Mittwoch, 7. Dezember 2016

Das georgische Kreuz

Ein Medaillon um den Hals, eine Ikone vor der Brust, ein Flachmann, vielleicht Knoblauchzehen, ein Bild der Geliebten, ein Poesiealbum mit getrockneten Blüten und Haarsträhne dazwischen, ein metallener Mantelknopf - Geschichten über lebensrettende oder lebensverlängernde Amulette gibt es viele. Meist ist es der unverbrüchliche Glaube an diese Helfer, die Segnungen und guten Wünsche von Müttern oder Geliebten, immer im Abschied unter vielen Tränen, die damit verbunden sind und nicht der tatsächliche Schutz, die sie wirkungsmächtig machen. Denn dafür wären schusssischere Westen und Helme besser geeignet, früher waren es Rüstung und Schild. Ich hatte nichts davon.

Ein Kreuz ist von der Natur ausersehen, dass es das unpraktischste Format unter all diesen Gegenständen hat. Nicht rund, nicht quadratisch, nicht flächendeckend, ein Nichtraum. Da kreuzt sich etwas, dazwischen ist nichts, ein Nichts von übereinander gelegten Balken. Zwei oder vier Teile, mehr ist ein Kreuz nicht.
Und trotzdem besitze ich ein solches Kreuz, ein georgisches Kreuz.
Geschenkt hat es mir Korneli, ein Freiwilliger der Tiflis-Bürgerbrigade, im Februar 1991, als ich für den ORF Moskau nach Georgien reiste, um die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit und den sich abzeichnenden Bürgerkrieg zu beobachten. Die Demonstrationen für und gegen den damaligen Präsidenten Swiad Gamsachurdia nahmen immer gewalttätigere Ausmaße an, und die Fronten waren aus der Ferne nicht mehr zu überblicken. Es war noch die Sowjetunion, in der sich Journalisten nicht frei und unbegleitet bewegen durften. Daher bekamen wir im Informationsministerium- einer Abteilung des KGB- einen Chauffeur und einen Begleiter zur Seite gestellt und wurden zu einer Reise nach Gori verdonnert, den Geburtsort des größten Sohnes des Landes, Josif Dschugaschwili alias Stalin. Ich wäre gerne in der Stadt geblieben, die summte von Demonstranten und hätte am liebsten sofort ein Interview mit dem neugewählten Staatsoberhaupt Gamsachurdia geführt. Unser Glück dabei war, dass man uns als Englisch-Dolmetsch, den jungen, smarten Ghia, genannt Gigi, zuordnete, obwohl weder Wolodja, der Moskauer Kameramann, noch ich einen Dolmetsch brauchten. Gigi hatte Anglistik und Amerikanistik, studiert, schrieb Gedichte und erzählte ziemlich früh frei heraus, dass er in die Schweiz auswandern und bisnismen werden wolle, indem er seine KGB-Beziehungen spielen lassen würde.
Wenn in der welligen Ebene um Tbilisi mit den vielen heißen Quellen schon die ersten Anzeichen der Frühlings zu sehen waren, herrschte in den Kaukasus-Bergen noch König Winter. Der Fahrer Ivan schraubte den robusten Lada-Jeep die schmalen Straßen immer höher hinauf und zwischen mannshohen Schneehaufen durch, die gnädigerweise die tiefen Schluchten links und rechts verdeckten.
Gori ist ein hässliches Riesendorf sowjetischer Prägung, in dessen Mitte der Stalin-Tempel thront, der über der ebenfalls künstlich nachgebauten Geburtshütte errichtet worden war, mitsamt all den erbarmungswürdigen Devotionalienläden und andächtigen Wallfahrern.
