Trauerspiel in fünf
Aufzügen
1.
Wann kann das gewesen sein?
Wie alt war ich damals, als ich diese Tragödie erlebte? Erlitt. Ich
leide bis heute daran.
Im Josefstädter Theater war
es, da bin ich mir sicher, und dass ich ein Kleid anhatte, das mir
meine Schwester Agnes aus Amerika geschickt hatte. Natürlich kein
Care-Paket mehr, das war früher. Und in denen waren keine
Kinderkleider drin, sondern Konserven, Kakaopulver, Lebertran und
Blöcke von Käse und Schokolade. Der lila Samt war dem roten der
Brüstung auf dem 2. Rang ähnlich, sie rieben sich familiär
aneinander. Oben am Hals ein weißer Spitzenkragen. Nicht ausladend,
in zwei Flügel geteilt wie bei den Tauben.
Sie war Austauschschülerin
von AFS - das Traumsiegel meiner Jugend – American Field Service,
lebte bei einer amerikanischen Familie in Fort Worth-Texas und
besuchte die letzte Klasse einer High School.
Sie kam aus der 6. Klasse
unseres Gymnasiums in die letzte der High School, also war ich bei
dem konstanten Altersunterschied von 5 Jahren zwischen 11 und 12
Jahre. Sagen wir 12, damals im Josefstädter Theater. Die zwei
unterschiedlichen Samte stießen gegeneinander wie die
anschwellenden Brüste, an der Brüstung.
Sappho hatten wir an der
Schule noch nicht durchgenommen. Aber ich zeigte von klein auf
eine Begeisterung für das Theater. Ob das der Dramatik meiner
Geburt geschuldet ist, der DNA oder dem Aufwachsen zwischen 6
Geschwistern, darüber streitet bis heute die Familienwissenschaft.
Anzunehmen, eine Kombination. Sicher ist, dass ich schon im zarten
Alter von 6 den siebten Zwerg in Laterne tragender Rolle spielte.
Jedenfalls ließen mich meine Eltern schon früh allein nach Wien
fahren. Tulln- Franzjosefsbahn – mit dem 5-er in die Josefstadt
und wieder zurück. Der D -Wagen war günstig, um ins Burgtheater und
zu den Konzertsälen zu kommen. Später organisierte unser
Musiklehrer Förstl Autobusfahrten in die Konzerte der Jeunesse
musicale.
2.
In
der Sappho sehe ich mich aber allein am 2. Rang sitzen, Mitte links
mit freiem Blick auf die Bühne, leicht von oben wirkte sie klein
und fast immer leer. Ich glaube, ich suchte die Stücke damals nach
meinen Lieblingsschauspielern aus. Ihre Konzentration in einem Stück
wird wahrscheinlich zu diesem Besuch geführt haben, weniger der
Inhalt, obwohl ich ihn sicher vorher im Reclam-Heft gelesen hatte.
Ich erinnere mich noch an die Bühnenanweisung in II/6: Sappho
ab in die Höhle,
bei der ich lachen musste, die Vorstellung: Sappho,
ab in die Höhle!
Ebenfalls über die vielen Ei`s,
Oh`s und Je nun`s.
Von Blumen umrankte antike Ruinen, Tempel, Klippen, eine Höhle,
Laube, Rasenbank, bei allem immer der Ausblick auf ein sonniges,
tiefblaues Meer. Schließlich ist Lesbos eine Insel. Dass die
Szenerie ganz offensichtlich aus Pappe, das Meer auf Stoff gemalt
und die Blumen aus Plastik waren, störte mich nicht im geringsten.
Auch nicht die Schauspieler, gekleidet in weiße Laken mit
Faltenwurf, auf den Lockenmähnen ein Goldreif, das Volk in
Wickelsandalen, alle halten ständig Oliven-, Lorbeerzweige und
Blumengebinde in den Händen, mit denen sie der geliebten Dichterin
zujubeln. Der einzige Farbfleck ist Sapphos wallender Purpurmantel,
den sie immer wieder schwungvoll um sich wickelt oder zu Boden
schleudert. Eine frühe Art von bekiffter Hippie-Kommune, wenn ich
eine solche damals schon gekannt hätte. Sappho war eindeutig die
Chefin dieses lesbischen Mädchenpensionats und gab mir wenig
Identifikationspunkte. Ihr Künstlerdrama verstand ich sicher noch
gar nicht, auch nicht die unglücklich liebende, alternde Frau im
Zwiespalt zwischen Kunst und Leben. Und natürlich hatte ich nicht
die geringste Ahnung von Sapphos welthistorischer Bedeutung in der
Literatur. „Wenn wir alle sapphischen Gedichte hätten, wer würde
an Homer denken?“ (Friedrich Schlegel) Von den 12 000 Versen, die
sie zur Lyra verfasst hat, sind nur etwa 6000 in 200 Fragmenten auf
uns gekommen.
