten. Was da mit einem Wust von Zahlen, Statistiken und Promi-Zitaten verbrämt wird, ist nichts anderes als versuchte Volksverhetzung. Kohorten von Frühpensionisten und Langzeitrentnern rasen auf ihren Motorrädern, bewaffnet mit Golfschlägern und Carverschis, Luxusstaubsaugern und Tiefkühlgermknödeln zwischen Grammatneusiedl und Montafon durch die Lande, maßlos diebisch, plündernd und mordend, gar nicht so Golden, sondern grau, kleptomanisch, aussaugend, sittenwidrig, gierig die Jungen verschlingend. Währenddessen sitzt Bernd Marin nur noch wutschäumend in seinem Weinviertler Garten, die Politik hat versagt und zieht den Schwanz ein vor dieser Kaste der maßlosen Gerontokraten.
Nur die zwei edlen, tapferen Drachentöter G.B. und E.L. wagen es, sich dem grauen Ungeheuer (i.e. Frühpensionisten und Langzeitrentner) mit ihren Wortkeulen in den Weg zu stellen. Chapeau diesen offenbar zwei sehr Jungen! Hunde, wollt ihr ewig leben? Stirb schneller, Genosse! Wäre Masseneuthanasie angesichts dieses extremen Bedrohungsszenarios vielleicht nicht auch eine Möglichkeit? Vielleicht mit Germknödel?
Dabei komme ich gerade aus meinem Supermarkt, wo mir die Kassierin ihr Leid klagte, dass sie jetzt mit 51 Jahren in Rente geschickt wird, weil sie wegen ihres Rheumas weder die Kassa bedienen, noch auspreissen noch lagern könne, sie bringt`s nicht mehr, meint ihr Chef. Dabei sind ihre beiden Kinder noch in Ausbildung, und sie bräuchte das Geld (phantastische 997 € monatlich für 45 Stunden, von deren 65% sie sich einen wie von G.B. und E.L. geschilderten Lenz machen kann) so dringend. Sollen sie auch an der S-Kassa enden wie sie? Hätte ich den Profil-Artikel schon gelesen, müsste ich ihr eine passende Antwort nicht schuldig geblieben sein. Und gestern erzählte mir meine Schwester, dass es ihren Mann erwischt hat. Jetzt hat er einen Knacks weg, der derfängt sich nimmer. Der dänische Konzern hat den erfolgreichen 59-jährigen Manager in die Frühpension entlassen, weil seine Firma nach Deutschland verlegt wurde und er für den Neuanfang am neuen Standort zu alt sei.
Und erst meine Freundin vom ORF, die mit gerade 54 in den „golden hand shake“ (hausintern: der blecherne Fußtritt) gezwungen wurde, mit 50% ihrer Pension. Aber sie darf ja noch arbeiten, wenn die lebenslange Journalistin jemand nimmt. Beim Gedanken an das AMS verfällt sie in Depression und denkt an Selbstmord. Aber das sind ja nur 3 beliebige Beispiele, die nichts beweisen.
G.B. und E.L. sind sicher gebildet genug, um ihre Wortgeschwader vorher gegoogelt zu haben: Kaste- gleichgültig ob oberster Brahmane oder unberührbarer Harijan – man wird in das Kastensystem hinein geboren, dessen Grenzen für den Einzelnen unüberwindbar sind. Auf jeden Fall soll der Leser etwas durch und durch Negatives damit assoziieren. Oder Gerontokratie: da herrscht eine verschworene Gruppe von jungen Mummelgreisen über den Rest der Gesellschaft, saugt sie aus bis aufs Blut wie die Plutokraten oder Oligarchen. Fehlt nur noch das benachbarte Gefühlsfeld der Vampire. Und noch so ein Totschlagwort: Kohorte- eine römische Reitereinheit, laut Wikipaedia ihrem Führer durch und durch ergeben, für die es im Kampf kein Hindernis gibt. Da wären wir ja wieder bei den gierigen, brandschatzenden, plündernden, mordenden und sittenwidrigen Gray Boys&Girls.
Wenn irgendetwas sittenwidrig ist, dann dieser Artikel!
