Montag, 19. Januar 2009

Schlaflos frieren in Belgrad

Gerade als der serbische Ministerpräsident Boris Tadic den staatlichen Energiegiganten NIS praktisch ohne Gegenleistung um en Appel undn Ei an die Russen verscherbelte und sich zuhause als Retter der Nation feiern ließ, passierte es: das Brudervolk drehte den Gashahn ab und lässt seither hunderttausende Serben frieren. Pech gehabt, und das im kältesten Winter seit Jahrzehnten! Die Eisschollen schieben sich knirschend die Donau- und Save-Ufer entlang, in der Fahrrinne stecken Schiffe im Eis fest als wär`s Franz-Josefsland in der Nord-Ost-Passage, auf dem zugefrorenen Binnensee Ada Zinganla erinnern die vermummten Gestalten der Eisfischer an russische Winterbilder von Wolga und Don. Der einzige Unterschied: hier wärmt man sich nicht Wodka, sondern mit Slibowitz und Vinjak. In den kalten Wohnungen erleben die Serben gerade die russische Kultur als Gesamtkunstwerk in geist-leiblicher Direktheit und Intensität. Bevorzugt werden dabei „Krieg und Frieden“, „Doktor Schiwago“ und „Archipel Gulag“, da liegt auch oft wahnsinnig viel Schnee, ist es oft sehr kalt und Väterchen Frost nah. Dabei kann man die russische Seele so richtig verstehen lernen. Und die Geschichte auch: wie König Winter gemeinsam mit Feldmarschall Kutusow schon Napoleon und mit Väterchen Stalin Hitler bezwungen hat.

Meine Belgrader Freundin Vera hat Glück: sie wohnt auf der Makedonska-Straße in der City, nicht weit von Regierungssitz, Parlament, Zeitungs- und -TV-Zentren. Dort hat man auf die Schnelle ein altes Gasheizwerk auf Ölfeuerung umgerüstet, so dass die wichtigen Menschen nicht frieren müssen und der serbische Polizeiminister Dacic im Fernsehen erzählen konnte, Premier Tadic habe nun in Moskau so gute Beziehungen, dass er nach dem NIS-Deal Putin und Medwedjew jederzeit anrufen und mit ihnen plaudern könne. Hat er aber nicht, sondern Angela Merkel in Berlin, um sie um eine Öl-Umleitung via Österreich und Ungarn anzubetteln. Danke Deutschland? Ja, aber nicht laut sagen!

Nicht so gut geht es dagegen meinem Freund Zoran in einer weniger prominenten Wohngegend, seinen 200 000 Nachbarn in Novi Beograd und der gesamten Wojwodina. Sie frieren entsetzlich im kältesten und schneereichsten Winter seit dem 2. Weltkrieg, an den die älteren Menschen bitter erinnert werden. Die Fernheizgaskraftwerke sind entweder so schrottreif, dass sie sich nicht umrüsten lassen oder haben kein deutsches Öl bekommen. Seit der Gashahn abgedreht wurde, sitzt Zoran in seiner Neubauwohnung im Mantel und friert sich den Hintern ab. Zoran ist kein Russenfreund, aber in wie in einer echten sibirischen Jurte hat er auf dem Kopf eine Ushanka, die russische Ohrenklappenfellmütze; in großen Schwaden haucht er in seine Finger, so klamm, dass sie kaum eine Kerzen anzünden können. Von den Fenstern kratzt er das Eis wie sonst vom Auto, der PC geht nicht, das Telefon auch nicht, nur mit dem Handy kann er noch Kontakt zur Außenwelt halten und sich an der Verbreitung der russischen Kultur erfreuen. Aber was, wenn der Akku leer ist? Er fährt zu Vera ins Stadtzentrum, ihn aufladen und sich aufwärmen. Dann kehrt er wieder in seine finstere und kalte Schlafburg zurück und liest bei Kerzenlicht „Schuld und Sühne“ (richtig übersetzt eigentlich „Verbrechen und Strafe“) und „Aus einem Totenhaus“. Dostojewskij ist immer gut für Katastrophenbewältigung. Keine Musik, keine Ablenkung, keine Arbeit: Radio, Fernseher, PC, Toaster, Mixer, Kaffee- und Zahnputzmaschine stehen ohne Strom ziemlich blöd herum. Nicht zu vergessen: es gibt natürlich auch kein heißes Wasser, daher keinen Tee, Suppe, Dusche und auch kein wärmendes Wannenbad. Besonders gemein vom Schicksal ist es, dass die russische Kälte ausgerechnet zum serbischen Weihnachts- und Neujahrsfest (6. und 13. Jänner) ausgebrochen ist. Wer will denn da noch verstehen, dass die Russen dasselbe orthodoxe Jesulein in der Krippe anbeten? Noch schmerzhafter als zu frieren und zu hungern ist es, wenn sich Freund und Feind nicht mehr unterscheiden lassen. Einige sensible Belgrader Bürger sollen sich in dieser psycho-physischen Konstellation sogar an die drei Sarajewoer Kriegswinter von 1992 – 1995 erinnert haben, erzählt mein Freund, und dankbar sein, dass sie zumindest nicht unter Beschuss von 155- Millimeter-Haubitzen, Katjuscha-Raketen und Snipers der jugoslawischen Volksarmee liegen, sich nicht in Schlangen um Brot und Wasser anstellen und in den eisigen Kellern ihrer zerbombten Häuser zusammendrängen müssen. Laut Marx kommt die Geschichte ja nur als Farce zurück

Das Dramentheater hat Frostferien ausgerufen, da es als nicht staatstragende Institution keine Energie zugeteilt bekam, und die Premiere von Tschechows „Drei Schwestern“ muss verschoben werden, bis es Frühling wird oder wieder Saft aus den Pipelines kommt. Noch muss der sehnsüchtige Ruf Irinas im 3. Akt ungehört bleiben: Nach Moskau! Nach Moskau! Gerüchte sagen aber, dass der Spielplan überhaupt ganz auf „Iwan der Schreckliche“, „Opritschniki“ und „Oblomov“ abgeändert werden soll. Spaßvögel begrüßen sich in diesen Tagen mit dem Bärenwitz über den Namen Medwedjew (medwed = Bär), und Putin wird wieder wie poutaine (frz. Hure) ausgesprochen. Das Lachen, die Umarmungen beim dreifachen Wangenkuss und der Dreifingergruß fallen bei 30 Grad minus eher grimmig aus.

In der mittelserbischen Industriestadt Kragujevac mit ihrem traditionell kämpferischen Proletariat (Zastava-Fiat-Werke, Waffen, Panzer) haben wütende Arbeiter eine russische Fahne öffentlich verbrannt (oder haben sie die drei Streifen der Trikolore nur ausgetauscht?) und die angeblich ewige serbisch-russische Druschba aufgekündigt. Alle Räder stehen still, wenn der große Bruder es so will. Sie frieren und hungern, aber in den schlaflosen Nächten kommen sie endlich dazu, vor einem dampfenden Samowar russische Poesie zu lesen - „Fröhliche Schlittenfahrt mit der Troika“ , „Frühglocken am Wintertag“ oder „Tatjanas Traum“ aus Eugen Onegin etwa, alles zur Verbreitung der höheren, herzerwärmenden Ehre der russischen Kultur. Da sinnen sie dann dem berühmten Vers des Dichters Tjutschev nach, dass Russland mit dem Verstand nicht erfasst werden könne. Mit welchem Organ denn? Marktstandler, Polizisten, Zeitungsverkäufer und Bettler haben auch einen Traum, von einem Geschenk, den russischen Walenki, den wunderbaren Filzstiefeln, in denen die Russen ihr Riesenreich erobert und noch jeden Feind aus dem Land gejagt haben. Die russisch-serbische Freundschaftsgesellschaft will sie in den nächsten Tagen in großem Maßstab übers Land verteilen.

Nur eines ist wirklich schade: Tito hat seinerzeit sein Land so geschickt zwischen den Blöcken manövriert, dass die Serben nun nicht einmal ein altes, sowjetisches Atomkraftwerk haben, das sie jetzt so in Betrieb nehmen könnten wie die Slowaken in Bohunice. Da müssen die Putin- und Atomfans aber schauen, wo sie bleiben: am besten in den kerzenüberfluteten Kirchen und beten für Vaterland und Gasprom – oder auf Kollektivurlaub im ägyptischen Luxor, bis der brüderliche Gasstreit beendet ist.

