Mittwoch, 7. Dezember 2016

Die Insel Freedom

Das Schiff "Joy of Freedom" mit etwas mehr als hundert Flüchtlingsfamilien an Bord brach nach Australien auf, erreichte aber nie seinen Bestimmungsort. Kein Bericht von einem Überlebenden oder einem zum Schiff gehörenden Gegenstand gelangte je in die Welt. Der Kapitän und der größte Teil der Mannschaft ertranken bei einem Unwetter, viele Frauen und Kinder starben an den Strapazen der ersten Woche auf hoher See, in kleinen Booten oder auf den Planken. Aber etwa hundert Menschen erreichten eine kleine Insel vor der Westküste Australiens. Diese Überlebenden siedelten sich auf der Insel an, die sie natürlich Freedom tauften. Das war auch das einzige gemeinsame Wort, denn die Kolonisten kamen aus den verschiedensten Ländern: Rohyngia aus Myanmar, Minderheiten aus Thailand, den Philippinen, Indonesien und anderen asiatischen Gebieten wie etwa den noch immer namenlosen Inseln in der Molukken-Straße.

Zuerst bauten sie Hütten, dann eine Schule, eine Kirche, einen Tempel, ein Rathaus, sogar ein Theater, eine Bibliothek und auf der Erhebung des höchsten Hügels einen Leuchtturm. Sie gaben ihren Gebäuden Namen aus ihren früheren Heimaten. So hieß zum Beispiel die Schule Rangun, die Kirche St. John, der Tempel Bali, das Rathaus Borneo, das Theater Goa, und den Leuchtturm nannten sie aus unerklärlichen Gründen La Puta, wahrscheinlich weil sich das Wort für alle gleich leicht aussprechen ließ. Später hieß die ganze Insel einfach nur noch Laputa.
Entgegen der Schrecken der Reise fanden sie auf der Insel günstige Bedingungen vor. Es herrschte ein gleichmäßig mildes Klima, es gab reichlich Wasser, keine wilden Tiere bedrohten sie, der reiche tropische Wald mit Früchten und Kleingetier konnte sie ernähren, und die Insel war umgeben von fischreichen Gewässern. So begannen sich die Kolonisten zu vermehren und eine laputianische Gemeinschaft zu bilden.
Doch dann erschütterte ein Ereignis die Insel. Sie verloren ihre besten vierzehn Männer, die sich mit einem roh gezimmerten Floß nach Osten aufmachten. Ob die letzten Erinnerungen an das ursprüngliche Ziel der "Joy of Freedom" sie zu dem Wagnis verleitet hat, einen Ausbruchsversuch zu machen? Oder die Vision einer Küste, die manchmal bei Sonnenaufgang am Horizont vor Laputa auftauchte? In Laputisch nannten sie diesen Sehnsuchtsort Palmibarbi nach den heimischen Palmen, andere sagten lieber Luggnagg, nach dem besten Fisch in ihren Gewässern.

Niemand kann sagen, was mit den Auswanderern geschehen ist. Aber eines Tages wurden einige behauene, ausgebleichte und vom Wasser ausgehöhlte Palmenstämme am Strand angetrieben. Gleichzeitig mit ihnen kamen die Riesenmolche auf die Insel, die es nur in Australien gab. Danach wagte lange niemand mehr, die Insel zu verlassen, und die Außenwelt geriet allmählich in Vergessenheit. Sogar den Leuchtturm ließen die Insulaner verfallen und fütterten das Feuer nicht mehr. Allerdings erwiesen sich die Molche als gelehrig und eigneten sich hervorragend als Gehilfen der Muscheltaucher. Das Muschelfleisch galt den Insulanern als Delikatesse, wobei sie die Schalen und Perlen als Abfallprodukte den Kindern zum Spielen gaben.

