Ein
Medaillon um den Hals, eine Ikone vor der Brust, ein Flachmann,
vielleicht Knoblauchzehen, ein Bild der Geliebten, ein Poesiealbum
mit getrockneten Blüten und Haarsträhne dazwischen, ein
metallener Mantelknopf - Geschichten über lebensrettende oder
lebensverlängernde Amulette gibt es viele. Meist ist es der
unverbrüchliche Glaube an diese Helfer, die Segnungen und guten
Wünsche von Müttern oder Geliebten, immer im Abschied unter vielen
Tränen, die damit verbunden sind und nicht der tatsächliche Schutz,
die sie wirkungsmächtig machen. Denn dafür wären schusssischere
Westen und Helme besser geeignet, früher waren es Rüstung und
Schild. Ich hatte nichts davon.
Ein
Kreuz ist von der Natur ausersehen, dass es das unpraktischste
Format unter all diesen Gegenständen hat. Nicht rund, nicht
quadratisch, nicht flächendeckend, ein Nichtraum. Da kreuzt sich
etwas, dazwischen ist nichts, ein Nichts von übereinander gelegten
Balken. Zwei oder vier Teile, mehr ist ein Kreuz nicht.
Und
trotzdem besitze ich ein solches Kreuz, ein georgisches Kreuz.
Geschenkt
hat es mir Korneli, ein Freiwilliger der Tiflis-Bürgerbrigade, im
Februar 1991, als ich für den ORF Moskau nach Georgien reiste, um
die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit und den sich
abzeichnenden Bürgerkrieg zu beobachten. Die Demonstrationen für
und gegen den damaligen Präsidenten Swiad Gamsachurdia nahmen immer
gewalttätigere Ausmaße an, und die Fronten waren aus der Ferne
nicht mehr zu überblicken. Es war noch die Sowjetunion, in der sich
Journalisten nicht frei und unbegleitet bewegen durften. Daher
bekamen wir im Informationsministerium- einer Abteilung des KGB-
einen Chauffeur und einen Begleiter zur Seite gestellt und wurden zu
einer Reise nach Gori verdonnert, den Geburtsort des größten Sohnes
des Landes, Josif Dschugaschwili alias Stalin. Ich wäre gerne in
der Stadt geblieben, die summte von Demonstranten und hätte am
liebsten sofort ein Interview mit dem neugewählten Staatsoberhaupt
Gamsachurdia geführt. Unser Glück dabei war, dass man uns als
Englisch-Dolmetsch, den jungen, smarten Ghia, genannt Gigi,
zuordnete, obwohl weder Wolodja, der Moskauer Kameramann, noch ich
einen Dolmetsch brauchten. Gigi hatte Anglistik und Amerikanistik,
studiert, schrieb Gedichte und erzählte ziemlich früh frei heraus,
dass er in die Schweiz auswandern und bisnismen werden wolle, indem
er seine KGB-Beziehungen spielen lassen würde.
Wenn
in der welligen Ebene um Tbilisi mit den vielen heißen Quellen
schon die ersten Anzeichen der Frühlings zu sehen waren, herrschte
in den Kaukasus-Bergen noch König Winter. Der Fahrer Ivan schraubte
den robusten Lada-Jeep die schmalen Straßen immer höher hinauf
und zwischen mannshohen Schneehaufen durch, die gnädigerweise die
tiefen Schluchten links und rechts verdeckten.
Gori
ist ein hässliches Riesendorf sowjetischer Prägung, in dessen Mitte
der Stalin-Tempel thront, der über der ebenfalls künstlich
nachgebauten Geburtshütte errichtet worden war, mitsamt all den
erbarmungswürdigen Devotionalienläden und andächtigen
Wallfahrern.
Wolodja
gelangen einige schön-bizarre Aufnahmen und mir einige Interviews,
keineswegs nur alte Stalin-Nostalgiker, sondern auch Schulklassen und
Hochzeitspärchen, die sich vor dem Tempel ablichten ließen. Auch
auf dem Rathausplatz ein Getümmel aus diesem Nostalgie-Gemenge,
vor dem Stalin- Monument, so hoch wie das Gebäude selbst. Junge,
glückliche Gesichter, Sekt in Plastikbechern auf eine lichte
Zukunft! Wie die durchnässten, weißen Kleidersäume schlapp
über banale Winterstiefel in den Februar-Matsch hängen, das ist
das Bild, das ich mitgenommen habe.
