Donnerstag, 8. Januar 2009

Trauerkulturen

Zum öffentlichen Tod des Jörg Haider

Selbst auf dem Weg von einem Begräbnis eines engen Freundes am Zentralfriedhof, wurde ich drei Tage nach dem tödlichen Verkehrsunfall des Kärntner Landeshauptmannes Ohrenzeuge mehrerer Gespräche. Zuerst zwei junge Männer im 6er, die sich lautstark darüber ausließen, dass der Jörgl am besten Weg gewesen sei, „ganz Österreich zu fressen“ und bedauerten, dass seine Nachfolger wahrscheinlich noch zu jung und unerfahren seien, um die „Verbrecherbagage von ÖVP und SPÖ“ zu verjagen. Jörg Haider, das Raubtier. Später eroberte ein Rentnerpaar die Oberhoheit über die Passagiere in der U3, in dem sie laut und ungehemmt über „das rote, schwarze und grüne Gsindl“ herzogen, denen es „der Jörg wieder einmal gezeigt habe, fast hätte er sie wieder aufgschnupft in seiner Pfeifn“. Jörg Haider, der Rächer. Mir fiel dabei auf, dass ich derartige Gespräche mit so offensichtlicher Vernichtungsfreude und Menschenverachtung für den politischen Gegner früher nie so laut und frech in öffentlichen Räumen gehört habe. In einer Runde Gleichgesinnter am Wirtshaustisch mit viel Promille im Blut vielleicht, aber einen U-Bahn oder Straßenbahnwagen füllend – das hat erst Jörg Haiders „Politik“ hoffähig gemacht. Hat ja er und seine Entourage ebenso gesprochen, warum sollen das die Simmeringer Arbeitslosen und Pensionisten nicht dürfen?

Dann fragte ich mich, was diese denn von „ihrem Jörgl“ so alles bekommen haben mögen? Eine tolle Ausbildung vielleicht, einen gut bezahlten Job, eine günstige Wohnung, einen Heizkostenzuschuss oder eine Pensionserhöhung? Nichts von alldem, war er doch nicht einmal in der Lage, Kärnten vom letzten Platz aller Bundesländer in allen sozialen, wirtschaftlichen und bildungspolitischen Parametern herunter zu holen, trotz der Geldflüsse, die Haider, oft am Budget vorbei, für Kärnten aus dem bösen Wien herbeischaffte.

Oft haben uns Analytiker und Kenner der Kärntner Seele erklärt, warum gerade im südlichen Bundesland die kollektive, infantile Vatersehnsucht so ausgeprägt: das unterdrückte, geleugnete Slawentum soll es sein, das das bürgerliche und individuelle Selbstbewusstsein nur rudimentär ausgebildet habe; darum verlangten die Kärntner so brennend nach einem Übervater, mehr als die Vorarlberger oder Oberösterreicher, denen der eigene, physische genügt. Ist das die Erklärung für das kollektive Trauma? Warum sind sie auf das familiäre Du mit Händedrücken und Almosen so viel mehr angewiesen als andere Österreicher? Warum können sie sich nicht das erarbeiten, was sie brauchen? Und aus welcher Kasse hat er alle diese Geschenke finanziert, der gute Mensch aus dem Bärental? Noch auf eine Besonderheit wird hingewiesen: Kärnten war bis zu Haiders Aufstieg jahrzehntelang fest im Griff der Sozialdemokratie mit absoluten Mehrheiten – und dann der bruchlose Übergang zu den Deutschnationalen. Das muss schon auch etwas mit der Sozialdemokratie selbst zu tun haben. Aber woher kommt diese gefährliche, weil anti-demokratische Erlösungssehnsucht, die mich an das Gedicht „Heldenplatz“ von Jandl denken lässt? Einträge in das Kondolenzbuch geben davon erschreckende Auskunft. Ist Haider so extrem charismatisch oder die Kärntner Bevölkerung so extrem bedürftig? Was wäre, wenn er in Bad Goisern geblieben wäre? Hätte er nach seinem Studium auch in Wien reüssieren können? Andere Bundesländer wie die Steiermark, Oberösterreich, Wien und Niederösterreich hatten auch langjährige, populäre Landesoberleute, die viel für ihr Land bewegt haben. Aber Heiligenverehrung für einen Übervater, das hat niemand sonst hervorgebracht. Haider hat das Bedürfnis nach Ressentiments, nach Nennung, Ausgrenzung und Kriminalisierung des vermeintlich Schuldigen an der persönlichen und Weltmisere befriedigt und öffentlichkeitsfähig gemacht. Es war wieder erlaubt, Feinde zu haben, Feinde zu machen, sie zu benennen und ihnen alles Böse zu wünschen. Und immer hat der die Schwächsten der Gesellschaft ausgegrenzt und zu Buh-Menschen gemacht. Bei allen sozio-kulturell-psychopolitischen Besonderheiten bezweifle ich, dass es ein Kärnten-Gen gibt. Denn er war ein Rattenfänger, der auch woanders die Scharen hinter sich hergezogen hat. Es gibt Ratten, und es gibt den, der pfeift. Der Rattenfänger sagt, was kann ich dafür, dass die hinter mir herkommen? Und es gibt die Ratte, die sagt, was soll ich tun, wenn gepfiffen wird, dann muss ich kommen. (frei nach Iosnesco „Die Nashörner“)

