Donnerstag, 4. Februar 2010

Jüdisches Museum 29.10.09

Vortrag zu Malach-Buch

Sehr geehrte Damen und Herren!
Lieber Isaak Michailowitsch!

Es ist eine große Freude und Ehre für mich, Ihnen das Buch von Isaak Michailowitsch Malach vorstellen zu dürfen. Als mich Konstantin Kaiser vor einem Jahr fragte, ob ich eine deutsche Fassung – nach seiner langwierigen Bearbeitung - und das Nachwort zu einem russischen Kriegsmemoiren-Buch übernehmen würde, fiel ich zuerst fast in einen Schockzustand bei so viel Zufall oder - Schicksal? Denn es war genau 40 Jahre her, seit ich auf der Wiener Slawistik als Dissertationsthema über die Memoirenliteratur zum „Großen Vaterländischen Krieg“ zu arbeiten begann. Bald stellte sich jedoch heraus, dass damals in der Sowjetunion noch zuwenig offizielle Literatur zur Verfügung stand und ich von Wien aus zum Samizdat nur schwer Zugang fand, so dass ich später ein anderes Thema zu Ende führte.
Es existierte damals fast nur die so genannte Generalsliteratur, die Triumphliteratur von oben. Die kritische Auseinandersetzung mit dem 2. WK wie etwa von Vassilij Grossman, Lew Kopelew, Alexander Solschenizyn, Anatolij Rybakow, Ilja Ehrenburg oder Natalija Ginzburg hatte noch nicht das Licht der Welt erblickt, lag in den Verliesen des KGB oder in den geheimen Schubladen der Autoren. Manches wird auch mit ihnen in die Gräber gesunken sein.
Auch die Literatur von unten, die so genannte Leutnants-Literatur, die Erinnerungen der einfachen Soldaten, der Panzerfahrer, der Kampfpiloten und der Lazaretthelferinnen kam erst viel später.
Seit der Gorbatschow`schen Glasnost ab Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist die Flut an Titeln unüberschaubar geworden, wurden Dissidenten neu oder erstmals aufgelegt, von der Leningrader Belagerung bis zum letzten Schützengraben blieb fast nichts unbehandelt.
2 Themen scheinen mir allerdings bis jetzt ausgespart zu sein: Kindheit im Krieg und der sowjetische Antisemitismus.
Es ist ein großes Verdienst des Isaak Michailowitsch Malach, dass er sich der Mühe - ich würde sagen - der Tortur des Erinnerns unterzog.
Jahrzehnte nach der eigenen Kindheit, in denen so vieles passiert ist erlebt und erlitten wurde, in denen Weltreiche eingestürzt und Landkarten verändert wurden, in denen sich tiefe Einschnitte im persönlichen Leben aufgetan haben und viele Abschiede überlebt wurden.
Das Erinnern, jedes Erinnern ist ein komplizierter Prozess; die Erinnerungen können verblassen, sich verändern oder sich – nach Karl Kraus- ganz entziehen, je näher man hinschaut. Nur eines lässt nie nach und bleibt immer deutlich: der Schmerz des Verlustes.
Malach hat die Methode gewählt, das Kind Issja von vor mehr als 60 Jahren, als er 5, 6, 7 und 8 Jahre alt war, noch einmal an die Hand zu nehmen, sich mit ihm einzulassen, nachzusehen und nachzufühlen, wie es diesem Kind damals ging. Er tut dies auf Augenhöhe mit seinem Kind, ohne vor ihm in die Knie zu gehen. Der große Vorzug dieser Methode liegt darin, dass ein Kind die Welt zum ersten Mal sieht und es aus der Kindperspektive Dinge sagen kann, die sich anders nicht oder kaum darstellen lassen. Das Grauen des Krieges wird durch den unwissenden, „unschuldigen“ und unverstellten Kinderblick nicht verniedlicht, sondern im Gegenteil noch unheilvoller, eindringlicher, verstörender.

Isaak Michailowitsch Malach wird 1936 in einer jüdischen, angepasst-sowjetischen Familie in der westukrainischen Kleinstadt Tschundnow geboren.
Den deutschen Überfall auf die Sowjetunion erlebt er als 5-Jähriger an der vordersten Front. Der Vater wird eingezogen, der Mutter gelingt mit ihren 2 Kindern die entbehrungsreiche Flucht in den Osten, zuerst nach Aralsk, später weiter in die usbekische Wüste, wo sie bis Kriegsende bleiben.
So genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind. Wir versuchen, die Wirklichkeit wieder zu geben, aber je angestrengter wir es versuchen, desto mehr drängt sich uns das auf, was auf den historischen Theaterbühnen von jeher zu sehen war: hin und her wallende Schlachtfelder, ein sterbender Infanterist, der noch einen anderen niedersticht, das brechende Auge eines Pferdes, ein brennender Panzer, der unverwundbare Führer.
Unsere Beschäftigung mit Geschichte ist eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, auf die wir andauernd starren, während die Wahrheit irgend wo anders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt.
Issja wird ein Bild nie vergessen- und der Leser seines Buches auch nicht: das Bild vom Sarg der geliebten kleinen Schwester Lolja, die unterwegs an Unterernährung und Lungenentzündung stirbt: ein gleichgültiger Totengräber verscharrt das Holzkistchen im fliegenden Sand der Wüste. Kurz tanzt noch eine kleine Sandhose über der Mulde, aber schon nach wenigen Augenblicken ist die Stelle verweht und die Spur der Schwester für immer von der Erdoberfläche verschwunden. Auch das ist ein Gesicht des Krieges, abseits von den großen Schlachten. In solchen Momenten öffnet sich der ganze Abgrund einer Kriegszeit, und Malachs Erinnerungen werden zu großer, bleibender Literatur.