Auf der Place Moulay el Hassan
Die marokkanische Atlantikstadt Essaouira, portugiesisch Mogador, arabisch as-Sawirah (die Vollendete) ist für vieles bekannt: seine vollständig erhaltene Medina aus dem 18. Jahrhundert, ihre weiß-blauen Paläste und Häuser, ihre roten Stadtmauern, auf der noch Kanonen von Philipp II. stehen, die schönen und freundlichen Menschen, die lokalen Kunsthandwerker und afrikanischen Musiker, ihre Toleranz und Weltoffenheit, die sie in den späten 60- und 70er-Jahren zu einem Hippie-Mekka werden ließ. Wer es weiß und die Augen zusammen kneift, kann vom Strand aus am Südende der Bucht noch Jimmy Hendrix`s verlassene Villa erkennen. Über all dem wehen ständig heftige Passatwinde, die alizee, die einen so anmutig klingenden Namen haben und sich in diesen Julitagen zum Sturm aufblasen. Das Atlantikwasser ist kälter als die Donau im Sommer, in der flachen Dünung tummeln sich die Kitesurfer, den wenigen Sonnenbadern verklebt der feine Goldsand alle Körperritzen, nur die Kamele sind gerüstet: sie klappen ihre Nüstern zusammen und fahren mit ihrem Doppellid wie mit einem Scheibenwischer über die Augen. Ich habe Angst, dass hier sogar alte Freundschaften versanden. Wir flüchten vor dem Sandsturm hinter die dicken Kasbah-Mauern und stürzen uns in den Touristenstrom der Medina. In der ziemlich eleganten Derb Laalouj-Scala-Straße reihen sich die Antiquitäten,-Teppich- und Schmuckläden wie die bunten Steine einer Berberkette aneinander. Vom unwiderstehlichen Duft der Kräuter, Seifen, Rosenwasser und Öle angezogen, bleiben wir bei einem Geschäft stehen. Sofort lädt uns ein junger Mann zum Eintreten ein mit der ersten Standardfrage: Francais? No, Autriche. Autriche? Ou es Autriche? Vienne, EM, Spanien, Fußball sagen ihm nichts, was beweist, dass nicht alle Marokkaner Fußballfans sind. Nun will er wissen, welche berühmten Österreicher es denn gäbe. Meinem Freund fällt als erstes Mozart ein. Mousad? Klingt wie ein arabischer Vorname, ist ihm vertraut, aber war der ein Österreicher? Der junge Mann spricht uns Mouzad, nach, hat aber so seine Zweifel. Gibt es nicht noch einen anderen großen Österreicher? Ich denke nach und ergänze Freud, Sigmund Freud. Fröd, Mouzad, Fröd, spricht er nach. Ah, Mousadfröd, Mousadfröd memoriert er lerneifrig und schüttelt uns die Hand. Jetzt haben wir Freundschaft geschlossen, trotzdem macht er kein Geschäft mit uns, weil wir nur schauen und nichts kaufen wollen. Als wir später noch einmal an seinem Laden vorbei gehen, strahlt uns der Verkäufer schon von weitem an und kräht uns schallend Mousadfröd, Mousadfröd! seine neue Spracherrungenschaft entgegen. Wir sind auch ganz glücklich über soviel Kulturaustausch, da geht auf meinem Handy eine SMS ein: „Gusi zurückgetr, Fay Spitzenkand, Neuwah Sept, oh Graus.“ Mit Ungeduld warte ich am nächsten Tag im Buro du Tabac am Kasbah-Tor Bab es Seeba auf die ausländischen Zeitungen. Die marokkanischen und Le Monde werden immer schon am Vormittag angeliefert. Der Ständer quillt über von veralteten BILD-Ausgaben, die NZZ ist noch älter und dazu überteuert. Weil ich schon so lange um den Kiosk herum gelungert bin, einige Zigarettenpäckchen, überflüssige Ansichtskarten und 5 CDs gekauft habe, setze ich mich gegen ein norddeutsches Paar durch und ergattere das einzige Exemplar der FAZ vom 9. Juli 2008 – Julias Geburtstag nebenbei. Glücklich wie ein Großwildjäger lasse ich mich damit im Cafe „Möwe von Essaouira“ auf der Place Moulay el Hassan nieder.
