Mittwoch, 7. Dezember 2016

Anfang und Ende oder: Was die Welt beheizt

Ein provisorischer Einspruch gegen Kafkas aphoristische Behauptung „Die Welt ist nicht geheizt“.

Das Erzählen dieser Geschichte hat einen großen Vorteil: Es kann mir niemand widersprechen. Denn wer von Ihnen war schon auf den Kurilen oder kennt jemanden, der diesen 1200 Kilomenter langen Inselbogen zwischen Hokkaido und Sachalin bereist hat? Gut, bezweifeln kann jeder immer alles, aber wer kann mit Gegenbeweisen das Gegenteil von dieser Erzählung behaupten?

Nein, ich selbst war auch noch nie auf den Kurilen, leider. Dafür aber mein russischer Freund Lew Nikolajewitsch G. - seine Freunde nannten ihn Lewnik oder Grof = Graf wegen seiner gleichlautenden Initialen mit Graf Tolstoi. Von Beruf war Lew Pilot beim sowjetischen Atomministerium gewesen. Er transportierte aber keine Passagiere, sondern die geheimsten Frachten für die Atomindustrie quer durch die Sowjetunion, von Uranbergwerken, Uranlagern, Aufbereitungsanlagen, Raketenfabriken und Atomkraftwerken - was soll ich wissen, wenn er es er nicht weiß - zu den verschiedenen Anwendungsorten. Von dieser ministeriumseigenen Fluglinie wusste niemand im Land, die Angestellten durften nicht einmal zu ihren Familien über ihren Arbeitsplatz und die Einsätze sprechen, auch nicht von den Orten, die sie anflogen. Diese lagen prinzipiell in den hunderten von geschlossenen Regionen, die keine Namen hatten, nur Nummern. Die Piloten bekamen immer erst kurz vor dem Abflug die Koordinaten genannt. Gorki zum Beispiel, Nishnij Nowgorod, ein Zentrum der Waffenproduktion, wo Andrej Sacharow exiliert war, hieß auf dieser ungeschriebenen Landkarte Nummer 108. Und selbst die Piloten hatten nur eine vage Ahnung, was sie in ihren Flugzeugen transportierten. Lew flog die größten Transportmaschinen von Tupolew kreuz und quer über dieses Sechstel der Erdoberfläche, vom Baltikum nach Wladiwostok, vom Eismeer in den Kaukasus. Sie flogen noch ohne Radar, nach Sicht und Berechnungen, und außer dem Kopiloten waren noch mindestens vier Techniker an Bord.
Lew war ein zweifach höchst ausgezeichneter Pilot, er war „Held der sowjetischen Arbeit“ und hatte den Lenin-Orden bekommen, zweimal hatte er durch seine rasche Reaktion eine Katastrophe verhindert: Einmal einen Zusammenstoß mit einem fehlgeleiteten Wetterflugzeug über Moskau und danach über dem Ural eine Kollision mit einem Verkehrsflugzeug. Niemand will sich vorstellen, was passieren hätte können mit dem radioaktiven Material an Bord. Die Welt hätte es auch damals nie erfahren.

Lew war ein leidenschaftlicher Pilot und erzählte gerne von seinen Flugabenteuern. Ich weiß nicht, ob er das durfte. Aber mit der Wende war das Atomministerium aufgelöst und er in Pension geschickt worden. Er fristete mit einer Minirente sein Leben und fuhr mit seinem schwarzen Wolga- ein Nachbau des Opel Kapitän - schwarz Taxi. So habe ich ihn kennengelernt, den schönsten und sanftesten Mann meines Lebens. Meine Freundin Marina, eine gefeierte Schauspielerin, selbst mit Schönheit ausgestattet und immer von Schönheit umgeben, flüsterte mir beim ersten Zusammentreffen ins Ohr:
Oh Gott, was hat Hollywood bloß ohne ihn gemacht?“
Mit seinen Erzählungen und Erklärungen heilte er mich schließlich von meiner lebenslangen Flugangst. Fast ganz. Auf seinem ersten Flug mit der AUA von Moskau nach Wien musste ich den Piloten anbetteln, dass er ihn ins Cockpit ließ und einige Zeit an seiner Seite sitzen ließ. Lew freute sich wie ein kleines Kind, er war ja noch nie in einem westlichen Flugzeug gewesen.
Zu Lews angenehmsten Erinnerungen gehören seine Flüge auf Kamtschatka, Sachalin und die Kurilen. Er war sehr oft dort, denn im Fernen Osten befanden sich besonders viele nummerierte Geheimorte.
Es nützte nichts, weiter in ihn zu dringen, er wusste es einfach nicht, ob er Atomraketen oder Uranstäbe an Bord hatte. Es belustigte ihn, als ich ihm erzählte, dass bei uns kein Pilot fliegen darf, wenn er nicht genau weiß, wer oder was er an Bord hat. Verkehrte Welten.
Während man Kamtschatka und Sachalin teilweise bereisen konnte, waren die Kurilen absolut geschlossene Territorien und sind es noch bis zum heutigen Tag.