15. Jänner 2009

Donnerstag, 8. Januar 2009

Tulpomanie

Für meine allerliebsten Leib-, Seelen-, Herz-, Hirn- und Wahlschwestern

Hildegard und Irmgard!

Weil ich seit einer Woche in der schönsten Blumenwohnung Wiens lebe, mit 6 Vasen, Kübeln und Eimern mit Papageientulpen, und ich eine unverbesserliche Wissensansammlerin bin, hat es mir keine Ruhe gelassen, bis ich nicht alles über TULPEN nachgelesen habe. Sie haben übrigens- jetzt voll erblüht – genau das Orange meiner Wände. Auch das habt Ihr noch bedacht!

Ich will Euch das gesammelte Wissen nicht vorenthalten, vor allem, weil es eine so schöne Symbolik hat für uns drei.

Hoffentlich wisst Ihr nicht schon eh alles über Tulpen, ihre Magie und phantastische Geschichte, mir war das jedenfalls neu.

Voila:

Die Tulpen (Tulipa) gehören zur Familie der Liliengewächse (liliaceae); es gibt ca. 150 Arten und 8000 Hybriden.

Das Wort wird abgeleitet von türkisch „tülbent“ und persisch „dulband“. Ihren Namen hat sie bekommen von der Kopfbedeckung Turban (vielleicht auch umgekehrt, mein persisch und türkisch sind nicht auf der Höhe), dessen spitz zulaufende Käppchen an die Blätter der Pflanze erinnern. Vielleicht trägst Du deswegen so gerne Turbane? Noch heute tragen anatolische Frauen dreieckige Kopftücher, die Tulbent genannt werden. Im Wappen des osmanischen Reiches war die Tulpe Nationalblume und ist bis heute in der Türkei Sinnbild für Leben und Fruchtbarkeit.

Sie ist im Vorderen Orient beheimatet: in Afghanistan, Persien, Irak, der Türkei.

Für uns entdeckt hat sie im 16. Jahrhundert der Gesandte des Kaisers Ferdinand I., Ogier Ghislain de Busbeqe (Gastarbeiter aus Frankreich) . Er brachte ein paar Zwiebel nach Wien mit, die das Gefallen des Hofgärtners Charles de l Ècluse (Gastarbeiter aus Belgien). Er ließ sie in den Wiener Hofgärten pflanzen und züchtete neue Arten. Als er 1593 als Professor an die Universität Leiden ging (Gastarbeiter aus Österreich) brachte er die Tulpe in die Niederlande, von wo sie ihren Siegeszug um die Welt antrat. Sie wurde zur absoluten Modepflanze der Höfe, der Aristokraten und Reichen; eine „Tulpomanie“ erfasste ganz Europa. Sie waren mehr wert als Gold, Silber und Edelsteine. 3 Tulpenzwiebel entsprachen 20 Wagenladungen Korn, 10 Stück Nutzvieh und 5 Fässern Bier. (Schöner Vergleich, da man die Tulpen ja nicht essen kann!) Der Preis der Zwiebel stieg in solche Höhen, dass es 1637 an der niederländischen Handelsbörse zu einem Crash kam (wie Öl?)

Mir gefällt das alles ganz ungemein, weil die Tulpe in ihrer praktischen Nutzlosigkeit die Ordenspflanze der Künstler/MalerInnen sein sollte: die Freue an der reinen Anschauung. Darum wirken sie ja auch immer am besten, wenn sie pur sind, ohne irgendein Beiwerk oder andere Blumen. (Das wisst Ihr ja schon lange!) Und die fast endlose Variation. Es gibt keine Form oder Farbe, die die Tulpe nicht annehmen könnte – so wie gute Bilder.

Und vielleicht wollen wir sie zur Wappenblume unseres Wahlschwesternbündnisses machen?

Aber es würde auch ein einziges Wort genügen: DANKE! Diese 60 sind so schön, dass, wenn ich sie anschaue, meine 60 gar nicht wehtun.

Seid umarmt von Eurer alten Tulpomanen (wahrscheinlich die harmloseste aller Manien, oder, Frau Doktor?)

Veronika mit Tulpenkussumarmung!

Völkerrecht versus Moral?

Wenn sich die Gegner eines unabhängigen Kosovo- allen voran Serbien und Russland- mit guten Gründen auf das Völkerrecht, die Unteilbarkeit des Staates und die Unverletzlichkeit der Grenzen berufen, können Befürworter des neuen Staates Kosovo die Moral als politische Kategorie ins Feld führen, nicht als Alternative, sondern als Abwägung. Serbien hat mit seiner jahrzehntelangen Unterdrückungs- und Apartheidpolitik das moralische Recht auf diesen Landesteil verloren.

Und das geht nicht erst auf die UNO-Resolution 1244 von Juni 1999 zurück, sondern auf den Verfassungsbruch, die Liquidation des Autonomiestatus der Provinz durch Milosevic 1989. Milosevic löste das Parlament auf, entließ die Parteiführung, setzte die gesamte albanische Intelligenz und alle Staatsbediensteten auf die Straße: Arbeiter in den verstaatlichten Betrieben, Professoren, Lehrer, medizinisches Personal und Polizisten. Mit einem Schlag waren rund 80% der albanischen Arbeitnehmer ihrer Lebensgrundlage beraubt.

Von da an waren die Albaner von allen serbischen Wahlen ausgeschlossen oder sie boykottierten sie - bis zu den letzten in diesem Dezember/Jänner/Februar. Das Milosevic-Regime verfolgte in den 90er-Jahren eine Politik der sogenannten „Drittel-Lösung“: ein Drittel vertreiben, ein Drittel liquidieren (als Terroristen), ein Drittel serbisieren, getreu dem Rezept des kroatischen Ustasha-Regimes zwischen 1941 und 1944 gegenüber den Serben. Von 1998 an setzte es diesen Plan in großem Maßstab in die Wirklichkeit um, bis das 3-monatige NATO-Bombardement die Serben im Juni 1999 zum militärischen Abzug zwang.

Das sind die wohlbekannten Tatsachen. Wenn man eine Schicht tiefer geht in das Verhältnis der Nationen zueinander, kann man in Serbien einen unverhüllten, tief verwurzelten Rassismus gegenüber den Albanern feststellen. Das Milosevic-Regime hat ihn zur Staatsideologie erhoben, und es gab keine Partei, die ihr nicht gefolgt wäre. Die Sozialisten von Milosevic haben - ebenso wenig wie die Radikalen von Vojislav Sheshelj, wie die Serbische Erneuerungsbewegung von Vuk Draskovic, die Demokratische Partei von Zoran Djindjic oder die Nationaldemokraten des jetzigen Premiers Kostunica - zu keiner Zeit ein Programm zur Lösung der Kosovo-Frage ausgearbeitet, zu keiner Zeit mit ihnen auf Augenhöhe verhandelt oder die wirtschaftliche Entwicklung gefördert; der Kosovo war ausschließlich Gegenstand der Unterdrückungspolitik und Mythenbildung. Wenn einige wenige Menschenrechtsorganisationen wie das Belgrader Helsinki-Komitee, die Soros-Foundation oder Einzelpersönlichkeiten sich für einen demokratischen Dialog mit den Albanern einsetzten, wurden sie öffentlich als Verräter und Volksfeinde gebrandmarkt.