Jeder weiß es: das FAZ, - ZEIT- oder Times-Lesen in Flugzeugen, Zugabteilen oder an Kaffeehaustischen braucht viel Übung, Umsicht und Geschicklichkeit. Im Wind von Essaouira wird es ein Kunststück von akrobatischen Ausmaßen. Ich weiß noch nichts von diesem Wagnis und stürze mich auf den Kommentar „Bruch in Wien“ auf Seite 1, rechts oben, die ganze dicke Zeitung zum A 4-Format gefaltet, mit der rechten Hand sicher erfasst, und mit der linken die Espresso-Tasse. Die Artikel „Koalition in Wien zerbrochen“ und „ÖVP und SPÖ einig über Neuwahlen“ in den Spalten 2, 3 und 4 auf Seite 1 sind noch eine relativ einfache Sache. Aber nach den ersten Zeilen über der Seitenmitte hinaus muss ich die Zeitung umschlagen, für Spalte 2 und 3 zurück hinauf und wieder hinunter in den linken Teil der unteren Hälfte “Gusenbauer war von Anfang an umstritten“ ( kleingedruckt, Fortsetzung S 2, siehe auch Seiten 3 und 10) „So gehen die politikverdrossenen Österreicher eben in die nächste Wahl“ – ist der letzte Satz, den ich noch fast so deutlich und ruhig lesen kann, als säße ich im Cafe Korb auf dem Wiener Kohlmarkt. Der Wind rüttelt noch nicht viel stärker an meinen Blätterwald, als wenn ein A 1-Bus, ein Fiaker-Konvoi und ein japanischer Touristenschwall durch die Tuchlauben ziehen würden. Auf dem zum Atlantik offenen Moulay el Hassan-Platz beginne ich nun ein verzweifeltes Unternehmen: das Umblättern. A 4 muss ich zu A 3 auffalten, dann in die ganze Größe von A 2 bringen, um auf die Seite 2 zu gelangen. Kaum öffne ich die Blätter nur einen winzigen Spalt, fährt der Wind von hinten und von vorne gleichzeitig hinein und trägt flugs die Bögen 3 – 8 über den Platz davon. Zuerst sehe ich machtlos ihrem Flug zu, wie sie sich unter die Möwenschwärme mischen. Aber dann springe ich ihnen nach, stoße dabei Kaffee und Wasser um und sprinte über den Platz zwischen die spielenden Kinder, Touristenscharen und Fezträger. Endlich kriege ich die Blätter an ein paar Babouchen-Schlapfen unter einer männlichen Djellabah zu fassen und kehre siegreich ins Cafe zurück, wo sich in der Zwischenzeit der große FAZ-Rest zwischen den Tischbeinen verfangen hat, von mageren Streunerkatzen neugierig beschnuppert, ob nicht vielleicht darin ein Fisch eingewickelt sei. Die Seiten des Finanzmarktes hat es so weit Richtung Atlantik hinausgeweht, dass ich ihnen nicht mehr nachsetze. Sie schweben in unruhigen Zuckungen über die Place Orson Wells, bei weitem nicht so schön und elegant wie die Möwen von Essaouira oder die gelbgrünen Drachen der Kinder an der Hafenmole. Obwohl ich diese Beilage auch früher nie aufgeschlagen, geschweige denn gelesen habe, war ich doch immer bemüht, die Zeitung im Ganzen, geordnet und im ursprünglichen Falz ruhend, abzulegen oder weiterzugeben.
Endlich habe ich den Kampf mit dem launenhaften Passatwind um die Fortsetzung von Seite 1 in Spalte 6 auf Seite 2 gewonnen. Das nicht mehr ganz glatte und rechtwinkelige Papier vermutet als Wahltermin den 28. September. Vor dem Übergang zur schwierigen Seite 3 will ich mich noch erholen. Am oberen Rand lasse ich meinen Blick über die Gebäude der Attijariwafa banque, des Credit du Maroc und der Western Union streifen, da tippt mich eine alte, tief gebückte Frau leicht an die Schulter und streckt die Hand aus, eine Bettlerin, die das ihr zustehende „Zakat“ erhält, die vom Koran vorgeschriebene Leistung einer Wohltat oder Barmherzigkeit, erhoffe dafür das „Baraka“, das göttliche Glück, und lasse die Zeitung sinken; ich sehe den pittoresken Gnawa-Musikern zu, die sich vor dem Cafe aufbauen und nach einem kurzen Auftritt mit Fiedeln, Trommeln und Klappern ihren Obulus einsammeln. Jetzt parkt sich ein Rollstuhl vor dem Cafe ein, ein etwa 12jähriger Knabe hilft seinem Großvater aus dem Rollstuhl und geleitet ihn ehrerbietig von Tisch zu Tisch, selbstbewusst, anmutig und elegant beide und von allen akzeptiert und beschenkt. Das Umblättern ist kein Kinderspiel. „Aus Feinden wurden keine Partner“ über 5 aufeinander folgende Spalten mit 2 Fotos von Gu und Fay.
