Donnerstag, 8. Januar 2009

Die Bienen der Persephone oder:

Calling all Fridas und ein wenig Honig

„Erinnern heißt, ganz allein durch ein ausgetrocknetes Flussbett zurückgehen müssen“

Osip Mandelstam

Zur Entstehung der Bilder in Marrakesch – mein wildes Geschenk an Hildegard Stöger

Wer weiß es: Vielleicht begann alles mit den fliegenden Ziegen in den Arganien-Bäumen? Unser gemeinsamer Schrei im Schnellbus von Marrakesch nach Essaouira, die schwarz-weißen Zottelziegen stehen in den dürren Besensträuchern wie Christbaumschmuck nach Neujahr. Steinwüste rundherum unter dem farblosen Himmel und am Horizont eine wolkenblasse Ahnung von Atlantik. Schrecklich, diese Flurfrevler, in unserem Unwissen. Ein Bild, mein Glück, der Moment des kurzen Erkennens.

Wir sind nach Marokko gereist, in „das Land am äußersten Westen“ und nach Essauoira, as-Sawira auf Arabisch, die schön Gestaltete, die Vollendete schmiegt sich um den afrikanischen Atlantikbusen. Diese Stadt hat wahrscheinlich das schönste Wappen der Welt: 3 Mondsicheln, eine Dattelpalme und eine fedrige Araucaria. Die weißen Häuser, die blauen Türen und türkisen Fensterrahmen sollen den bösen Blick abhalten wie die Händchen der Aisha, Mohammeds Mädchenfrau. Über den bleichen Mauern der Kasbah sticht eine Neumondsichel in den samtblauen Himmel. Von den 36 Synagogen Essauoiras ist nur ein Bethaus geblieben, schreibt der Führer „Richtig reisen“; wir finden es nicht. Tüpfelhyäne und Schreiadler lauern in der Angst, draußen in der Wüste ist alles möglich. Der trockene Sandwind und die Furien der Basarwelt trüben unsere Sinne. Die Katzenkinderzärtlichkeit ist eine günstige Geschäftsanbahnung. Hier endete der Sklavenpfad von Timbuktu und führte auf den Markt, heute gibt es hier nur noch Katzenhaie, Rochen und Sardinen im Angebot, zwischen Booten, auf den Stufen und Felsen des Hafens röcheln sie unter den Anpreisungen der Verkäufer. Die rotäugigen Möwen fangen die Abfälle im Flug, stoßen dabei kalte Lustschreie aus wie gequälte Kinderstimmen, sie stehen im Sturm, die Balance als einzige Lebensbestimmung. Der junge Tuaregprinz aus der Sahahra verkauft sich und seine Waren in selbsterlerntem Straßenenglisch den Touristen. 20 Meter braucht er für seinen schwarzen Turban, 9 Meter für den Frauen-Chaik. Auch die schönsten Stoffe verwandeln die Frauen in unsichtbare Kartoffelsäcke mit tiefen Augenhöhlen. Mir knirscht mehr als der Sand zwischen den Zähnen. Ein Luftballett in der oberflächlichen Schönheit des Überlebenskampfes. Das Schönste daran scheint mir der Name des Windes: alizee

Im Spiel von Vergessen und Erinnern

In der Schiffswerft von Essauoira hat sie die Boote losgebunden und das Netz nach Hause gezogen, im Bündel, voller Flügel und Flossen und um hundert Flügel reicher. Die Seele will sich nicht fügen, die Lippen fliegen rot und trinken blind, ihre Zeit, ihr Tier. Heuer ist der Juli der rote Monat. Aber man kann nur staunen, es ist kein gieriges, wild gewordenes Rot. In diesem Rot ist nichts Herausforderndes, im Gegenteil, es ist lauter Gelächter, heiter und kinderrot, die Farbe der ersten Natur. Im Sonnenbegräbnis, in der Hitze von Marrakesch, fließt Persephones goldener Honig aus der Flasche wie ein zäher Strom. Sie hat ihn nicht gesucht, den Sieg mit den abgeschnittenen Händen. Die Freudensworte muss sie mühsam erlernen wie fremde Gebete, sie kommen nicht von selbst, nur die Qualen sind immer da in der stillen Zelle hinter den Körben mit Feigen und Zwiebeln. An den weißen Gitterfenstern kräuselt sich der rostige Mond im Pelz der Nacht. Die Spindel surrt, Penelope spinnt und trennt jeden Tag wieder auf, wie lange webt sie allein, das Bett im Stroh, die gierigen Freier nebenan. Das Schiffchen fliegt und Troja brennt. Von der Akropolis steigt schwarzer Rauch auf und umhüllt die Jungfrauen. Sie verlässt den Schiffsbauch und die im Meer wund geriebene Leinwand. Endlich ist Odysseus zurückgekehrt, reich erfüllt von Raum und Zeit aus den schweren Wellen, das Goldene Vlies hängt ihm zerschlissen vor der Brust. Aus Esel und Schildkröten baut er sein Boot auf der Brücke und umschlingt die ganze Weltkugel. Das Leben fiel, ein Wetterblitz, wie die Wimper ins Wasserglas stürzt, lügenprall, er klagt nicht an. Jenseits der Wimpern wird sie seine Frau genannt. ( nach Osip Mandelstam)

