Freitag, 16. Juni 2017

Der Raub der Sappho

Trauerspiel in fünf Aufzügen


1.
Wann kann das gewesen sein? Wie alt war ich damals, als ich diese Tragödie erlebte? Erlitt. Ich leide bis heute daran.
Im Josefstädter Theater war es, da bin ich mir sicher, und dass ich ein Kleid anhatte, das mir meine Schwester Agnes aus Amerika geschickt hatte. Natürlich kein Care-Paket mehr, das war früher. Und in denen waren keine Kinderkleider drin, sondern Konserven, Kakaopulver, Lebertran und Blöcke von Käse und Schokolade. Der lila Samt war dem roten der Brüstung auf dem 2. Rang ähnlich, sie rieben sich familiär aneinander. Oben am Hals ein weißer Spitzenkragen. Nicht ausladend, in zwei Flügel geteilt wie bei den Tauben.
Sie war Austauschschülerin von AFS - das Traumsiegel meiner Jugend – American Field Service, lebte bei einer amerikanischen Familie in Fort Worth-Texas und besuchte die letzte Klasse einer High School.
Sie kam aus der 6. Klasse unseres Gymnasiums in die letzte der High School, also war ich bei dem konstanten Altersunterschied von 5 Jahren zwischen 11 und 12 Jahre. Sagen wir 12, damals im Josefstädter Theater. Die zwei unterschiedlichen Samte stießen gegeneinander wie die anschwellenden Brüste, an der Brüstung.
Sappho hatten wir an der Schule noch nicht durchgenommen. Aber ich zeigte von klein auf eine Begeisterung für das Theater. Ob das der Dramatik meiner Geburt geschuldet ist, der DNA oder dem Aufwachsen zwischen 6 Geschwistern, darüber streitet bis heute die Familienwissenschaft. Anzunehmen, eine Kombination. Sicher ist, dass ich schon im zarten Alter von 6 den siebten Zwerg in Laterne tragender Rolle spielte. Jedenfalls ließen mich meine Eltern schon früh allein nach Wien fahren. Tulln- Franzjosefsbahn – mit dem 5-er in die Josefstadt und wieder zurück. Der D -Wagen war günstig, um ins Burgtheater und zu den Konzertsälen zu kommen. Später organisierte unser Musiklehrer Förstl Autobusfahrten in die Konzerte der Jeunesse musicale.