Am 30. Dezember des Jahres .....04 landete ein Schiffbrüchiger auf Laputa, ein finno-lettischer Seemann, der lange in einem offenen Boot getrieben war. Er war ungewöhnlich groß, hatte eine weiße Haut mit blauen Adern und bräunlichen Flecken, keine Haare auf dem Kopf, dafür aber einen mächtigen roten Bart.
Die Insulaner wunderten sich nicht sonderlich über sein Aussehen, hatten sie doch selbst einige Besonderheiten aufzuweisen. Sie waren nicht größer als fünfzehn- jährige Pygmäen, ihre Köpfe waren alle entweder nach rechts oder nach links geneigt; eines ihrer Augen war nach innen und das andere senkrecht auf den Zenit gerichtet. Sie liefen immer nackt herum, sodass man sie nur an ihren körperlichen Unterschieden auseinander halten hätte können. Die lange Isolation und die Inzucht hatten sie aber so abgeschliffen, dass sie einander glichen wie eine Kokosnuss der anderen. Zusätzlich erschwerend war es, dass sie offenbar keinen König oder Königin hatten, keinen Führer oder Führerin, keinen Häuptling oder eine Zauberin, also nichts an sich hatten, an dem man eine Rangordnung ablesen hätte können.

Es brauchte viele Jahre, bis der Fremde ihre laputische Sprache halbwegs erlernte und den Freedomianern etwas von seiner „Welt da draußen“ erzählen konnte: Verschwommene Berichte von Ländern am Rande eines Ostsee genannten Meeres, wo es acht Monate Winter mit Eis und Finsternis gab und das Meer zufror, wovon sie aber keine Vorstellung entwickeln konnten. Dabei waren sie neugierig und offensichtlich gelehrig.
In den Gegenden, von denen der Fremde zu ihnen sprach, wurde einem gewissen Obamaputintrump geopfert, offenbar einem dreiköpfigen Häuptling. Von einer EU und einem IS erzählte er, einer UNO und Opec, einer EFTA, WHO, WLO, NASA und VRChina. Er verwirrte die Insulaner sehr mit all diesen Grexit, Brexit, Öxit und Schottixt, Katalanixt, Baskixt, Kosovonixt und Republikasrpstkixt. Sosehr sich der lettische Riese auch bemühte, sie verstanden nix. Danach tauften sie ihn Letnix, was sich bald zu einem Nix verkürzten. Das einzige, was ihnen gefiel, was sie offenbar unmittelbar ansprach, was sie sofort verstanden und nachahmten, war seine Art zu singen und zu tanzen. Er nannte das Tango. Tan-go, das war auch ein Wort, das sich gut ins Laputische fügte. Ihre Sprache bevorzugte langgezogene a-, o- und u-förmige Vokale, so wie sie es beim Blasen des Tritonhornes, der angebohrten Kokosnuss oder des Bambusrohres hervorbrachten.
Vielleicht lag die Unverständlichkeit auch daran, dass der Seemann sehr lange unterwegs gewesen war und die Verhältnisse in der nördlichen Welt auch nicht mehr gut kannte. Auf jeden Fall erholte er sich nie wieder ganz von den Strapazen seines Schiffbruchs und siechte dahin. Vielleicht bekam ihm aber die karge und einseitige Inselkost nicht, es kann auch die südliche Sonne gewesen sein oder der Kummer darüber, dass er seinen Rettern die "Welt da draußen" nicht erklären konnte. Bis zu seinem letzten Atemzug lagerte er am Strand und zeichnete für die Insulaner eigenartige Kringel in den Sand, für die Zuschauer unverständliche Gebilde, die einen kreisrund, die anderen tropfenförmig oder dreieckig, große zusammenhängende oder einzelne, lang gezogene runde wie die thailändische Schrift. Die Laputaner begruben den Nix unter der Palme auf dem Hügel, nicht weit vom verfallenen Leuchtturm.