Wenig bekannt ist, dass Stalin 1941 mit Japan einen Neutralitätspakt schloss, den er am 8. August 1945 aufkündigte, wenige Tage vor der Kapitulation, und umgehend mit der Eroberung der Kurileninseln begann.
Es besteht bis zum heutigen Tag kein Friedensvertrag zwischen Russland und Japan, das nach wie vor die Rückgabe seiner „Nordterritorien“ fordert.

Zu den fast vergessenen Kapiteln des 2. Weltkrieges gehört, dass die Sowjetunion keinen einzigen Schuss gegen Japan abgegeben hat und nur den USA im Rahmen des sogenannten „Hula-Projekts“ den Kampf gegen den japanischen Faschismus erlaubte. Von den gegenüberliegenden Aleuten aus bekämpften die USA Japan. Die Russen schauten zu und ließen sich gut bezahlen. Die Amerikaner lieferten der Roten Armee schweres Gerät für den Kampf im Westen.

Innerhalb von zwei Wochen eroberte die SU die vier großen Kurileninseln, von der südlichsten ….. kann man auf Hokkaido hinüberspucken. Lew erinnert sich an seine kuriose Vision: „Ich war fast in Japan.“
Die 17 300 Bewohner, Japaner und einheimische Ainu, ließen die Sowjets nach der Einnahme in verschiedene sibirische GULAGS transportieren. Alle kamen um.

Vielleicht war meinem Freund Lew die Liebe zum Fliegen schon mit seinem Geburtsdatum 8.8.45 in die Wiege gelegt, der Tag, an dem die sowjetische Invasion der Kurilen begann, allerdings weit weg von dort, in der Wolga-Stadt Samara, die damals Kuibyschew hieß.

Lew ist der einzige lebende Mensch, den ich kenne, der die Kurilen gesehen hat. Er konnte lebhaft davon erzählen und endlos schwärmen. Einmal hatte er zwischen Ankunft und Rückflug soviel Zeit, dass er von einem Stützpunkt auf der Hauptinsel Iturup einen Ausflug nach Shikotan machen konnte, für ihn die schönste der vier großen Inseln. Ich brauchte einige Zeit, um ihm zu glauben, dass die Kurilen das Paradies auf Erden sei. Immer wieder behauptete er das. Der Anfang der Welt, von dort kommt alles und endet.
Ich nahm ihm seine Schwärmerei einfach nicht ab, hatte er als Sowjetmensch doch bis zur Wende nie einen Schritt aus dem Arbeiter- und Bauernparadies heraus getan. Was wusste so einer schon von irdischen Paradiesen? Hawai, Neuseeland, Alaska?
Lewnik kam mit mir im Jahre 1999 zum ersten Mal nach Westeuropa. Als ich ihm mit meinem anglophilem Besitzerstolz die Kreideklippen von Dover zeigte, brach er in unbändiges Gelächter aus. Ich verstand nichts.
Und so was nennt ihr Klippen? Ein Strich in der Landschaft.“ Lew war nicht überheblich, aber er war andere Dimensionen gewohnt.
Mit mir war er zum ersten Mal im Bolshoi-Theater, im Tschaikowski-Konservatorium, in der St. Petersburger Eremitage und außerdem kannte er Tschechows Erzählung „Dame mit dem Hündchen“ nicht. Ich musste ihm im Schnelldurchgang auf dem Weg zum Moskauer Jugendtheater eine Inhaltsangabe geben, damit er etwas von dem dramatisierten Stück mitkriegte. Mit Lew hatte ich ein spätes, aber authentisches Exemplar des von Stalin proklamierten „Ingenieure der Seele“ kennengelernt, wie Stalin die Schriftsteller und Künstler benannt hatte. So definierte er „die stinkende Nummer 9“, die Intellektuellen ihren Platz im ersten 5-Jahresplan 1931.

