Der
Empfang war freundlich und persönlich wie in einem Hotel. Die
Rezeptionistin überreichte mir den elektronischen Zimmerschlüssel
und den vorläufigen Therapieplan; dabei bemerkte sie, dass sie die
gleichen Schuhe habe wie ich – bequem, gell!
Dann
rief sie rief den Hausarbeiter, der sich als ein Zoran aus Banja
Luka herausstellte. Während er mein Gepäck schleppte, versetzte ich
ihn wahrscheinlich in Angst und Schrecken, indem ich mit ihm auf
Serbokroatisch plauderte. Große Disziplin bei dieser Attacke, dass
er nicht sofort einsackte, meine Koffer fallen ließ und floh. Schon
wieder der Geheimdienst, hört das denn nie auf? Als ich seine
flackernden Augen bemerkte, ließ ich die vorbereitete 2-Euro-Münze
in meiner Manteltasche und suchte schuldbewusst einen Fünfer
heraus.
Er
nahm ihn natürlich an und murmelte etwas Undeutliches zwischen
Danke und Chvala, dass ich mich noch bemüßigt fühlte zu sagen:
Banja Luka ist eine schöne Stadt, do rata, bis zum Krieg. Diese
Anbiederung, als würden wir Urlaubserinnerungen austauschen: Ah, Sie
waren auch auf Hawaii, schön, phantastisch! Welcher Teufel hat
mich geritten, diesen armen Kerl so zu erschrecken? Und dabei so
unbändig zu lügen? Ich habe Banja Luka bei meinen zahlreichen
Besuchen nie als schön empfunden, es war Krieg, die Stadt von den
Serben erobert, und ich befand mich als Österreicherin in
„Feindesland“ in ständiger Gefahr.
Ich
begegnete Zoran in den nächsten drei Wochen noch öfter, meist
schwer beschäftigt, etwas im Haus reparierend oder Koffer
schleppend, wobei er immer den Kopf tief nach unten und zur Seite
wandte, um mich nicht wieder erkennen oder grüßen zu müssen, oder
in den Parks rund um das Sanatorium, aber er verdrückte sich
schnell oder machte einen weiten Bogen um mich.
Im
Gegensatz zu Zoran war Gordana aus der ausschließlich
ex-jugoslawischen Putzfrauenbrigade – sie kam fast täglich in mein
Zimmer – erfreut über meine spärlichen Worte in ihrer
Muttersprache, mit denen ich sie lobte, ihr das Trinkgeld übergab,
ein schönes Wochenende wünschte und den fortschreitenden Frühling
vor der Loggia bewunderte; ihre leichte, mit erhobenem Lappen
unterstrichene Rüge dafür, dass ich selbst Aschenbecher und
Papierkorb ausleerte, brachte sie in bestem Gastarbeiter-Deutsch vor:
Sie kuren, ich putzen, nix selber machen!
Das große Einzel-Zimmer mit nüchterner und praktischer Eleganz
schien mir nach dem ersten Überblick geeignet, es hier drei Wochen
aushalten zu können. Vor allem die geräumige Loggia vor der
Glaswand mit dem Blick von Osten nach Süden bis Halbwest, machte
mich sicher, dass ich die Anstalt einigermaßen gut überleben würde.
Das Bad wurde geprüft. Die Gondeln der Stubenbergbahn kreuzten
sich im Auf- und Abwärts genau alle 20 Sekunden hinter drei Tannen
und zwei noch kahlen Birken. Die zu einem Hügel ansteigende
Wiesenmulde füllte sich im Laufe dieser drei Wochen immer mehr mit
grünendem Gras, Löwenzahn und Himmelschlüsseln. Am Zaun begannen
an den Haselsträuchern die Palmkatzerl zu blühen, darunter
entdeckte ich im Zoom der Kamera Buschwindröschen und Leberblümchen.
Ab und zu tauchte vor meinem Loggia-Platz eine dicke Katze auf,
stillsitzend wie eine in schwarz-weissen Marmor gemeisselte Statue,
den Blick gebannt auf den Boden gerichtet, wahrscheinlich auf
Mäusejagd. Ich vermisste jetzt schon meine Katze in Wien, die ich
einer nicht vertrauten, aber im ersten Eindruck liebevollen und
verlässlichen Katzensitterin überlassen hatte.
Schnell
war ich in den Strudel der Kur eingetaucht, der Hausordnung, dem
Therapie- und Essplan und den Möglichkeiten der
Freizeitgestaltung.
Ich
überließ mich ab sieben Uhr früh den heißen Radon-Wannenbädern,
der Massage, den Fango-Behandlungen, den RadonInhaationen und dem
Wechselstrom, später der Gymnastik am Boden und im Wasser, den
Unterwassermassagen, den Radlerpartien am Standgerät und dem
Nordic Walking. Zu insgesamt acht verschiedenen Therapien war man
eingeteilt, meistens fünf bis sechs davon über den Tag verteilt -
65 sollten es werden in diesen drei Wochen. Dazu konnte man noch
rund 30 verschiedene Behandlungen privat buchen.
Im
Speisesaal hatte ich den Tisch Nr. 4 zugewiesen bekommen, zusammen
mit mir noch die Fließbandarbeiterin Petra, ihr Lebenspartner Kurt,
ein Gabelstaplerfahrer aus Bad Hall, und der ewig lächelnde, mit
schief gehaltenem Kopf Buschauffeur Mirko, ein Ex-Jugoslawe, der
aber so wenig sprach, dass ich bis zuletzt nichts über seine
Herkunft herausfinden konnte. Aber nach meinen gemischten
Erfahrungen mit Zoran und Gordana versuchte ich auch keine weitere
Stümmelkonversation auf Serbokroatisch mehr.