Eigentlich hätte ein urlaubender Österreicher beim düsteren Titel „Das Scheitern hat viele Vorboten – profitieren wird zunächst die FPÖ“ die FAZ resigniert zusammenfalten und tief im Rucksack verstauen sollen, anstatt sich zum auf Seite 10 angekündigten „ÖVP-Kandidat Molterer“ im Porträt-Zeitgeschehen durch zu kämpfen. Versuchen Sie einmal, ohne die FAZ aus den Fingern zu lassen, Wasser in ein Glas zu gießen und zum Mund zu führen, einen Zug aus der Zigarette zu machen und sich mit einem Schluck Kaffee Mut zu machen! Zwischen den Zähnen knirscht es, die Augen tränen, aus den Winkeln rinnen Tränen, die Zeilen verschwimmen, nein, nicht wegen Molterer und den Volten des Wiener Wahlkampfes, es ist diesmal nur der feine Sand der marokkanischen Wüste. Hätte ich doch noch länger auf den quecksilbernen Atlantik hinaus geschaut, die Möwen in ihrem Sturzflug beobachtet, auf ihre wilden Schreie gehört, wie sie sich in die kochenden Brecher stürzen, in unmöglichen Balanceakten in der Luft stehen bleiben und dabei kalte Lustschreie ausstoßen- der Balanceakt als eigentliches Lebensziel. Ob aus Sucht nach Selbstgeißelung oder Vollständigkeit eines Info-Junkies– ich plage mich damit ab, die Seite 1 mit der linken Hand in großem Bogen zurück zu schlagen, dabei mit rechts die Seiten 3-10 festzuhalten, den Papierbausch, den mir eine plötzliche, steife Brise ins Gesicht weht, abzuwehren, ihn mit Kinn und Nase anzustoßen und blitzschnell nach hinten zu klappen, bis ich den ganzen ersten Teil sicher in der linken Hand einfangen kann. Leider bin ich nicht so geschickt wie die Möwen, wenn sie im Hafen die von den Fischern in die Luft geschleuderten Fischstücke mühelos im Flug auffangen. Die verrutschten inneren Seiten würde ich wohl an einem windstilleren Ort wieder in Ordnung bringen müssen. Aber immerhin gelingt es noch, mir die ganzseitige Spalte 6 über den „kreuzbraven Arbeiter und Pater Willi“ (Hände falten, Goschen halten) reinzuziehen, mich über die Journalistin Erna Lackner zu wundern, die glaubt, dass der österreichische Bundespräsident das Parlament auflösen kann (ob sie uns mit Russland oder Afghanistan verwechselt?), die Scharen der Bettlerbuben abzuwehren, die Tempo-Taschentücher oder gefälschte Antik-Münzen um einen Dirham anbieten, hinter vorgehaltenen Händen, halb im Rucksack verkrochen, eine Zigarette anzuzünden, die Sonne im hoch gepeitschten Atlantiks untergehen zu sehen und dabei an Österreich nach dem 28. September zu denken.
Wie leicht dagegen war der Artikel über die Expo in Saragossa auf der letzten Seite der windfreundlichen Beilage „Unternehmen“ zu lesen, in dem neben China (Olympia) und Schweden (Ikea) auch Österreich sein Schmalz abbekommt, so vorwurfsvoll, als sollte es nicht nur mit all seiner Expertise auch sein ganzes unverdientes Gebirgswasser abgeben: „Nicht sonderlich ernst nimmt es auch Österreich mit dem Thema der Expo (Wasser und nachhaltige Entwicklung). Das Alpenland, das einen großen Teil seines Strombedarfs mit klimaschonender Wasserkraft deckt, zieht die Darstellung als Land des Opernballs der Weitergabe seiner Expertise in umweltfreundlicher Nutzung von Wasser vor.“ (S.14) Ob Marokko in Saragossa seine Windkraft nachhaltig darstellt oder auch eher auf seine 1000 -und -eine- Nacht zurückgreift, erfahre ich von der FAZ heute nicht mehr. Vielleicht sinne ich später noch mehr den Navigationskünsten der Möwen und ihren luftigen Balanceakten nach als den verwehten Finanzmärkten oder den Marokko-Cliches.