Hunger, Durst, Krankheiten und Schwerarbeit können nicht quälender sein als die Ungewissheit über das Schicksal der in den besetzten Gebieten Zurückgeliebenen. Als die Familie nach Kriegsende in Lemberg wieder zusammen findet, ist es Gewissheit: die gesamte Familie der Mutter wurde schon in den allerersten Kriegstagen von erschossen, und auch auf der väterlichen Seite fordert der Krieg noch Jahre später seine Opfer: durch Sucht, Selbstmord oder Wahnsinn.
Issja ist ein hoch begabtes Kind, vor allem sein gutes Gedächtnis und seine schöne Stimme fallen auf, einer Sängerkarriere scheint nichts im Wege zu stehen. Aber immer wieder trifft er auf unerklärliche Hindernisse für sein Weiterkommen: eine falsch behandelte Krankheit wirft ihn aus der Sängerlaufbahn, ein ungeliebtes Technikstudium wird gegen seinen Willen erzwungen.
Hier endet – muss enden – die Kindperspektive, denn das Kind kann nichts wissen von den antisemitischen Kampagnen Stalins, angefangen von der Zerschlagung des jüdischen antifaschistischen Komitees, der Ermordung seines berühmtesten Repräsentanten Solomon Michoels bis zur Ärztekampagne kurz von Stalins Tod. Die Trauer darüber blieb privat und unausgesprochen, der Massenmord an den Juden auf dem Gebiet der Sowjetunion war tabu und ist es bis heute mehr oder weniger geblieben. Denn unter Stalin herrschte die Maxime: es gibt nur ein Opfer, das sowjetische Volk; Stalin ließ keine Erwähnung, kein Gedenken und keine Ehrung von Gruppen- oder Separat-Opfern zu. Das an Denkmälern so reiche Russland hat bis jetzt keines für seine jüdischen Opfer, keine Gedenkstätte und mit Not angebrachte Gedenktafeln werden nach kürzester Zeit zerstört. Der übergroße Anteil sowjetischer Juden am Befreiungskampf – vom einfachen Soldaten über todesmutige Kampfpiloten bis in die höchsten Ränge der Armee, in der Kultur und der Wissenschaft – blieb unerwähnt oder wurde gar geleugnet. Begriffe wie „Holocaust“ oder „Shoa“ waren noch im gewendeten Russland der 90er Jahre unverständliche Fremdworte. Der erwachsene, wissende Erzähler hadert zu Recht mit dieser sowjetisch/ russischen Praxis der Geschichtsfälschung, entfernt sich damit aber weit von der Erinnerungsposition des Kindes. Der Autor verlässt das enge Spektrum des authentischen Erinnerns und schildert, wie er sich schon früh und unter gossen Schwierigkeiten ein Privatwissen über den Holocaust aneignete. Aber damit stellt er die großen Zusammenhänge her, die seinem Thema angemessen sind. Diesen Perspektiven-Brüchen begegnet der Autor mit der Einführung eines „running gag“ und der aus dem Film entlehnten Techniken von Schnitt, Rückblende und Überblendung.

