Donnerstag, 4. Februar 2010

Auf der Place Moulay el Hassan

Die marokkanische Atlantikstadt Essaouira, portugiesisch Mogador, arabisch as-Sawirah (die Vollendete) ist für vieles bekannt: seine vollständig erhaltene Medina aus dem 18. Jahrhundert, ihre weiß-blauen Paläste und Häuser, ihre roten Stadtmauern, auf der noch Kanonen von Philipp II. stehen, die schönen und freundlichen Menschen, die lokalen Kunsthandwerker und afrikanischen Musiker, ihre Toleranz und Weltoffenheit, die sie in den späten 60- und 70er-Jahren zu einem Hippie-Mekka werden ließ. Wer es weiß und die Augen zusammen kneift, kann vom Strand aus am Südende der Bucht noch Jimmy Hendrix`s verlassene Villa erkennen. Über all dem wehen ständig heftige Passatwinde, die alizee, die einen so anmutig klingenden Namen haben und sich in diesen Julitagen zum Sturm aufblasen. Das Atlantikwasser ist kälter als die Donau im Sommer, in der flachen Dünung tummeln sich die Kitesurfer, den wenigen Sonnenbadern verklebt der feine Goldsand alle Körperritzen, nur die Kamele sind gerüstet: sie klappen ihre Nüstern zusammen und fahren mit ihrem Doppellid wie mit einem Scheibenwischer über die Augen. Ich habe Angst, dass hier sogar alte Freundschaften versanden. Wir flüchten vor dem Sandsturm hinter die dicken Kasbah-Mauern und stürzen uns in den Touristenstrom der Medina. In der ziemlich eleganten Derb Laalouj-Scala-Straße reihen sich die Antiquitäten,-Teppich- und Schmuckläden wie die bunten Steine einer Berberkette aneinander. Vom unwiderstehlichen Duft der Kräuter, Seifen, Rosenwasser und Öle angezogen, bleiben wir bei einem Geschäft stehen. Sofort lädt uns ein junger Mann zum Eintreten ein mit der ersten Standardfrage: Francais? No, Autriche. Autriche? Ou es Autriche? Vienne, EM, Spanien, Fußball sagen ihm nichts, was beweist, dass nicht alle Marokkaner Fußballfans sind. Nun will er wissen, welche berühmten Österreicher es denn gäbe. Meinem Freund fällt als erstes Mozart ein. Mousad? Klingt wie ein arabischer Vorname, ist ihm vertraut, aber war der ein Österreicher? Der junge Mann spricht uns Mouzad, nach, hat aber so seine Zweifel. Gibt es nicht noch einen anderen großen Österreicher? Ich denke nach und ergänze Freud, Sigmund Freud. Fröd, Mouzad, Fröd, spricht er nach. Ah, Mousadfröd, Mousadfröd memoriert er lerneifrig und schüttelt uns die Hand. Jetzt haben wir Freundschaft geschlossen, trotzdem macht er kein Geschäft mit uns, weil wir nur schauen und nichts kaufen wollen. Als wir später noch einmal an seinem Laden vorbei gehen, strahlt uns der Verkäufer schon von weitem an und kräht uns schallend Mousadfröd, Mousadfröd! seine neue Spracherrungenschaft entgegen. Wir sind auch ganz glücklich über soviel Kulturaustausch, da geht auf meinem Handy eine SMS ein: „Gusi zurückgetr, Fay Spitzenkand, Neuwah Sept, oh Graus.“ Mit Ungeduld warte ich am nächsten Tag im Buro du Tabac am Kasbah-Tor Bab es Seeba auf die ausländischen Zeitungen. Die marokkanischen und Le Monde werden immer schon am Vormittag angeliefert. Der Ständer quillt über von veralteten BILD-Ausgaben, die NZZ ist noch älter und dazu überteuert. Weil ich schon so lange um den Kiosk herum gelungert bin, einige Zigarettenpäckchen, überflüssige Ansichtskarten und 5 CDs gekauft habe, setze ich mich gegen ein norddeutsches Paar durch und ergattere das einzige Exemplar der FAZ vom 9. Juli 2008 – Julias Geburtstag nebenbei. Glücklich wie ein Großwildjäger lasse ich mich damit im Cafe „Möwe von Essaouira“ auf der Place Moulay el Hassan nieder.