Haider war ein Hassprediger, und die Journalisten sind mit wenigen Ausnahmen seine allzu willigen Wasserträger, die in Faszination vor ihm auf der Tacken lagen und ihm aus der Hand fraßen, die sie fütterte. Er müsste wegen „Volksverhetzung“ zur Verantwortung gezogen werden; ob „Volksverdummung“ eine inkriminierbare Handlung ist, muss ich erst recherchieren. Von islamistischen Hasspredigern weiß ich nur aus den Medien, kann sie wegen ihrer Muttersprache nicht verstehen. Die ex-jugoslawischen Hassprediger verstand ich zumindest sprachlich, auch wenn ich keinen Zugang zur Psyche dieser hoch gebildeten Personen fand: Tudjman war Historiker und General, Karadzic Psychiater und Schriftsteller, Biljana Plavsic, seine Stellvertreterin, doppelte Doktorin in Medizin und Biologie, Mirjana Markovic - Soziologieprofessorin, Nikola Koljevic, der bosnisch-serbische Vizepräsident, war Anglistikprofessor, Schriftsteller und Shakespeare-Übersetzer, Milorad Pavic und Momo Kapor haben früher wunderbare und international anerkannte Romane geschrieben, und das serbische Hassprogramm haben 200 Mitglieder der Akademie der Wissenschaften verfasst. Wie große Potentaten und Weltverbrecher a la Hitler und Stalin, Pol Pot und Saddam Hussein hatte auch H.J. die Fähigkeit, sich eine blinde und treu ergebene Gefolgschaft zu schaffen, die sich mit ihrem Anführer identifizierte, zum Glück nicht dieselben Möglichkeiten. Die Gefolgschaft lebt für IHN und durch IHN, jedes einzelne, kleine miserable Menschlein ist durch IHN mehr als es allein wäre, so wie die beiden Arbeitslosen in ihren ausgelatschten Schuhen und grindigen Trainingsanzügen, den Doppler im Hofer-Sackerl, als sie sich zu der Männerrunde beim Branntweiner vor dem 2. Tor des Zentralfriedhofs gesellten, am helllichten Tag um halb elf. In meinem Wohnhaus in der Wiedner Hauptstrasse stand bis in die 80er-Jahre an einer Parterretür mit altdeutscher Schrift aufgemalt: Gefolgschaftsraum der Firma H. Von der Gefolgschaft der Firma H. gibt es ein Foto aus dem Sommer 1938, auf dem ebendiese zu sehen ist, wie sie in die Kamera hineinlacht von einer Lastwagenplattform herunter, die mit Tannenreisig geschmückt ist und einer Tafel mit altdeutscher Schrift: Die Firma H. ist judenfrei! Und die Pensionisten in der U3 schnupften lautstark in ihre Taschentücher und wiederholten die Zauberworte vom Lebensmenschen, vom Robin Hood, von der Sonne, die vom Himmel fiel und den Uhren, die am Samstag stehen blieben, ein Weltuntergang, was für eine Welt!

Und dann die vom Lebensmenschen Petzner angeführte Heiligenverehrung: „Er hat das Höchste gegeben , sein Leben.“ Wird da ein Jesus Christus aus dem H-J. gemacht oder ein Sonnengott Helios: „In Kärnten ist die Sonne vom Himmel gefallen“ (Dörfler). Von einem „Tragischen Tod“ ist immer wieder die Rede. So sehr, dass ich nachsehen musste, wie Aristoteles „Tragik“ definiert hat. Sie löst zugleich Mitleid (eleos) mit dem Betroffenen und Furcht (phobos) um uns selbst aus. Nur unverdientes Leiden ist wirklich tragisch, weil sie als „Ungerechtigkeit des Lebens gegenüber dem Menschen empfunden wird. Was kann tragisch sein? Eine Heldentat, rächende/neidische Götter oder das launenhafte Schicksal. Was trifft hier auf den Fall H.J. zu? Ich meine: nichts.

