Das
Schiff "Joy of Freedom" mit etwas mehr als hundert
Flüchtlingsfamilien an Bord brach nach Australien auf, erreichte
aber nie seinen Bestimmungsort. Kein Bericht von einem Überlebenden
oder einem zum Schiff gehörenden Gegenstand gelangte je in die Welt.
Der Kapitän und der größte Teil der Mannschaft ertranken bei einem
Unwetter, viele Frauen und Kinder starben an den Strapazen der
ersten Woche auf hoher See, in kleinen Booten oder auf den Planken.
Aber etwa hundert Menschen erreichten eine kleine Insel vor der
Westküste Australiens. Diese Überlebenden siedelten sich auf der
Insel an, die sie natürlich Freedom tauften. Das war auch
das einzige gemeinsame Wort, denn die Kolonisten kamen aus den
verschiedensten Ländern: Rohyngia aus Myanmar, Minderheiten aus
Thailand, den Philippinen, Indonesien und anderen asiatischen
Gebieten wie etwa den noch immer namenlosen Inseln in der
Molukken-Straße.
Zuerst
bauten sie Hütten, dann eine Schule, eine Kirche, einen Tempel,
ein Rathaus, sogar ein Theater, eine Bibliothek und auf der Erhebung
des höchsten Hügels einen Leuchtturm. Sie gaben ihren Gebäuden
Namen aus ihren früheren Heimaten. So hieß zum Beispiel die Schule
Rangun, die Kirche St. John, der Tempel Bali,
das Rathaus Borneo, das Theater Goa, und den Leuchtturm
nannten sie aus unerklärlichen Gründen La Puta,
wahrscheinlich weil sich das Wort für alle gleich leicht aussprechen
ließ. Später hieß die ganze Insel einfach nur noch Laputa.
Entgegen der Schrecken der
Reise fanden sie auf der Insel günstige Bedingungen vor. Es
herrschte ein gleichmäßig mildes Klima, es gab reichlich Wasser,
keine wilden Tiere bedrohten sie, der reiche tropische Wald mit
Früchten und Kleingetier konnte sie ernähren, und die Insel war
umgeben von fischreichen Gewässern. So begannen sich die
Kolonisten zu vermehren und eine laputianische Gemeinschaft zu
bilden.
Doch dann erschütterte ein
Ereignis die Insel. Sie verloren ihre besten vierzehn Männer, die
sich mit einem roh gezimmerten Floß nach Osten aufmachten. Ob die
letzten Erinnerungen an das ursprüngliche Ziel der "Joy of
Freedom" sie zu dem Wagnis verleitet hat, einen
Ausbruchsversuch zu machen? Oder die Vision einer Küste, die
manchmal bei Sonnenaufgang am Horizont vor Laputa auftauchte? In
Laputisch nannten sie diesen Sehnsuchtsort Palmibarbi nach den
heimischen Palmen, andere sagten lieber Luggnagg, nach dem
besten Fisch in ihren Gewässern.
Niemand
kann sagen, was mit den Auswanderern geschehen ist. Aber eines
Tages wurden einige behauene, ausgebleichte und vom Wasser
ausgehöhlte Palmenstämme am Strand angetrieben. Gleichzeitig
mit ihnen kamen die Riesenmolche auf die Insel, die es nur in
Australien gab. Danach wagte lange niemand mehr, die Insel zu
verlassen, und die Außenwelt geriet allmählich in Vergessenheit.
Sogar den Leuchtturm ließen die Insulaner verfallen und fütterten
das Feuer nicht mehr. Allerdings erwiesen sich die Molche als
gelehrig und eigneten sich hervorragend als Gehilfen der
Muscheltaucher. Das Muschelfleisch galt den Insulanern als
Delikatesse, wobei sie die Schalen und Perlen als Abfallprodukte den
Kindern zum Spielen gaben.
Am
30. Dezember des Jahres .....04 landete ein Schiffbrüchiger auf
Laputa, ein finno-lettischer Seemann, der lange in einem offenen Boot
getrieben war. Er war ungewöhnlich groß, hatte eine weiße Haut
mit blauen Adern und bräunlichen Flecken, keine Haare auf dem Kopf,
dafür aber einen mächtigen roten Bart.