2.
In der Sappho sehe ich mich aber allein am 2. Rang sitzen, Mitte links mit freiem Blick auf die Bühne, leicht von oben wirkte sie klein und fast immer leer. Ich glaube, ich suchte die Stücke damals nach meinen Lieblingsschauspielern aus. Ihre Konzentration in einem Stück wird wahrscheinlich zu diesem Besuch geführt haben, weniger der Inhalt, obwohl ich ihn sicher vorher im Reclam-Heft gelesen hatte. Ich erinnere mich noch an die Bühnenanweisung in II/6: Sappho ab in die Höhle, bei der ich lachen musste, die Vorstellung: Sappho, ab in die Höhle! Ebenfalls über die vielen Ei`s, Oh`s und Je nun`s. Von Blumen umrankte antike Ruinen, Tempel, Klippen, eine Höhle, Laube, Rasenbank, bei allem immer der Ausblick auf ein sonniges, tiefblaues Meer. Schließlich ist Lesbos eine Insel. Dass die Szenerie ganz offensichtlich aus Pappe, das Meer auf Stoff gemalt und die Blumen aus Plastik waren, störte mich nicht im geringsten. Auch nicht die Schauspieler, gekleidet in weiße Laken mit Faltenwurf, auf den Lockenmähnen ein Goldreif, das Volk in Wickelsandalen, alle halten ständig Oliven-, Lorbeerzweige und Blumengebinde in den Händen, mit denen sie der geliebten Dichterin zujubeln. Der einzige Farbfleck ist Sapphos wallender Purpurmantel, den sie immer wieder schwungvoll um sich wickelt oder zu Boden schleudert. Eine frühe Art von bekiffter Hippie-Kommune, wenn ich eine solche damals schon gekannt hätte. Sappho war eindeutig die Chefin dieses lesbischen Mädchenpensionats und gab mir wenig Identifikationspunkte. Ihr Künstlerdrama verstand ich sicher noch gar nicht, auch nicht die unglücklich liebende, alternde Frau im Zwiespalt zwischen Kunst und Leben. Und natürlich hatte ich nicht die geringste Ahnung von Sapphos welthistorischer Bedeutung in der Literatur. „Wenn wir alle sapphischen Gedichte hätten, wer würde an Homer denken?“ (Friedrich Schlegel) Von den 12 000 Versen, die sie zur Lyra verfasst hat, sind nur etwa 6000 in 200 Fragmenten auf uns gekommen.
Und die begeistern die Menschheit schon seit 2 600 Jahren. In der Bibliothek von Alexandria charakterisierte man sie als die „Frau mit dem liebenden Herzen und den weinenden Händen“.
Bei mir war es das Liebes- und Eifersuchtsdrama in diesem Dreieck, das mich vollständig hineinzog. Dass der gekrönten Siegerin die junge, unbedarfte Sklavin vorgezogen wird, hielt ich für die natürlichste Sache der Welt. Was für ein Paar, dieser strahlende Phaon und die junge Melitta. Und wie sich dieser testosteronstrotzende Wagenlenker an die Unschuld vom Land, Waise, Sklavin, Fremde heranmacht, das hatte fast etwas von Porno. Das war stärkerer Tobak als Schneewittchen und Rotkäppchen zusammen, obwohl es im Grunde immer nur um das Eine geht. (Melitta strauchelt von der Rasenbank und sinkt an Phaons heißen Busen). Sicher nicht nur mein mangelndes Verständnis für Sapphos Situation ließ mich vollständig auf die Seite der Jugend schlagen. Ja, ich fand Sappho sogar ziemlich unsympathisch, da konnte sie noch so Lorbeer bekränzt, frei, reich und berühmt sein. Was hatte sie sich da einzumischen, wenn zwei miteinander das Glück gefunden haben.
Gut, Melitta war ihre Sklavin (später habe ich gehört Schülerin oder Liebhaberin?), und sie hat Phaon zuerst erobert und an Land gezogen, aber was galt schon das Erstlingsrecht, wenn es um reine, schöne Liebe ging. Sie so zu bestrafen, sie auf eine Insel zu verbannen und ihn mit dem Tod zu bedrohen!
So eine grausliche Alte! Ungerecht und unverhältnismäßig! Und die soll schöne Liebeslieder dichten? Ich brannte am ganzen Körper vor Empörung. Der Kampf um Melitta am Meer im Hintergrund der vorletzten Szene erfasste mich so voll und ganz, dass ich fast von der Brüstung gestürzt wäre, als ich mich in der selbstvergessenen Anspannung zu weit vorbeugte. Das war echtes Theater, echt wie das Leben selbst, zumindest so wie ich es mir mit 12 vorstellte und ersehnte.


4.
Aber dann passierte es, in der letzten Szene V/6. Die Wirklichkeit drängte sich in ihrer ordinärsten Form machtvoll in die heile Theaterwelt. Sappho sitzt auf einem Felsen, im Rücken die steile Klippe und das Meer. Sie hat den Purpurmantel eng um sich gewickelt, in der einen Hand baumelt der welke Lorbeerkranz, in die andere hat sie den Kopf gestützt.
Obwohl sie ihn gebeugt hält, ist jedes Wort so deutlich zu hören, als würde man neben ihr sitzen.
Den Menschen Liebe und den Göttern Ehrfurcht!
Genießet, was euch blüht, und denket mein!
So zahle ich die letzte Schuld des Lebens!
Ihr Götter, segnet sie und nehmt mich auf!