Kein Wort von den 180 Sachen mit 1,8 Promille im Blut, diese kriminelle Handlung fällt wahrscheinlich unter die kärtnerischen Kavaliersdelikte, so wie sich Haider über Gesetze und Verfassungsgerichtsbeschlüsse hinweggesetzt hat. Fesch, wie immer. „Die Schuhe sind groß, sehr groß, aber wir werden sie anziehen, wachsen und wieder aufstehen“, sagte Gerhard Dörfler, der designierte Nachfolger. Was für Wunderschuhe hat er hinterlassen, die schon allein durch das Anziehen wachsen lassen, märchenhafte Siebenmeilenstiefel tummeln sich jetzt durch Kärnten. Aber warum plappern Wiener Pensionisten sogar die wahnwitzigsten Verschwörungsvermutungen nach: „Nichts haben sie ihm gegönnt, dem Jörgl“, flennte die zahnlose Alte in ihr Taschentuch. Dabei hatte ich immer den Eindruck, dass dieser Mensch alles geschenkt bekommen hat, ihm alles zugeflogen ist oder er sich genommen hat, was er brauchte. Sogar VW mit ihrem „Fätton“ (war übrigens auch auf Ö1 von einer Moderatorin des gestrigen Mittagsjournals so zu hören, Pha:eton, Sohn des Helios, der 1. Amokfahrer der Weltgeschichte) verdächtigen sie, manipuliert gewesen zu sein, weil ihr Jörgl doch nicht einfach so banal abtreten kann, eine Kruzifixteufeleini-Himmelfahrt mit 180 Sachen. Volkes Seele dürstet nach Mythos. Wann haben die beiden Alten zuletzt so geweint? Als ihr Rollmops das Zeitliche segnete? Oder bei den letzten Abschiebungen von vermeintlich straffällig gewordenen Asylwerbern in die Sonderanstalt auf der Saualm? Mit Blaulicht und Sonderbegleitschutz.

Wann habe ich bewusst das erste öffentliche Massentrauern wahrgenommen, die Kerzenlichter- und Blumenmeere wahrgenommen, die vor den Gittern niedergelegten Teddys, Herzen und Briefe? Ach ja, vor 11 Jahren bei Diana, dem Tod der Märchenprinzessin, der Königin der Herzen. H.J., der König der Kärntner Herzen. Diana, auch so eine von den Medien gemachte Figur, picksüß und verlogen, aber politisch weit weniger grauslich als die südost-österreichische. Menschen mögen Märchen, sagte damals eine Journalisten-Kollegin weise, gib dem Affen Zucker, meinte ich weit weniger romantisch.

Die jüngsten Ereignisse erinnern mich an die Geschichte meiner Freundin Dora, Tochter von jüdischen KP-Emigranten, wie bitterlich sie als Fünfjährige geweint habe, als Stalin gestorben war, wie sie sich von da an jeden Abend vor ihr Bett gekniet und für den „Onkel Joschi“ gebetet habe. Sie weiß es bis heute genau, dass sie damals glaubte, nicht weiter leben zu können, so finster und hoffnungslos sah die Welt rund um sie aus. Einer meiner russischen Freunde war bei Stalins Tod 10 Jahre alt. Als Lew am 5. März 1953 in die Schule kam, saß seine geliebte Lehrerin Anna Iwanowna mit verheultem und geschwollenem Gesicht an ihrem Tisch vorne in der Klasse und stützte sich schwer auf beide Arme, vor Schluchzen konnte sie nicht sprechen und kaum atmen. Lew meinte, dass sie einen engen Verwandten verloren haben muss, ihren Mann oder ihre Mutter vielleicht, und wunderte sich, dass sie an diesem Tag nicht zu Hause geblieben war. Und Stalin hatte immerhin 29 Jahre in absolutem Totalitarismus ohne die geringste Alternative regiert, den Feind aus dem Land gejagt, halb Europa erobert und die Sowjetunion zur Supermacht ausgebaut. In Russland ist es üblich, die Verstorbenen in offenem Sarg aufzubahren und zu verabschieden. Die Trauernden werfen sich über den Leichnam, küssen Gesicht und Hände, streicheln die Haare, stecken Blumen und Kerzen zwischen die Finger, weinen und schluchzen in aller Öffentlichkeit. So unterscheiden sich Kulturen und Gebräuche. Mir graut jetzt schon vor den Bildern der Begräbnisfeierlichkeiten in Klagenfurt am Samstag, dass wir zu sehen bekommen, welcher alter und neuer brauner Abschaum Abschied vom H.J. nimmt.