Unter
den elf Tischen im Speisesaal fiel mir einer auf, besetzt mit fünf
Personen, drei Frauen und zwei Männern. Nicht nur, weil er der
nächste Tisch zu meinem war, so nahe, dass ich einiges von den
Gesprächen mitbekommen konnte. Anfangs die Namen, mit denen sie sich
von der Früh an laut begrüßten: Moagn, moagn, Sabine, Silvia,
Walter, Hermann und die Deutsche Maren.
Sabine
ist eine Altenpflegerin in den Vierzigern aus Graz-Umgebung, die
schon zum Frühstück um dreiviertel sieben gepflegt, gestylt, mit
Schmuck gehangen, herausgeputzt wie für einen Clubabend immer als
Erste erschien. Sie war am ganzen Körper knusprig braun. Als ich
einmal eine bewundernde Frage stellte, bekam ich die Auskunft, dass
sie über Weihnachten in Sri Lanka gewesen sei, aber auch ins
Sonnenstudio geht. Sie wechselte nicht nur wie wir alle, je nach
vorgeschriebener Therapie, die Kleidung, sondern auch zum Mittag -
und Abendessen ihre Outfits, wobei sie es noch schaffte, sich zum
Abendtrunk an der Bar des hauseigenen „Kaffee Ofenrohr“ in
Partyschale zu werfen. Was ich wirklich bewunderte, waren ihre
Fingernägel aus dem Nagelstudio, lang, bunt bemalt mit Tupfen,
Flecken oder Bildchen mit einem weißen Rand an den Enden, Krallen,
mit denen sie ihre Pfleglinge sicher so beeindruckte, dass sie
schnell das Zeitliche segneten. Sie hat ein Handy, das mit einer
rosaroten Hülle umgeben ist und ein baumelndes Silberkettchen wie
es 10-Jährige schon als no-go ablehnen.
Silvia ist eine pummelige Hausfrau mit zwei studierenden Kindern
und einer dementen Schwiegermutter zu Hause. Sie hat offenbar keine
ähnlichen Ambitionen wie Sabine, sie trägt Tag für Tag den
gleichen Pullover und eine fettzeichnende Hose, in verschiedenen
Farben, sehr praktisch: Verheiratet, ein Mann, 2 Kinder, seine
Mutter, ein Haus, eine sichere Position. 30 Kilo weniger und sie
wäre die hübscheste von allen gewesen. Sicher ist sie aber die
lauteste Lacherin, eine richtige Kuderin, Kaskaden perlten geradezu
aus ihrer zurückgeworfenen Kehle und wieder herunter über
Doppelkinn über die einheitlichen Rundungen von Busen und Bauch.
Ich fand nie heraus, was an diesem Tisch immer so lustig war.
Vielleicht war es allein die dreiwöchige Befreiung von dem
beruflichen und heimischen Pflegealltag. Sabine hat am langen
Osterwochenende frei und fliegt nach Mallorca, Silvia muss bei der
Mutter bleiben, freut sich aber auf den Besuch ihrer Kinder. Ihr
Mann Hermann ist ein durchtrainierter Nebenerwerbsbauer, der jeden
Nachmittag mit seinem Mountainbike oder den Nordic Walking-Stöcken
in die Landschaft ausrückte. Von Walter bekam ich außer seinem
Dauerreden – und -Lachen nicht mehr mit, als dass er wie Günter
an meinem Tisch am selben Tag den 58. Geburtstag feierte, am Samstag
vor Palmsonntag. Er bekam eine Flasche Zirbenschnaps und ein
gesungenes Ständchen mit dem unsterblichen Unsinnlied „Walter, ach
Walter“. Dieser Tisch war auch der einzige, der manchmal nach dem
Abendessen eine Flasche Wein bestellte, was mir auffiel, weil in der
Anstalt eigentlich Alkoholverbot bestand. Walter war der größte
Witzemacher und Unterhalter, der sicher an jedem Stammtisch der Star
war. Wegen seines kärntnerischen Dialekts konnte ich mir vorstellen,
dass er im Nebenberuf vielleicht ein Karnevalsprofi aus dem nicht
weit entfernten Villach sein könnte. Aber er war ein Naturtalent,
erfuhr ich aus einem zufällig mitgehörten Gespräch in der
Nachbarkabine des Wannenbades. Ob das seinem Beruf - als
Gemeindeangestellter von Mallnitz-Obervellach war er für Begräbnisse
und den Friedhof zuständig- geschuldet war oder umgekehrt, konnte
ich nicht herausbringen.Es gab auch an anderen Tischen laute
Lacherinnen, auf Tisch Nummer 7 zum Beispiel eine pensionierte
Lehrerin aus Tirol, die an jeden ihrer Sätze eine Lachtirade von
oben nach unten und wieder hinauf hängte.
Wer
einmal einen Almabtrieb erlebt hat, wird an eine solche urige
Glockensymphonie erinnert. Oder an die aneinander schlagende
Milchkannen, wenn sie leer wieder ausgeladen werden. Wahrscheinlich
hatte sie in ihrer Berufszeit zu wenig gelacht. Ich war mir sicher,
dass es Sabine, Silvia und Gitti waren, die gar nicht mehr zu lachen,
kichern, sich zerkugeln aufhören konnten, als ich der bulgarischen
Gymnastiktrainerin Bogumila verbot, mich zu berühren. Anfangs entzog
ich mich ihr unwillig, als sie mich zum Vorzeigen einer Übung
benützen wollte. Als sie es noch einmal versuchte und meine Knie
mit beiden Händen umfing und demonstrierte, wie die Übung
auszuführen sei, zu deren korrekter Beschreibung ihr Deutsch nicht
ausreichte, stieß ich sie von mir und ließ laut vernehmlich für
alle 15 Leute im Trainingssaal hören:
-
Bitte, lassen Sie das, ich will das nicht!