Und die begeistern die
Menschheit schon seit 2 600 Jahren. In der Bibliothek von Alexandria
charakterisierte man sie als die „Frau mit dem liebenden Herzen und
den weinenden Händen“.
Bei
mir war es das Liebes- und Eifersuchtsdrama in diesem Dreieck, das
mich vollständig hineinzog. Dass der gekrönten Siegerin die junge,
unbedarfte Sklavin vorgezogen wird, hielt ich für die natürlichste
Sache der Welt. Was für ein Paar, dieser strahlende Phaon und die
junge Melitta. Und wie sich dieser testosteronstrotzende
Wagenlenker an die Unschuld vom Land, Waise, Sklavin, Fremde
heranmacht, das hatte fast etwas von Porno. Das war stärkerer Tobak
als Schneewittchen und Rotkäppchen zusammen, obwohl es im Grunde
immer nur um das Eine geht. (Melitta
strauchelt
von
der Rasenbank und sinkt an Phaons heißen Busen).
Sicher nicht nur mein mangelndes Verständnis für Sapphos Situation
ließ mich vollständig auf die Seite der Jugend schlagen. Ja, ich
fand Sappho sogar ziemlich unsympathisch, da konnte sie noch so
Lorbeer bekränzt, frei, reich und berühmt sein. Was hatte sie sich
da einzumischen, wenn zwei miteinander das Glück gefunden haben.
Gut, Melitta war ihre Sklavin
(später habe ich gehört Schülerin oder Liebhaberin?), und sie hat
Phaon zuerst erobert und an Land gezogen, aber was galt schon das
Erstlingsrecht, wenn es um reine, schöne Liebe ging. Sie so zu
bestrafen, sie auf eine Insel zu verbannen und ihn mit dem Tod zu
bedrohen!
So eine grausliche Alte!
Ungerecht und unverhältnismäßig! Und die soll schöne Liebeslieder
dichten? Ich brannte am ganzen Körper vor Empörung. Der Kampf um
Melitta am Meer im Hintergrund der vorletzten Szene erfasste mich so
voll und ganz, dass ich fast von der Brüstung gestürzt wäre, als
ich mich in der selbstvergessenen Anspannung zu weit vorbeugte. Das
war echtes Theater, echt wie das Leben selbst, zumindest so wie ich
es mir mit 12 vorstellte und ersehnte.
4.
Aber
dann passierte es, in der letzten Szene V/6. Die Wirklichkeit drängte
sich in ihrer ordinärsten Form machtvoll in die heile Theaterwelt.
Sappho
sitzt auf
einem
Felsen, im Rücken die steile Klippe und das Meer. Sie
hat den Purpurmantel eng um sich gewickelt, in der einen Hand
baumelt der welke Lorbeerkranz, in die andere hat sie den Kopf
gestützt.
Obwohl sie ihn gebeugt hält,
ist jedes Wort so deutlich zu hören, als würde man neben ihr
sitzen.
„Den
Menschen Liebe und den Göttern Ehrfurcht!
Genießet, was euch blüht,
und denket mein!
So zahle ich die letzte
Schuld des Lebens!
Ihr Götter, segnet sie und
nehmt mich auf!
Da steht sie auf und segnet
das junge Paar – sie hat ihnen vergeben, sie sind gerettet! Sie
hat sich zum Verzicht durchgerungen. Welche Erleichterung!
Die
Zuschauer atmen auf, ein großes gemeinsames Ausatmen geht durchs
Theater wie ein Wind durch den Wald. Aber wie um alles in der Welt,
kommt die Schauspielerin darauf, sich noch an die Stirn zu schlagen,
die Verzweiflung hat sie doch überwunden, sie ist geläutert und
hat eine Lösung für sich gefunden.