Das Wunder von Marrakesch sind die Farben:

Rot wie postmoderne Tortenstücke zwischen Punschkrapferl und Moorimhemd. Rot kann noch mehr sein: zinnober, ziegel, burgunder, karmin, orange, lachs, ocker und krapp. Indigo ist blau und grün, Granatäpfel ergeben schwarz; Safran und Mandelblätter – gelb; zimtbraun, mauve und Sandleder sind auch heimische Farben, Tee und Henna machen rotbraun, Safran und Muskat, Pfeffer und Chili waren einst die teuersten Aphrodisiaka. Die Purpurschnecke spricht für sich. Aus 6000 Schnecken ließen sich 1 Gramm Purpur gewinnen, Juba II. verkaufte es im 1. Jh. v. Ch. an die Römer teurer als Gold. Wie banal das Arganöl: aus 50 kg Kernen gewinnen sie 1 Liter Öl, mit Hilfe der Zottelziegen.

Kein Wald aus Orgelpfeifen in Marrakesch. Es kräht kein Hahn, keine Glocke ruft, nur fieberheißes Rauschen von Grillenliedern, die Goldammern trillern unbekannte Lieder, die rote Seide brennt und brennt heiß. Um fünf Uhr früh reißt das Allahu-Akhbar die Schläfer zum erstenmal aus dem Schlaf und bleibt als drohende Klage über uns hängen wie Gestirne im Himmel aus kreischenden Lautsprechern: Allah ist groß und es gibt nichts außer Allah, aus fünf Moscheen, die Mönchsgesänge zerpflügen die Gassen der Medina die ganze Nacht, unermüdlich wie unsichtbare Straßenkehrer. Im Hitzerachen des Platzes der Erhängten stürzen sich die Märchenerzähler, Schlangenbeschwörer und fingerfröhlichen Flötisten auf die fremde Schöne und legen sie in Ketten. Gut und Böse, Himmel und Hölle sind klar unterschieden, aber was jetzt? In unseren Ohren hallt die unerlöste Menschheit wider wie das ewige Geschrei der gequälten Esel von Marrakesch, die Schildkröten schweigen und fressen sich durch den Schatten. Unter den Zikadenhämmerchen schnürt sie sich den bunten Schuh und halftert die Schildpatt-Lyra. Sie ist Bote und Botschaft zugleich, die ferne Urenkelin öffnet Särge und Archipel. Sie pflügt die Zeit um und die Bilder im Wirbel der Wasser und ritzt sich an den Rosen. In roten Schuhen und mit dem vielfarbigen Lindenbast auf dem Kopf vereint sie sie zu leichten Kränzen und Flüssen in goldener Sorge um den schwarzen Familiensarg. Der Grillenschwarm tobt in den inneren Bildern, Persephone schenkt noch immer Honig aus den Flaschen, und Penelopes Spinnrad ruht nie so wie die Zeit. Persephone kommt erst wieder nach dem Tod und der Vereinigung mit der Mutter. Nicht loszumachen ist das unvertäute Boot, sie bindet das Netz los, wirft sich das Seil um, es schneidet ein in die Schulter und die Seele, aus dem Sand zieht die Boote über den Hohen Atlas nach Hause, dabei ihr Kahn des Lebens, des Schicksals, inshallah, die Nacht hat Anker geworfen. Der Mond liegt unter ihren Füßen zwischen Staub und Sternen, die Pampelmusen leuchten wie gelbe Lampions in den dunklen Zweigen des Riad, der Brunnen bleibt stumm unter den Netzen der Dämmerzone. Noch immer berauscht sie sich am Gesang der Goldammern im Morgengrauen, er erfreut und wird als persönliches Geschenk angenommen.

Calling all Fridas

Will man vom Wolf nicht gefressen werden, dann hat man vielleicht nur die eine Möglichkeit, sich an seinen Rücken zu klammern. Sie spielt das Spiel vom Vergessen und Erinnern

Fünfmal am Tag drohende Klagen über Allahs Größe, was du dir selbst versagst, schenke den Bedürftigen, verzerrt, krachend, vom Wind zerfetzt aus rissigen Lautsprechern.