Als die Sonne ganz in den Atlantik eintaucht, wird mir im Spaghetti-Hemd auf dem Moulay el Hassan-Platz unter den spanischen Kanonen so kalt, dass ich mit statt des alizee den chergui herwünsche, den heißen Wüstenwind der Sahara oder zum ersten Mal die Marokkanerinnen in ihren bodenlangen Djellabahs, Kopftüchern, wollenen Untergewändern und Chaik-Ganzkörperschleiern beneide. Die ewige Frage der Westler, ob sie in ihren fünffachen Kleiderschichten nicht auch schwitzen, hat sich zumindest für diesen Abend und diesen Ort erledigt. An den Kasbah-Mauern wiegen sich die hohen Dattelpalmen schon in der Abendbrise, während darüber die Neumondsichel aufsteigt und die Möwen noch immer mit ätherischer Leichtigkeit durch den samtblauen Himmel segeln. Über dem Torbogen des Bab es Seeda prangt das schönste Stadtwappen der Welt: 3 Dattelpalmen, 3 fedrige Araucaria-Bäume und dazwischen 3 Mondsicheln.
Die Artikel im Feuilleton über die neue, laut FAZ verunglückte, Barocksammlung im Wiener Belvedere (S 35) und die Finanzierung von Sigmund Freuds psychoanalytischem Verlag durch den Patienten und ungarischen Kriegsgewinnler (Bierbrauer!) Anatal Freund von Toszeg ( Geisteswissenschaften SN 3) löse ich in einer kurzen Sturmpause schnell aus dem Zeitungswust heraus und hebe sie mir für das windstille Atrium des „Lalla Mira“ in der Rue Agadir auf, des 1. Biohotels Essaouiras (unter deutscher Führung, natürlich, ohne Klimaanlage, dafür mit sonnenbetriebener Fußbodenheizung, Pamuk-Matratzen und Bio-Frühstück aus Eigenanbau), in dem das FAZ-Lesen wieder zu einer ganz alltäglichen Sache wird.
So wie die Politik in Österreich.
Jeder weiß es: das FAZ, - ZEIT- oder Times-Lesen in Flugzeugen, Zugabteilen oder an Kaffeehaustischen braucht viel Übung, Umsicht und Geschicklichkeit. Im Wind von Essaouira wird es ein Kunststück von akrobatischen Ausmaßen. Ich weiß noch nichts von diesem Wagnis und stürze mich auf den Kommentar „Bruch in Wien“ auf Seite 1, rechts oben, die ganze dicke Zeitung zum A 4-Format gefaltet, mit der rechten Hand sicher erfasst, und mit der linken die Espresso-Tasse. Die Artikel „Koalition in Wien zerbrochen“ und „ÖVP und SPÖ einig über Neuwahlen“ in den Spalten 2, 3 und 4 auf Seite 1 sind noch eine relativ einfache Sache. Aber nach den ersten Zeilen über der Seitenmitte hinaus muss ich die Zeitung umschlagen, für Spalte 2 und 3 zurück hinauf und wieder hinunter in den linken Teil der unteren Hälfte “Gusenbauer war von Anfang an umstritten“ ( kleingedruckt, Fortsetzung S 2, siehe auch Seiten 3 und 10) „So gehen die politikverdrossenen Österreicher eben in die nächste Wahl“ – ist der letzte Satz, den ich noch fast so deutlich und ruhig lesen kann, als säße ich im Cafe Korb auf dem Wiener Kohlmarkt. Der Wind rüttelt noch nicht viel stärker an meinen Blätterwald, als wenn ein A 1-Bus, ein Fiaker-Konvoi und ein japanischer Touristenschwall durch die Tuchlauben ziehen würden. Auf dem zum Atlantik offenen Moulay el Hassan-Platz beginne ich nun ein verzweifeltes Unternehmen: das Umblättern. A 4 muss ich zu A 3 auffalten, dann in die ganze Größe von A 2 bringen, um auf die Seite 2 zu gelangen. Kaum öffne ich die Blätter nur einen winzigen Spalt, fährt der Wind von hinten und von vorne gleichzeitig hinein und trägt flugs die Bögen 3 – 8 über den Platz davon. Zuerst sehe ich machtlos ihrem Flug zu, wie sie sich unter die Möwenschwärme mischen. Aber dann springe ich ihnen nach, stoße dabei Kaffee und Wasser um und sprinte über den Platz zwischen die spielenden Kinder, Touristenscharen und Fezträger. Endlich kriege ich die Blätter an ein paar Babouchen-Schlapfen unter einer männlichen Djellabah zu fassen und kehre siegreich ins Cafe zurück, wo sich in der Zwischenzeit der große FAZ-Rest zwischen den Tischbeinen verfangen hat, von mageren Streunerkatzen neugierig beschnuppert, ob nicht vielleicht darin ein Fisch eingewickelt sei. Die Seiten des Finanzmarktes hat es so weit Richtung Atlantik hinausgeweht, dass ich ihnen nicht mehr nachsetze. Sie schweben in unruhigen Zuckungen über die Place Orson Wells, bei weitem nicht so schön und elegant wie die Möwen von Essaouira oder die gelbgrünen Drachen der Kinder an der Hafenmole. Obwohl ich diese Beilage auch früher nie aufgeschlagen, geschweige denn gelesen habe, war ich doch immer bemüht, die Zeitung im Ganzen, geordnet und im ursprünglichen Falz ruhend, abzulegen oder weiterzugeben.