Wolodja gelangen einige schön-bizarre Aufnahmen und mir einige Interviews, keineswegs nur alte Stalin-Nostalgiker, sondern auch Schulklassen und Hochzeitspärchen, die sich vor dem Tempel ablichten ließen. Auch auf dem Rathausplatz ein Getümmel aus diesem Nostalgie-Gemenge, vor dem Stalin- Monument, so hoch wie das Gebäude selbst. Junge, glückliche Gesichter, Sekt in Plastikbechern auf eine lichte Zukunft! Wie die durchnässten, weißen Kleidersäume schlapp über banale Winterstiefel in den Februar-Matsch hängen, das ist das Bild, das ich mitgenommen habe.
Nachdem wir den Gori-Ausflug pflichtschuldig hinter uns gebracht hatten und uns schon der Hauptstadt näherten, peitschten plötzlich Gewehrsalven durch die Landschaft. Ivan reagierte blitzschnell und legte eine Vollbremsung hin. Schlitternd kam der Lada zum Stehen, zum Glück zum Hang hin. Ivan riss die Tür auf und warf sich auf die Erde, Gigi und ich taten es ihm nach, Wolodja gelang es noch geistesgegenwärtig, die Kamera an sich zu reißen. So lagen wir mit dem Kopf nach unten im Gatsch des Straßenrandes, platt am Boden und versuchten zu erlauschen, woher die Schüsse über unseren Köpfen kamen. Es ratterte ohne Pause, also Kalaschnikows. Ich konnte den drei Sowjetmännern vollkommen vertrauen, hatten sie doch alle mindestens drei Jahre Armeedienst hinter sich. Ivan war wahrscheinlich ein ehemaliger Afgantschik, ich sah aus seinem Hemdkragen ein tätoviertes O herausragen, O für Orjol – Adler – das Kürzel für die Afghanistan-Kämpfer. Ich dagegen war seit den jugendlichen Räuber- und Gendarmspielen in solchen Körperertüchtigungen nicht mehr geübt. Einmal wagte ich, den Kopf ein paar Zentimeter zu heben, da sah ich, wie Wolodja sich salamanderartig zur Seite bewegte, die Kamera mit einer Hand hochhaltend. Er stieß einen leisen Pfiff aus und eine Kopfbewegung bedeutete mir, es ihm nachzutun. Ivan und Gigi blieben im Schutz des Lada liegen, während Wolodja und ich uns tiefer in den Weingarten hineinrobbten. Wären Rebstöcke schon mit dem vollen Sommerlaub nicht der großartigste Wall gewesen, so waren sie jetzt in ihrem entlaubten Zustand nicht mehr als ein Wald von Zahnstochern, zwischen die sich die Kugeln leicht verirren konnten. Und weit und breit kein Haus, kein Zaun, keine Hecke, sondern sanfte Rebhügel, soweit das Auge reichte, die berühmte Weinlandschaft von Kachetien, die ein paar Monate später wieder die herrlichsten Säfte liefern würde.
Natürlich dachte ich in diesem Moment nicht an den zukünftigen Wein. Blöd gelaufen, klassisch, zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie schossen sicher nicht auf uns persönlich, sondern wir waren irgendwo dazwischen geraten. Aber die Sowjetunion zeigte sich in einem Zerfallszustand, in dem nicht einmal eine KGB-Begleitung vollkommene Sicherheit garantieren konnte, noch dazu mit einem Agenten, der am Absprung in den Kapitalismus war.