Die
Insulaner wunderten sich nicht sonderlich über sein Aussehen, hatten
sie doch selbst einige Besonderheiten aufzuweisen. Sie waren nicht
größer als fünfzehn- jährige Pygmäen, ihre Köpfe waren alle
entweder nach rechts oder nach links geneigt; eines ihrer Augen war
nach innen und das andere senkrecht auf den Zenit gerichtet. Sie
liefen immer nackt herum, sodass man sie nur an ihren körperlichen
Unterschieden auseinander halten hätte können. Die lange Isolation
und die Inzucht hatten sie aber so abgeschliffen, dass sie einander
glichen wie eine Kokosnuss der anderen. Zusätzlich erschwerend war
es, dass sie offenbar keinen König oder Königin hatten, keinen
Führer oder Führerin, keinen Häuptling oder eine Zauberin, also
nichts an sich hatten, an dem man eine Rangordnung ablesen hätte
können.
Es
brauchte viele Jahre, bis der Fremde ihre laputische Sprache
halbwegs erlernte und den Freedomianern etwas von seiner „Welt da
draußen“ erzählen konnte: Verschwommene Berichte von Ländern
am Rande eines Ostsee genannten Meeres, wo es acht Monate Winter mit
Eis und Finsternis gab und das Meer zufror, wovon sie aber keine
Vorstellung entwickeln konnten. Dabei waren sie neugierig und
offensichtlich gelehrig.
In den Gegenden, von denen der
Fremde zu ihnen sprach, wurde einem gewissen Obamaputintrump
geopfert, offenbar einem dreiköpfigen Häuptling. Von einer EU
und einem IS erzählte er, einer UNO und Opec, einer EFTA, WHO, WLO,
NASA und VRChina. Er verwirrte die Insulaner sehr mit all diesen
Grexit, Brexit, Öxit und Schottixt, Katalanixt, Baskixt, Kosovonixt
und Republikasrpstkixt. Sosehr sich der lettische Riese auch
bemühte, sie verstanden nix. Danach tauften sie ihn Letnix,
was sich bald zu einem Nix verkürzten.
Das einzige, was ihnen gefiel, was sie offenbar
unmittelbar ansprach, was sie sofort verstanden und nachahmten, war
seine Art zu singen und zu tanzen. Er nannte das Tango. Tan-go, das
war auch ein Wort, das sich gut ins Laputische fügte. Ihre Sprache
bevorzugte langgezogene a-, o- und u-förmige Vokale, so wie sie es
beim Blasen des Tritonhornes, der angebohrten Kokosnuss oder des
Bambusrohres hervorbrachten.
Vielleicht lag die
Unverständlichkeit auch daran, dass der Seemann sehr lange
unterwegs gewesen war und die Verhältnisse in der nördlichen
Welt auch nicht mehr gut kannte. Auf jeden Fall erholte er sich nie
wieder ganz von den Strapazen seines Schiffbruchs und siechte dahin.
Vielleicht bekam ihm aber die karge und einseitige Inselkost nicht,
es kann auch die südliche Sonne gewesen sein oder der Kummer
darüber, dass er seinen Rettern die "Welt da draußen"
nicht erklären konnte. Bis zu seinem letzten Atemzug lagerte er am
Strand und zeichnete für die Insulaner eigenartige Kringel in den
Sand, für die Zuschauer unverständliche Gebilde, die einen
kreisrund, die anderen tropfenförmig oder dreieckig, große
zusammenhängende oder einzelne, lang gezogene runde wie die
thailändische Schrift. Die Laputaner begruben den Nix unter der
Palme auf dem Hügel, nicht weit vom verfallenen Leuchtturm.
Ohne sagen zu können, wer
damit begonnen hatte - die Insulaner gingen immer häufiger zum Grab
des Letnix, legten Blüten, Früchte und Muscheln, getrocknete
Erbsen, Bohnen, Kiesel und Perlen auf den Hügel. Bald stellte
jemand eine Hütte aus Palmblättern darüber auf, jemand ebnete das
Gelände rundum ein, andere breiteten Bastmatten aus, damit die
Besucher bequem um die Hütte lagern oder lettischen Tango tanzen
konnten.