Albaner als Menschen und Bürger wahrzunehmen, war weder bei den Eliten noch beim einfachen Volk im Bereich des Möglichen. Es beginnt schon mit der Sprache, der Bezeichnung für diese Volksgruppe: Kaum jemals konnte man von den „Albanci“ hören oder lesen, sonders es war und ist bis heute gang und gäbe, von den „shiptari“ zu sprechen. Auch wenn sich die Albaner selbst Skipetaren nennen, ist es das erniedrigendste Schimpfwort, von einem Nicht-Albaner als „shiptar“ bezeichnet zu werden, nicht unähnlich einem „Saujud“. Die Sprache als Kriegserklärung, und das nicht nur am Wirtshaustisch, sondern im Dauerbeschuss aus dem Parlament und den Medien. Den „shiptari“ schreibt man in Serbien grundsätzlich die schlechtesten Eigenschaften zu, politisch wie menschlich, wobei das Argument ihrer großen Fruchtbarkeit, mit der sie sich angeblich zur Mehrheit im Kosovo gemacht hätten, eines der gewichtigsten und rassistischsten ist. Wo waren die Albaner in der serbischen Öffentlichkeit? Wenn nicht offen als Untermenschen beschimpft, so waren sie zumindest ignoriert. Ihre Politiker, Intellektuellen, Künstler, Schriftsteller, Sänger, Fußballer, TV- und Filmstars und Schönheitsköniginnen? Sie kamen in der Gesellschaft einfach nicht vor. Nur die Gefängnisse waren überproportional voll mit Albanern, und im Bosnien-Krieg traf man sie in der vordersten Feuerlinie oder als „mine-sweeper“, so ein serbischer „Witz“. Im Tito-Jugoslawien waren sie noch als Goldschmiede, Eisverkäufer oder Hausdiener in Gesellschaftsnischen wahrnehmbar. Mit Milosevics Machtergreifung 1985 verschwanden sie als Menschen vollständig, nur um als Separatisten, Irredentisten, Terroristen, Nonnenschänder, Kindervergewaltiger, Brunnenvergifter und Kirchenbrandschatzer aufzutauchen. Das sind sie bis heute geblieben und jetzt zusätzlich auch noch „unmoralische Landräuber“ geworden, wie sie Premier Kostunica am Sonntag bezeichnete.

Es gab noch Ende der 70er bis in die 80-er Jahre, nach der letzten Tito-Verfassung, die den Albanern eine so weit reichende Autonomie garantierte, dass sie dem Republiks-Status gleichkam, eine Zeit, in der es nicht unmöglich gewesen wäre, die Albaner freiwillig näher an Belgrad zu binden. Die kommunistische Führung der Provinz war zwar reformfreundlich, aber nicht Serben-feindlich. Trotzdem wurde jede Bewegung der Albaner in kommunistischer Manier abwechselnd als profaschistisch, koninformistisch, irredentistisch, konterrevolutionär oder sezessionistisch verunglimpft und brutal niedergeschlagen. Mit Milosevic setzte eine Hetze auf die albanische Führung ein, auf die Presse, die Intellektuellen, die Schriftsteller und Studenten. Das kurze Zeitfenster, als die Albaner in Jugoslawien ihre Heimstätte auf der Basis der Gleichberechtigung gefunden zu haben glaubten, hat Serbien mutwillig zugeschlagen und eine ganze Volksgruppe als Paria verstoßen. Als ihre Autonomie aufgehoben wurde und das alte Jugoslawien politisch abdankte, sahen sich die Albaner nur noch als Besiegte und Beleidigte in einem nationalistisch aufgeputschten Serbien, in dem für sie kein Platz war.

Wenn Kosovo nach vielen Mühen und unter internationaler Unterstützung in einem vereinten Europa zu einem wirklichen Staat wird, kann man in ihm auch eine Schutzzone sehen, wie sie andere Nationen nach schwerer Verfolgung auch schon zugestanden bekommen haben.

19.2.2008

Die Bienen der Persephone oder:

Calling all Fridas und ein wenig Honig

„Erinnern heißt, ganz allein durch ein ausgetrocknetes Flussbett zurückgehen müssen“

Osip Mandelstam

Zur Entstehung der Bilder in Marrakesch – mein wildes Geschenk an Hildegard Stöger

Wer weiß es: Vielleicht begann alles mit den fliegenden Ziegen in den Arganien-Bäumen? Unser gemeinsamer Schrei im Schnellbus von Marrakesch nach Essaouira, die schwarz-weißen Zottelziegen stehen in den dürren Besensträuchern wie Christbaumschmuck nach Neujahr. Steinwüste rundherum unter dem farblosen Himmel und am Horizont eine wolkenblasse Ahnung von Atlantik. Schrecklich, diese Flurfrevler, in unserem Unwissen. Ein Bild, mein Glück, der Moment des kurzen Erkennens.

Wir sind nach Marokko gereist, in „das Land am äußersten Westen“ und nach Essauoira, as-Sawira auf Arabisch, die schön Gestaltete, die Vollendete schmiegt sich um den afrikanischen Atlantikbusen. Diese Stadt hat wahrscheinlich das schönste Wappen der Welt: 3 Mondsicheln, eine Dattelpalme und eine fedrige Araucaria. Die weißen Häuser, die blauen Türen und türkisen Fensterrahmen sollen den bösen Blick abhalten wie die Händchen der Aisha, Mohammeds Mädchenfrau. Über den bleichen Mauern der Kasbah sticht eine Neumondsichel in den samtblauen Himmel. Von den 36 Synagogen Essauoiras ist nur ein Bethaus geblieben, schreibt der Führer „Richtig reisen“; wir finden es nicht. Tüpfelhyäne und Schreiadler lauern in der Angst, draußen in der Wüste ist alles möglich. Der trockene Sandwind und die Furien der Basarwelt trüben unsere Sinne. Die Katzenkinderzärtlichkeit ist eine günstige Geschäftsanbahnung. Hier endete der Sklavenpfad von Timbuktu und führte auf den Markt, heute gibt es hier nur noch Katzenhaie, Rochen und Sardinen im Angebot, zwischen Booten, auf den Stufen und Felsen des Hafens röcheln sie unter den Anpreisungen der Verkäufer. Die rotäugigen Möwen fangen die Abfälle im Flug, stoßen dabei kalte Lustschreie aus wie gequälte Kinderstimmen, sie stehen im Sturm, die Balance als einzige Lebensbestimmung. Der junge Tuaregprinz aus der Sahahra verkauft sich und seine Waren in selbsterlerntem Straßenenglisch den Touristen. 20 Meter braucht er für seinen schwarzen Turban, 9 Meter für den Frauen-Chaik. Auch die schönsten Stoffe verwandeln die Frauen in unsichtbare Kartoffelsäcke mit tiefen Augenhöhlen. Mir knirscht mehr als der Sand zwischen den Zähnen. Ein Luftballett in der oberflächlichen Schönheit des Überlebenskampfes. Das Schönste daran scheint mir der Name des Windes: alizee

Im Spiel von Vergessen und Erinnern

In der Schiffswerft von Essauoira hat sie die Boote losgebunden und das Netz nach Hause gezogen, im Bündel, voller Flügel und Flossen und um hundert Flügel reicher. Die Seele will sich nicht fügen, die Lippen fliegen rot und trinken blind, ihre Zeit, ihr Tier. Heuer ist der Juli der rote Monat. Aber man kann nur staunen, es ist kein gieriges, wild gewordenes Rot. In diesem Rot ist nichts Herausforderndes, im Gegenteil, es ist lauter Gelächter, heiter und kinderrot, die Farbe der ersten Natur. Im Sonnenbegräbnis, in der Hitze von Marrakesch, fließt Persephones goldener Honig aus der Flasche wie ein zäher Strom. Sie hat ihn nicht gesucht, den Sieg mit den abgeschnittenen Händen. Die Freudensworte muss sie mühsam erlernen wie fremde Gebete, sie kommen nicht von selbst, nur die Qualen sind immer da in der stillen Zelle hinter den Körben mit Feigen und Zwiebeln. An den weißen Gitterfenstern kräuselt sich der rostige Mond im Pelz der Nacht. Die Spindel surrt, Penelope spinnt und trennt jeden Tag wieder auf, wie lange webt sie allein, das Bett im Stroh, die gierigen Freier nebenan. Das Schiffchen fliegt und Troja brennt. Von der Akropolis steigt schwarzer Rauch auf und umhüllt die Jungfrauen. Sie verlässt den Schiffsbauch und die im Meer wund geriebene Leinwand. Endlich ist Odysseus zurückgekehrt, reich erfüllt von Raum und Zeit aus den schweren Wellen, das Goldene Vlies hängt ihm zerschlissen vor der Brust. Aus Esel und Schildkröten baut er sein Boot auf der Brücke und umschlingt die ganze Weltkugel. Das Leben fiel, ein Wetterblitz, wie die Wimper ins Wasserglas stürzt, lügenprall, er klagt nicht an. Jenseits der Wimpern wird sie seine Frau genannt. ( nach Osip Mandelstam)

Das Wunder von Marrakesch sind die Farben:

Rot wie postmoderne Tortenstücke zwischen Punschkrapferl und Moorimhemd. Rot kann noch mehr sein: zinnober, ziegel, burgunder, karmin, orange, lachs, ocker und krapp. Indigo ist blau und grün, Granatäpfel ergeben schwarz; Safran und Mandelblätter – gelb; zimtbraun, mauve und Sandleder sind auch heimische Farben, Tee und Henna machen rotbraun, Safran und Muskat, Pfeffer und Chili waren einst die teuersten Aphrodisiaka. Die Purpurschnecke spricht für sich. Aus 6000 Schnecken ließen sich 1 Gramm Purpur gewinnen, Juba II. verkaufte es im 1. Jh. v. Ch. an die Römer teurer als Gold. Wie banal das Arganöl: aus 50 kg Kernen gewinnen sie 1 Liter Öl, mit Hilfe der Zottelziegen.