Einem
hilflos am Boden, am Rücken ausgestreckten Menschen so etwas
anzutun, war für mein Gefühl ein Überfall, zumindest ein
Übergriff. In der hinteren Ecke begannen drei Frauen hellauf zu
lachen, von denen sich zwei bald einkriegten, die dritte aber fast
bis zum Ende der halben Stunde Gymnastik immer wieder von neuem zu
gigeln und zu kichern anfing, als würde sie gekitzelt. Ganze
Tonleitern auf und ab perlten aus ihr heraus. Ich setzte mich kurz
auf und überzeugte mich, dass es Gitti war, neben ihr lagen, schon
verstummt, Sabine und Silvia. Tagelang quälte ich mein Hirn auf der
Suche nach einer passenden Antwort, die sie bloßstellen und
zugleich als ein Gegenangriff empfunden werden sollte. Ich
unterließ es aber letztlich und beruhigte mich, als ich den
Vergleich mit einem unpassend lachenden Kinopublikum fand, das
manchmal aus Angst und Verlegenheit scheinbar grundlos lachte.
Angstabwehr nennt man das in der Psychologie. Aber in dieser Schicht
hatte ich natürlich meinen Ruf weg. Dass ich die einzige Wienerin
war, einen Doppelnamen und akademischen Grad hatte, half auch nicht
gerade, mich bei den Alpenländlern beliebt zu machen. Von der
Rezeptionistin über die Ärzte bis zum letzten Therapeuten weideten
sie sich an meinen Abnormitäten, wenn die meinen Namen mit Titel
und in voller Länge von vier Teilen aufriefen.
Aber
den tieferen Grund für das allgemeine Dauerlachen vieler Kurgäste
sah ich doch in der fortschreitenden Regression und Infantilisierung
durch den Kuralltag: Diese erwachsenen und zum Großteil älteren
Menschen werden von früh bis spät versorgt: In die Wanne mit
heißem Radonwasser gelegt, in Tücher gewickelt, massiert, in heiße
Fango-Erde eingepackt, mit Schläuchen bespritzt und bei drei
Mahlzeiten gefüttert. Die Vögelchen im Nest mussten nur die
Schnäbel aufsperren.
In
meinem Fall hat mir jemand sogar das Verdauen und Ausscheiden
abgenommen, also war wahrscheinlich auch meine Verstopfung Resultat
der allgemeinen Regression.
Keiner muss den ganzen Tag lang einen Finger rühren, das Leben wird
einem abgenommen und auf ein perfekt organisiertes Fließband gelegt,
von dem man nach drei Wochen wieder ausgespuckt wird. Einen Brief -
das Therapieprofil - in den Händen, ich habe meinen bis heute nicht
aufgemacht und gelesen.
Diesem vegetativen Zustand verfiel auch ich sehr schnell, wunderte
mich anfangs über meinen Rückfall ins Frühkindliche und begann
ihn allmählich in vollen Zügen zu genießen. Meine
selbstverschuldeten, mehr als zwei Wochen anhaltenden
Verdauungsprobleme warfen mich mich noch mehr auf das Baby-Dasein
zurück. Um den toten Hund in den Gedärmen loszuwerden, stopfte ich
Magerjoghurt, Dörrpflaumen und Sauerkraut in mich hinein. Hektoliter
von Verdauungstees und schwarzem Kaffee flossen durch mich ohne die
erhoffte Wirkung. Noch nie war ein solches Problem aufgetreten. Nun
aber hatte ich einen Feind in den eigenen Eingeweiden hocken. Das
Schlimmste war, dass er nicht etwa von außen gekommen war, sondern
ich ihn selbst angezüchtet, angefüttert hatte. Er leckte mir aber
nicht dankbar ergeben die Hand, sondern schnitt mir mit Messern durch
die Gedärme, durch das Becken in den Oberschenkel bis zum Knie.
Als
die althergebrachten Hausmittel nichts nützten, griff ich
leicht verzweifelt zu den Nordic Walking-Stöcken und marschierte
jeden Tag eine Runde über die Elisabeth-Promenade und klammerte
mich mit den Augen an die herabstürzenden Wasserfälle und die vom
Schmelzwasser angeschwollene Gasteiner Ache, damit sie auf meinen
Verdauungsapparat Eindruck machen sollten. Ich benutzte
prinzipiell keinen Lift zwischen den Stockwerken und den Chalets auf
den verschiedenen Niveaus und sprang über die Stufen, um den toten
Hund loszuwerden. Ich hatte das Gefühl, dass er mir schon zum
Hals herausstand - und bald sicht- und riechbar würde. Mir war
dauerübel. Die einzigen, die von meinem Problem profitierten,
waren meine essfreudigen Tischnachbarn, denen ich viel hinüberschob
und die Kuranstalt, bei der ich immer mehr Mahlzeiten abbestellte.
Letztlich entschloss ich zu einem Canossa-Gang zur Alten Hofapotheke
und kaufte Spezialtees, Tropfen und Zäpfchen im
Großhandelsmaßstab. Am Ende der zweiten Woche war ich nahe daran,
von der Loggia auf die Wiese zu springen. Lange stand ich an der
Brüstung und schaute hinunter auf die Löwenzahnwiese. Das würde
ich überstehen, aber in der Kur war man im Krankenstand, und durfte
sich keiner außertourlichen Belastung aussetzen, wie etwa
Schifahren, Mountainebiking, Extremklettern und wahrscheinlich auch
Loggia-Stürzen nicht.
Viele
meiner Mitkurer missdeuteten mein ständiges Laufen durch die Gänge
und mein Springen über die Stufen rauf und runter.
Na,
hammas wieder eilig, spät dran, gell, so viele Stufen, kommentierten
sie mitleidig und mitwissend, wenn ich vorbei hastete oder drei
Stufen auf einmal nahm. 120 habe ich gezählt innerhalb und zwischen
den Häusern, Außentreppen nicht eingerechnet, noch einmal 28.
Die
vielen Menschen mit sichtbaren Leiden konnten nicht ahnen, wobei mir
das Laufen und Springen helfen sollte. Ich galt als besonders aktiv
und sportlich, dabei wollte ich doch nur wieder sch…... zu können.