Dazu würde ich Gamsachurdia im Interview befragen müssen, wenn wir da je wieder herauskamen. So ungefähr sah es in meinem Hirn aus, als ich am Boden liegend, Nase und Augen tief hielt und die Wurzeln der Rebstöcke studierte. Ich weiß nicht, wie lange, in solchen Situationen erstirbt das Zeitgefühl. Aber nie die Erinnerung an den Geruch.
Bei uns sagte man, der Geruch, wenn die Erde aufgeht, aber nicht wie der Mond aufgeht, sondern die Erde geht auf wie ein Germteig nach dem Winter unter Schnee und Frost. Sie Entlässt ihre Düfte und Dünste, die Fermentierung ihrer Tiere, Pflanzen und all der anderen Zwischenwesen, Pilze, Flechten, Wurzeln, Knollen, Sporen, Regenwürmern und was sie alles miteinander getrieben haben unter der Erde, unter dem Schnee bis jetzt zum Auftauen, zum Aufgehen.

Da tippte mir jemand leicht auf die Schulter, und als ich herumfuhr, sah ich über mir einen Mann mit Kalaschnikow stehen, der mir zuzwinkerte und seinen Zeigefinger an die Lippen hielt. Pssst!
Er bedeutete mir, dass ich mich in die Halbhocke aufrichten und hinter ihm in Halbhocke tiefer in den Weingarten hineinlaufen sollte. Hinter einer Holzhütte, wahrscheinlich ein Geräteschuppen, wartete schon Wolodja und empfing mich mit Nicken und einem Zucken der Mundwinkel. In einer anderen Situation hätte man Lächeln gesagt.
Unser Retter war Korneli, ein Kämpfer der Bürgerbrigade des Präsidenten Gamsachurdia. Das erfuhren wir aber erst später, nachdem er uns in ein Dorf mit festen Häusern gelotst hatte, wo seine Einheit stationiert war. Sie waren eine Freiwilligeneinheit von Paramilitärs, die gegen die moskaugesteuerten „Fledermäuse“ kämpften. Wir waren in ein Geplänkel geraten, dem uns später Korneli und zwei seiner Männer zurück nach Tbilisi führten. Im grandiosen Hotel Rustaveli vereinigten wir uns glücklich mit Ivan und Gigi, die selbständig zurückgekommen waren. Als Entschädigung für den Schreck lud uns Korneli auf ein Abendessen ein, ein Argonauten-Mahl, bei dem ich mich auf das heilsame Borschomi-Mineralwasser beschränkte, weil seit dem Weingartenerlebnis meine Gedärme rumorten. Mir als Dame wurde das ausnahmsweise gestattet, nicht ohne den Hinweis, dass auch in Jalta Stalin den magenkranken Roosevelt mit in Borschomi aufgelöstem Weinbrand traktiert hätte. (Ob deswegen in Russland die Weinbrandschenken Traktir heißen?) Nach ungezählten Gläsern mit rotem Kindzmarauli, weißem Zinandali, armenischem Cognak Marke Ararat mit 5 Medaillen, nach den nicht enden wollenden Toasts auf Heimat, Völkerfreundschaft, Liebe und die Frauen - das ist in der geregelten Abfolge der Toasts immer der dritte, riss Korneli plötzlich seine schwarze Uniformbluse auf und zog ein Kreuz hervor, das er mit einem Lederriemen auf der Brust trug. Er will, er muss es mir schenken, das hat er sich im Weingarten geschworen. Er hielt es mit der einen Hand hoch über seinen Kopf und sah ein bisschen wie die Freiheitsstatue aus, wenn da nicht in der anderen Hand der rubinrote Kindzmarauli im bokal, dem bauchigen Kristallglas geschwankt hätte. Es hat seinem Vater gehört und schon ihn beschützt, als er im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft und mit der Roten Armee meine Heimat, Avstrija, befreit hat. Geschnitzt hat es sein Großvater aus einem alten Wurzelstock, als er im Bürgerkrieg 1918 für das unabhängige Georgien kämpfte. Ich protestierte heftig, das könne ich nicht annehmen, aber gegen die georgische Gastfreundschaft ist kein Kraut gewachsen. Was ein Georgier anbietet, muss man annehmen, und sei es die Großmutter oder der eigene Sohn.
So kam das georgische Kreuz zu mir. Es ist aus dem Holz eines Rebstockes geschnitzt, in einem Stück, etwa 20 Zentimeter lang, rötlich-braun, an den Seiten abgeflacht und poliert. Die Querbalken zeigen leicht nach unten, sodass es eine Ähnlichkeit mit einem Mann-Piktogramm hat, das die Arme sinken lässt. An der Vorderseite verlaufen fein ziselierte Messingleisten in alle vier Äste, die sich zu kleinen Kugeln verdicken. Nicht zu übersehen, dass die Verzierungen der mäandernden georgischen Schrift nachempfunden sind. Vielleicht haben sie sogar etwas zu bedeuten, was für ein Spruch könnte das sein? Vater, ich lege mein Leben in deine Hände? Das ist zu lang. Es ist vollbracht? Am unterem Ende ragt an einem gebogenen Stiel ein kleiner Kerzenhalter hervor, in den eines der dünnen Bienenwachsstäbchen der orthodoxen Kirche passt. Auch Weihrauchkörnchen kann man darin abbrennen. An der Rückseite ist oben eine kleine, biegsame Metallplatte mit Loch angebracht, für den Nagel. In welchem georgischen Haus ist es schon gehängt?

Ich bin keine Kreuzträgerin, keine Fetischistin, keine Kerzerl- oder
Weihrauchanzünderin und keine Amulettträgerin, nicht einmal ein Ketterl mit oder Anhänger kommt an meinen Hals. Aber dieses georgische Kreuz hing seither bei jedem meiner Schreibtische, und es hängt bis heute hier. Wenn ich leicht nach rechts oben aufschaue, ruhe ich mich auf ihm aus. Es strahlt harmonische Energie aus, vielleicht entspricht es dem goldenen Schnitt. Sogar jemand, der meine und Kornelis Geschichte dahinter nicht kennt, sieht sofort, dass das Kreuz kräftig und zart zugleich ist, dass es erdig und schwebend wirkt, so wie es jetzt an der Wand hängt. Sieht, dass es einfache Volkskunst ist, aber in einer der uralten Formen des frühesten christlichen Volkes, die jetzt noch überall in den Kirchen und Friedhöfen Georgiens zu finden sind.