Kein Wald aus Orgelpfeifen in Marrakesch. Es kräht kein Hahn, keine Glocke ruft, nur fieberheißes Rauschen von Grillenliedern, die Goldammern trillern unbekannte Lieder, die rote Seide brennt und brennt heiß. Um fünf Uhr früh reißt das Allahu-Akhbar die Schläfer zum erstenmal aus dem Schlaf und bleibt als drohende Klage über uns hängen wie Gestirne im Himmel aus kreischenden Lautsprechern: Allah ist groß und es gibt nichts außer Allah, aus fünf Moscheen, die Mönchsgesänge zerpflügen die Gassen der Medina die ganze Nacht, unermüdlich wie unsichtbare Straßenkehrer. Im Hitzerachen des Platzes der Erhängten stürzen sich die Märchenerzähler, Schlangenbeschwörer und fingerfröhlichen Flötisten auf die fremde Schöne und legen sie in Ketten. Gut und Böse, Himmel und Hölle sind klar unterschieden, aber was jetzt? In unseren Ohren hallt die unerlöste Menschheit wider wie das ewige Geschrei der gequälten Esel von Marrakesch, die Schildkröten schweigen und fressen sich durch den Schatten. Unter den Zikadenhämmerchen schnürt sie sich den bunten Schuh und halftert die Schildpatt-Lyra. Sie ist Bote und Botschaft zugleich, die ferne Urenkelin öffnet Särge und Archipel. Sie pflügt die Zeit um und die Bilder im Wirbel der Wasser und ritzt sich an den Rosen. In roten Schuhen und mit dem vielfarbigen Lindenbast auf dem Kopf vereint sie sie zu leichten Kränzen und Flüssen in goldener Sorge um den schwarzen Familiensarg. Der Grillenschwarm tobt in den inneren Bildern, Persephone schenkt noch immer Honig aus den Flaschen, und Penelopes Spinnrad ruht nie so wie die Zeit. Persephone kommt erst wieder nach dem Tod und der Vereinigung mit der Mutter. Nicht loszumachen ist das unvertäute Boot, sie bindet das Netz los, wirft sich das Seil um, es schneidet ein in die Schulter und die Seele, aus dem Sand zieht die Boote über den Hohen Atlas nach Hause, dabei ihr Kahn des Lebens, des Schicksals, inshallah, die Nacht hat Anker geworfen. Der Mond liegt unter ihren Füßen zwischen Staub und Sternen, die Pampelmusen leuchten wie gelbe Lampions in den dunklen Zweigen des Riad, der Brunnen bleibt stumm unter den Netzen der Dämmerzone. Noch immer berauscht sie sich am Gesang der Goldammern im Morgengrauen, er erfreut und wird als persönliches Geschenk angenommen.

Calling all Fridas

Will man vom Wolf nicht gefressen werden, dann hat man vielleicht nur die eine Möglichkeit, sich an seinen Rücken zu klammern. Sie spielt das Spiel vom Vergessen und Erinnern

Fünfmal am Tag drohende Klagen über Allahs Größe, was du dir selbst versagst, schenke den Bedürftigen, verzerrt, krachend, vom Wind zerfetzt aus rissigen Lautsprechern.

Unsere Schritte erfinden sich nach und nach beim Gehen den Weg, weiße Mauern, Fenster und Türen in Blau und Türkis sollen bösen Blick und Geister abhalten. Die Webwaren waren Geld und Tauscheinheit. Keine Farbe ist zufällig, die Abfolge der Streifen repräsentiert das Berber-Universums. Das Farbenspektrum zerstreut das Böse in alle Richtungen und macht es unschädlich. Teppiche enthalten das Baraka, die günstige, übernatürliche Kraft, die Gnade.

Die Spiralmuster auf der Töpferei versinnbildlichen die Unsterblichkeit.

Tüpfelhyäne und Schreiadler bleiben heute ausgesperrt im Riad der Unsterblichkeit.

Ein marokkanischer Mann, der eine Tochter bekommt, gilt als zeugungsunfähig, aber wenn ein Sohn kommt, wird ein Hammel geschlachtet, das Blut fließt drei Tage in den Straßen, das Fleisch erhalten die Armen.

Ein Gespräch dazwischen: Die endgültige Gestalt kann der Mensch im Leben nicht finden. Er muss verlieren, was er hat, um es in der Erinnerung neu zu gewinnen. Immer steht ein Übergang an. Marrakesch ist so ein Übergang. Immer droht das Scheitern. Rituale dagegen fehlen heute. Malen schafft sich ihre eigenen und überlebt, vielleicht auch das Schreiben, das Komponieren, das Kochen? Die Freundschaft auch, vor allem.

Der eigentliche Triumph besteht im Bildermachen, es stiftet nicht nur Zusammenhänge, sondern die Realität überhaupt, die Ich-Realität des Geträumten und Durchlebten. Immer noch das Gespräch und die bange Frage:

Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwanderte, und man gäbe ihm ein Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand – was dann? Wer die Möglichkeit kennt, dem wird die Wirklichkeit niemals genügen. Keine Antwort, nur immer wieder weiter malen, weiter schreiben, weiter denken.

Im Dämmerungsgürtel der Phantasie sitzt sie und breitet die Bootsträume vor sich aus.

Staub und Sterne, Sand und Fischernetze, der Goldammerngesang steigt zwischen den gelben Lampions der Pampelmusen hoch und verliert sich im Gespinst des Jasmins in der Morgendämmerung. Das Boot schaukelt sanft wie eine Wiege oder ein Totenbett.

Jonas stößt sich den Kopf am Gerippe im Inneren des Wals, vor der Nordklippe flüstern die verborgenen Stimmen, die im Stein ruhen. Die Steine bergen Erinnerungen, genau wie die Wellen und die Dünung, die Sirenen sammeln ihre Kräfte und werfen sich an die Oberfläche. Auch dort unten in der Dunkelheit gibt es Erinnerungen, tief unten, wo Fische und Schildkröten an unsichtbaren und stillen Fahrwassern entlang schwimmen.

Die Tiefseeperlentaucherin sitzt am dämmrigen Küchentisch, mit Rasierklingen kratzt sie unermüdlich Eis von den gefrorenen Tasten, klopft Muscheln und Schwämme von den Klippen, und sie sucht die Wüste ab, als gäbe es die festen Orte der Nomaden. Die Hufpaare schlagen stachelige Sterne aus den Gassen der Medina, das Leben schwimmt weg wie der Schaum eines Wellenhäubchens, zurück bleiben Lippen wie trockener Bernstein unter dem Maulbeerbaum. Der Schuster spannt fünf Ochsenhäute auf den Bock und macht daraus Stiefel. In der Kühle des Morgens tanzen die Musen durch eine Herde Schafe – Bienenküsse und das Auferstehungswunder, unbeirrt schlagen die Goldammern ihren Gesang in den Jasmin: Putputput- pötätööö! Die Möwen von Essaouira noch immer im Ohr.

So bleibt sie weiter im Dämmerungsgürtel der Träume, zwischen Staub und Sternen, und öffnet weiße Särge in Bethlehem. Aber im südlichen Meer steht ein hoher Mast mit Rettungsringen auf Lebenszeit. Telemachs zärtliche Hände haben das Haus zur Rückkehr des Vaters bereitet. Penelope versenkt ihre Spindel im Meer; jetzt bleiben sie gemeinsam an Deck und hören in Ruhe den süßen Gesängen zu; sie können niemanden mehr verführen als die vergeblichen Sängerinnen selbst, vielleicht.