Im
Theater Goa, aber auch in der Kirche St. John und im Tempel Bali
feierten sie zu seinen Ehren gemeinsame Feste mit reichlich
Kokosmet, wobei sie eine übergroße Figur aus Palmblättern
herumtrugen und Letno-Tango tanzten.
Die
Kinder spielten mit Nix-Puppen aus Bast, und die Jugendlichen
bekamen zur Initiation im Rathaus Borneo Nix- Amulette, geschnitzt
aus Muschelschlaen und Tritonshörnern, um den Hals gehängt. Es
gab keinen Mann, der sich nicht auf irgendeinen Körperteil einen
Nix tätowieren ließ.
Die
Frauen hatten es schwerer; ihnen blieb nichts anderes übrig, als
sich das Haar zu einer Glatze zu scheren, um des verstorbenen Nix zu
gedenken.
Und
trotzdem lässt sich nicht behaupten, dass sich der Nix-Kult zu einer
Religion entwickelte. Die Freedomianer begingen alle diese Riten eher
spielerisch, mit Ernst, aber ohne Tiefgang. Sie huldigten weiter der
wichtigsten der großen Weltreligionen, dem Unglauben.
Aber
zu dieser Zeit bemächtigte sich der ganzen Insel eine Leidenschaft
zur Erforschung der „Außenwelt“. Da sie ihre früheren
Sprachen vergessen hatten und sie ohnedies nur notdürftig lesen und
schreiben konnten, erfanden sie eine Kringelschrift für das
Laputische, so wie sie es beim lettischen Seemann im Sand gesehen
hatten. Einigen Frauen gelang es, aus Bastfasern einen Papierersatz
herzustellen, auf denen die Kinder von Rangun, der Schule, das
Schreiben erlernten. Das Rechnen hatten sie schon früher mit
Kokosnüssen und Kaffeebohnen geübt. Auf diese Wiese bildete man
amtliche Schreiber aus, die die Basttafeln beschrieben und in der
in Balts umbenannten Bibliothek sammelten.
Aber sie betrieben ihr Sammeln
nicht wie Johannes seine Offenbarung, in der er alles verbarg, was er
wusste, sondern wie die Nordmänner die Philosophie, wie eine
Strecke, die sich aus vielen Wegen zusammensetzt und vom Nirgendwo
ins Nichts führt.
Immer mehr Insulaner widmeten
sich in der Freizeit nun dem Sammeln von alten Sagen über ihre
Flucht, die sie zu einer Pilgerfahrt umdichteten, über die Tauf-,
Hochzeits- und Sterberiten, über die Geografie ihrer
Herkunftsländer, die Tierwelt, Getreidesorten, Gerätschaften und
Gedichte. Bald wurde ein junges Talent entdeckt, das hunderte von
baltischen Balladen schuf und mit dem Langepos von der Welteiche ein
Star wurde. Dann tauchte ein begabter Musiker auf, der Lieder
erfand und viele Instrumente baute, sogar solche, die der Letnix
selbst nicht kannte: Zimbeln, Flöten, Trompeten, Harfen, Gitarren
und Cembalos. Ihr Lieblingsinstrument schien aber eine einheimische
Art von Windorgel zu sein. An einen kurzen Stock waren wie auf
einen Dreschflegel luftgefüllte Fischblasen geheftet, in denen
Kichererbsen und Perlen rasselten, wenn sie den Stock durch die
Luft schwangen. Die schönsten ergaben sich, wenn die Musiker mit
ihrem Stock den Umstehenden auf Mund und Ohren schlugen, auf den
Rippen und Bäuchen ergaben sich die lieblichsten Laute, so wie sie
das Meer macht, wenn es in Felshöhlen schwappt.