Das größte Missverständnis. Mein bewegliches Verhalten brachte
mir bei den Männern einen Spitznamen ein „das Reh“ ; von den
Frauen an den Nebentischen glaubte ich ich allerdings etwas von
Goaß zu vernehmen und ein meckerndes Lachen dazu. Aber das haben
nicht meine natürlichen Ohren gehört, sondern meine sich
Fledermaus artig ausbreitende Paranoia.
Die
deutsche Maren aus Reutte in Tirol blieb mir bis zum Schluss ein
Rätsel. Mit 72 Jahren war sie die Älteste in dieser Runde, an den
22 Tagen der Kur jeden Tag zu jedem Auftritt war sie unterschiedlich
angezogen, immer elegant im Stil einer Boutiquen-Verkäuferin mit den
passenden Schuhen, Ledertaschen, Schals, Tüchern, Ponchos und viel
Echtgold- und Silberklunker. Obwohl ein bisschen tattrig,
vergesslich, leicht verwirrt und gesundheitlich angeschlagen – sie
konnte bei vielen Therapien nicht mitmachen - war sie am Tisch laut
und dauergesprächig, dabei kam ihre Stimme aber so schnattrig
herüber, dass ich wie aus einer Horde mit Gänsen ihre einzelnen
Geschichten und Witze nicht verstehen konnte. Sie sprach dabei so
ausgeprägt norddeutsch, reichsdeutsch oder piefkinesisch hätte man
früher in diesen Gegenden gesagt, ohne vom geringsten Einschlag
ins Österreichische angekränkelt zu sein, wie sie es schaffte, in
dieser Runde so angenommen zu werden. Geschweige denn wie sie zu
einer österreichischen Krankenkassenkur kam. Vielleicht konnte sie
mit ihrem Aussehen und Auftreten wie für einen Abend in Monte Carlo
den Eindruck erwecken, dass sie immens reich und wichtig sei. Alle
ihre Sätze begannen mit ich und im weiteren hörte man noch
meine Tochter, meine Enkel, die Firma heraus. Ich sah
sie nie etwas anderes essen als Suppe, Magerjoghurt und Sauerkraut.
Dafür rauchte sie wie ein verstopfter Kamin und hatte eine Stimme
wie der Star vom Moulin Rouge, im Rauchersalettl vor dem Haupteingang
war sie immer Mittelpunkt. Sie hat viele Krankheiten,
Knochenschäden, zu hohe Schilddrüsenwerte, Atembeschwerden und
war untergewichtig mit der Figur einer Zwölfjährigen. Ihr feines,
zu jeder Tageszeit perfekt zurechtgemachtes Gesicht hatte die Farbe
von vergilbtem Seidenpapier, zerknittert und durchsichtig, manchmal
in Silbrige scheindend. Immer, wenn ich sie ansah, erschrak ich;
nicht, weil sie unhübsch gewesen wäre, durchaus nicht, wenn sie
größer gewesen wäre, könnte sie auch einmal gemodelt haben oder
heute noch für Silberrückenmode posieren. . Aber ich meinte immer,
es müsste knistern oder leise rieseln wie Kalk im Gebälk oder
kleine Wölkchen von Rauch oder Asche um sie aufsteigen. Konnte man
das Rieseln des Sandes im Uhrglas hören? Es war nichts zu hören
und zu sehen, so wie man es bei ihrem Anblick erwartete. Dass nicht
eintraf, was man erwartete, das machte den Schrecken aus. Das
erinnerte mich an die grauenvollen Tage mit einem Scirocco in
Sizilien, der einen fast um den Verstand brachte, weil er trotz allen
Tosens des Meeres, Rasens durch die Dorfstraßen, Klapperns aller
Gartenmöbel, des Fensterlädenrüttlens und Heulens um die Häuser
und die niedergedrückten Bäume keine Erfrischung und Abkühlung
brachte, wie wir es sonst von Winden gewohnt sind, sondern im
Gegenteil noch mehr Hitze und Schwüle aus der Sahara.
Wirklich
zu bewundern war Marens Organisationstalent; mehrmals pro Woche
schaffte sie es, einen Friseur aufzusuchen– im Hotel
Excelsior, De Luxe, Grand? - und mehrmals Stil und Länge ändern zu
lassen, so deutlich, dass beim Abendessen im Speisesaal anfangs von
nichts anderem die Rede war, manchmal ausgesprochen und laut,
manchmal wie ein Raunen. Diese oberösterreichischen,
salzburgerischen und kärntnerischen
Ko-Gebietskrankenkassenkurempfänger gingen mit Marens pronounciertem
Piefketum humorvoll und locker um. Mehrmals habe ich sie Mariedl
oder Mitzi, Madl, kum her do, rufen gehört. Maren war auch an
anderen Tischen begehrt, sie wechselte oft kreuz und quer über die
Gänge hinweg oder stand in der Mitte und machte Konversation nach
jeder Seite.
An meinem Tisch dagegen ging es fast so ruhig zu wie in einem
Trapistenkloster; Mirko lächelte ewig aus seinem schief geneigten
Kopf und schwieg wie ein Fisch, mehr als danke, chvala und kein
Problem, nema problema habe ich nie von ihm vernommen. Petra und
Kurt waren damit beschäftigt, das Essen zu genießen, andächtig
und langsam, sie schoben einander unauffällig die Leckerbissen zu,
sie zelebrierten die gemeinsamen Mahlzeiten. Beide sind
2-Schichtarbeiter und haben einander höchstens an Wochenenden. Mir
gefiel besonders, dass sie sich vor dem Zulangen immer an die Hände
fassten, kurz in die Augen schauten, auf den Mund küssten und
„an guatn“ wünschten. Das kenne ich von oberösterreichischen
Katholiken. Petra hat auf ihrem Handy nicht nur ihre Kinder und
Enkelkinder vorzuzeigen, sondern auch die kleine Hauskirche auf ihrem
Grundstück, die seit 1856 im Besitz ihrer Familie ist. Erst vor
kurzem wurde der Glockenturm erneuert; ihr 78-jähriger Vater
kletterte auf das Dach und hängte eigenhändig die von ihm
renovierte Glocke auf. Fenster und Mauern brauchen noch etwas Arbeit
– alles zu sehen auf den Fotos der vorgezeigten Handy. Die
Freizeit verbrachten sie jeden Tag in der Felsentherme, abends gingen
sie manchmal tanzen. In den Bergen oder auf meinen Ortsstreifzügen
durch Hofgastein traf ich sie nie.