Als Kaiser Franz Josef I. im November 1916 nach 68 persönlichen Regentschaftsjahren und 600 seiner Familie Habsburg starb, gab es noch kein Fernsehen, die Trauer war weniger öffentlich, es wurden keine weinenden Minister und Kabinettssprecher, keine flennenden kärntner, tschechischen, galizischen, bosnisch-herzegowinischen, kroatischen, salzburger, slowenischen, ruthenischen oder serbischen Untertanen ins Wohnzimmer geliefert, die ihre Liebe zum verblichenen Herrscher aller seiner Völker unter Tränen herausstammelten.

„I hob einfoch doher kumman miassn, dös is mei Pflicht, dem Jörgi pfiat Gott sogn“, habe ich eine Kärntner Rentnerin mit Steirerhut und tränenerstickter Stimme in der Kondolenzschlange sagen gehört, nicht etwa in einer Lokalsendung, sondern in einer Zib 1. In der öffentlich zur Schau gestellten Trauer, da sind wir wieder wer. Als müsste alle Welt wissen, wie traurig es um Kärnten bestellt ist.

Die Filmaufnahmen vom Begräbnis Franz Josefs, seinem Zug durch die Stadt und den Stephansdom zeigen uns stumme, in Würde trauernde Menschen an den Straßenrändern, ein steiler, schwarzer Streifen, als der Katafalk von den 16 schwarzen Rössern an ihnen vorbeigezogen wird. Das Bewegend/teste dabei ist das rhythmische Wippen der schwarzen Federbüsche auf den Pferdeköpfen. Ist das deswegen weniger Trauer?

Die Berichte aus Kärnten rufen mir Erzählungen von Jugoslawen aller Nationalitäten in Erinnerung, wie ungeheuer fassungslos die Menschen bei Titos Tod gewesen seien, wie übergroß die Trauer, das Gefühl, den allernächsten Menschen verloren zu haben, ihren Lebensinhalt, ihre Gegenwart und ihre Zukunft; mit Tito seien alle Hoffnungen gestorben, vater- und heimatlos hätten sie sich gefühlt, einsam und verlassen, jeder für sich allein. Das ganze Land war gelähmt im Schock und gefangen in einer so abgrundtiefen und lang andauernden Zukunftsangst, dass sie sich einige Jahre später in den Kriegen entlud – meiner Ansicht nach einer der Gründe in der komplexen Kriegsursachenstruktur. Wie sie sich als kleinen Trost an die Slogans geklammert hätten: Tito lebt, Tito-mit dir in Ewigkeit oder einmal Tito – immer Tito. Ja, da war eine Sonne vom Himmel gestürzt. Die überlebenden Gegner, die Tito 1948 auf die KZ-Insel Goli Otok geschickt hatte, schwiegen und trauerten ebenfalls, um ihr eigenes Leben. Der Personenkult war in Titos Jugoslawien zu einer perfekten Maschinerie ausgebaut, aber was hatte Josip Bros Tito nicht alles für sein Land getan und erreicht in den 40 Jahren seines politischen Wirkens an der Spitze? Dieses kollektive Gefühl, einen Überlandesvater verloren zu haben, kann ich bei aller Propaganda verstehen und auch respektieren. Aber wer hatte denn schon eine andere Möglichkeit?

Wie sich die Hagiographie, die Heiligenverehrung von totalitären Regimes und Kirchen doch ähneln – ohne die Metaphysik und Transzendenz der letzteren zu besitzen. Bei aller Propaganda kann ich diese Trauer verstehen, Kärnten dagegen bleibt ein Rätsel.

Wien, 14. Oktober 2008

Veronika Seyr, Studium der Slawistik und Germanistik, Journalistin und Kulturmanagerin,

1990 – 1007 ORF-Korrespondentin in Moskau und Belgrad, dann Direktorin des Österreichischen Kulturforum Moskau, zahlreiche Reportagen aus Osteuropa, darunter Kriegsberichterstattung vom Balkan.

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