Ohne sagen zu können, wer damit begonnen hatte - die Insulaner gingen immer häufiger zum Grab des Letnix, legten Blüten, Früchte und Muscheln, getrocknete Erbsen, Bohnen, Kiesel und Perlen auf den Hügel. Bald stellte jemand eine Hütte aus Palmblättern darüber auf, jemand ebnete das Gelände rundum ein, andere breiteten Bastmatten aus, damit die Besucher bequem um die Hütte lagern oder lettischen Tango tanzen konnten.
Im Theater Goa, aber auch in der Kirche St. John und im Tempel Bali feierten sie zu seinen Ehren gemeinsame Feste mit reichlich Kokosmet, wobei sie eine übergroße Figur aus Palmblättern herumtrugen und Letno-Tango tanzten.
Die Kinder spielten mit Nix-Puppen aus Bast, und die Jugendlichen bekamen zur Initiation im Rathaus Borneo Nix- Amulette, geschnitzt aus Muschelschlaen und Tritonshörnern, um den Hals gehängt. Es gab keinen Mann, der sich nicht auf irgendeinen Körperteil einen Nix tätowieren ließ.
Die Frauen hatten es schwerer; ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich das Haar zu einer Glatze zu scheren, um des verstorbenen Nix zu gedenken.
Und trotzdem lässt sich nicht behaupten, dass sich der Nix-Kult zu einer Religion entwickelte. Die Freedomianer begingen alle diese Riten eher spielerisch, mit Ernst, aber ohne Tiefgang. Sie huldigten weiter der wichtigsten der großen Weltreligionen, dem Unglauben.

Aber zu dieser Zeit bemächtigte sich der ganzen Insel eine Leidenschaft zur Erforschung der „Außenwelt“. Da sie ihre früheren Sprachen vergessen hatten und sie ohnedies nur notdürftig lesen und schreiben konnten, erfanden sie eine Kringelschrift für das Laputische, so wie sie es beim lettischen Seemann im Sand gesehen hatten. Einigen Frauen gelang es, aus Bastfasern einen Papierersatz herzustellen, auf denen die Kinder von Rangun, der Schule, das Schreiben erlernten. Das Rechnen hatten sie schon früher mit Kokosnüssen und Kaffeebohnen geübt. Auf diese Wiese bildete man amtliche Schreiber aus, die die Basttafeln beschrieben und in der in Balts umbenannten Bibliothek sammelten.
Aber sie betrieben ihr Sammeln nicht wie Johannes seine Offenbarung, in der er alles verbarg, was er wusste, sondern wie die Nordmänner die Philosophie, wie eine Strecke, die sich aus vielen Wegen zusammensetzt und vom Nirgendwo ins Nichts führt.

Immer mehr Insulaner widmeten sich in der Freizeit nun dem Sammeln von alten Sagen über ihre Flucht, die sie zu einer Pilgerfahrt umdichteten, über die Tauf-, Hochzeits- und Sterberiten, über die Geografie ihrer Herkunftsländer, die Tierwelt, Getreidesorten, Gerätschaften und Gedichte. Bald wurde ein junges Talent entdeckt, das hunderte von baltischen Balladen schuf und mit dem Langepos von der Welteiche ein Star wurde. Dann tauchte ein begabter Musiker auf, der Lieder erfand und viele Instrumente baute, sogar solche, die der Letnix selbst nicht kannte: Zimbeln, Flöten, Trompeten, Harfen, Gitarren und Cembalos. Ihr Lieblingsinstrument schien aber eine einheimische Art von Windorgel zu sein. An einen kurzen Stock waren wie auf einen Dreschflegel luftgefüllte Fischblasen geheftet, in denen Kichererbsen und Perlen rasselten, wenn sie den Stock durch die Luft schwangen. Die schönsten ergaben sich, wenn die Musiker mit ihrem Stock den Umstehenden auf Mund und Ohren schlugen, auf den Rippen und Bäuchen ergaben sich die lieblichsten Laute, so wie sie das Meer macht, wenn es in Felshöhlen schwappt.
Eine junge Frau konnte nicht genug davon kriegen, Kreise, Dreiecke und Quadrate, Ellipsen und Trapeze in den Sand zeichnete, sodass sie mit der Zeit ein Geschlecht von Mathematikern zur die Welt brachte, die die ersten Bücher des Euklid nachschrieben. Das Schicksal wollte es, dass ihr ältester Sohn, Kapitän Laput genannt, gerne am Leuchtturm saß und aufs Meer und in den Himmel schaute. Nach jahrelangen Beobachtungen leitete Laput daraus den Lauf der Sterne ab und schrieb die letzten Bücher Euklids neu. Wie er immer länger so dasaß und schaute, kam er zur Überzeugung, dass dort Hunderte, ja Tausende Wesen in Behausungen von außerordentlicher Größe und Schönheit lebten.
Laput träumte davon, einen Weg zu dieser Welt zu finden und von der Möglichkeit, dass sich
Freedom zu so einer Welt entwickeln könnte. Seine Mutter seufzte und schüttelte den Kopf: „ Lass solche Gedanken, das sind Flausen, wir wissen es nicht, ob jene Welt noch vorhanden ist und ob sie besser oder schlechter ist als unsere. Und werden es auch nie erfahren. Wir sind nicht dafür geboren, wegzugehen. Das Beste, mein Sohn, was wir tun können, uns nicht den Kopf unnötig zu zerbrechen, sondern unsere Pflichten im Hier und Jetzt zu erfüllen.“