Da steht sie auf und segnet das junge Paar – sie hat ihnen vergeben, sie sind gerettet! Sie hat sich zum Verzicht durchgerungen. Welche Erleichterung!
Die Zuschauer atmen auf, ein großes gemeinsames Ausatmen geht durchs Theater wie ein Wind durch den Wald. Aber wie um alles in der Welt, kommt die Schauspielerin darauf, sich noch an die Stirn zu schlagen, die Verzweiflung hat sie doch überwunden, sie ist geläutert und hat eine Lösung für sich gefunden.
Dieser Schlag mit der inneren Handfläche auf die Stirn war so entsetzlich banal wie ein Klatschen auf den nackten Popo, nichts Tragisches, eine Ohrfeige, ein Klaps, ein Knall, ein Schmatzen, alles zusammen unappetitlich. Er hallte fort und fort, und das Publikum erfasste alles im selben Augenblick, indem es herzlich zu lachen anfing. Es pflanzte sich in Wellen fort durch den ganzen Raum, von unten nach oben und wieder zurück. Dacapo, rief es, Wiederholung, Bravo! Als wären wir bei den Pradler Ritterspielen. Ich hatte nicht gewusst, dass Erwachsene dermaßen kindisch sein konnten. Fremdschämen gab es als Wort noch nicht. Der Samt auf der Balustrade schien plötzlich schäbig und speckig, das Mobilar verstaubt, die Tapeten fleckig und die Tempel sahen genau so aus, wie das, was sie waren, Pappe.
Sappho bewahrte zwar Haltung und folgte nicht dem Wunsch des Publikums, sondern kippte lautlos nach hinten ins Blaue, sie stürzte nicht, sondern verschwand einfach wie eine Kasperlfigur am Bühnenrand im aufgemalten Meer, den Plastik-Lorbeer und ein paar Menschen in Leintüchern zurücklassend. Unerträgliche Lächerlichkeit, ich spürte den Schmerz wie Herzstechen, brennende Tränen, Würgen in der Kehle, Übelkeit im Magen, Hitze vor Scham und Wut. Das schweißzerknüllte Spitzentaschentuch fiel mir aus der Hand und segelte ins Parkett.
Vielleicht war ich die einzige, die nicht lachte. Ich weinte. Diese Sappho hat mir das Theater zerstört, geraubt, mutwillig, wie mir schien. Sie hätte sich doch einfach an die Regieanweisung halten können….. Stürzt sich vom Felsen ins Meer….Das hier war aber kein Sturz gewesen, nicht einmal ein Fall! Sie hat sich einfach verdrückt! Man hörte nichts, kein Stürzen, kein Fallen, kein Poltern oder Aufprallen auf dem Wasser, nur dieser nackte Stirnklatscher wollte nicht aufhören. Bis heute nicht. Nichts als Spott und Hohn war da drin, ein großes Ätsch, eine lange Nase. Es war zum Verzweifeln. Eben ein Trauerspiel.


5.
Für Grillparzer begann nach der Uraufführung am 21. April 1818 die Tragödie seines Lebens, wie er in der „Selbstbiographie“ schreibt. Auf dem Theaterzettel stand nicht einmal sein Name, eine geplante Widmungsschrift an den Burgtheaterdirektor Schreyvogel wurde gestrichen. Beim Publikum kam die Sappho gut an, vor allem wegen des recht attraktiven first couple Korn als Phaon und Melitta. Die Presse aber übergoss den Autor mit Hohn und Spott. Ein Mord mit Häme auf offener Bühne, schlimmer noch als nach der „Ahnfrau“.Wie oft waren die Zuschauer reifer als die Schreiber. Hier begann Grillparzers Entschluss zu reifen, weiter schreiben zu wollen, aber nichts mehr zu veröffentlichen.

Sappho ist im Bühnengraben verschwunden, und die anderen Schauspieler spielen tapfer ihre Rollen weiter, Phaon und Melitta rufen noch Oh Sappho! Halt! Hilfe! Rettung! Tot! Weh mir!
Nur der treue Sklave Rhamnes kriegt noch einen ganzen Vers voll unübertrefflichem Zynismus über die Lippen:
Verwelkt der Lorbeer und das Saitenspiel verklungen!
Es war auf Erden ihre Heimat nicht -
Sie ist zurück gekehret zu den Ihren!
Ringt die Hände.
Der Vorhang fällt.
Ende.

Das war eine Initiation. Seither spüre ich in jedem Theater jene Angst, entzaubert zu werden und ganz blöd dazustehen, wenn ich mich wieder verführen habe lassen.

Veronika Seyr, 31. Mai 17

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