Veronika Seyr für Hildegard am 3. Oktober 2008

Trauerkulturen

Zum öffentlichen Tod des Jörg Haider

Selbst auf dem Weg von einem Begräbnis eines engen Freundes am Zentralfriedhof, wurde ich drei Tage nach dem tödlichen Verkehrsunfall des Kärntner Landeshauptmannes Ohrenzeuge mehrerer Gespräche. Zuerst zwei junge Männer im 6er, die sich lautstark darüber ausließen, dass der Jörgl am besten Weg gewesen sei, „ganz Österreich zu fressen“ und bedauerten, dass seine Nachfolger wahrscheinlich noch zu jung und unerfahren seien, um die „Verbrecherbagage von ÖVP und SPÖ“ zu verjagen. Jörg Haider, das Raubtier. Später eroberte ein Rentnerpaar die Oberhoheit über die Passagiere in der U3, in dem sie laut und ungehemmt über „das rote, schwarze und grüne Gsindl“ herzogen, denen es „der Jörg wieder einmal gezeigt habe, fast hätte er sie wieder aufgschnupft in seiner Pfeifn“. Jörg Haider, der Rächer. Mir fiel dabei auf, dass ich derartige Gespräche mit so offensichtlicher Vernichtungsfreude und Menschenverachtung für den politischen Gegner früher nie so laut und frech in öffentlichen Räumen gehört habe. In einer Runde Gleichgesinnter am Wirtshaustisch mit viel Promille im Blut vielleicht, aber einen U-Bahn oder Straßenbahnwagen füllend – das hat erst Jörg Haiders „Politik“ hoffähig gemacht. Hat ja er und seine Entourage ebenso gesprochen, warum sollen das die Simmeringer Arbeitslosen und Pensionisten nicht dürfen?

Dann fragte ich mich, was diese denn von „ihrem Jörgl“ so alles bekommen haben mögen? Eine tolle Ausbildung vielleicht, einen gut bezahlten Job, eine günstige Wohnung, einen Heizkostenzuschuss oder eine Pensionserhöhung? Nichts von alldem, war er doch nicht einmal in der Lage, Kärnten vom letzten Platz aller Bundesländer in allen sozialen, wirtschaftlichen und bildungspolitischen Parametern herunter zu holen, trotz der Geldflüsse, die Haider, oft am Budget vorbei, für Kärnten aus dem bösen Wien herbeischaffte.

Oft haben uns Analytiker und Kenner der Kärntner Seele erklärt, warum gerade im südlichen Bundesland die kollektive, infantile Vatersehnsucht so ausgeprägt: das unterdrückte, geleugnete Slawentum soll es sein, das das bürgerliche und individuelle Selbstbewusstsein nur rudimentär ausgebildet habe; darum verlangten die Kärntner so brennend nach einem Übervater, mehr als die Vorarlberger oder Oberösterreicher, denen der eigene, physische genügt. Ist das die Erklärung für das kollektive Trauma? Warum sind sie auf das familiäre Du mit Händedrücken und Almosen so viel mehr angewiesen als andere Österreicher? Warum können sie sich nicht das erarbeiten, was sie brauchen? Und aus welcher Kasse hat er alle diese Geschenke finanziert, der gute Mensch aus dem Bärental? Noch auf eine Besonderheit wird hingewiesen: Kärnten war bis zu Haiders Aufstieg jahrzehntelang fest im Griff der Sozialdemokratie mit absoluten Mehrheiten – und dann der bruchlose Übergang zu den Deutschnationalen. Das muss schon auch etwas mit der Sozialdemokratie selbst zu tun haben. Aber woher kommt diese gefährliche, weil anti-demokratische Erlösungssehnsucht, die mich an das Gedicht „Heldenplatz“ von Jandl denken lässt? Einträge in das Kondolenzbuch geben davon erschreckende Auskunft. Ist Haider so extrem charismatisch oder die Kärntner Bevölkerung so extrem bedürftig? Was wäre, wenn er in Bad Goisern geblieben wäre? Hätte er nach seinem Studium auch in Wien reüssieren können? Andere Bundesländer wie die Steiermark, Oberösterreich, Wien und Niederösterreich hatten auch langjährige, populäre Landesoberleute, die viel für ihr Land bewegt haben. Aber Heiligenverehrung für einen Übervater, das hat niemand sonst hervorgebracht. Haider hat das Bedürfnis nach Ressentiments, nach Nennung, Ausgrenzung und Kriminalisierung des vermeintlich Schuldigen an der persönlichen und Weltmisere befriedigt und öffentlichkeitsfähig gemacht. Es war wieder erlaubt, Feinde zu haben, Feinde zu machen, sie zu benennen und ihnen alles Böse zu wünschen. Und immer hat der die Schwächsten der Gesellschaft ausgegrenzt und zu Buh-Menschen gemacht. Bei allen sozio-kulturell-psychopolitischen Besonderheiten bezweifle ich, dass es ein Kärnten-Gen gibt. Denn er war ein Rattenfänger, der auch woanders die Scharen hinter sich hergezogen hat. Es gibt Ratten, und es gibt den, der pfeift. Der Rattenfänger sagt, was kann ich dafür, dass die hinter mir herkommen? Und es gibt die Ratte, die sagt, was soll ich tun, wenn gepfiffen wird, dann muss ich kommen. (frei nach Iosnesco „Die Nashörner“)

Haider war ein Hassprediger, und die Journalisten sind mit wenigen Ausnahmen seine allzu willigen Wasserträger, die in Faszination vor ihm auf der Tacken lagen und ihm aus der Hand fraßen, die sie fütterte. Er müsste wegen „Volksverhetzung“ zur Verantwortung gezogen werden; ob „Volksverdummung“ eine inkriminierbare Handlung ist, muss ich erst recherchieren. Von islamistischen Hasspredigern weiß ich nur aus den Medien, kann sie wegen ihrer Muttersprache nicht verstehen. Die ex-jugoslawischen Hassprediger verstand ich zumindest sprachlich, auch wenn ich keinen Zugang zur Psyche dieser hoch gebildeten Personen fand: Tudjman war Historiker und General, Karadzic Psychiater und Schriftsteller, Biljana Plavsic, seine Stellvertreterin, doppelte Doktorin in Medizin und Biologie, Mirjana Markovic - Soziologieprofessorin, Nikola Koljevic, der bosnisch-serbische Vizepräsident, war Anglistikprofessor, Schriftsteller und Shakespeare-Übersetzer, Milorad Pavic und Momo Kapor haben früher wunderbare und international anerkannte Romane geschrieben, und das serbische Hassprogramm haben 200 Mitglieder der Akademie der Wissenschaften verfasst. Wie große Potentaten und Weltverbrecher a la Hitler und Stalin, Pol Pot und Saddam Hussein hatte auch H.J. die Fähigkeit, sich eine blinde und treu ergebene Gefolgschaft zu schaffen, die sich mit ihrem Anführer identifizierte, zum Glück nicht dieselben Möglichkeiten. Die Gefolgschaft lebt für IHN und durch IHN, jedes einzelne, kleine miserable Menschlein ist durch IHN mehr als es allein wäre, so wie die beiden Arbeitslosen in ihren ausgelatschten Schuhen und grindigen Trainingsanzügen, den Doppler im Hofer-Sackerl, als sie sich zu der Männerrunde beim Branntweiner vor dem 2. Tor des Zentralfriedhofs gesellten, am helllichten Tag um halb elf. In meinem Wohnhaus in der Wiedner Hauptstrasse stand bis in die 80er-Jahre an einer Parterretür mit altdeutscher Schrift aufgemalt: Gefolgschaftsraum der Firma H. Von der Gefolgschaft der Firma H. gibt es ein Foto aus dem Sommer 1938, auf dem ebendiese zu sehen ist, wie sie in die Kamera hineinlacht von einer Lastwagenplattform herunter, die mit Tannenreisig geschmückt ist und einer Tafel mit altdeutscher Schrift: Die Firma H. ist judenfrei! Und die Pensionisten in der U3 schnupften lautstark in ihre Taschentücher und wiederholten die Zauberworte vom Lebensmenschen, vom Robin Hood, von der Sonne, die vom Himmel fiel und den Uhren, die am Samstag stehen blieben, ein Weltuntergang, was für eine Welt!