Endlich habe ich den Kampf mit dem launenhaften Passatwind um die Fortsetzung von Seite 1 in Spalte 6 auf Seite 2 gewonnen. Das nicht mehr ganz glatte und rechtwinkelige Papier vermutet als Wahltermin den 28. September. Vor dem Übergang zur schwierigen Seite 3 will ich mich noch erholen. Am oberen Rand lasse ich meinen Blick über die Gebäude der Attijariwafa banque, des Credit du Maroc und der Western Union streifen, da tippt mich eine alte, tief gebückte Frau leicht an die Schulter und streckt die Hand aus, eine Bettlerin, die das ihr zustehende „Zakat“ erhält, die vom Koran vorgeschriebene Leistung einer Wohltat oder Barmherzigkeit, erhoffe dafür das „Baraka“, das göttliche Glück, und lasse die Zeitung sinken; ich sehe den pittoresken Gnawa-Musikern zu, die sich vor dem Cafe aufbauen und nach einem kurzen Auftritt mit Fiedeln, Trommeln und Klappern ihren Obulus einsammeln. Jetzt parkt sich ein Rollstuhl vor dem Cafe ein, ein etwa 12jähriger Knabe hilft seinem Großvater aus dem Rollstuhl und geleitet ihn ehrerbietig von Tisch zu Tisch, selbstbewusst, anmutig und elegant beide und von allen akzeptiert und beschenkt. Das Umblättern ist kein Kinderspiel. „Aus Feinden wurden keine Partner“ über 5 aufeinander folgende Spalten mit 2 Fotos von Gu und Fay.
Eigentlich hätte ein urlaubender Österreicher beim düsteren Titel „Das Scheitern hat viele Vorboten – profitieren wird zunächst die FPÖ“ die FAZ resigniert zusammenfalten und tief im Rucksack verstauen sollen, anstatt sich zum auf Seite 10 angekündigten „ÖVP-Kandidat Molterer“ im Porträt-Zeitgeschehen durch zu kämpfen. Versuchen Sie einmal, ohne die FAZ aus den Fingern zu lassen, Wasser in ein Glas zu gießen und zum Mund zu führen, einen Zug aus der Zigarette zu machen und sich mit einem Schluck Kaffee Mut zu machen! Zwischen den Zähnen knirscht es, die Augen tränen, aus den Winkeln rinnen Tränen, die Zeilen verschwimmen, nein, nicht wegen Molterer und den Volten des Wiener Wahlkampfes, es ist diesmal nur der feine Sand der marokkanischen Wüste. Hätte ich doch noch länger auf den quecksilbernen Atlantik hinaus geschaut, die Möwen in ihrem Sturzflug beobachtet, auf ihre wilden Schreie gehört, wie sie sich in die kochenden Brecher stürzen, in unmöglichen Balanceakten in der Luft stehen bleiben und dabei kalte Lustschreie ausstoßen- der Balanceakt als eigentliches Lebensziel. Ob aus Sucht nach Selbstgeißelung oder Vollständigkeit eines Info-Junkies– ich plage mich damit ab, die Seite 1 mit der linken Hand in großem Bogen zurück zu schlagen, dabei mit rechts die Seiten 3-10 festzuhalten, den Papierbausch, den mir eine plötzliche, steife Brise ins Gesicht weht, abzuwehren, ihn mit Kinn und Nase anzustoßen und blitzschnell nach hinten zu klappen, bis ich den ganzen ersten Teil sicher in der linken Hand einfangen kann. Leider bin ich nicht so geschickt wie die Möwen, wenn sie im Hafen die von den Fischern in die Luft geschleuderten Fischstücke mühelos im Flug auffangen. Die verrutschten inneren Seiten würde ich wohl an einem windstilleren Ort wieder in Ordnung bringen müssen. Aber immerhin gelingt es noch, mir die ganzseitige Spalte 6 über den „kreuzbraven Arbeiter und Pater Willi“ (Hände falten, Goschen halten) reinzuziehen, mich über die Journalistin Erna Lackner zu wundern, die glaubt, dass der österreichische Bundespräsident das Parlament auflösen kann (ob sie uns mit Russland oder Afghanistan verwechselt?), die Scharen der Bettlerbuben abzuwehren, die Tempo-Taschentücher oder gefälschte Antik-Münzen um einen Dirham anbieten, hinter vorgehaltenen Händen, halb im Rucksack verkrochen, eine Zigarette anzuzünden, die Sonne im hoch gepeitschten Atlantiks untergehen zu sehen und dabei an Österreich nach dem 28. September zu denken.