PS: Bilder von den wild tobenden Demonstrationen bekamen wir in den nächsten Tagen zur Genüge, und durch Gigis Vermittlung auch das Interview mit dem Dichter-Präsidenten. Dieses geriet allerdings zur größten Pleite meiner journalistischen Laufbahn. Der Dichter, Dissident und Neupolitiker Gamsachurdia war so begeistert davon, dass mir Rudolf Steiners Schriften bekannt waren und ich aus dessen Heimat kam, dass er ausschließlich über ihn reden wollte. Dabei verriet ich im wohlweislich nicht, dass ich in Wien neben dem Athrosophischen Zentrum am Brahmsplatz meine Wohnung habe. Er lernte nach Englisch und Französisch extra Deutsch, um Steiner im Original lesen zu können. Als verurteilter Nationalist hatte er in 15 Jahren Gulag und Verbannung viel Gelegenheit dazu.
Schon sein Vater Konstantin, ebenfalls Dichter und Literaturprofessor, Germanist und Übersetzer, war Steinerianer und gründete die erste anthroposophische Gesellschaft Russlands. Sohn Swiad sprach mit Begeisterung darüber, wie er Orthodoxie mit Anthroposophie verbinden und zur Staatsphilosophie des neuen Georgien machen wollte. Ich erkannte bald, dass ihm Monologe lagen. Wenn Monologe gut sind, ziehe ich sie Dialogen vor. Aber ich war nicht in der Position der genießenden Zuhörerin, sondern eine Journalistin, die ein brauchbares Interview, ein paar bearbeitbare Wortspenden heimbringen und eine Story um passende Bilder darum herum basteln musste.
Ein Monolog ist, als beobachte man einen Menschen, der ein Buch nur für sich selbst schreibt: Er schreibt es, liest es vor, spielt es, korrigiert es, genießt es, freut sich darüber, freut sich über seine Freude; dann zerreißt er es und wirft die Schnitzel in alle vier Winde. Es ist ein erlesenes Schauspiel, denn während er es vorführt, ist man ein Gott für ihn, falls man nicht ein gefühlloser, ungeduldiger Trottel ist.
Große und lange Bögen zog er von Kolchis, den Argonauten, dem Goldenen Fließ zu Medea, zur der legendären Königin Tamar bis zur Gegenwart, aber nicht zum heutigen Tag, hier und jetzt, die wüsten Demonstrationen um seinen Palast herum und den sich anbahnenden Bürgerkrieg. Ich hatte keine Chance.
Er war in jeder Hinsicht massiv und eine merkwürdige Mischung. 1,90 oder mehr groß, noch im Sitzen sah er aus wie ein Adlerhorst, ein übergroßer Kopf, den ich für typisch georgisch hielt. Die Hände waren zu klein für den Körper, zu zart für einen Machtmenschen und die Gesten zu sanft. Frauliche Hände fiel mir ein, Gänsekiel ja, aber kein Staatszepter. Er hatte etwas ausgesprochen Tragisches an sich, das seine lebhafte Mimik und seine raue, tiefe Stimme noch betonten. Die Augen unter buschigen Brauen und schweren Lidern, groß wie Granatäpfel und dunkel wie Kaukasus-Seen, eine Adlernase, die fülligen Lippen unter dem struppigen Schnurrbart und der dichte, graue Haarschopf schienen ständig adlerumflattert und sturmumweht. Er schien die ganze Zeit nur von sich zu reden und wirkte dennoch nie egozentrisch. Er sprach von sich, da er sich für die interessanteste Persönlichkeit hielt, die er kannte. Das gefiel mir, weil es mir manchmal ebenso ging. Er sprach von sich wie von seinem Land. Er sagte ich und meinte Georgien, seine Geschichte, seine Kultur, seine Verse und Choräle, seinen Vater und seine Söhne. Er sagte ich und meinte Baum, Landschaft, Berge, Wein, Quellen, Meer. Gibt es Menschen, die eine Inkarnation ihres Landes sind? Tiroler Bauern oder tibetische Nomaden fielen mir ein oder noch Indios in den Anden, die der Pacha Mama huldigen. Seine Familiengeschichte war die des Landes, er führte sie bis an Tamars Hof im 12. Jahrhundert, ins Goldene Zeitalter Georgiens, zurück, ein Adelgeschlecht der ersten Stunde. Obwohl wir russisch sprachen, musste der Ministeriums-Übersetzer Gigi stumm an meiner Seite sitzen, der ständig nickte wie eine chinesische Katze, auch seine Rustaweli-Familie hat einen Stammbaum mindestens bis zu Tamar. Gigi war als Kind schon auf seinem Schoß gesessen. Tröstlich, wenn man die Geschichte so sieht wie Gamsachurdia, sind wir alle irgendwie Habsburgs und Windsors.
Meine Fragen zur aktuellen Lage und seiner Politik ignorierte der Präsident elegant, gewalttätig und vollständig. Nichts griff, ich konnte ihn nicht umdrehen zu meinen Themen und abbringen von seinen. Alles, was er in seinem Monolog von sich gab, wäre sehr interessant für ein vergleichendes Geschichts-, Literatur- und Theologieseminar gewesen, aber ich bekam von ihm keine einzige, für den aktuellen Bericht „verwertbare“ Antwort, kein Satz war als Original-Ton geeignet.
Ich war innerlich zerrissen zwischen Faszination und Verzweiflung, saß auf seinen Worten wie auf glühenden Kohlen, fühlte mich wie Rumpelstilzchen auf der Suche nach einer Erdspalte.
Ebenso klar wie das vordergründige Scheitern meines Interviews war, dass Gamsachurdia der falsche Mann auf diesem Posten war und sicher besser in die Argonauten- oder Tamar-Sage passte als in die postsowjetische Gegenwart. Ein sympathisches Volk, das einen Dichter-Philosophen zum Präsidenten gewählt hatte.
Er lachte über die Ironie der Geschichte, die ihn, den Stubengelehrten, Dichter und Gulag-Häftling an die Spitze des Staates geschwemmt hatte. Ha, das wäre ein Haken, Sowjetunion, Gulag, Verbannung, und jetzt, Selbständigkeit, eine international anerkannte Republik Georgien. Aber blieb bei seinem Thema, er sah die humoristische, lächerliche Seite der Dinge – das wahre Kennzeichen einer tragischen Gesinnung.

