Gerade als der serbische Ministerpräsident Boris Tadic den staatlichen Energiegiganten NIS praktisch ohne Gegenleistung um en Appel undn Ei an die Russen verscherbelte und sich zuhause als Retter der Nation feiern ließ, passierte es: das Brudervolk drehte den Gashahn ab und lässt seither hunderttausende Serben frieren. Pech gehabt, und das im kältesten Winter seit Jahrzehnten! Die Eisschollen schieben sich knirschend die Donau- und Save-Ufer entlang, in der Fahrrinne stecken Schiffe im Eis fest als wär`s Franz-Josefsland in der Nord-Ost-Passage, auf dem zugefrorenen Binnensee Ada Zinganla erinnern die vermummten Gestalten der Eisfischer an russische Winterbilder von Wolga und Don. Der einzige Unterschied: hier wärmt man sich nicht Wodka, sondern mit Slibowitz und Vinjak. In den kalten Wohnungen erleben die Serben gerade die russische Kultur als Gesamtkunstwerk in geist-leiblicher Direktheit und Intensität. Bevorzugt werden dabei „Krieg und Frieden“, „Doktor Schiwago“ und „Archipel Gulag“, da liegt auch oft wahnsinnig viel Schnee, ist es oft sehr kalt und Väterchen Frost nah. Dabei kann man die russische Seele so richtig verstehen lernen. Und die Geschichte auch: wie König Winter gemeinsam mit Feldmarschall Kutusow schon Napoleon und mit Väterchen Stalin Hitler bezwungen hat.
Meine Belgrader Freundin Vera hat Glück: sie wohnt auf der Makedonska-Straße in der City, nicht weit von Regierungssitz, Parlament, Zeitungs- und -TV-Zentren. Dort hat man auf die Schnelle ein altes Gasheizwerk auf Ölfeuerung umgerüstet, so dass die wichtigen Menschen nicht frieren müssen und der serbische Polizeiminister Dacic im Fernsehen erzählen konnte, Premier Tadic habe nun in Moskau so gute Beziehungen, dass er nach dem NIS-Deal Putin und Medwedjew jederzeit anrufen und mit ihnen plaudern könne. Hat er aber nicht, sondern Angela Merkel in Berlin, um sie um eine Öl-Umleitung via Österreich und Ungarn anzubetteln. Danke Deutschland? Ja, aber nicht laut sagen!
Nicht so gut geht es dagegen meinem Freund Zoran in einer weniger prominenten Wohngegend, seinen 200 000 Nachbarn in Novi Beograd und der gesamten Wojwodina. Sie frieren entsetzlich im kältesten und schneereichsten Winter seit dem 2. Weltkrieg, an den die älteren Menschen bitter erinnert werden. Die Fernheizgaskraftwerke sind entweder so schrottreif, dass sie sich nicht umrüsten lassen oder haben kein deutsches Öl bekommen. Seit der Gashahn abgedreht wurde, sitzt Zoran in seiner Neubauwohnung im Mantel und friert sich den Hintern ab. Zoran ist kein Russenfreund, aber in wie in einer echten sibirischen Jurte hat er auf dem Kopf eine Ushanka, die russische Ohrenklappenfellmütze; in großen Schwaden haucht er in seine Finger, so klamm, dass sie kaum eine Kerzen anzünden können. Von den Fenstern kratzt er das Eis wie sonst vom Auto, der PC geht nicht, das Telefon auch nicht, nur mit dem Handy kann er noch Kontakt zur Außenwelt halten und sich an der Verbreitung der russischen Kultur erfreuen. Aber was, wenn der Akku leer ist? Er fährt zu Vera ins Stadtzentrum, ihn aufladen und sich aufwärmen. Dann kehrt er wieder in seine finstere und kalte Schlafburg zurück und liest bei Kerzenlicht „Schuld und Sühne“ (richtig übersetzt eigentlich „Verbrechen und Strafe“) und „Aus einem Totenhaus“. Dostojewskij ist immer gut für Katastrophenbewältigung. Keine Musik, keine Ablenkung, keine Arbeit: Radio, Fernseher, PC, Toaster, Mixer, Kaffee- und Zahnputzmaschine stehen ohne Strom ziemlich blöd herum. Nicht zu vergessen: es gibt natürlich auch kein heißes Wasser, daher