Ein
provisorischer Einspruch gegen Kafkas aphoristische Behauptung „Die
Welt ist nicht geheizt“.
Das
Erzählen dieser Geschichte hat einen großen Vorteil: Es kann mir
niemand widersprechen. Denn wer von Ihnen war schon auf den
Kurilen oder kennt jemanden, der diesen 1200 Kilomenter langen
Inselbogen zwischen Hokkaido und Sachalin bereist hat? Gut,
bezweifeln kann jeder immer alles, aber wer kann mit Gegenbeweisen
das Gegenteil von dieser Erzählung behaupten?
Nein, ich selbst war auch noch
nie auf den Kurilen, leider. Dafür aber mein russischer Freund Lew
Nikolajewitsch G. - seine Freunde nannten ihn Lewnik oder Grof =
Graf wegen seiner gleichlautenden Initialen mit Graf Tolstoi. Von
Beruf war Lew Pilot beim sowjetischen Atomministerium gewesen.
Er transportierte aber keine Passagiere, sondern die geheimsten
Frachten für die Atomindustrie quer durch die Sowjetunion, von
Uranbergwerken, Uranlagern, Aufbereitungsanlagen, Raketenfabriken und
Atomkraftwerken - was soll ich wissen, wenn er es er nicht weiß -
zu den verschiedenen Anwendungsorten. Von dieser ministeriumseigenen
Fluglinie wusste niemand im Land, die Angestellten durften nicht
einmal zu ihren Familien über ihren Arbeitsplatz und die Einsätze
sprechen, auch nicht von den Orten, die sie anflogen. Diese lagen
prinzipiell in den hunderten von geschlossenen Regionen, die keine
Namen hatten, nur Nummern. Die Piloten bekamen immer erst kurz vor
dem Abflug die Koordinaten genannt. Gorki zum Beispiel, Nishnij
Nowgorod, ein Zentrum der Waffenproduktion, wo Andrej Sacharow
exiliert war, hieß auf dieser ungeschriebenen Landkarte Nummer 108.
Und selbst die Piloten hatten nur eine vage Ahnung, was sie in
ihren Flugzeugen transportierten. Lew flog die größten
Transportmaschinen von Tupolew kreuz und quer über dieses Sechstel
der Erdoberfläche, vom Baltikum nach Wladiwostok, vom Eismeer in den
Kaukasus. Sie flogen noch ohne Radar, nach Sicht und Berechnungen,
und außer dem Kopiloten waren noch mindestens vier Techniker an
Bord.
Lew war ein zweifach höchst
ausgezeichneter Pilot, er war „Held der sowjetischen Arbeit“ und
hatte den Lenin-Orden bekommen, zweimal hatte er durch seine rasche
Reaktion eine Katastrophe verhindert: Einmal einen Zusammenstoß mit
einem fehlgeleiteten Wetterflugzeug über Moskau und danach über
dem Ural eine Kollision mit einem Verkehrsflugzeug. Niemand will sich
vorstellen, was passieren hätte können mit dem radioaktiven
Material an Bord. Die Welt hätte es auch damals nie erfahren.
Lew
war ein leidenschaftlicher Pilot und erzählte gerne von seinen
Flugabenteuern. Ich weiß nicht, ob er das durfte. Aber mit der
Wende war das Atomministerium aufgelöst und er in Pension geschickt
worden. Er fristete mit einer Minirente sein Leben und fuhr mit
seinem schwarzen Wolga- ein Nachbau des Opel Kapitän - schwarz
Taxi. So habe ich ihn kennengelernt, den schönsten und sanftesten
Mann meines Lebens. Meine Freundin Marina, eine gefeierte
Schauspielerin, selbst mit Schönheit ausgestattet und immer von
Schönheit umgeben, flüsterte mir beim ersten Zusammentreffen ins
Ohr:
„Oh
Gott, was hat Hollywood bloß ohne ihn gemacht?“
Mit
seinen Erzählungen und Erklärungen heilte er mich schließlich von
meiner lebenslangen Flugangst. Fast ganz. Auf seinem ersten Flug mit
der AUA von Moskau nach Wien musste ich den Piloten anbetteln, dass
er ihn ins Cockpit ließ und einige Zeit an seiner Seite sitzen ließ.
Lew freute sich wie ein kleines Kind, er war ja noch nie in einem
westlichen Flugzeug gewesen.
Zu
Lews angenehmsten Erinnerungen gehören seine Flüge auf
Kamtschatka, Sachalin und die Kurilen. Er war sehr oft dort, denn im
Fernen Osten befanden sich besonders viele nummerierte Geheimorte.