Und dann die vom Lebensmenschen Petzner angeführte Heiligenverehrung: „Er hat das Höchste gegeben , sein Leben.“ Wird da ein Jesus Christus aus dem H-J. gemacht oder ein Sonnengott Helios: „In Kärnten ist die Sonne vom Himmel gefallen“ (Dörfler). Von einem „Tragischen Tod“ ist immer wieder die Rede. So sehr, dass ich nachsehen musste, wie Aristoteles „Tragik“ definiert hat. Sie löst zugleich Mitleid (eleos) mit dem Betroffenen und Furcht (phobos) um uns selbst aus. Nur unverdientes Leiden ist wirklich tragisch, weil sie als „Ungerechtigkeit des Lebens gegenüber dem Menschen empfunden wird. Was kann tragisch sein? Eine Heldentat, rächende/neidische Götter oder das launenhafte Schicksal. Was trifft hier auf den Fall H.J. zu? Ich meine: nichts.

Kein Wort von den 180 Sachen mit 1,8 Promille im Blut, diese kriminelle Handlung fällt wahrscheinlich unter die kärtnerischen Kavaliersdelikte, so wie sich Haider über Gesetze und Verfassungsgerichtsbeschlüsse hinweggesetzt hat. Fesch, wie immer. „Die Schuhe sind groß, sehr groß, aber wir werden sie anziehen, wachsen und wieder aufstehen“, sagte Gerhard Dörfler, der designierte Nachfolger. Was für Wunderschuhe hat er hinterlassen, die schon allein durch das Anziehen wachsen lassen, märchenhafte Siebenmeilenstiefel tummeln sich jetzt durch Kärnten. Aber warum plappern Wiener Pensionisten sogar die wahnwitzigsten Verschwörungsvermutungen nach: „Nichts haben sie ihm gegönnt, dem Jörgl“, flennte die zahnlose Alte in ihr Taschentuch. Dabei hatte ich immer den Eindruck, dass dieser Mensch alles geschenkt bekommen hat, ihm alles zugeflogen ist oder er sich genommen hat, was er brauchte. Sogar VW mit ihrem „Fätton“ (war übrigens auch auf Ö1 von einer Moderatorin des gestrigen Mittagsjournals so zu hören, Pha:eton, Sohn des Helios, der 1. Amokfahrer der Weltgeschichte) verdächtigen sie, manipuliert gewesen zu sein, weil ihr Jörgl doch nicht einfach so banal abtreten kann, eine Kruzifixteufeleini-Himmelfahrt mit 180 Sachen. Volkes Seele dürstet nach Mythos. Wann haben die beiden Alten zuletzt so geweint? Als ihr Rollmops das Zeitliche segnete? Oder bei den letzten Abschiebungen von vermeintlich straffällig gewordenen Asylwerbern in die Sonderanstalt auf der Saualm? Mit Blaulicht und Sonderbegleitschutz.

Wann habe ich bewusst das erste öffentliche Massentrauern wahrgenommen, die Kerzenlichter- und Blumenmeere wahrgenommen, die vor den Gittern niedergelegten Teddys, Herzen und Briefe? Ach ja, vor 11 Jahren bei Diana, dem Tod der Märchenprinzessin, der Königin der Herzen. H.J., der König der Kärntner Herzen. Diana, auch so eine von den Medien gemachte Figur, picksüß und verlogen, aber politisch weit weniger grauslich als die südost-österreichische. Menschen mögen Märchen, sagte damals eine Journalisten-Kollegin weise, gib dem Affen Zucker, meinte ich weit weniger romantisch.

Die jüngsten Ereignisse erinnern mich an die Geschichte meiner Freundin Dora, Tochter von jüdischen KP-Emigranten, wie bitterlich sie als Fünfjährige geweint habe, als Stalin gestorben war, wie sie sich von da an jeden Abend vor ihr Bett gekniet und für den „Onkel Joschi“ gebetet habe. Sie weiß es bis heute genau, dass sie damals glaubte, nicht weiter leben zu können, so finster und hoffnungslos sah die Welt rund um sie aus. Einer meiner russischen Freunde war bei Stalins Tod 10 Jahre alt. Als Lew am 5. März 1953 in die Schule kam, saß seine geliebte Lehrerin Anna Iwanowna mit verheultem und geschwollenem Gesicht an ihrem Tisch vorne in der Klasse und stützte sich schwer auf beide Arme, vor Schluchzen konnte sie nicht sprechen und kaum atmen. Lew meinte, dass sie einen engen Verwandten verloren haben muss, ihren Mann oder ihre Mutter vielleicht, und wunderte sich, dass sie an diesem Tag nicht zu Hause geblieben war. Und Stalin hatte immerhin 29 Jahre in absolutem Totalitarismus ohne die geringste Alternative regiert, den Feind aus dem Land gejagt, halb Europa erobert und die Sowjetunion zur Supermacht ausgebaut. In Russland ist es üblich, die Verstorbenen in offenem Sarg aufzubahren und zu verabschieden. Die Trauernden werfen sich über den Leichnam, küssen Gesicht und Hände, streicheln die Haare, stecken Blumen und Kerzen zwischen die Finger, weinen und schluchzen in aller Öffentlichkeit. So unterscheiden sich Kulturen und Gebräuche. Mir graut jetzt schon vor den Bildern der Begräbnisfeierlichkeiten in Klagenfurt am Samstag, dass wir zu sehen bekommen, welcher alter und neuer brauner Abschaum Abschied vom H.J. nimmt.

Als Kaiser Franz Josef I. im November 1916 nach 68 persönlichen Regentschaftsjahren und 600 seiner Familie Habsburg starb, gab es noch kein Fernsehen, die Trauer war weniger öffentlich, es wurden keine weinenden Minister und Kabinettssprecher, keine flennenden kärntner, tschechischen, galizischen, bosnisch-herzegowinischen, kroatischen, salzburger, slowenischen, ruthenischen oder serbischen Untertanen ins Wohnzimmer geliefert, die ihre Liebe zum verblichenen Herrscher aller seiner Völker unter Tränen herausstammelten.

„I hob einfoch doher kumman miassn, dös is mei Pflicht, dem Jörgi pfiat Gott sogn“, habe ich eine Kärntner Rentnerin mit Steirerhut und tränenerstickter Stimme in der Kondolenzschlange sagen gehört, nicht etwa in einer Lokalsendung, sondern in einer Zib 1. In der öffentlich zur Schau gestellten Trauer, da sind wir wieder wer. Als müsste alle Welt wissen, wie traurig es um Kärnten bestellt ist.

Die Filmaufnahmen vom Begräbnis Franz Josefs, seinem Zug durch die Stadt und den Stephansdom zeigen uns stumme, in Würde trauernde Menschen an den Straßenrändern, ein steiler, schwarzer Streifen, als der Katafalk von den 16 schwarzen Rössern an ihnen vorbeigezogen wird. Das Bewegend/teste dabei ist das rhythmische Wippen der schwarzen Federbüsche auf den Pferdeköpfen. Ist das deswegen weniger Trauer?

Die Berichte aus Kärnten rufen mir Erzählungen von Jugoslawen aller Nationalitäten in Erinnerung, wie ungeheuer fassungslos die Menschen bei Titos Tod gewesen seien, wie übergroß die Trauer, das Gefühl, den allernächsten Menschen verloren zu haben, ihren Lebensinhalt, ihre Gegenwart und ihre Zukunft; mit Tito seien alle Hoffnungen gestorben, vater- und heimatlos hätten sie sich gefühlt, einsam und verlassen, jeder für sich allein. Das ganze Land war gelähmt im Schock und gefangen in einer so abgrundtiefen und lang andauernden Zukunftsangst, dass sie sich einige Jahre später in den Kriegen entlud – meiner Ansicht nach einer der Gründe in der komplexen Kriegsursachenstruktur. Wie sie sich als kleinen Trost an die Slogans geklammert hätten: Tito lebt, Tito-mit dir in Ewigkeit oder einmal Tito – immer Tito. Ja, da war eine Sonne vom Himmel gestürzt. Die überlebenden Gegner, die Tito 1948 auf die KZ-Insel Goli Otok geschickt hatte, schwiegen und trauerten ebenfalls, um ihr eigenes Leben. Der Personenkult war in Titos Jugoslawien zu einer perfekten Maschinerie ausgebaut, aber was hatte Josip Bros Tito nicht alles für sein Land getan und erreicht in den 40 Jahren seines politischen Wirkens an der Spitze? Dieses kollektive Gefühl, einen Überlandesvater verloren zu haben, kann ich bei aller Propaganda verstehen und auch respektieren. Aber wer hatte denn schon eine andere Möglichkeit?