Nachdem
wir den Gori-Ausflug pflichtschuldig hinter uns gebracht hatten und
uns schon der Hauptstadt näherten, peitschten plötzlich
Gewehrsalven durch die Landschaft. Ivan reagierte blitzschnell und
legte eine Vollbremsung hin. Schlitternd kam der Lada zum Stehen, zum
Glück zum Hang hin. Ivan riss die Tür auf und warf sich auf die
Erde, Gigi und ich taten es ihm nach, Wolodja gelang es noch
geistesgegenwärtig, die Kamera an sich zu reißen. So lagen wir mit
dem Kopf nach unten im Gatsch des Straßenrandes, platt am Boden
und versuchten zu erlauschen, woher die Schüsse über unseren Köpfen
kamen. Es ratterte ohne Pause, also Kalaschnikows. Ich konnte den
drei Sowjetmännern vollkommen vertrauen, hatten sie doch alle
mindestens drei Jahre Armeedienst hinter sich. Ivan war
wahrscheinlich ein ehemaliger Afgantschik, ich sah aus seinem
Hemdkragen ein tätoviertes O herausragen, O für Orjol – Adler –
das Kürzel für die Afghanistan-Kämpfer. Ich dagegen war seit
den jugendlichen Räuber- und Gendarmspielen in solchen
Körperertüchtigungen nicht mehr geübt. Einmal wagte ich, den
Kopf ein paar Zentimeter zu heben, da sah ich, wie Wolodja sich
salamanderartig zur Seite bewegte, die Kamera mit einer Hand
hochhaltend. Er stieß einen leisen Pfiff aus und eine Kopfbewegung
bedeutete mir, es ihm nachzutun. Ivan und Gigi blieben im Schutz des
Lada liegen, während Wolodja und ich uns tiefer in den Weingarten
hineinrobbten. Wären Rebstöcke schon mit dem vollen Sommerlaub
nicht der großartigste Wall gewesen, so waren sie jetzt in ihrem
entlaubten Zustand nicht mehr als ein Wald von Zahnstochern, zwischen
die sich die Kugeln leicht verirren konnten. Und weit und breit kein
Haus, kein Zaun, keine Hecke, sondern sanfte Rebhügel, soweit das
Auge reichte, die berühmte Weinlandschaft von Kachetien, die ein
paar Monate später wieder die herrlichsten Säfte liefern würde.
Natürlich
dachte ich in diesem Moment nicht an den zukünftigen Wein. Blöd
gelaufen, klassisch, zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie schossen
sicher nicht auf uns persönlich, sondern wir waren irgendwo
dazwischen geraten. Aber die Sowjetunion zeigte sich in einem
Zerfallszustand, in dem nicht einmal eine KGB-Begleitung vollkommene
Sicherheit garantieren konnte, noch dazu mit einem Agenten, der am
Absprung in den Kapitalismus war.
Dazu
würde ich Gamsachurdia im Interview befragen müssen, wenn wir da je
wieder herauskamen. So ungefähr sah es in meinem Hirn aus, als ich
am Boden liegend, Nase und Augen tief hielt und die Wurzeln der
Rebstöcke studierte. Ich weiß nicht, wie lange, in solchen
Situationen erstirbt das Zeitgefühl. Aber nie die Erinnerung an den
Geruch.
Bei
uns sagte man, der Geruch, wenn die Erde aufgeht, aber nicht wie der
Mond aufgeht, sondern die Erde geht auf wie ein Germteig nach dem
Winter unter Schnee und Frost. Sie Entlässt ihre Düfte und Dünste,
die Fermentierung ihrer Tiere, Pflanzen und all der anderen
Zwischenwesen, Pilze, Flechten, Wurzeln, Knollen, Sporen,
Regenwürmern und was sie alles miteinander getrieben haben unter der
Erde, unter dem Schnee bis jetzt zum Auftauen, zum Aufgehen.
Da
tippte mir jemand leicht auf die Schulter, und als ich herumfuhr,
sah ich über mir einen Mann mit Kalaschnikow stehen, der mir
zuzwinkerte und seinen Zeigefinger an die Lippen hielt. Pssst!
Er
bedeutete mir, dass ich mich in die Halbhocke aufrichten und hinter
ihm in Halbhocke tiefer in den Weingarten hineinlaufen sollte. Hinter
einer Holzhütte, wahrscheinlich ein Geräteschuppen, wartete schon
Wolodja und empfing mich mit Nicken und einem Zucken der Mundwinkel.
In einer anderen Situation hätte man Lächeln gesagt.