Es
nützte nichts, weiter in ihn zu dringen, er wusste es einfach
nicht, ob er Atomraketen oder Uranstäbe an Bord hatte. Es
belustigte ihn, als ich ihm erzählte, dass bei uns kein Pilot
fliegen darf, wenn er nicht genau weiß, wer oder was er an Bord
hat. Verkehrte Welten.
Während
man Kamtschatka und Sachalin teilweise bereisen konnte, waren die
Kurilen absolut geschlossene Territorien und sind es noch bis zum
heutigen Tag.
Wenig
bekannt ist, dass Stalin 1941 mit Japan einen Neutralitätspakt
schloss, den er am 8. August 1945 aufkündigte, wenige Tage vor der
Kapitulation, und umgehend mit der Eroberung der Kurileninseln
begann.
Es
besteht bis zum heutigen Tag kein Friedensvertrag zwischen Russland
und Japan, das nach wie vor die Rückgabe seiner „Nordterritorien“
fordert.
Zu den fast vergessenen
Kapiteln des 2. Weltkrieges gehört, dass die Sowjetunion keinen
einzigen Schuss gegen Japan abgegeben hat und nur den USA im Rahmen
des sogenannten „Hula-Projekts“ den Kampf gegen den japanischen
Faschismus erlaubte. Von den gegenüberliegenden Aleuten aus
bekämpften die USA Japan. Die Russen schauten zu und ließen sich
gut bezahlen. Die Amerikaner lieferten der Roten Armee schweres Gerät
für den Kampf im Westen.
Innerhalb
von zwei Wochen eroberte die SU die vier großen Kurileninseln, von
der südlichsten ….. kann man auf Hokkaido hinüberspucken. Lew
erinnert sich an seine kuriose Vision: „Ich war fast in Japan.“
Die
17 300 Bewohner, Japaner und einheimische Ainu, ließen die Sowjets
nach der Einnahme in verschiedene sibirische GULAGS transportieren.
Alle kamen um.
Vielleicht
war meinem Freund Lew die Liebe zum Fliegen schon mit seinem
Geburtsdatum 8.8.45 in die Wiege gelegt, der Tag, an dem die
sowjetische Invasion der Kurilen begann, allerdings weit weg von
dort, in der Wolga-Stadt Samara, die damals Kuibyschew hieß.
Lew ist der einzige lebende
Mensch, den ich kenne, der die Kurilen gesehen hat. Er konnte
lebhaft davon erzählen und endlos schwärmen. Einmal hatte er
zwischen Ankunft und Rückflug soviel Zeit, dass er von einem
Stützpunkt auf der Hauptinsel Iturup einen Ausflug nach Shikotan
machen konnte, für ihn die schönste der vier großen Inseln. Ich
brauchte einige Zeit, um ihm zu glauben, dass die Kurilen das
Paradies auf Erden sei. Immer wieder behauptete er das. Der Anfang
der Welt, von dort kommt alles und endet.
Ich nahm ihm seine Schwärmerei
einfach nicht ab, hatte er als Sowjetmensch doch bis zur Wende nie
einen Schritt aus dem Arbeiter- und Bauernparadies heraus getan. Was
wusste so einer schon von irdischen Paradiesen? Hawai, Neuseeland,
Alaska?
Lewnik kam mit mir im Jahre
1999 zum ersten Mal nach Westeuropa. Als ich ihm mit meinem
anglophilem Besitzerstolz die Kreideklippen von Dover zeigte, brach
er in unbändiges Gelächter aus. Ich verstand nichts.
„Und so was nennt ihr
Klippen? Ein Strich in der Landschaft.“ Lew war nicht überheblich,
aber er war andere Dimensionen gewohnt.
Mit mir war er zum ersten Mal
im Bolshoi-Theater, im Tschaikowski-Konservatorium, in der St.
Petersburger Eremitage und außerdem kannte er Tschechows Erzählung
„Dame mit dem Hündchen“ nicht. Ich musste ihm im
Schnelldurchgang auf dem Weg zum Moskauer Jugendtheater eine
Inhaltsangabe geben, damit er etwas von dem dramatisierten Stück
mitkriegte. Mit Lew hatte ich ein spätes, aber authentisches
Exemplar des von Stalin proklamierten „Ingenieure der Seele“
kennengelernt, wie Stalin die Schriftsteller und Künstler benannt
hatte. So definierte er „die stinkende Nummer 9“, die
Intellektuellen ihren Platz im ersten 5-Jahresplan 1931.
Lew
war zwar oft in den Hohen Norden geflogen, an viele Punkte der
nördlichen 18 000 Kilometer langen Küste, wusste aber nie, ob es
die Halbinsel Kola, Nowaja Zemlja (Franz-Josephs-Land) oder
Tschukotka war.