Wie sich die Hagiographie, die Heiligenverehrung von totalitären Regimes und Kirchen doch ähneln – ohne die Metaphysik und Transzendenz der letzteren zu besitzen. Bei aller Propaganda kann ich diese Trauer verstehen, Kärnten dagegen bleibt ein Rätsel.

Wien, 14. Oktober 2008

Veronika Seyr, Studium der Slawistik und Germanistik, Journalistin und Kulturmanagerin,

1990 – 1007 ORF-Korrespondentin in Moskau und Belgrad, dann Direktorin des Österreichischen Kulturforum Moskau, zahlreiche Reportagen aus Osteuropa, darunter Kriegsberichterstattung vom Balkan.

Hochzeitsrede für Hildegard und Leander

zum 1. Dezember 2008, vielleicht auch zum 31. Januar 2009

Wenn Ihr glaubt, Hochzeitsreden zu schreiben, sei einfach, ein Kinderspiel, dann täuscht Ihr Euch. Herzliche Glückwünsche für die Zukunft sind schnell gesagt und geschrieben und auch herzlich gemeint. Die Zukunft, die Welt steht ihnen offen: Häuserl werden gebaut, Bäume und Kinder gepflanzt, alles ist so sicher wie das Amen im Gebet oder die Geschenkslisten für die Jungvermählten: Kaffeemaschine oder Mixer ankreuzen? Messerset oder Staubsauger? Toaster oder den röhrenden Hirsch überm Ehebett? Computer, Drucker oder doch einen Beitrag zum neuen Auto? So ist es bei den ganz Jungen!

Aber wie ist das bei den Fortgeschrittenen – was soll man da noch wünschen oder ankreuzen? Häuserl werden wahrscheinlich nicht mehr gebaut, Kinder keine gepflanzt, Bäume ja, die kann man immer, Staubsauger, Mixer, Kaffeemaschinen und Dachziegel sind schon zur Genüge da. Das Leben gemeinsam meistern? Das tun sie auch schon lange und mit Erfolg. Was also wünschen? Ein Problem. Das Schwierige daran ist, zu erkennen, dass es das Einfache ist: man eben nichts wünschen muss, weil sie die Wünsche schon wahr gemacht haben, die beiden, in den letzten 33 Jahren, weil sie alles erprobt haben, was man ihnen nur wünschen kann und sich wünschen kann. Könnt Ihr Euch ein Leben vorstellen ohne die Freundschaft mit Hildegard und Leander? Nein! Undenkbar! Wir können und mögen uns unser eigenes Leben nicht ohne ihre Freundschaft ausmalen.

Sie haben sich in einander, beieinander bewahrt und bewährt und auch harte Proben hinter sich, in denen sie sich selbst und einander nie verloren gegangen sind. Das feiern wir heute mit ihnen, sie haben es heute offiziell besiegelt. Außerdem dürfen wir noch etwas anderes feiern: dass sie uns, ihre Freunde, ihre Verwandten und Wahlverwandten, ihre Bluts- und Freundschaftsfamilien, dabei immer mitgenommen – vielleicht auch manchmal mitgeschleppt- haben, durch alle Dickichte, Stürme, Tiefen und Höhen. Jetzt bin ich ganz mutig und wage zu behaupten, dass wir, die Wahlfamilie, so ein Teil ihres Lebens, ihrer Beziehung geworden sind wie ihre Geburtsfamilien; sie haben uns zu den Fäden im Gewebe, zu den Mustern im Teppich ihres Lebens gemacht, und weiter wage ich zu behaupten, dass die Pflege ihrer Freunde das Weberschiffchen ihres Lebens ist, mit dem sie die Mauern und Böden, die Keller, das Gebälk, die Giebel und die Türme ihrer Lebensräume so fein und schön ausgestattet haben. Also, noch einmal, was wünschen? Für uns natürlich, dass es so bleibt, dass wir weiter mitgenommen werden auf dem unermüdlichen Hin- und Her ihres Weberschiffchens, das nie den Faden verliert, keine Masche fallen lässt und immer dichter webt und webt die ewigen Muster. Hildegard und Leander sind Großmeister im Teppichweben, und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass sie am glücklichsten sind über geglückte Freundschaften. Bei all ihrem eigenen Reichtum könnten sie einander ja genug sein, würde man meinen, aber nein, so sind sie nicht gestrickt- oder gewebt, sie wollen und brauchen zu ihrem Glück - zum Glück – auch noch uns.

Noch ein anderes Bild, das mir im letzten Sommer in Marokko kam: sie ziehen die Menschen wie Boote oder volle Fischernetze an Land. Wir sind immer hinter ihnen her und doch gleichzeitig neben ihnen. Sie nehmen uns mit ins Leben. Wie sie das machen, bleibt ein Geheimnis, das ich nun schon 33 Jahre mit zunehmender Faszination studiere. Wahrscheinlich geht es Euch ähnlich. Deswegen sind wir auch heute gemeinsam hier mit ihnen im Amacord und nicht anderswo.

Leander und Hildegard sind aber nicht nur Sohn und Tochter, Bruder, Schwester, Schwager, Schwägerin, Onkel und unsere Freunde, sondern sie sind in erster Linie Künstler, sie sind ein Künstlerpaar, sie sind Nektar und Ambrosia, sie praktizieren schon lange zusammen die Lebens-, Liebens und Kunstkunst. Ich habe einmal gelesen, dass Künstlerpaare wie eine Seilschaft sind, die ohne Seil auf einem ausgesetzten Grat balancieren. Es liegt etwas Utopisches in dem erklärten Ziel, sich um den Preis der Liebe in der Kunst nicht überbieten zu wollen. Denn die Liebe ist nicht konkurrenzfähig, die Liebe stirbt, wenn man sie messen wollte, anders als die Kunst, der es sterbenselend wird, wenn sie einmal nicht gemessen wird – aber das nur so nebenbei. Und Ihr wisst ja besser als ich, wie oft ein Künstlerpaar auch gescheitert ist: Picasso und Francois Gilot, Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn, Camille Claudel und August Rodin sind nur einige Beispiele, da gäbe es noch Frida Kahlo und Diego Rivera, die Taube und das Biest, bei denen es nicht so eindeutig ist, wie ja die Grenzen zwischen geglückt und gescheitert nie so deutlich zu ziehen sind. Diego Rivera hat sich einmal an die Verehrerschaft, die so genannten „Los Fridos“, gewandt: „Ich empfehle sie Ihnen nicht, weil ich ihr Ehemann bin, sondern weil ich ein fanatischer Bewunderer ihres Werkes bin.“

Und in den Schriften von Frida Kahlo habe ich einen schönen Satz gefunden, den man auch Hildegard zuschreiben könnte: „Ich glaube, dass die Kunst als Schutzschild gegen Wahnsinn und Verzweiflung dienen kann. Ich glaube, dass Bilder geboren werden wollen. Sie wählen mich, wenn ich ihnen geeignet erscheine, sie sichtbar zu machen.“

In diesem Sinne sind wir alle Los Leandros und Las Hildegardas.

Ein Blick voraus:

Der vierundachtzigjährige Andre Gorz hat an seine Frau Doreen geschrieben:

“Bald wirst Du jetzt zweiundachtzig sein. Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden, Du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je.“

Ein Blick zurück:

„Mein liebstes, bestes Weibchen, mein allerliebstes Herzensweibchen!“ schreibt ein verliebter Jungvermählter am 8. April 1789 aus Budweis an seine Konstanze in Wien:

„Denkst du wohl so oft auf mich wie ich auf Dich? Alle Augenblicke betrachte ich dein Portrait – und weine – halb aus Freude, halb aus Leide! Es gibt keine einzige Verdrüßlichkeit als Deine Abwesenheit. Mit tränendem Auge schreibe ich dieses. Erhalte Dir Deine mir so teure Gesundheit und Adieu, meine Liebste, meine Beste! Du hast gar keine Ursach, traurig zu sein. Du hast einen Mann, der Dich liebt, der alles, was er imstande ist, für Dich tut.