Dieser Schlag mit der inneren
Handfläche auf die Stirn war so entsetzlich banal wie ein Klatschen
auf den nackten Popo, nichts Tragisches, eine Ohrfeige, ein Klaps,
ein Knall, ein Schmatzen, alles zusammen unappetitlich. Er hallte
fort und fort, und das Publikum erfasste alles im selben
Augenblick, indem es herzlich zu lachen anfing. Es pflanzte sich in
Wellen fort durch den ganzen Raum, von unten nach oben und wieder
zurück. Dacapo, rief es, Wiederholung, Bravo! Als wären wir bei
den Pradler Ritterspielen. Ich hatte nicht gewusst, dass Erwachsene
dermaßen kindisch sein konnten. Fremdschämen gab es als Wort noch
nicht. Der Samt auf der Balustrade schien plötzlich schäbig und
speckig, das Mobilar verstaubt, die Tapeten fleckig und die Tempel
sahen genau so aus, wie das, was sie waren, Pappe.
Sappho
bewahrte zwar Haltung und folgte nicht dem Wunsch des Publikums,
sondern kippte lautlos nach hinten ins Blaue, sie stürzte nicht,
sondern verschwand einfach wie eine Kasperlfigur am Bühnenrand im
aufgemalten Meer, den Plastik-Lorbeer und ein paar Menschen in
Leintüchern zurücklassend. Unerträgliche Lächerlichkeit, ich
spürte den Schmerz wie Herzstechen, brennende Tränen, Würgen in
der Kehle, Übelkeit im Magen, Hitze vor Scham und Wut. Das
schweißzerknüllte Spitzentaschentuch fiel mir aus der Hand und
segelte ins Parkett.
Vielleicht
war ich die einzige, die nicht lachte. Ich weinte. Diese Sappho hat
mir das Theater zerstört, geraubt, mutwillig, wie mir schien. Sie
hätte sich doch einfach an die Regieanweisung halten können…..
Stürzt
sich
vom
Felsen ins Meer….Das
hier war aber kein Sturz gewesen, nicht einmal ein Fall! Sie hat
sich einfach verdrückt! Man hörte nichts, kein Stürzen, kein
Fallen, kein Poltern oder Aufprallen auf dem Wasser, nur dieser
nackte Stirnklatscher wollte nicht aufhören. Bis heute nicht.
Nichts als Spott und Hohn war da drin, ein großes Ätsch, eine lange
Nase. Es war zum Verzweifeln. Eben ein Trauerspiel.
5.
Für Grillparzer begann nach
der Uraufführung am 21. April 1818 die Tragödie seines Lebens, wie
er in der „Selbstbiographie“ schreibt. Auf dem Theaterzettel
stand nicht einmal sein Name, eine geplante Widmungsschrift an den
Burgtheaterdirektor Schreyvogel wurde gestrichen. Beim Publikum kam
die Sappho gut an, vor allem wegen des recht attraktiven first couple
Korn als Phaon und Melitta. Die Presse aber übergoss den Autor mit
Hohn und Spott. Ein Mord mit Häme auf offener Bühne, schlimmer
noch als nach der „Ahnfrau“.Wie oft waren die Zuschauer reifer
als die Schreiber. Hier begann Grillparzers Entschluss zu reifen,
weiter schreiben zu wollen, aber nichts mehr zu veröffentlichen.
Sappho
ist im Bühnengraben verschwunden, und die anderen Schauspieler
spielen tapfer ihre Rollen weiter, Phaon und Melitta rufen noch Oh
Sappho!
Halt!
Hilfe! Rettung! Tot! Weh mir!
Nur der treue Sklave Rhamnes
kriegt noch einen ganzen Vers voll unübertrefflichem Zynismus über
die Lippen:
Verwelkt der Lorbeer und
das Saitenspiel verklungen!
Es war auf Erden ihre
Heimat nicht -
Sie ist zurück gekehret zu
den Ihren!
Ringt die Hände.
Der Vorhang fällt.
Ende.
Das war eine Initiation.
Seither spüre ich in jedem Theater jene Angst, entzaubert zu werden
und ganz blöd dazustehen, wenn ich mich wieder verführen habe
lassen.
Veronika Seyr, 31. Mai 17
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