Nach seiner Emigration 1972 nach Wien arbeitet Malach als Ordner im Jüdischen Museum, in dem gerade eine Ausstellung über den Holocaust gezeigt wird. Er schreitet einen Saal ab, 30 Schritte vorwärts, 30 Schritte zurück, von einer Wand zur anderen: Nie stehen bleiben, nie niedersetzen, immer freundlich antworten, auf Provokationen nicht reagieren, dabei das Geschwätz der Schulklassen und ihrer Lehrer im Ohr, und immer gleichzeitig konfrontiert mit den Totenmasken von Opfern, die sich in den Spiegeln ins Unendliche zu vervielfältigen scheinen. Sind das vielleicht die Gesichter seiner ermordeten Verwandten? Es werden immer mehr, sie kommen einfach daher, dringen durch die geschliffenen Spiegel, als wären sie nicht tot, er hat keine Kraft, sie abzuwehren, sie drohen ihn mit zu reißen. Dazwischen tauchen die Gesichter der Angeklagten im Nürnberger Prozess in seinem Gedächtnis auf, Fratzen, die eitel ins Scheinwerferlicht lächeln, vor Langeweile Nasen bohren oder an ihren Goldbrillen rücken, sich als unschuldig, abhängig oder nur Befehlen gehorchend verteidigen. 30 Schritte vorwärts, 30 Schritte zurück. Ein grausamer, quälender Film in Endlosschleife. Mit solch kinematografischem Erzählen geht er den Geschehnissen auf den Grund. Ein Tip für Drehbuchautoren: ich meine, Isaak Malach hat schon ein Drehbuch für einen Film geschrieben.
In Rückblenden drängen dann wieder die ersten Kriegstage im Juni 1941 herauf: die deutschen Kampfflieger fliegen so tief, dass das fünfjährige Kind ihr Lächeln, ihre Abzeichen und Kappen in den gläsernen Kanzeln erkennen kann, oder die mit naiver Freude betrachteten Leuchtraketen, wie sie in aller Pracht im Abendhimmel verglühen, oder die vertrauten Lieder der Kinder im Bunker, bis er die Todesangst der Eltern, der Nachbarn und der panisch flüchtenden Rotarmisten wahrnimmt, mitfühlen und verstehen lernt. Der Krieg hat viele Gesichter. So wächst das Kind allmählich in das Grauen hinein. Das sind dichte Momentaufnahmen eines unvorstellbar schweren Lebens, das den Namen Kind-heit nicht verdient.
Dann: das mühsame Überleben in der usbekischen Wüste unter den eben erst zu Kolchosbauern gezwungenen Nomaden. Das offenbar intelligente und aufnahmebereite Kind Issja hat ein scharfes Auge für die großen zivilisatorischen Unterschiede zwischen den Flüchtlingen aus dem europäischen Teil und dem sowjetischen Osten. Zuerst gibt es nur das zweifache Sterben, das an den Fronten, von dem die Flüchtlinge nur wenig erfahren, und das alltägliche im Hinterland, an Entbehrungen, an Krankheiten, durch Mangel an Ärzten, Medikamenten und Transportmitteln, der allgemeinen Unterentwicklung und der lebensfeindlichen Natur Zentralasiens. Aber bei aller Armut und Primitivität erinnert er auch Freundschaften, Solidarität und Hilfsbereitschaft.
Malach zeichnet ein eindringliches Bild davon, dass der deutsche Überfall auf die Sowjetunion abseits von den bekannten Schlachtfeldern in allen Familien, in allen Landesteilen von Lemberg, Leningrad, Kursk und Stalingrad bis in die usbekischen Wüsten unermessliche Opfer gefordert hat. Von da nach dort und mittendrin, Issja, ein Kind des Krieges.

Von dem dritten großen Sterben – dem Massenmord an den sowjetischen Juden in den eroberten Gebieten- dringt kein Laut, kein Wort in Wüsten Usbekistans.
Ein Museumswärter geworden, 30 Schritte vor, 30 Schritte zurück zwischen den eleganten Spiegelwänden und dem Stuck an den Decken, die Füße schleifen über das blanke Parkett im Wald der Totenmasken seiner ermordeten Familie; hier ist Issja wieder ganz da in seiner Kindheit, allein mit seinem Erinnern, seinem Wissen und seiner Vergangenheit, die nie aufhört zu vergehen. Dazwischen baut der Autor seinen Text dicht und kunstvoll zusammen, wie eine Fuge, wie ein menschliches Weberschiffchen webt er seinen Teppich aus Schmerz und Trauer, von Spiegel zu Spiegel, angekettet im Käfig der Erinnerungen, und doch vielleicht erlöst durch sein erinnerndes Schreiben.

Dass Isaak Malachs Schaffen ein breites Spektrum hat, zeigen die Gedichte im zweiten Teil des Buches; darüber hinaus schreibt Isaak Malach Erzählungen und Essays in russischer Sprache. Er ist auch Vertoner seiner eigenen Verse. Die vielen persönlichen Fotos reichern das Familien- Buch an zu einem Buch über eine gemordete Epoche.

Ich wünsche dem Buch viele interessierte und einfühlsame Leser, und Ihnen, Isaak Michailowitsch, viel Erfolg und eine lange, gute Gesundheit! Vam, mnogouvashaemi Isaak Michailowitsch, uspechov i dolgowo, choroschewo zdorovja!


Und wenn ich schon mal hier stehe, möchte ich noch einen Wunsch äußern, oder vielleicht ist es eine Vision: dass es genügend Energie und Mittel geben möge, eine russische Version herzustellen, für einen Re-Import, eine Remigration sozusagen. Denn ein solches Buch fehlt bis jetzt in Russland.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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