Am Platz vor den Toren des Palastes wogten die Massen hin- und her, drängten an die Gittertore, die Demonstrationen waren in Straßenschlachten übergegangen, die Miliz prügelte sich in Hochform, ab und zu drang ein Knall oder eine Leuchtrakete durch die dicken Wolkenstors. Ich habe den Saal als ins Rosige getauchte Hölle in Erinnerung, in der mich der Präsident mit dem Goldenen Vlies, der Christianisierung und dem georgischen Mittelalter folterte. Möbel und Parkett aus Rosenholz, alle Bezüge der falschen Biedermeiermöbel, alle Karaffen und Gläser, voll mit Granatapfelsaft, funkelten in diesen Farben, vielleicht doch nur das Fegefeuer. Zumindest fühlte ich mich auf dem Rost gegrillt wie ein georgisches Hühnchen. Ich war jetzt über Georgien aufgeklärt, von höchster Stelle. Aber mir war schlecht, mir war düster zumute, ich war verzweifelt, ich hatte keinen Präsidenten-Sager!

Die Reportage gelang dann doch nicht schlecht (man soll sich selbst nur loben, wenn es unbedingt notwendig ist.) Ich unterlegte die Gori- und Weingarten-Szenen mit Musik von Ghia Kantscheli, die Straßenschlachten waren weder von Bild und Ton kein Problem, sie sonderten ihre eigenen Geräusche ab, und dem Interview mit Gamsachurdia (15 Sekunden O-Ton) schob ich eine allgemein – patriotische Verszeile des Nationaldichters Schota Rustaweli unter.
Zur georgischen Staatsphilosophie kam es nicht mehr. Gamsachurdia wurde immer autoritärer, verlor die Unterstützung der Mehrheit, schnitt die Verfassung mehrmals auf sich um und putschte mit der Präsidentengarde gegen sich selbst, bis er Ende 1993 durch einen Militärputsch gestürzt wurde und unter nie geklärten Umständen ums Leben kam - angeblich Selbstmord auf der Flucht.

Wien, 18.11.16

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