Unsere Schritte erfinden sich nach und nach beim Gehen den Weg, weiße Mauern, Fenster und Türen in Blau und Türkis sollen bösen Blick und Geister abhalten. Die Webwaren waren Geld und Tauscheinheit. Keine Farbe ist zufällig, die Abfolge der Streifen repräsentiert das Berber-Universums. Das Farbenspektrum zerstreut das Böse in alle Richtungen und macht es unschädlich. Teppiche enthalten das Baraka, die günstige, übernatürliche Kraft, die Gnade.

Die Spiralmuster auf der Töpferei versinnbildlichen die Unsterblichkeit.

Tüpfelhyäne und Schreiadler bleiben heute ausgesperrt im Riad der Unsterblichkeit.

Ein marokkanischer Mann, der eine Tochter bekommt, gilt als zeugungsunfähig, aber wenn ein Sohn kommt, wird ein Hammel geschlachtet, das Blut fließt drei Tage in den Straßen, das Fleisch erhalten die Armen.

Ein Gespräch dazwischen: Die endgültige Gestalt kann der Mensch im Leben nicht finden. Er muss verlieren, was er hat, um es in der Erinnerung neu zu gewinnen. Immer steht ein Übergang an. Marrakesch ist so ein Übergang. Immer droht das Scheitern. Rituale dagegen fehlen heute. Malen schafft sich ihre eigenen und überlebt, vielleicht auch das Schreiben, das Komponieren, das Kochen? Die Freundschaft auch, vor allem.

Der eigentliche Triumph besteht im Bildermachen, es stiftet nicht nur Zusammenhänge, sondern die Realität überhaupt, die Ich-Realität des Geträumten und Durchlebten. Immer noch das Gespräch und die bange Frage:

Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwanderte, und man gäbe ihm ein Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand – was dann? Wer die Möglichkeit kennt, dem wird die Wirklichkeit niemals genügen. Keine Antwort, nur immer wieder weiter malen, weiter schreiben, weiter denken.

Im Dämmerungsgürtel der Phantasie sitzt sie und breitet die Bootsträume vor sich aus.

Staub und Sterne, Sand und Fischernetze, der Goldammerngesang steigt zwischen den gelben Lampions der Pampelmusen hoch und verliert sich im Gespinst des Jasmins in der Morgendämmerung. Das Boot schaukelt sanft wie eine Wiege oder ein Totenbett.

Jonas stößt sich den Kopf am Gerippe im Inneren des Wals, vor der Nordklippe flüstern die verborgenen Stimmen, die im Stein ruhen. Die Steine bergen Erinnerungen, genau wie die Wellen und die Dünung, die Sirenen sammeln ihre Kräfte und werfen sich an die Oberfläche. Auch dort unten in der Dunkelheit gibt es Erinnerungen, tief unten, wo Fische und Schildkröten an unsichtbaren und stillen Fahrwassern entlang schwimmen.

Die Tiefseeperlentaucherin sitzt am dämmrigen Küchentisch, mit Rasierklingen kratzt sie unermüdlich Eis von den gefrorenen Tasten, klopft Muscheln und Schwämme von den Klippen, und sie sucht die Wüste ab, als gäbe es die festen Orte der Nomaden. Die Hufpaare schlagen stachelige Sterne aus den Gassen der Medina, das Leben schwimmt weg wie der Schaum eines Wellenhäubchens, zurück bleiben Lippen wie trockener Bernstein unter dem Maulbeerbaum. Der Schuster spannt fünf Ochsenhäute auf den Bock und macht daraus Stiefel. In der Kühle des Morgens tanzen die Musen durch eine Herde Schafe – Bienenküsse und das Auferstehungswunder, unbeirrt schlagen die Goldammern ihren Gesang in den Jasmin: Putputput- pötätööö! Die Möwen von Essaouira noch immer im Ohr.

So bleibt sie weiter im Dämmerungsgürtel der Träume, zwischen Staub und Sternen, und öffnet weiße Särge in Bethlehem. Aber im südlichen Meer steht ein hoher Mast mit Rettungsringen auf Lebenszeit. Telemachs zärtliche Hände haben das Haus zur Rückkehr des Vaters bereitet. Penelope versenkt ihre Spindel im Meer; jetzt bleiben sie gemeinsam an Deck und hören in Ruhe den süßen Gesängen zu; sie können niemanden mehr verführen als die vergeblichen Sängerinnen selbst, vielleicht.

Veronika Seyr für Hildegard am 3. Oktober 2008

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