Lew war zwar oft in den Hohen Norden geflogen, an viele Punkte der nördlichen 18 000 Kilometer langen Küste, wusste aber nie, ob es die Halbinsel Kola, Nowaja Zemlja (Franz-Josephs-Land) oder Tschukotka war.
Einmal war er sich sicher, dass er sich am Nordende des Ural befand. Unter den Schneemassen fanden sie noch Wald, Bäume. Seine Mannschaft und er gruben sie aus, sägten und deckten sich für Neujahr - Väterchen Frost- das sowjetische Ersatz-Weihnachten, mit Fichtenbäumchen ein. Auf diesem leeren Flug kannte er die ganze Fracht, sechs Fichtenbäumchen und eine Gruppe von Polarforschern, die er angewiesen wurde, zurück nach Moskau zubringen.
Einmal hatte er noch größere Gewissheit:
Auf einem frachtlosen Rückflug von Charkow nach Moskau hat er seine Pilotentasche ausgeräumt und mit den herrlichsten ukrainischen Herzkirschen angefüllt. Juni 1975, die Familie war glücklich. So etwas Köstliches, Frisches, gab es in Moskau nicht. Diese Erinnerung gefällt ihm selbst am besten.

Einmal hat der hochdekorierte Pilot beim Verlassen seines Hauses vergessen, den Müllsack in den Gully zu stecken, so transportierte er ihn drei Tage lang durch die Himmel über der Sowjetunion. Das war im Mai 1988, gerade als Präsident Reagan das Reich des Bösen besuchte.
Lew, eine absolute Ausnahme unter den russischen Männern, die ich kennengelernt habe. Er rauchte nicht, trank nicht und schaute auf seinen Körper, ohne eitel zu sein. Er war immer auf Wacht, immer dienstbereit, in bester Verfassung und dem Zustand. Sogar nackt hielt er die Uniform hoch und an.
Er machte das aber nicht eitel, für irgendwen oder was, sondern es war seine Natur. Diszipliniert, organisiert und immer rundum verantwortlich.

Er kichert fast, als er sich erinnert, dass nur Kosmonauten wie ein Gagarin höher bezahlt waren als er als Bomben-Pilot. Dreimal so hoch wie offiziell die Mitglieder des Obersten Sowjets. Mehr bekamen nur die Kosmonauten. Lew lag knapp unter ihnen.
Als die ersten russischen Forschungsreisenden in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts den Fernen Osten und die 1200 Kilometer lange Inselkette erreichten, nannten sie sie Kurilen, vom russischen kuritj= rauchen. Sie sahen nur himmelaufragende rauchende Schlote. Auf den 40 Inseln befinden sich 68 Vulkane, 36 davon aktiv und fast 100 submarine Vulkane. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine derartige Dichte an atmenden Bergen und Meeren. Mit 10 542 Metern unter dem Meeresspiegel liegt auch der tiefste Punkt der Erde in dieser Region, irgendwo zwischen Etorofu und Paramushir.
Was macht die Kurilen so besonders, fragte ich ihn immer und immer wieder. Es sind die vom Vulkanismus beeinflusste Geologie und Vegetation, meinte Lew, der wie gesagt, kein Naturwissenschafter, sondern Pilot und Augenzeuge war. Shikotan zeichnet sich durch eine Küste aus leuchtend weißen Kreidefelsen mit bizarren Formen aus, hunderte Meter hoch und steil wie ein gestärktes Tischtuch, nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Magnolienbäume und undurchdringlich dichte Wälder aus Kurilenkirschen, die weiten Wiesen sind mit hüfthohem, metallisch glänzendem Gras bedeckt, mit wilden rosa Wicken und gelber Schafgarbe, und über allem liegen Wolken von Wermutsduft. Wenn nicht plötzlich Nebel einfällt, kann sich das Auge an dem tief azurblauen Pazifik weiden. Die unterirdischen Vulkane im Ochotskischen Meer spucken ohne Ende Wasserfontänen und Rauch aus.
Wenn man Glück hat und viel Geduld, kann man die Geburt einer neuen Insel beobachten, die sich langsam aus dem Meer herausarbeitet. Es zischt und brodelt, es rauscht und stinkt, bis dann ein Lavahügel auftaucht, wie ein aus dem Ozean ragendes Ofenrohr.
Eine Besonderheit sind die kreisrunden, mehrfach gestaffelten Wolkenreifen über den Spitzen der Vulkane, wie riesige weiße Pudelmützen.
Was den praktischen Lew aber am meisten beeindruckte, waren die fischreichen Flüsse, von denen Shikotan durchzogen ist.
Stell dir vor, du stehst mit den Füßen im seichten Fluss und um dich brodelt und kocht es vor lauter Fischen, Lachse und Dorsche. Du kannst sie mit den Händen fangen. Sie kommen von der ganzen östlichen . Halbkugel zum Laichen auf die Kurilen. Die andere Hälfte schwimmt in Alaska den Yukon hoch. Kübelweise haben wir sie zum Flugzeug geschleppt. Im tiefen Wasser wimmelt es auch von Riesenkrabben und Hanasaki-Krebsen, die in Japan als heilig gelten.“