Denke, dass ich alle Nacht, ehe ich ins Bett gehe, eine gute halbe Stunde mit deinem Portrait spreche und so auch beim Erwachen. Übermorgen gehen wir ab nach Prag, und am 4. werde ich schon wieder bei meinem liebsten Weiberl schlafen…

O stru, stru, stri! Ich küsse Dich und drücke Dich auf das zärtlichste 1 095 060 437 082 Mal (hier kannst du Dich im Aussprechen üben!) und bin ewig Dein treuester Gatte und einziger wahrer Freund-

bis an den Tod Dein

Dich von Herzen liebender

stu-stu - Mozart.“

Es lebe das Leben!

Es lebe die Liebe!

Es lebe die Kunst!

Auf Euch – Hildegard und Leander!

Veronika, am 1. Dezember 2008

Mit Tunnelblick im Omnibus

Leserbrief zu Dragan Velikics neuestem Buch „Das russische Fenster“

Falter 42/08

Ein Roman und seine Figuren sind eine Sache, Zitate aus einem APA-Interview eine ganz andere. Wo mag sich denn der Schriftsteller Dragan Velikic aufgehalten haben, bis er 2005 als Botschafter SRJ nach Wien kam, vielleicht in einem Omnibus mit Tunnelblick?

„Sogar in den finstersten Jahren des Regimes von Slobodan Milosevic hat es auch ein anderes Serbien gegeben, das lange Zeit hindurch keinen Zutritt zu europäischen und anderen internationalen Medien hatte.“ Diese Aussage ist so eindimensional und unrichtig wie die Klagen der serbischen Nationalkommunisten, dass alle westlichen Medien immer nur anti-serbisch ausgerichtet gewesen seien. Kaum ein westlicher Journalist in Belgrad, der sich nicht auf Lichtgestalten wie die Menschenrechtsaktivisten Sonja Biserko, Natascha Kandic, Vesna Pesic oder Vladan Vasilijevic gestürzt hätte, bei Radio B-92 oder dem Nachrichtenmagazin „Vreme“ ein- und ausgegangen wäre, die „Frauen in Schwarz gegen den Krieg“ interviewt und die Anti-Kriegsaktionen der Studenten gefilmt hätte. Wahrscheinlich dürfen die westlichen Journalisten wegen der Steuer noch immer nicht sagen, welchen und wie vielen Malern zwischen Pristina und Sarajewo sie in den Sanktionsjahren Farben und Pinsel mitgebracht, sie aufgekauft und im Westen zu Ausstellungen und Kunden gebracht haben. Alle waren froh, wenn sie einmal nicht mit Lügen und Anschuldigungen der Regimevertreter überschüttet wurden, einen seriösen Diskurs führen konnten und an Informationen außerhalb der Regimepropaganda herankamen. Sogar Zoran Djindjic, der bis zum Dayton-Vertrag tapfer an Radowan Karadzics Seite stand, war ein begehrter Interview-Partner, an dem kein westliches, v.a. deutschsprachiges Medium vorbeikam, weil er so schönes Frankfurter Deutsch sprach, smart war und aussah wie ein Dressman. Noch hinter den schwächsten Statements der Panics, Draskovics, Dinkics, Svilanovics und Madzars hechelten wir dankbar hinterher. Selbstkritisch muss man heute sagen, dass wir „das andere Serbien“ sogar aufbliesen und weich zeichneten, damit wir die demokratische Opposition bei uns unterbrachten, auch wenn sie diesem Namen gar nicht immer entsprach. Wer soll denn schon darüber richten? Aber umgekehrt auch nicht, Herr Velikic.

Von den rund 6000 vom ORF-Belgrad zwischen 91 und 97 produzierten Beiträgen hatten etwa ein Viertel eben dieses vielfältige, demokratische „andere Serbien“, zum Thema, darunter Film- und Theaterkritiken vom BITEF, Ausstellungsberichte, Besuche beim „Belgrader Kreis“, dem „Helsinki-Komitee“, dem „Zentrum für kulturelle Dekontamination“ der Dramaturgin Borka Pavicevic , bei den Schriftstellern Aleksandar Tischma und Bora Cosic, dem Alt-Dissidenten Milovan Djilas, bei Nenad Canak, dem Führer der sozialdemokratischen Liga der Wojwodina, oder dem radikalen Filmemacher Zelimir Zilnik. Keine Diskussionsrunde im deutschsprachigen Raum zu Jugoslawien-Fragen, in dem nicht auch ein Vertreter des „anderen Serbien“ die Clubmöbel gedrückt hätte. Alle habe ich sie persönlich in die österreichische Botschaft begleitet, damit sie ein Visum bekommen und bei uns das andere Serbien darstellen können. Velikic war nicht dabei, denn der war ja schon in Wien und saß am Tisch von Milo Dor. Das ist ausnahmsweise keine Lüge der Westmedien, sondern eine Erzählung seiner Exzellenz, des Botschafters Dragan Velikic himself beim Begräbnis seines Mentors vor 2 Jahren.

Als im Herbst 1996 nach der Fälschung der Kommunalwahlen durch Milosevic die Bürger 3 Monate lang in Massen auf die Straßen gingen, gab es überhaupt kein anderes Thema mehr. Es waren ganze Wälder von Einhörnern, die nicht etwa in obskure Sendeplätze versenkt wurden, wie Velikic behauptet, sondern in den Hauptnachrichten- und Doku-Sendungen der Öffentlich-Rechtlichen platziert waren.

Ob Sie es glauben oder nicht, wir Westler im Belgrad der 90er-Jahre, umgaben uns viel lieber- sei es im Arbeitsteam oder im Freundeskreis – mit Adepten von Krlescha, Andric, Selimovic, Crnjanski und Bulatovic als mit Gefolgsleuten der nationalistisch-gewendeten Herrschaften der Kapors, Pavics, Macvas oder Cosics. Sich von diesem nationalkommunistischen Abschaum „Die Wahrheit über Serbien“ erklären zu lassen, war ein späteres Privileg des Peter Handke. Vielleicht wird sich einmal jemand in das ORF-Archiv begeben, um die grindigen Stereotypen zu entlüften und nicht immer wieder die alten Ressentiments der diplomatischen Romane a la Velikic und Ivanij aufzukochen. Eine frische Dissertation vielleicht einmal zur Abwechslung? Geben Sie ein Stipendium aus, Herr Botschafter, oder zwei, wenn Ihnen an der „Wahrheit über Serbien“ gelegen ist!

Wo immer der Rudi Stupar-Erfinder damals gesessen sein mag, ganz entgangen kann ihm doch nicht sein, dass die Deutsche Welle und BBC dem immer wieder von der Schließung bedrohten Radio- und später TV- B92 ihre Frequenzen zur Verfügung stellten, und dass die Oppositionszeitungen „Nasa Borba“ und „Vreme“ Papier- und Druckmaschinen-Lieferungen aus dem Westen bekommen sollten, diese aber nicht wegen der Feindsender ihren Bestimmungsort verfehlten, sondern weil sie von Milosevics Banden an der ungarischen Grenze gekidnappt wurden. Häufig fragten europäische Medien ohne Vertretung in Belgrad im ORF-Büro um Beiträge an, wobei ihr Hauptinteresse nicht auf dem Raketenzählen oder einer Milosevic-PK lag, sondern den zärtesten Pflänzchen einer demokratischen Alternative in Serbien galt. Die West- Journalisten zu hauen – wie einfach ist das doch, und wie gut kennen wir das nicht von den Nationalkommunisten und ihren Knechten a la Peterchens Südfahrten! Dass es nicht die vorrangige Aufgabe der „europäischen und internationalen Medien“ war und ist, die Demokratie in Serbien zu entwickeln, - da bin ich ausnahmsweise mit Handke d`accord, dass die Serben das schon selber machen müssen und werden - versteht sich von selbst, aber dass sie den „zivilisierten Einhörnern“ Raum und Bild gaben, das sollte auch mit tiefstem Tunnelblick nicht geleugnet werden.

Veronika Seyr, 17. 10. 08

ORF-Korrespondentin in Belgrad 1991 - 97