Maren,
die Deutsche, war vom Aussehen und Auftreten her die auffälligste
Person in unserer Kurschicht. Ich wunderte mich: Sie musste, um
dorthin zu gelangen, eine österreichische Krankenkasse, also eine
österreichische Arbeitsgeschichte haben. Bei der Ankunft habe ich
mitbekommen, dass sie ihre Tochter aus Reutte in Tirol hierher
gefahren hat, mit dem Auto, meine Tochter bleibt eine Nacht, ihre
zwei Kinder sind in Betreuung, im Raucher-Pavillion sehe ich kurz die
Tochter, die nie mit ihrer Mutter spricht, sondern nur an zwei Handys
mit ihrer Firma, ja, ich bin morgen Mittag wieder da.
Ich
kam mit der Bahn an und bekam ein Taxi-Shuttle zum Kurhotel. Ihre
Tochter lud drei Riesenkoffer mit dicken, silber umfassten
Zippverschlüssen und Schnallen, und zwei lederne Reisetaschen aus
dem Auto, daneben noch zwei kompakte Schönheitskoffer, Marke
Samsonite, kenne ich, hatte sie früher auch.
Den
Raucher-Pavillion besuchte ich nie wieder, ich hatte ja mein
Einzelzimmer mit der sonnigen Loggia, mit prächtigem Ausblick auf
die tief verschneiten Tauern, den Graukogel, den Kreuzkogel und den
Stubenberg, und ein kleines Stück nach links auch noch hinunter ins
Tal von Hofgastein. Vor mir lag die Eisenbahn mit dem Bahnhof. Der
Blick auf das Bahnhofsgebäude selbst war verdeckt von der gläsernen
Brücke über die Gleise und die Straße, aber ich konnte die aus
dem Tauerntunnel einfahrenden Züge sehen. Vor allem aber hören.
Trotz der meterhohen Schallmauern war ihr Lärm enorm oder sie
verstärkten ihn noch mit ihrer Trichterform, vor allem die langen,
schwer beladenen Lastzüge, die Tag und Nacht über den Tauernpass
und durch die Schlucht von Bad Gastein donnerten. Donnern war das
eine, das andere war ein langgezogenes und durchdringendes
Quietschen, eben die Bremsen. Das Gefälle vom Böckstein-Tunnel her
war groß, die Strecke gewunden, und die Züge mussten bremsen.
Tonnenschwere Waggons mit Baumstämmen, Containern, Lastwagen –
die rollende Landstraße. Immerzu musste ich an verzogene
Containertürme, an verrutschte Baumstämme und schiefliegenden LKWs
denken Am ersten Abend fürchtete ich, ich würde kein Auge
zudrücken können. In welche Lärmhölle hatte mich die Krankenkasse
geschickt? Ich, die immer schon in einem ruhigen Wiener Hinterhof
ohne lautere Geräusche als das Amselflöten wohne! Aber ein Wunder
geschah. Ich schlief am ersten Abend schon um 8h ein und mit nur
einer Unterbrechung 8 Stunden lang ! Wundersam, ohne Albträume!
Ohne jedes Hilfsmittel! Ich integrierte die Geräusche erstaunlich
schnell in die Tage und Nächte und überließ mich fast wohlig
dem Mahlstrom des Kuralltags.
Zug-,
Flucht- und Tunnelträume, von Reisen in Kutschen mit wild gewordenen
Pferden, von entgleisenden Hochschaubahnen und umstürzenden
Einbäumen habe ich immer schon gehabt, solange ich mich erinnere. In
meinem vegetativen Baby-Zustand blieben die Nachtmarfilme aber
vollständig aus.
Die
Anstaltsärztin Dr. Anna Maria Stampfl, eine kluge und praktische
Frau, der ich von diesem Wunder erzählte, erklärte es mit der
Höhenlage Bad Gasteins von 1066 Metern und damit, dass wir eben
Menschen seien und nicht Automaten, da ist alles möglich. Vollends
nahm sie mich für sich ein, als sie am Ende ihres
Einführungsvortrages die Frage an das Publikum stellte, welche
außermedizinischen Faktoren denn zur Gesundung beitragen würden?
Die Kurgäste, die nicht an das Frage-Antwortspiel gewohnt waren,
schwiegen, bis ich in die Stille hinein sagte: positiv denken. Frau
Dr. Stampfl strahlte über den ganzen Körper und verdeutlichte es
noch: Jeden Tag dankbar sein und am Abend daran denken, was alles
gut war. Da musste ich mich nicht umgewöhnen und war heftig an
meine Großmutter erinnert, die auch nach diesem Wahlspruch gelebt
hatte. Ich traf die Frau Doktor dann nur noch einmal, bei der
Palmprozession vom Hauptplatz in die katholische Kirche St. Primus
und Felizian , bewehrt mit einem großen, bunt geschmückten
Palmbuschen.