Einmal
war er sich sicher, dass er sich am Nordende des Ural befand. Unter
den Schneemassen fanden sie noch Wald, Bäume. Seine Mannschaft und
er gruben sie aus, sägten und deckten sich für Neujahr -
Väterchen Frost- das sowjetische Ersatz-Weihnachten, mit
Fichtenbäumchen ein. Auf diesem leeren Flug kannte er die ganze
Fracht, sechs Fichtenbäumchen und eine Gruppe von Polarforschern,
die er angewiesen wurde, zurück nach Moskau zubringen.
Einmal
hatte er noch größere Gewissheit:
Auf
einem frachtlosen Rückflug von Charkow nach Moskau hat er seine
Pilotentasche ausgeräumt und mit den herrlichsten ukrainischen
Herzkirschen angefüllt. Juni 1975, die Familie war glücklich. So
etwas Köstliches, Frisches, gab es in Moskau nicht. Diese
Erinnerung gefällt ihm selbst am besten.
Einmal
hat der hochdekorierte Pilot beim Verlassen seines Hauses vergessen,
den Müllsack in den Gully zu stecken, so transportierte er ihn drei
Tage lang durch die Himmel über der Sowjetunion. Das war im Mai
1988, gerade als Präsident Reagan das Reich des Bösen besuchte.
Lew,
eine absolute Ausnahme unter den russischen Männern, die ich
kennengelernt habe. Er rauchte nicht, trank nicht und schaute auf
seinen Körper, ohne eitel zu sein. Er war immer auf Wacht, immer
dienstbereit, in bester Verfassung und dem Zustand. Sogar nackt
hielt er die Uniform hoch und an.
Er
machte das aber nicht eitel, für irgendwen oder was, sondern es war
seine Natur. Diszipliniert, organisiert und immer rundum
verantwortlich.
Er
kichert fast, als er sich erinnert, dass nur Kosmonauten wie ein
Gagarin höher bezahlt waren als er als Bomben-Pilot. Dreimal so
hoch wie offiziell die Mitglieder des Obersten Sowjets. Mehr
bekamen nur die Kosmonauten. Lew lag knapp unter ihnen.
Als die ersten russischen
Forschungsreisenden in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts den Fernen
Osten und die 1200 Kilometer lange Inselkette erreichten, nannten
sie sie Kurilen, vom russischen kuritj= rauchen. Sie sahen nur
himmelaufragende rauchende Schlote. Auf den 40 Inseln befinden sich
68 Vulkane, 36 davon aktiv und fast 100 submarine Vulkane. Nirgendwo
sonst auf der Welt gibt es eine derartige Dichte an atmenden Bergen
und Meeren. Mit 10 542 Metern unter dem Meeresspiegel liegt auch
der tiefste Punkt der Erde in dieser Region, irgendwo zwischen
Etorofu und Paramushir.
Was
macht die Kurilen so besonders, fragte ich ihn immer und immer
wieder. Es sind die vom Vulkanismus beeinflusste Geologie und
Vegetation, meinte Lew, der wie gesagt, kein Naturwissenschafter,
sondern Pilot und Augenzeuge war. Shikotan zeichnet sich durch eine
Küste aus leuchtend weißen Kreidefelsen mit bizarren Formen aus,
hunderte Meter hoch und steil wie ein gestärktes Tischtuch,
nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Magnolienbäume und
undurchdringlich dichte Wälder aus Kurilenkirschen, die weiten
Wiesen sind mit hüfthohem, metallisch glänzendem Gras bedeckt, mit
wilden rosa Wicken und gelber Schafgarbe, und über allem liegen
Wolken von Wermutsduft. Wenn nicht plötzlich Nebel einfällt, kann
sich das Auge an dem tief azurblauen Pazifik weiden. Die
unterirdischen Vulkane im Ochotskischen Meer spucken ohne Ende
Wasserfontänen und Rauch aus.
Wenn
man Glück hat und viel Geduld, kann man die Geburt einer neuen Insel
beobachten, die sich langsam aus dem Meer herausarbeitet. Es zischt
und brodelt, es rauscht und stinkt, bis dann ein Lavahügel
auftaucht, wie ein aus dem Ozean ragendes Ofenrohr.
Eine
Besonderheit sind die kreisrunden, mehrfach gestaffelten
Wolkenreifen über den Spitzen der Vulkane, wie riesige weiße
Pudelmützen.
Was
den praktischen Lew aber am meisten beeindruckte, waren die
fischreichen Flüsse, von denen Shikotan durchzogen ist.