Laput ließ sich aber damit nicht abspeisen. Weil er wegen seiner Euklid-Interpretation großes Ansehen auf der Insel genoss, konnte er einige Männer dazu bewegen, den Leuchtturm wieder aufzurichten und das Notsignal auf dem Berggipfel instand zu setzen.
Als er eines Tages seine Kinder zu Bett gebracht hatte und schon alle Insulaner in ihren Hütten schliefen, machte Laput seine Runde durch Freedom und stieg schließlich auf den Hügel. Er setzte sich unter die Palme beim Leuchtturm und schaute auf das Meer hinaus. Unter dem Sternenhimmel sann er über das Schicksal der Kolonie nach, das ihn an diesen Platz gebracht hatte.
Und er dachte an die kommenden Zeiten, wenn seine Kinder ihn überlebt haben würden. Wie er so saß und sann und sann, schob sich ein seltsames Bild vor seine Augen. Ein riesiges Schiff, höher als der Hügel, kam langsam um das Vorgebirge herum, behangen mit Lichtern in drei Reihen übereinander, vom Vorder- bis zum Achtersteven. Zwei beleuchtete Turmskelette ragten in den Himmel und schienen die Sterne aufzuspießen. Musik klang zu ihm herüber und der Ton menschlicher Stimmen in der stillen Luft. Der Anblick war wunderschön, aber schrecklich und beängstigend.
Kapitän Laput sprang auf und dachte einen Augenblick daran, die Kirche St. John in Brand zu stecken, um auf sich aufmerksam zu machen. Ein großes Freudenfeuer zu entzünden, dass er in eine andere Welt wechseln könnte.
Aber er setzte sich wieder nieder und ließ das Wunder in der Ferne vorüberziehen. Da nahm er schattenhaft wahr, dass sich die Laputaner hinter ihm versammelt hatten, auf das Meer hinaus starrten, zitterten und schweigend in ihre Hütten zurückgingen.

Nachtrag der Universität Dublin
Der Schiffbrüchige war kein weder Finne noch Lette und auch kein einfacher Seemann, sondern der weltberühmte Anthropologe, der irisch-stämmige Finnbar McLoughlin aus Limerick, ein anerkannter Forscher und Autor vieler Bücher über die Kulturen Polynesiens, Dozent an der Universität Dublin. Er gilt seit dem Tsunami von 2004 als verschollen. Seine Aufzeichnungen sind vor kurzem in einer bei Limerick angeschwemmten Kokosnuß entdeckt worden. Experten studieren seither die Bastrollen, die mit unbekannten Zeichen bedeckt sind. Auch das Jonathan-Swift-Institut in Irland und die Thornton-Wilder-Stiftung in den USA wurden mit der Erforschung der Schriften beauftragt, die von der Stadt Limerick finanziert wird.

Veronika Seyr
3.12.16

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