Lew war davon überzeugt, dass sich dort der Nabel der Welt befindet, der Anfang oder das Ende der Welt.
Warum, was machte ihn so sicher?
Einmal fiel Nebel ein, wir waren gerade mit einem Schiff zwischen Shikotan und Iturup unterwegs, da wurde der Himmel immer niedriger, bis er schließlich steil ins Meer abfiel, wie eine riesige, grünliche Wand aus dickem Glas. Es vermischten sich Nebel und Feuer, Tag und Nacht, Meer und Himmel. In diesem Augenblick wussten wir, dass wir das Ende der Welt gesehen haben, oder den Anfang. Wir waren bis zu diesem Punkt gelangt, wo sich die Wellen an dieser
Glaswand brachen, und dahinter war nichts, nur Leere.
Wir hielten mit dem Schiff unmittelbar an dieser Wand und berührten sie mit den Händen. Das Grauen vor dieser letzten Grenze schüttelte uns so, dass wir kein Wort sagten. Die Wand stand über uns in einer endlosen Wölbung und reichte in die Tiefe des Meeres, so weit man sehen konnte, und da...“
Lew hielt inne, er konnte lange nicht weitersprechen, er sah mich seltsam an, als überlegte er, ob ich ihm glauben oder wenigstens sein Geheimnis hüten würde.
Und da?“ fragte ich ungeduldig und spürte einen kalten Schauder, ohne zu wissen, warum.
Da sah ich ganz eindeutig, wenn auch wegen der Dicke der Wand und der Lichtbrechung etwas verschwommen, hinter dem Glas ein gewaltiges Menschenantlitz. Es war so groß wie die Hälfte unseres Buges, seine Augen wie zwei riesige aufgehende Monde.“
Wie sah es aus, dieses Gesicht, sah es jemandem ähnlich?“
Lew wich aus: „Immer wird behauptet, die Erde sei rund, aber das bedeutet nicht, dass die Welt kein Ende hat. Ich bin einmal ans Ende der Welt geraten.“
Ich ließ mich nicht ablenken und bohrte weiter nach dem Gesicht.
Am ehesten hätte man es neugierig nennen können“, meinte Lew sich erinnern zu können, „so wie ein Kind Ameisen beobachtet. Aber darin kann man sich leicht täuschen. Das einzige, was ich sofort folgerte und ich zuverlässig wusste, dass das nur das Antlitz Gottes sein konnte...“
Lew, jetzt mach aber einen Schlusspunkt! Warum denn Gott? Warum nicht der Tod oder der Teufel?“
Lew, aufgewachsen unter den sowjetischen Anti-Gottesbeweisen, dass kein Pilot oder Kosmonaut im All je Gott oder Engel getroffen hätte, war er religiös geworden?
Wer sonst kann am Anfang oder am Ende der Welt sein außer Gott?“
Was hast du gemacht, als du die Grenzen der Welt entdeckt hast?“
Ich habe gebetet“, sagte er so kurz wie einfach, als wollte er nicht mehr weitererzählen, als hätte ihn meine Ungläubigkeit gekränkt. „Und seither bete ich zu ihm. Ich kenne ihn.“ Irgend etwas machte mir angst. Wird er senil? Ich muss Geduld mit ihm haben.
Ich wollte es wieder gut machen und fragte noch einmal:
Wie sah es aus, dieses Gesicht, wie war es? Sah es jemandem ähnlich, würdest du es wiedererkennen?“
Er musterte mich lange, schweigend, plötzlich greisenhaft blicklos. Lews Gesicht schmolz vor meinen Augen zu einer Maske, Tropfen unzähliger Kerzen schienen in Jahrhunderten auf diesem Gesicht erstarrt zu sein.
Wenn du mich schon fragst“, sagte er und wog jedes Wort, „am ehesten sah es meinem Gesicht ähnlich.“ Und seine Stimme war getränkt von Traurigkeit, als bedauere er, mir sein Geheimnis anvertraut zu haben.


1.12.16

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