Unser
Retter war Korneli, ein Kämpfer der Bürgerbrigade des Präsidenten
Gamsachurdia. Das erfuhren wir aber erst später, nachdem er uns in
ein Dorf mit festen Häusern gelotst hatte, wo seine Einheit
stationiert war. Sie waren eine Freiwilligeneinheit von
Paramilitärs, die gegen die moskaugesteuerten „Fledermäuse“
kämpften. Wir waren in ein Geplänkel geraten, dem uns später
Korneli und zwei seiner Männer zurück nach Tbilisi führten. Im
grandiosen Hotel Rustaveli vereinigten wir uns glücklich mit Ivan
und Gigi, die selbständig zurückgekommen waren. Als Entschädigung
für den Schreck lud uns Korneli auf ein Abendessen ein, ein
Argonauten-Mahl, bei dem ich mich auf das heilsame
Borschomi-Mineralwasser beschränkte, weil seit dem
Weingartenerlebnis meine Gedärme rumorten. Mir als Dame wurde das
ausnahmsweise gestattet, nicht ohne den Hinweis, dass auch in Jalta
Stalin den magenkranken Roosevelt mit in Borschomi aufgelöstem
Weinbrand traktiert hätte. (Ob deswegen in Russland die
Weinbrandschenken Traktir heißen?) Nach ungezählten Gläsern mit
rotem Kindzmarauli, weißem Zinandali, armenischem Cognak Marke
Ararat mit 5 Medaillen, nach den nicht enden wollenden Toasts auf
Heimat, Völkerfreundschaft, Liebe und die Frauen - das ist in der
geregelten Abfolge der Toasts immer der dritte, riss Korneli
plötzlich seine schwarze Uniformbluse auf und zog ein Kreuz
hervor, das er mit einem Lederriemen auf der Brust trug. Er will, er
muss es mir schenken, das hat er sich im Weingarten geschworen. Er
hielt es mit der einen Hand hoch über seinen Kopf und sah ein
bisschen wie die Freiheitsstatue aus, wenn da nicht in der anderen
Hand der rubinrote Kindzmarauli im bokal, dem bauchigen Kristallglas
geschwankt hätte. Es hat seinem Vater gehört und schon ihn
beschützt, als er im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft und
mit der Roten Armee meine Heimat, Avstrija, befreit hat. Geschnitzt
hat es sein Großvater aus einem alten Wurzelstock, als er im
Bürgerkrieg 1918 für das unabhängige Georgien kämpfte. Ich
protestierte heftig, das könne ich nicht annehmen, aber gegen die
georgische Gastfreundschaft ist kein Kraut gewachsen. Was ein
Georgier anbietet, muss man annehmen, und sei es die Großmutter oder
der eigene Sohn.
So kam das georgische Kreuz zu mir. Es ist aus dem Holz eines
Rebstockes geschnitzt, in einem Stück, etwa 20 Zentimeter lang,
rötlich-braun, an den Seiten abgeflacht und poliert. Die
Querbalken zeigen leicht nach unten, sodass es eine Ähnlichkeit mit
einem Mann-Piktogramm hat, das die Arme sinken lässt. An der
Vorderseite verlaufen fein ziselierte Messingleisten in alle vier
Äste, die sich zu kleinen Kugeln verdicken. Nicht zu übersehen,
dass die Verzierungen der mäandernden georgischen Schrift
nachempfunden sind. Vielleicht haben sie sogar etwas zu bedeuten, was
für ein Spruch könnte das sein? Vater, ich lege mein Leben in deine
Hände? Das ist zu lang. Es ist vollbracht? Am unterem Ende ragt
an einem gebogenen Stiel ein kleiner Kerzenhalter hervor, in den
eines der dünnen Bienenwachsstäbchen der orthodoxen Kirche passt.
Auch Weihrauchkörnchen kann man darin abbrennen. An der Rückseite
ist oben eine kleine, biegsame Metallplatte mit Loch angebracht, für
den Nagel. In welchem georgischen Haus ist es schon gehängt?
Ich
bin keine Kreuzträgerin, keine Fetischistin, keine Kerzerl- oder
Weihrauchanzünderin und keine Amulettträgerin, nicht einmal ein
Ketterl mit oder Anhänger kommt an meinen Hals. Aber dieses
georgische Kreuz hing seither bei jedem meiner Schreibtische, und
es hängt bis heute hier. Wenn ich leicht nach rechts oben
aufschaue, ruhe ich mich auf ihm aus. Es strahlt harmonische
Energie aus, vielleicht entspricht es dem goldenen Schnitt. Sogar
jemand, der meine und Kornelis Geschichte dahinter nicht kennt,
sieht sofort, dass das Kreuz kräftig und zart zugleich ist, dass es
erdig und schwebend wirkt, so wie es jetzt an der Wand hängt.