Jeder weiß es: das FAZ, - ZEIT- oder Times-Lesen in Flugzeugen, Zugabteilen oder an Kaffeehaustischen braucht viel Übung, Umsicht und Geschicklichkeit. Im Wind von Essaouira wird es ein Kunststück von akrobatischen Ausmaßen. Ich weiß noch nichts von diesem Wagnis und stürze mich auf den Kommentar „Bruch in Wien“ auf Seite 1, rechts oben, die ganze dicke Zeitung zum A 4-Format gefaltet, mit der rechten Hand sicher erfasst, und mit der linken die Espresso-Tasse. Die Artikel „Koalition in Wien zerbrochen“ und „ÖVP und SPÖ einig über Neuwahlen“ in den Spalten 2, 3 und 4 auf Seite 1 sind noch eine relativ einfache Sache. Aber nach den ersten Zeilen über der Seitenmitte hinaus muss ich die Zeitung umschlagen, für Spalte 2 und 3 zurück hinauf und wieder hinunter in den linken Teil der unteren Hälfte “Gusenbauer war von Anfang an umstritten“ ( kleingedruckt, Fortsetzung S 2, siehe auch Seiten 3 und 10) „So gehen die politikverdrossenen Österreicher eben in die nächste Wahl“ – ist der letzte Satz, den ich noch fast so deutlich und ruhig lesen kann, als säße ich im Cafe Korb auf dem Wiener Kohlmarkt. Der Wind rüttelt noch nicht viel stärker an meinen Blätterwald, als wenn ein A 1-Bus, ein Fiaker-Konvoi und ein japanischer Touristenschwall durch die Tuchlauben ziehen würden. Auf dem zum Atlantik offenen Moulay el Hassan-Platz beginne ich nun ein verzweifeltes Unternehmen: das Umblättern. A 4 muss ich zu A 3 auffalten, dann in die ganze Größe von A 2 bringen, um auf die Seite 2 zu gelangen. Kaum öffne ich die Blätter nur einen winzigen Spalt, fährt der Wind von hinten und von vorne gleichzeitig hinein und trägt flugs die Bögen 3 – 8 über den Platz davon. Zuerst sehe ich machtlos ihrem Flug zu, wie sie sich unter die Möwenschwärme mischen. Aber dann springe ich ihnen nach, stoße dabei Kaffee und Wasser um und sprinte über den Platz zwischen die spielenden Kinder, Touristenscharen und Fezträger. Endlich kriege ich die Blätter an ein paar Babouchen-Schlapfen unter einer männlichen Djellabah zu fassen und kehre siegreich ins Cafe zurück, wo sich in der Zwischenzeit der große FAZ-Rest zwischen den Tischbeinen verfangen hat, von mageren Streunerkatzen neugierig beschnuppert, ob nicht vielleicht darin ein Fisch eingewickelt sei. Die Seiten des Finanzmarktes hat es so weit Richtung Atlantik hinausgeweht, dass ich ihnen nicht mehr nachsetze. Sie schweben in unruhigen Zuckungen über die Place Orson Wells, bei weitem nicht so schön und elegant wie die Möwen von Essaouira oder die gelbgrünen Drachen der Kinder an der Hafenmole. Obwohl ich diese Beilage auch früher nie aufgeschlagen, geschweige denn gelesen habe, war ich doch immer bemüht, die Zeitung im Ganzen, geordnet und im ursprünglichen Falz ruhend, abzulegen oder weiterzugeben.