Eine junge Frau konnte nicht
genug davon kriegen, Kreise, Dreiecke und Quadrate, Ellipsen und
Trapeze in den Sand zeichnete, sodass sie mit der Zeit ein
Geschlecht von Mathematikern zur die Welt brachte, die die ersten
Bücher des Euklid nachschrieben. Das Schicksal wollte es, dass ihr
ältester Sohn, Kapitän Laput genannt, gerne am Leuchtturm saß
und aufs Meer und in den Himmel schaute. Nach jahrelangen
Beobachtungen leitete Laput daraus den Lauf der Sterne ab und
schrieb die letzten Bücher Euklids neu. Wie er immer länger so
dasaß und schaute, kam er zur Überzeugung, dass dort Hunderte, ja
Tausende Wesen in Behausungen von außerordentlicher Größe und
Schönheit lebten.
Laput
träumte davon, einen Weg zu dieser Welt zu finden und von der
Möglichkeit, dass sich
Freedom zu so einer Welt
entwickeln könnte. Seine Mutter seufzte und schüttelte den Kopf:
„ Lass solche Gedanken, das sind Flausen, wir wissen es nicht, ob
jene Welt noch vorhanden ist und ob sie besser oder schlechter ist
als unsere. Und werden es auch nie erfahren. Wir sind nicht dafür
geboren, wegzugehen. Das Beste, mein Sohn, was wir tun können, uns
nicht den Kopf unnötig zu zerbrechen, sondern unsere Pflichten im
Hier und Jetzt zu erfüllen.“
Laput
ließ sich aber damit nicht abspeisen. Weil er wegen seiner
Euklid-Interpretation großes Ansehen auf der Insel genoss, konnte
er einige Männer dazu bewegen, den Leuchtturm wieder aufzurichten
und das Notsignal auf dem Berggipfel instand zu setzen.
Als er eines Tages seine
Kinder zu Bett gebracht hatte und schon alle Insulaner in ihren
Hütten schliefen, machte Laput seine Runde durch Freedom und
stieg schließlich auf den Hügel. Er setzte sich unter die Palme
beim Leuchtturm und schaute auf das Meer hinaus. Unter dem
Sternenhimmel sann er über das Schicksal der Kolonie nach, das ihn
an diesen Platz gebracht hatte.
Und er dachte an die kommenden
Zeiten, wenn seine Kinder ihn überlebt haben würden. Wie er so saß
und sann und sann, schob sich ein seltsames Bild vor seine Augen.
Ein riesiges Schiff, höher als der Hügel, kam langsam um das
Vorgebirge herum, behangen mit Lichtern in drei Reihen übereinander,
vom Vorder- bis zum Achtersteven. Zwei beleuchtete Turmskelette
ragten in den Himmel und schienen die Sterne aufzuspießen.
Musik klang zu ihm herüber und der Ton menschlicher Stimmen in der
stillen Luft. Der Anblick war wunderschön, aber schrecklich und
beängstigend.
Kapitän
Laput sprang auf und dachte einen Augenblick daran, die Kirche St.
John in Brand zu stecken, um auf sich aufmerksam zu machen. Ein
großes Freudenfeuer zu entzünden, dass er in eine andere Welt
wechseln könnte.
Aber
er setzte sich wieder nieder und ließ das Wunder in der Ferne
vorüberziehen. Da nahm er schattenhaft wahr, dass sich die
Laputaner hinter ihm versammelt hatten, auf das Meer hinaus
starrten, zitterten und schweigend in ihre Hütten zurückgingen.
Nachtrag
der Universität Dublin
Der
Schiffbrüchige war kein weder Finne noch Lette und auch kein
einfacher Seemann, sondern der weltberühmte Anthropologe, der
irisch-stämmige Finnbar McLoughlin aus Limerick, ein
anerkannter Forscher und Autor vieler Bücher über die Kulturen
Polynesiens, Dozent an der Universität Dublin. Er gilt seit dem
Tsunami von 2004 als verschollen. Seine Aufzeichnungen sind vor
kurzem in einer bei Limerick angeschwemmten Kokosnuß entdeckt
worden. Experten studieren seither die Bastrollen, die mit
unbekannten Zeichen bedeckt sind. Auch das
Jonathan-Swift-Institut in Irland und die Thornton-Wilder-Stiftung
in den USA wurden mit der Erforschung der Schriften beauftragt,
die von der Stadt Limerick finanziert wird.
Veronika
Seyr
3.12.16
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