Sieht, dass es einfache Volkskunst ist, aber in einer der uralten
Formen des frühesten christlichen Volkes, die jetzt noch überall
in den Kirchen und Friedhöfen Georgiens zu finden sind.
PS:
Bilder von den wild tobenden Demonstrationen bekamen wir in den
nächsten Tagen zur Genüge, und durch Gigis Vermittlung auch das
Interview mit dem Dichter-Präsidenten. Dieses geriet allerdings
zur größten Pleite meiner journalistischen Laufbahn. Der
Dichter, Dissident und Neupolitiker Gamsachurdia war so begeistert
davon, dass mir Rudolf Steiners Schriften bekannt waren und ich aus
dessen Heimat kam, dass er ausschließlich über ihn reden wollte.
Dabei verriet ich im wohlweislich nicht, dass ich in Wien neben dem
Athrosophischen Zentrum am Brahmsplatz meine Wohnung habe. Er lernte
nach Englisch und Französisch extra Deutsch, um Steiner im Original
lesen zu können. Als verurteilter Nationalist hatte er in 15
Jahren Gulag und Verbannung viel Gelegenheit dazu.
Schon sein Vater Konstantin, ebenfalls Dichter und
Literaturprofessor, Germanist und Übersetzer, war Steinerianer und
gründete die erste anthroposophische Gesellschaft Russlands. Sohn
Swiad sprach mit Begeisterung darüber, wie er Orthodoxie mit
Anthroposophie verbinden und zur Staatsphilosophie des neuen
Georgien machen wollte. Ich erkannte bald, dass ihm Monologe lagen.
Wenn Monologe gut sind, ziehe ich sie Dialogen vor. Aber ich war
nicht in der Position der genießenden Zuhörerin, sondern eine
Journalistin, die ein brauchbares Interview, ein paar bearbeitbare
Wortspenden heimbringen und eine Story um passende Bilder darum
herum basteln musste.
Ein Monolog ist, als beobachte man einen Menschen, der ein Buch nur
für sich selbst schreibt: Er schreibt es, liest es vor, spielt es,
korrigiert es, genießt es, freut sich darüber, freut sich über
seine Freude; dann zerreißt er es und wirft die Schnitzel in alle
vier Winde. Es ist ein erlesenes Schauspiel, denn während er es
vorführt, ist man ein Gott für ihn, falls man nicht ein
gefühlloser, ungeduldiger Trottel ist.
Große
und lange Bögen zog er von Kolchis, den Argonauten, dem Goldenen
Fließ zu Medea, zur der legendären Königin Tamar bis zur
Gegenwart, aber nicht zum heutigen Tag, hier und jetzt, die wüsten
Demonstrationen um seinen Palast herum und den sich anbahnenden
Bürgerkrieg. Ich hatte keine Chance.
Er
war in jeder Hinsicht massiv und eine merkwürdige Mischung.
1,90 oder mehr groß, noch im Sitzen sah er aus wie ein Adlerhorst,
ein übergroßer Kopf, den ich für typisch georgisch hielt. Die
Hände waren zu klein für den Körper, zu zart für einen
Machtmenschen und die Gesten zu sanft. Frauliche Hände fiel mir
ein, Gänsekiel ja, aber kein Staatszepter. Er hatte etwas
ausgesprochen Tragisches an sich, das seine lebhafte Mimik und seine
raue, tiefe Stimme noch betonten. Die Augen unter buschigen Brauen
und schweren Lidern, groß wie Granatäpfel und dunkel wie
Kaukasus-Seen, eine Adlernase, die fülligen Lippen unter dem
struppigen Schnurrbart und der dichte, graue Haarschopf schienen
ständig adlerumflattert und sturmumweht. Er schien die ganze Zeit
nur von sich zu reden und wirkte dennoch nie egozentrisch. Er sprach
von sich, da er sich für die interessanteste Persönlichkeit hielt,
die er kannte. Das gefiel mir, weil es mir manchmal ebenso ging. Er
sprach von sich wie von seinem Land. Er sagte ich und meinte
Georgien, seine Geschichte, seine Kultur, seine Verse und Choräle,
seinen Vater und seine Söhne. Er sagte ich und meinte Baum,
Landschaft, Berge, Wein, Quellen, Meer. Gibt es Menschen, die eine
Inkarnation ihres Landes sind? Tiroler Bauern oder tibetische Nomaden
fielen mir ein oder noch Indios in den Anden, die der Pacha Mama
huldigen. Seine Familiengeschichte war die des Landes, er führte
sie bis an Tamars Hof im 12. Jahrhundert, ins Goldene Zeitalter
Georgiens, zurück, ein Adelgeschlecht der ersten Stunde. Obwohl wir
russisch sprachen, musste der Ministeriums-Übersetzer Gigi stumm
an meiner Seite sitzen, der ständig nickte wie eine chinesische
Katze, auch seine Rustaweli-Familie hat einen Stammbaum mindestens
bis zu Tamar. Gigi war als Kind schon auf seinem Schoß gesessen.