Der
ärztliche Leiter des Sanatoriums, das sich nicht so nannte, sondern
nach dem Begründer Wetzlgut, war Dr. Simeon Marteanu, ein
gebürtiger Rumäne. Anamnese und Erstuntersuchung führte er so,
wie ich mir eine Armeeeinberufung vorstelle. Ausziehen bis auf die
Unterhose, Arme zur Seite, nach vorne, nach hinten, Fingerspitzen,
wenn möglich, bis
auf
den Boden, Rumpf beugen, drehen links, rechts, auf die Waage und
Blutdruckmessen. Bei den Männern wäre noch der unverzichtbare Griff
unter die Hoden dazugekommen, auf dem Pferdemarkt noch der Blick ins
Gebiss. Mein Vertrauen verlor er aber trotzdem, weil er mir auf die
Schilderung meiner Verdauungsprobleme riet, Bananen als Diät zu
essen, von Käse zu lassen und Zigaretten zu meiden. Das widersprach
so sehr allem Wissen und meinen Gewohnheiten wie wahrscheinlich die
Null-Diät in rumänischen Waisenheimen zum Aufbau der
sozialistischen Gesellschaft beigetragen hat.
Auch
ohne den Herrn Doktor muss ich etwas länger beim Essen verweilen,
weil es sehr schnell zum Hauptthema dieses Kuraufenthaltes wurde.
Nicht nur, weil der Tag hauptsächlich nach den drei Mahlzeiten
gegliedert war – Frühstück von dreiviertel sieben an bis neun
Uhr, Mittagessen um Punkt 12h, Abendessen um halb sechs. Gleich nach
dem ersten Tag bestellte ich prinzipiell die Suppe vor dem
Mittagessen ab, das Dessert bekam Gabi und Günter und stornierte das
Abendessen. Ich legte mir im Zimmerkühlschrank ein kleines
Vorratslager an: eine Packung Pumpernickel, einen Block Magerkäse
Nescafe- Briefchen, Kräutertees, Käsechips und hartgekochte
Ostereier. Vom Frühstücksbuffet schmuggelte ich Schüsselchen mit
Obstsalat und Gemüse ins Zimmer,, damit ich versorgt war, sollte
abends Hunger aufkommen. Obwohl ich praktisch für jeden Tag das
vegetarische Menü angekreuzt hatte, dürfte ich doch anfangs zu
viel Fleisch und Wurst zu mir genommen haben, was ich von zu Hause
nicht gewohnt war. Wahrscheinlich lag das Problem aber bei den
Fetten, mit denen in der Kurküche gekocht wurde, die meine Gedärme
nicht vertrugen. Sie begannen zu streiken und gaben fast nichts mehr
von sich. Als ich das erkannte und die Notbremse zog, war es zu spät.
Links, im absteigenden Dickdarm lag ein toter Hund und wollte
mich nicht mehr verlassen.
Die
Schmerzen, wegen der ich die Kur angetreten hatte, wurde ich
ziemlich schnell los, zuerst die auf der linken Seite der
Lendenwirbelsäule, in der zweiten Woche auch die bis ins Knie
ausstrahlenden Beschwerden auf der rechten. Also war der Kurzweck
erfüllt, und ich freute mich schon auf die vermehrten schmerzfreien
Spaziergänge. Da machte mir aber der Dickdarm einen Strich durch
die Rechnung. Seit sich die Schmerzen in der Lendenwirbelsäule
verflüchtigt hatten, begann der tote Hund so zu schmerzen, dass ich
manchmal nicht aufstehen und gehen konnte. Ich hatte den Teufel mit
Beelzebub ausgetrieben. Ich habe mir für die Ischias-Schmerzen einen
Morbus Cron eingehandelt.
Den
Stabsarzt konsultierte ich nicht mehr, sondern traktierte mich weiter
mit den Hausmitteln, den bitteren Kräutertees, dem Joghurt,
Dörrpflaumen, Sauerkraut und Schwarzbrot. Das mit Radon versetzte
Heilwasser trank ich schon eimerweise, obwohl es in der Empfehlung
hieß, man solle, je nach Körperbau, nicht mehr als einen halben bis
einen Liter pro Tag zu sich nehmen. Meine Mahlzeiten schob ich immer
häufiger zur Gänze meinen Tischnachbarn zu, Petra war überschlank
und vertrug die doppelte Menge, der ohnedies rundliche Kurt aß
alles gerne und ohne schlechtes Gewissen, und Petra ließ ihm sein
Vergnügen und wünschte ihm immer lachend „an guadn“ - eine
tolerantere Ehefrau habe ich noch nie erlebt.
In
der dritten Woche kam für mich von unerwarteter Seite die Erlösung.
Ich hatte privat eine Lymphdrainage gebucht – eigentlich eine
Schönheitsmaßnahme - und erzählte der Therapeutin von meinem
Leidensweg. Sie verabreichte mir eine Darmmassage und ertastete
tatsächlich den ausgebeulten Dickdarm, den sie dann nicht mehr in
Ruhe ließ. Nach einer zweiten und dritten Behandlung in den
folgenden Tagen begann sich etwas zu bewegen, zu glucksen und zu
rutschen, und dann verbrachte ich den Rest des Tages und die Nacht
in meinem Badezimmer mit befreienden Sitzungen.
Die
Kur, ein doppelter Erfolg! Nicht nur hatte ich die mitgebrachten
Schmerzen besiegt, sondern auch das in der Anstalt eingefangene
Leiden.
In
der Freude und dem Übermut über die Genesung machte ich mich am
vorletzten Tag zu einer Wanderung nach Alt-Böckstein auf, um den
Heilstollen zu besichtigen. Ich wollte mich dort nicht behandeln
lassen, sondern hatte nur eine touristische Schnuppertour gebucht.
Als sich die Besucher vor dem offenen Bähnlein sammelten, sah ich
unter den Wartenden auch den gesamten Nachbartisch mit Sabine,
Silvia, Walter, Hermann und Maren samt der Lach- Gitti. Kurzes
Begrüßen, und wir verteilten uns in den Waggons.
Das Angebot sah auch ein Glas Sekt vor und ein Überraschungsgeschenk
– es war in ein Fläschchen Zirbenschnaps und ein Gesteinsbrocken
in einem hübschen Leinensäckchen mit aufgestickten Zirbenbockerln.