„Stell
dir vor, du stehst mit den Füßen im seichten Fluss und um dich
brodelt und kocht es vor lauter Fischen, Lachse und Dorsche. Du
kannst sie mit den Händen fangen. Sie kommen von der ganzen
östlichen . Halbkugel zum Laichen auf die Kurilen. Die andere Hälfte
schwimmt in Alaska den Yukon hoch. Kübelweise haben wir sie zum
Flugzeug geschleppt. Im tiefen Wasser wimmelt es auch von
Riesenkrabben und Hanasaki-Krebsen, die in Japan als heilig gelten.“
Lew
war davon überzeugt, dass sich dort der Nabel der Welt befindet,
der Anfang oder das Ende der Welt.
Warum,
was machte ihn so sicher?
„Einmal
fiel Nebel ein, wir waren gerade mit einem Schiff zwischen Shikotan
und Iturup unterwegs, da wurde der Himmel immer niedriger, bis er
schließlich steil ins Meer abfiel, wie eine riesige, grünliche
Wand aus dickem Glas. Es vermischten sich Nebel und Feuer, Tag und
Nacht, Meer und Himmel. In diesem Augenblick wussten wir, dass wir
das Ende der Welt gesehen haben, oder den Anfang. Wir waren bis zu
diesem Punkt gelangt, wo sich die Wellen an dieser
Glaswand
brachen, und dahinter war nichts, nur Leere.
Wir
hielten mit dem Schiff unmittelbar an dieser Wand und berührten sie
mit den Händen. Das Grauen vor dieser letzten Grenze schüttelte uns
so, dass wir kein Wort sagten. Die Wand stand über uns in einer
endlosen Wölbung und reichte in die Tiefe des Meeres, so weit man
sehen konnte, und da...“
Lew
hielt inne, er konnte lange nicht weitersprechen, er sah mich seltsam
an, als überlegte er, ob ich ihm glauben oder wenigstens sein
Geheimnis hüten würde.
„Und
da?“ fragte ich ungeduldig und spürte einen kalten Schauder, ohne
zu wissen, warum.
„Da
sah ich ganz eindeutig, wenn auch wegen der Dicke der Wand und der
Lichtbrechung etwas verschwommen, hinter dem Glas ein gewaltiges
Menschenantlitz. Es war so groß wie die Hälfte unseres Buges, seine
Augen wie zwei riesige aufgehende Monde.“
„Wie
sah es aus, dieses Gesicht, sah es jemandem ähnlich?“
Lew
wich aus: „Immer wird behauptet, die Erde sei rund, aber das
bedeutet nicht, dass die Welt kein Ende hat. Ich bin einmal ans Ende
der Welt geraten.“
Ich
ließ mich nicht ablenken und bohrte weiter nach dem Gesicht.
„Am
ehesten hätte man es neugierig nennen können“, meinte Lew sich
erinnern zu können, „so wie ein Kind Ameisen beobachtet. Aber
darin kann man sich leicht täuschen. Das einzige, was ich sofort
folgerte und ich zuverlässig wusste, dass das nur das Antlitz
Gottes sein konnte...“
„Lew,
jetzt mach aber einen Schlusspunkt! Warum denn Gott? Warum nicht der
Tod oder der Teufel?“
Lew,
aufgewachsen unter den sowjetischen Anti-Gottesbeweisen, dass kein
Pilot oder Kosmonaut im All je Gott oder Engel getroffen hätte, war
er religiös geworden?
„Wer
sonst kann am Anfang oder am Ende der Welt sein außer Gott?“
„Was
hast du gemacht, als du die Grenzen der Welt entdeckt hast?“
„Ich
habe gebetet“, sagte er so kurz wie einfach, als wollte er nicht
mehr weitererzählen, als hätte ihn meine Ungläubigkeit gekränkt.
„Und seither bete ich zu ihm. Ich kenne ihn.“ Irgend etwas machte
mir angst. Wird er senil? Ich muss Geduld mit ihm haben.
Ich
wollte es wieder gut machen und fragte noch einmal:
„Wie
sah es aus, dieses Gesicht, wie war es? Sah es jemandem ähnlich,
würdest du es wiedererkennen?“
Er
musterte mich lange, schweigend, plötzlich greisenhaft blicklos.
Lews Gesicht schmolz vor meinen Augen zu einer Maske, Tropfen
unzähliger Kerzen schienen in Jahrhunderten auf diesem Gesicht
erstarrt zu sein.
„Wenn du mich schon fragst“,
sagte er und wog jedes Wort, „am ehesten sah es meinem Gesicht
ähnlich.“ Und seine Stimme war getränkt von Traurigkeit, als
bedauere er, mir sein Geheimnis anvertraut zu haben.
1.12.16
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