Tröstlich, wenn man die Geschichte so sieht wie Gamsachurdia, sind
wir alle irgendwie Habsburgs und Windsors.
Meine
Fragen zur aktuellen Lage und seiner Politik ignorierte der
Präsident elegant, gewalttätig und vollständig. Nichts griff,
ich konnte ihn nicht umdrehen zu meinen Themen und abbringen von
seinen. Alles, was er in seinem Monolog von sich gab, wäre sehr
interessant für ein vergleichendes Geschichts-, Literatur- und
Theologieseminar gewesen, aber ich bekam von ihm keine einzige, für
den aktuellen Bericht „verwertbare“ Antwort, kein Satz war als
Original-Ton geeignet.
Ich
war innerlich zerrissen zwischen Faszination und Verzweiflung, saß
auf seinen Worten wie auf glühenden Kohlen, fühlte mich wie
Rumpelstilzchen auf der Suche nach einer Erdspalte.
Ebenso
klar wie das vordergründige Scheitern meines Interviews war, dass
Gamsachurdia der falsche Mann auf diesem Posten war und sicher besser
in die Argonauten- oder Tamar-Sage passte als in die postsowjetische
Gegenwart. Ein sympathisches Volk, das einen Dichter-Philosophen zum
Präsidenten gewählt hatte.
Er
lachte über die Ironie der Geschichte, die ihn, den Stubengelehrten,
Dichter und Gulag-Häftling an die Spitze des Staates geschwemmt
hatte. Ha, das wäre ein Haken, Sowjetunion, Gulag, Verbannung, und
jetzt, Selbständigkeit, eine international anerkannte Republik
Georgien. Aber blieb bei seinem Thema, er sah die humoristische,
lächerliche Seite der Dinge – das wahre Kennzeichen einer
tragischen Gesinnung.
Am Platz vor den Toren des Palastes wogten die Massen hin- und her,
drängten an die Gittertore, die Demonstrationen waren in
Straßenschlachten übergegangen, die Miliz prügelte sich in
Hochform, ab und zu drang ein Knall oder eine Leuchtrakete durch die
dicken Wolkenstors. Ich habe den Saal als ins Rosige getauchte Hölle
in Erinnerung, in der mich der Präsident mit dem Goldenen Vlies,
der Christianisierung und dem georgischen Mittelalter folterte. Möbel
und Parkett aus Rosenholz, alle Bezüge der falschen
Biedermeiermöbel, alle Karaffen und Gläser, voll mit
Granatapfelsaft, funkelten in diesen Farben, vielleicht doch nur
das Fegefeuer. Zumindest fühlte ich mich auf dem Rost gegrillt wie
ein georgisches Hühnchen. Ich war jetzt über Georgien aufgeklärt,
von höchster Stelle. Aber mir war schlecht, mir war düster
zumute, ich war verzweifelt, ich hatte keinen Präsidenten-Sager!
Die
Reportage gelang dann doch nicht schlecht (man soll sich selbst nur
loben, wenn es unbedingt notwendig ist.) Ich unterlegte die Gori-
und Weingarten-Szenen mit Musik von Ghia Kantscheli, die
Straßenschlachten waren weder von Bild und Ton kein Problem, sie
sonderten ihre eigenen Geräusche ab, und dem Interview mit
Gamsachurdia (15 Sekunden O-Ton) schob ich eine allgemein –
patriotische Verszeile des Nationaldichters Schota Rustaweli unter.
Zur
georgischen Staatsphilosophie kam es nicht mehr. Gamsachurdia wurde
immer autoritärer, verlor die Unterstützung der Mehrheit, schnitt
die Verfassung mehrmals auf sich um und putschte mit der
Präsidentengarde gegen sich selbst, bis er Ende 1993 durch einen
Militärputsch gestürzt wurde und unter nie geklärten Umständen
ums Leben kam - angeblich Selbstmord auf der Flucht.
Wien,
18.11.16
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