Die Besucherbahn lief auf schmalen Schienen wie ein Ariadnefaden in
den Berg hinein und dreht ihre Runden durch die verschiedenen
Verzweigungen des Heilstollens, vorbei an den auf Liegen ruhenden
Patienten, die sich und ihre Leiden den Radon-Strahlen aussetzten.
Am Scheitelpunkt hieß es aussteigen, und es wurde eine kurze
Informationsveranstaltung mit Film angeboten. Mir war gar nicht
wohl, entweder war es die Schwüle und Feuchtigkeit im Stollen, die
mir Herzrasen bereiteten, oder ich war schon zu sehr mit meinem
eigenen Radon angereichert, oder es war meine lebenslange Abneigung
gegen Tunnels, Höhlen und dergleichen unterirdische Räume. Immer
war mir bewusst, dass dies nicht mein ureigenstes Element war, eher
die Erdoberfläche, das Wasser und von mir aus auch noch die Luft.
In einem anderen Leben würde ich sicher eher Vulkan- als
Höhlenforscherin werden. Ich entfernte mich von der Gruppe und
bestieg schnell den nächsten zur Rückfahrt wartenden Zug. Fast
im Laufschritt stürzte ich den Wanderweg aus dem Anlauftal hinaus,
rastete mehrmals am Ufer der jungen Gasteiner Ache, fühlte nach
meinem rasenden Puls und nahm den Postbus bis zum Sanatorium. Ich
kam erst zum Stillstand, als ich mich in auf Nummer 662 auf das Bett
fallen ließ.
Ich
muss eingeschlafen sein, weil ich noch mit dem Horrorgefühl aus
dem Stollen aufwachte. Wie immer hatte ich mich vom Abendessen
abgemeldet, aber es klopfte an der Tür, was noch nie geschehen war,
außer am Morgen, wenn die Putzfrau wissen wollte, ob sie das Zimmer
betreten dürfe. Es war mehr ein Pochen, Trommeln oder ans Tor
Schlagen. Aber es war nicht meine sanfte Gordana, sondern die
Rezeptionistin und hinter ihm der Anstaltsdirektor, Herr Kurt
Primsacker persönlich, etwas aufgelöst, wie mir schien, er, der
immer nur korrekt und in alpiner Edel-Haute Culture gestylt
auftauchte, mit fliehender Stimme, zerwühlten Haaren und
verrutschtem enzianverzierten Leinentüchlein im Hemdausschnitt.
-
Frau Magister, sind Sie da? Wo sind die anderen?
-
Warum nicht da? Ich bin da. Welche anderen? Ich war sicher noch zu
traumverloren oder radonvergiftet und verstand nichts.
-
Bitte, kommen Sie herein.
Die
Rezeptionistin zog sich zurück, und der Direktor betrat mein
Zimmer, das ich zum Glück aufgrund meiner notorischen
Ordentlichkeit wie immer im Zustand der Unbewohntheit hinterlasssen
hatte.
Sie
tuan kuren, ich putzen, Sie nix aufräumen tuan, fiel mir die stets
mahnende Gordana ein.
-
Sie sind nicht zurückgekommen, haben Sie sie gesehen?
Ich
setzte mich auf und versuchte mich zu sammeln. Ein Großteil der 2.
Schicht, die nach uns die Mahlzeiten einnahm, waren Privatpatienten,
die sich im Stollen einer Behandlung unterzogen. Ich sah sie jeden
Morgen sich vor dem Haupteingang versammeln, wenn sie mit dem Bustaxi
abgeholt wurden. Einige von ihnen hatte ich auf meiner Schnupperfahrt
durch die Stollen erkannt, obwohl sie dort in Badebekleidung oder
unter Handtüchern auf den Betten lagen. Manche hatten dem
Besucherzug zugewunken und dann wieder ihre wunden Körper
hoffnungsvoll der heilsamen Strahlung aus dem Fels zugedreht.
-
Haben sie das Taxi versäumt oder ist das Taxi nicht gekommen.
Direktor Primsacker schüttelte den Kopf und fuhr sich mit beiden
Händen durch die ohnedies schon zerwühlten Haare. Die gepflegte
silberne Mähne, fast so lang und voll wie die seines hübschen,
blond gelockten Sohnes, der manchmal an der Rezeption praktizierte,
stand ihm vom Kopf und er wischte sich mit einem aus dem
Grobleinensakko gezogenen Taschentuch die schweiß- glänzende Stirn.
Er war in größter Aufruhr, und ich musste mich erst sammeln und die
Stollenbilder vertreiben.
-
Frau Magister, bitte, was haben Sie gesehen?
Erst
langsam wurde klar, dass die Gruppe vom siebener Tisch plus
Tiroler-Gitti nicht in die Anstalt zurückgekommen war.
Der
Direktor schlug vor, er flehte geradezu, dass wir zur Rezeption gehen
sollten, dort hätte er alle Telefone und vielleicht auch andere
Augenzeugen zur Verfügung. Da erst bemerkte ich, dass ich die
Bergschuhe zu meinem Schlummer nicht ausgezogen hatte. Der
Empfangssaal neben der Rezeption glich einem Bienenstock, die erste
Schicht des Abendessens war versammelt, dazu noch die Hausarbeiter
und einige Taxifahrer. Alle sprachen durcheinander, der Lärmpegel
war erheblich. Ich suchte mir einen Platz in der Ecke, wo ich
meine Zeitungen zu lesen pflegte. Unwillig rutschten die Leute zur
Seite und schauten auf den Boden. Ich spürte es körperlich, dass
sie mich für irgendetwas schuldig hielten, eine Energie der
Aggression, um vieles stärker als der Reizstrom bei der Behandlung.