Endlich habe ich den Kampf mit dem launenhaften Passatwind um die Fortsetzung von Seite 1 in Spalte 6 auf Seite 2 gewonnen. Das nicht mehr ganz glatte und rechtwinkelige Papier vermutet als Wahltermin den 28. September. Vor dem Übergang zur schwierigen Seite 3 will ich mich noch erholen. Am oberen Rand lasse ich meinen Blick über die Gebäude der Attijariwafa banque, des Credit du Maroc und der Western Union streifen, da tippt mich eine alte, tief gebückte Frau leicht an die Schulter und streckt die Hand aus, eine Bettlerin, die das ihr zustehende „Zakat“ erhält, die vom Koran vorgeschriebene Leistung einer Wohltat oder Barmherzigkeit, erhoffe dafür das „Baraka“, das göttliche Glück, und lasse die Zeitung sinken; ich sehe den pittoresken Gnawa-Musikern zu, die sich vor dem Cafe aufbauen und nach einem kurzen Auftritt mit Fiedeln, Trommeln und Klappern ihren Obulus einsammeln. Jetzt parkt sich ein Rollstuhl vor dem Cafe ein, ein etwa 12jähriger Knabe hilft seinem Großvater aus dem Rollstuhl und geleitet ihn ehrerbietig von Tisch zu Tisch, selbstbewusst, anmutig und elegant beide und von allen akzeptiert und beschenkt. Das Umblättern ist kein Kinderspiel. „Aus Feinden wurden keine Partner“ über 5 aufeinander folgende Spalten mit 2 Fotos von Gu und Fay.
Eigentlich hätte ein urlaubender Österreicher beim düsteren Titel „Das Scheitern hat viele Vorboten – profitieren wird zunächst die FPÖ“ die FAZ resigniert zusammenfalten und tief im Rucksack verstauen sollen, anstatt sich zum auf Seite 10 angekündigten „ÖVP-Kandidat Molterer“ im Porträt-Zeitgeschehen durch zu kämpfen. Versuchen Sie einmal, ohne die FAZ aus den Fingern zu lassen, Wasser in ein Glas zu gießen und zum Mund zu führen, einen Zug aus der Zigarette zu machen und sich mit einem Schluck Kaffee Mut zu machen! Zwischen den Zähnen knirscht es, die Augen tränen, aus den Winkeln rinnen Tränen, die Zeilen verschwimmen, nein, nicht wegen Molterer und den Volten des Wiener Wahlkampfes, es ist diesmal nur der feine Sand der marokkanischen Wüste. Hätte ich doch noch länger auf den quecksilbernen Atlantik hinaus geschaut, die Möwen in ihrem Sturzflug beobachtet, auf ihre wilden Schreie gehört, wie sie sich in die kochenden Brecher stürzen, in unmöglichen Balanceakten in der Luft stehen bleiben und dabei kalte Lustschreie ausstoßen- der Balanceakt als eigentliches Lebensziel. Ob aus Sucht nach Selbstgeißelung oder Vollständigkeit eines Info-Junkies– ich plage mich damit ab, die Seite 1 mit der linken Hand in großem Bogen zurück zu schlagen, dabei mit rechts die Seiten 3-10 festzuhalten, den Papierbausch, den mir eine plötzliche, steife Brise ins Gesicht weht, abzuwehren, ihn mit Kinn und Nase anzustoßen und blitzschnell nach hinten zu klappen, bis ich den ganzen ersten Teil sicher in der linken Hand einfangen kann. Leider bin ich nicht so geschickt wie die Möwen, wenn sie im Hafen die von den Fischern in die Luft geschleuderten Fischstücke mühelos im Flug auffangen. Die verrutschten inneren Seiten würde ich wohl an einem windstilleren Ort wieder in Ordnung bringen müssen. Aber immerhin gelingt es noch, mir die ganzseitige Spalte 6 über den „kreuzbraven Arbeiter und Pater Willi“ (Hände falten, Goschen halten) reinzuziehen, mich über die Journalistin Erna Lackner zu wundern, die glaubt, dass der österreichische Bundespräsident das Parlament auflösen kann (ob sie uns mit Russland oder Afghanistan verwechselt?), die Scharen der Bettlerbuben abzuwehren, die Tempo-Taschentücher oder gefälschte Antik-Münzen um einen Dirham anbieten, hinter vorgehaltenen Händen, halb im Rucksack verkrochen, eine Zigarette anzuzünden, die Sonne im hoch gepeitschten Atlantiks untergehen zu sehen und dabei an Österreich nach dem 28. September zu denken.