Wie leicht dagegen war der Artikel über die Expo in Saragossa auf der letzten Seite der windfreundlichen Beilage „Unternehmen“ zu lesen, in dem neben China (Olympia) und Schweden (Ikea) auch Österreich sein Schmalz abbekommt, so vorwurfsvoll, als sollte es nicht nur mit all seiner Expertise auch sein ganzes unverdientes Gebirgswasser abgeben: „Nicht sonderlich ernst nimmt es auch Österreich mit dem Thema der Expo (Wasser und nachhaltige Entwicklung). Das Alpenland, das einen großen Teil seines Strombedarfs mit klimaschonender Wasserkraft deckt, zieht die Darstellung als Land des Opernballs der Weitergabe seiner Expertise in umweltfreundlicher Nutzung von Wasser vor.“ (S.14) Ob Marokko in Saragossa seine Windkraft nachhaltig darstellt oder auch eher auf seine 1000 -und -eine- Nacht zurückgreift, erfahre ich von der FAZ heute nicht mehr. Vielleicht sinne ich später noch mehr den Navigationskünsten der Möwen und ihren luftigen Balanceakten nach als den verwehten Finanzmärkten oder den Marokko-Cliches.
Als die Sonne ganz in den Atlantik eintaucht, wird mir im Spaghetti-Hemd auf dem Moulay el Hassan-Platz unter den spanischen Kanonen so kalt, dass ich mit statt des alizee den chergui herwünsche, den heißen Wüstenwind der Sahara oder zum ersten Mal die Marokkanerinnen in ihren bodenlangen Djellabahs, Kopftüchern, wollenen Untergewändern und Chaik-Ganzkörperschleiern beneide. Die ewige Frage der Westler, ob sie in ihren fünffachen Kleiderschichten nicht auch schwitzen, hat sich zumindest für diesen Abend und diesen Ort erledigt. An den Kasbah-Mauern wiegen sich die hohen Dattelpalmen schon in der Abendbrise, während darüber die Neumondsichel aufsteigt und die Möwen noch immer mit ätherischer Leichtigkeit durch den samtblauen Himmel segeln. Über dem Torbogen des Bab es Seeda prangt das schönste Stadtwappen der Welt: 3 Dattelpalmen, 3 fedrige Araucaria-Bäume und dazwischen 3 Mondsicheln.
Die Artikel im Feuilleton über die neue, laut FAZ verunglückte, Barocksammlung im Wiener Belvedere (S 35) und die Finanzierung von Sigmund Freuds psychoanalytischem Verlag durch den Patienten und ungarischen Kriegsgewinnler (Bierbrauer!) Anatal Freund von Toszeg ( Geisteswissenschaften SN 3) löse ich in einer kurzen Sturmpause schnell aus dem Zeitungswust heraus und hebe sie mir für das windstille Atrium des „Lalla Mira“ in der Rue Agadir auf, des 1. Biohotels Essaouiras (unter deutscher Führung, natürlich, ohne Klimaanlage, dafür mit sonnenbetriebener Fußbodenheizung, Pamuk-Matratzen und Bio-Frühstück aus Eigenanbau), in dem das FAZ-Lesen wieder zu einer ganz alltäglichen Sache wird.
So wie die Politik in Österreich.
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