Der Direktor baute sich auf den Stufen auf, verschaffte sich mit
Händeklatschen Gehör und stellte die momentane Situation klar:
-
Sechs Kurgäste sind bis jetzt aus dem Stollen nicht
zurückgekommen, wer etwas dazu weiß, soll es sagen, bitte. Das ist
noch nie vorgekommen. Aber es wird sich alles erklären lassen und
lösen, meine Damen und Herren! Bitte, Ruhe bewahren.
Der
Direktor selbst zeigte aber ein gegenteiliges Bild, er zupfte
abwechselnd an seinem Halstuch und an seiner Haarmähne herum, die
Bartstoppeln an seinem Kinn schienen in doppelter Geschwindigkeit zu
wachsen.
Es
fing an ein Taxifahrer, der die Leute in einem Kleinbus zum 2 Uhr
hingefahren hatte und um 4h30 Uhr wieder abholen sollte, so wie es
bestellt war. Aber sie kamen nicht. Er wartete und rief die
Rezeption an, ob sich etwas geändert hätte. Nein.
Der
Mann erinnerte sich, dass sie etwas später vom Wetzlgut abgefahren
seien, weil eine ältere Dame etwas vergessen habe und noch einmal
auf ihr Zimmer zurückgelaufen sei, aber später als 14h10 sei es
nicht gewesen, als sie losfuhren, das hat er auf der Zeitanzeige
gesehen neben dem Lenkrad. 20 Minuten Autofahrt bis zum Stollen,
mehr nicht. Sie sind am Parkplatz ausgestiegen, sie haben noch
geraucht, dann sind alle gemeinsam rein. Mehr weiß er nicht, er hat
umgedreht und ist zurück auf seinen Standplatz vor dem Bahnhof. Die
Rückfahrt hat ein Kollege übernommen. Der ist gerade nicht da, weil
er eine Tour hat, er kann keine auslassen, muss verdienen, er hat
vier Kinder. Da poltert es in den Eingangstüren, Polizei- und
Bergwachtpersonal, Feuerwehrleute und die üblichen Flugretter
betraten die Stube, martialisch die einen wie die anderen, wenn auch
unterschiedlich kostümiert.
Lange
ging es hin und her mit den Befragungen, auch ich kam dran, aber ich
konnte nicht mehr aussagen, als dass sie mit mir reingefahren sind,
ich sie aus den Augen verloren habe und dann wieder raus bin. Wir
sind ja auch nicht gemeinsam als Gruppe hingekommen. Die Polizei nahm
meine Aussage auf und ließ mich weiter in Ruhe. Ein alter Tiroler
neben mir murmelte:
-
Der Berkh hots gholt und gibt sie nimma her. So sans, die Berkg.
Er
muss einmal Volkskundler gewesen sein.
Eine
Asthmatikerin, die schon seit vielen Jahren in den Stollen fährt,
will wissen, dass der Berg sich selbst versiegelt, er verschließt
seinen Bauch.
Und
die sichtbar an schrecklicher Psoriasis leidende Nachbarin
unterstützte sie:
-
Ja, er rutscht jedes Jahr in sich zusammen, um ein bis zwei
Zentimeter, soviel wie Fingernägel wachsen. In vierzig Jahren hat
sich der Stollen selbst verschlossen.
Andere
unterhielten sich über die Möglichkeit, ob sie vielleicht von
Grubenhunten verschleppt worden oder in eine alte Steinmühle
gefallen seien.
Der
weit fortgeschrittene Morbus Bechterev machte es der Schweizerin mir
gegenüber unmöglich, ihren Blick gegen Himmel zu richten, aber
zumindest ihre verkrüppelten Arme konnte sie noch leicht in die
Höhe strecken:
-
Ein Wunder ist geschehen, sie haben die Grenze überwunden und sind
im Paradies.
Sie
schien eine überirdische Vision zu haben, vielleicht die Erlösung
von ihrer Krankheit.
Mit
Ekstase in der Stimme setzte sie noch eine apokalyptische Drohung
hinzu:
-
Verflucht sei, wer mir nicht glaubt.
Vor
ihrem Paradies warteten offenbar nicht die Engel mit den
Silbertrompeten.
Warum
sich unter Bechterev-Patienten besonders viele Äsotheriker
befinden, kann die Statistik nicht erklären.
Sie
setzte gerade dazu an, den Garten Eden in den Farben der Hölle zu
beschreiben, als sich der bodenständige Volkskundler noch einmal
vernehmen ließ:
-
Dös sein sicha de totn Berkhleit vom Goldstollen gwen, hiazt tuan sa
si rächan, denan entkummt nieamand nimma.
Ich
fühlte mich von so vielen Möglichkeiten entlastet. Aber für die
Polizei waren das alles Aussagen, mit denen sie nicht viel anfangen
konnte, gehörten sie doch in den Bereich des vergriffenen Buches
„Sagen und Märchen aus dem Gasteinertal“.
Der
Fall „Gasteinerstollen“ wurde nach Wochen als ungelöst
abgeschlossen im Archiv abgelegt. Nach anfänglichem Interesse
vergaßen ihn auch die Medien bald.
Nur
eines war auffällig, aber niemand verfolgte das weiter oder
brachte es in Zusammenhang mit den sechs Verschollenen. Im
Telefonhäuschen vor dem Polizeiposten von Mallnitz-Obervellach, wo
der Tauerntunnel nach Kärnten mündet, klingelte es einige Male.
Wenn der Kommandant abnahm, war nur ein Hauchen zu hören, ein
Keuchen und Kratzen wie von Raucherhusten oder einem hechelnden Hund,
verstümmelt, zerbrochen und abgerissen. Lausbuam, verflixte,
murmelte er, kratzte sich und schüttelte den Kopf.
Als
im nächsten Frühjahr rund um das Telefonhütterl sechs junge Zirben
aus dem Boden sprossen, dachte schon lange niemand mehr an das
Geheimnis des Stollens.
Strange
events permit themselves sometimes the luxury of occuring.
Charly
Chan
Veronika
Seyr, 30. 4./1.5.17
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