Wie leicht dagegen war der Artikel über die Expo in Saragossa auf der letzten Seite der windfreundlichen Beilage „Unternehmen“ zu lesen, in dem neben China (Olympia) und Schweden (Ikea) auch Österreich sein Schmalz abbekommt, so vorwurfsvoll, als sollte es nicht nur mit all seiner Expertise auch sein ganzes unverdientes Gebirgswasser abgeben: „Nicht sonderlich ernst nimmt es auch Österreich mit dem Thema der Expo (Wasser und nachhaltige Entwicklung). Das Alpenland, das einen großen Teil seines Strombedarfs mit klimaschonender Wasserkraft deckt, zieht die Darstellung als Land des Opernballs der Weitergabe seiner Expertise in umweltfreundlicher Nutzung von Wasser vor.“ (S.14) Ob Marokko in Saragossa seine Windkraft nachhaltig darstellt oder auch eher auf seine 1000 -und -eine- Nacht zurückgreift, erfahre ich von der FAZ heute nicht mehr. Vielleicht sinne ich später noch mehr den Navigationskünsten der Möwen und ihren luftigen Balanceakten nach als den verwehten Finanzmärkten oder den Marokko-Cliches.

Als die Sonne ganz in den Atlantik eintaucht, wird mir im Spaghetti-Hemd auf dem Moulay el Hassan-Platz unter den spanischen Kanonen so kalt, dass ich mit statt des alizee den chergui herwünsche, den heißen Wüstenwind der Sahara oder zum ersten Mal die Marokkanerinnen in ihren bodenlangen Djellabahs, Kopftüchern, wollenen Untergewändern und Chaik-Ganzkörperschleiern beneide. Die ewige Frage der Westler, ob sie in ihren fünffachen Kleiderschichten nicht auch schwitzen, hat sich zumindest für diesen Abend und diesen Ort erledigt. An den Kasbah-Mauern wiegen sich die hohen Dattelpalmen schon in der Abendbrise, während darüber die Neumondsichel aufsteigt und die Möwen noch immer mit ätherischer Leichtigkeit durch den samtblauen Himmel segeln. Über dem Torbogen des Bab es Seeda prangt das schönste Stadtwappen der Welt: 3 Dattelpalmen, 3 fedrige Araucaria-Bäume und dazwischen 3 Mondsicheln.

Die Artikel im Feuilleton über die neue, laut FAZ verunglückte, Barocksammlung im Wiener Belvedere (S 35) und die Finanzierung von Sigmund Freuds psychoanalytischem Verlag durch den Patienten und ungarischen Kriegsgewinnler (Bierbrauer!) Anatal Freund von Toszeg ( Geisteswissenschaften SN 3) löse ich in einer kurzen Sturmpause schnell aus dem Zeitungswust heraus und hebe sie mir für das windstille Atrium des „Lalla Mira“ in der Rue Agadir auf, des 1. Biohotels Essaouiras (unter deutscher Führung, natürlich, ohne Klimaanlage, dafür mit sonnenbetriebener Fußbodenheizung, Pamuk-Matratzen und Bio-Frühstück aus Eigenanbau), in dem das FAZ-Lesen wieder zu einer ganz alltäglichen Sache wird.
So wie die Politik in Österreich.



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