keinen Tee, Suppe, Dusche und auch kein wärmendes Wannenbad. Besonders gemein vom Schicksal ist es, dass die russische Kälte ausgerechnet zum serbischen Weihnachts- und Neujahrsfest (6. und 13. Jänner) ausgebrochen ist. Wer will denn da noch verstehen, dass die Russen dasselbe orthodoxe Jesulein in der Krippe anbeten? Noch schmerzhafter als zu frieren und zu hungern ist es, wenn sich Freund und Feind nicht mehr unterscheiden lassen. Einige sensible Belgrader Bürger sollen sich in dieser psycho-physischen Konstellation sogar an die drei Sarajewoer Kriegswinter von 1992 – 1995 erinnert haben, erzählt mein Freund, und dankbar sein, dass sie zumindest nicht unter Beschuss von 155- Millimeter-Haubitzen, Katjuscha-Raketen und Snipers der jugoslawischen Volksarmee liegen, sich nicht in Schlangen um Brot und Wasser anstellen und in den eisigen Kellern ihrer zerbombten Häuser zusammendrängen müssen. Laut Marx kommt die Geschichte ja nur als Farce zurück
Das Dramentheater hat Frostferien ausgerufen, da es als nicht staatstragende Institution keine Energie zugeteilt bekam, und die Premiere von Tschechows „Drei Schwestern“ muss verschoben werden, bis es Frühling wird oder wieder Saft aus den Pipelines kommt. Noch muss der sehnsüchtige Ruf Irinas im 3. Akt ungehört bleiben: Nach Moskau! Nach Moskau! Gerüchte sagen aber, dass der Spielplan überhaupt ganz auf „Iwan der Schreckliche“, „Opritschniki“ und „Oblomov“ abgeändert werden soll. Spaßvögel begrüßen sich in diesen Tagen mit dem Bärenwitz über den Namen Medwedjew (medwed = Bär), und Putin wird wieder wie poutaine (frz. Hure) ausgesprochen. Das Lachen, die Umarmungen beim dreifachen Wangenkuss und der Dreifingergruß fallen bei 30 Grad minus eher grimmig aus.
In der mittelserbischen Industriestadt Kragujevac mit ihrem traditionell kämpferischen Proletariat (Zastava-Fiat-Werke, Waffen, Panzer) haben wütende Arbeiter eine russische Fahne öffentlich verbrannt (oder haben sie die drei Streifen der Trikolore nur ausgetauscht?) und die angeblich ewige serbisch-russische Druschba aufgekündigt. Alle Räder stehen still, wenn der große Bruder es so will. Sie frieren und hungern, aber in den schlaflosen Nächten kommen sie endlich dazu, vor einem dampfenden Samowar russische Poesie zu lesen - „Fröhliche Schlittenfahrt mit der Troika“ , „Frühglocken am Wintertag“ oder „Tatjanas Traum“ aus Eugen Onegin etwa, alles zur Verbreitung der höheren, herzerwärmenden Ehre der russischen Kultur. Da sinnen sie dann dem berühmten Vers des Dichters Tjutschev nach, dass Russland mit dem Verstand nicht erfasst werden könne. Mit welchem Organ denn? Marktstandler, Polizisten, Zeitungsverkäufer und Bettler haben auch einen Traum, von einem Geschenk, den russischen Walenki, den wunderbaren Filzstiefeln, in denen die Russen ihr Riesenreich erobert und noch jeden Feind aus dem Land gejagt haben. Die russisch-serbische Freundschaftsgesellschaft will sie in den nächsten Tagen in großem Maßstab übers Land verteilen.
Nur eines ist wirklich schade: Tito hat seinerzeit sein Land so geschickt zwischen den Blöcken manövriert, dass die Serben nun nicht einmal ein altes, sowjetisches Atomkraftwerk haben, das sie jetzt so in Betrieb nehmen könnten wie die Slowaken in Bohunice. Da müssen die Putin- und Atomfans aber schauen, wo sie bleiben: am besten in den kerzenüberfluteten Kirchen und beten für Vaterland und Gasprom – oder auf Kollektivurlaub im ägyptischen Luxor, bis der brüderliche Gasstreit beendet ist.
15. Jänner 2009
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