Es gab einmal Zeiten, in denen es so heftig und beständig regnete,
dass die Straßen auch noch Stunden danach nass waren, die Passanten
durch Pfützen waten oder mit einem weiten Schritt darüber springen
mussten. An diesem Morgen hatte es endlich geregnet, eine lang
ersehnte Abkühlung nach der erdrückenden Hitze der letzten Wochen.
Als ich am Vormittag zu meinem Garten aufbrach, waren die Straßen
noch nass, und die Leute liefen mit Regenschirmen herum. Ich fuhr
mit der U4 nach Heiligenstadt und von dort mit dem 256-er Bus nach
Klosterneuburg-Kierling auf den Ölberg, wo ich zu dieser Zeit einen
Garten hatte. Ich war ebenfalls mit einem Schirm unterwegs, den ich
gleich nach dem Niedersetzen im Bus unter meinen Sitz legen wollte.
Damit ich ihn nicht vergäße würde ich einen Fuß darauf stellen.
Als ich hinunterlangte, stieß ich mit der Hand auf einen anderen
Schirm, den dort offenbar jemand vergessen hatte. Ich zog ihn heraus,
öffnete ihn leicht und sah, dass er eine Reklamegabe der
skandalösen Kärntner Hypo-Alpe-Adria-Bank war, wie ein weißer
Schriftzug am unteren Rand verriet. Dieser Regenschutz war aus
nachtblauer Fallschirmseide, der Mittelmast und das Gestänge waren
aus Metall, der handliche Verschluss rastete leicht aus zu sein, und
der ideal geschwungene, geriffelte Silbergriff schien aus einer
eleganteren Zeit zu stammen. Er wirkte neu und unbenutzt, außer dass
ein einem Schriftzug der Hypo das H fehlte. Viel schöner als mein
eigener, der einmal aus einem Obi-Baumarkt bei mir gelandet war.
Knallgrün und orange, OBI für ALLES quer drüber, mit plumpen,
Holz imitierenden Platikperlen an den Enden des Gestänges, genauso
wie der viel zu lange und breite Griff. Ich gebe es offen zu, dass
ich kurz versucht war, meinen Bastard einfach gegen dieses
Edelexemplar auszutauschen - vielleicht war es ja der so lang
gesuchte Hypo-Alpe-Adria-Rettungsschirm? Ein kurzer, heftiger Kampf
in meinem Gewissen: Ein Reklameartikel, niemand hatte ihn gekauft,
sondern geschenkt bekommen, also bereitete ich niemandem einen
Schaden. Und bei der allgemein bekannten Großzügigkeit dieser good
bank wird sie hunderte, wenn nicht gar tausende von solchen
Reklamegeschenken im Land verteilt haben. Aber was , wenn sich jemand
genauso schnell und intensiv wie ich in dieses Utensil verliebt hatte
und jetzt unglücklich auf dem Ölberg herumlief oder in
Klosterneuburg und seinen Schirm suchte?
Wie
waren jetzt schon zwischen den Stationen Langstögergasse und
Kreuzstadl auf der Bus-Linie. Die Häuser und Gärten wurden immer
reicher und üppiger. Reicher und immer reicher, aber das dachte ich
nicht wirklich. Bald musste ich eine weitreichende, moralische
Entscheidung treffen. Oh Gott, wie schwer, fast so wie bei dem Bauern
in Roseggers Erzählung von seinem Schirm und seiner Frau mit ihrer
schwierigen Fragen: "Nimm ihn mit oder loss ihn do?" Mein
praktischer Geist siegte über das schlechte Gewissen, ich nahm beide
mit, als ich an meiner Station Ulrikendorf ausstieg.
Denn
wenn ich mein OBI-Unding im Bus 256 gelassen hätte, wäre der
Chauffeur sicher ungehalten gewesen, vielleicht sogar ärgerlich,
zornig oder böse:" Immer die Ausländer, zoehn nix, oba lossn
ollan Dreck do."
(Weil dort jetzt immer häufiger Mitbürger aus den Nachbarländern
Busfahren , muss man das entsprechend ins Serbokroatische oder
Tschechische übersetzen.) Das OBI-Gebilde blieb fortan im Garten,
fürs Grobe, und das Hypo-Findelkind durfte zu mir in die Stadt, wo
es im Ständer meiner beachtlichen Schirmsammlung als ein Glanzlicht
heraus stach. Der geriffelte Silbergriff war natürlich nicht aus
Silber, sondern auch nur oberflächlich mit einem silbrigen
Kunststoff überzogen, was ich beim Putzen mit Idol schmerzlich
bemerkte, als so viel davon abging, dass auch nur hässliches
Plastik darunter hervorkam und ich Fußboden und Finger besudelte.
Einige Zeit danach hatte ich beruflich in Bratislava zu tun, wieder
regnete es, und meine neue Hypo-Errungenschaft wählte ich aus, sie
durfte in die Hauptstadt unseres Nachbarlandes mitfahren. Allerdings
vergaß ich ihn dort in der Garderobe meiner Geschäftspartnerinnen
Jana und Anja, was mir nicht gleich auffiel, weil in Bratislava eitel
Sonne herrschte, als ich aus dem Geschäftsgebäude in den kleinen
Park trat; und danach auch lange nicht, weil es bei uns wieder eine
regenlose Zeit gab.
Irgendwann
in den Wochen danach, beim Putzen meines Vorzimmers und Verschieben
meines russischen Birkenrindenbehältnisses, fiel mir das Fehlen des
mitternachtsblauen Stabes mit Silbergriff doch auf. Ich versuchte
mich zu erinnern, und ich erinnerte mich richtig, wo er abgeblieben
sein könnte; ich simmste Jana sofort an, die das Regending aber
längst aufbewahrt und es richtig, trotz ihrer zahlreichen Kunden,
mir zugeordnet hatte.
Sie
kennen ihre Kunden offenbar in- und auswendig, bis in die tiefsten
mitternachtsblauen Falten eines geklauten Regenschirms.
Beim
nächsten Termin in Bratislava, etwa ein Monat später, kam eine
Freundin mit, weder den neuen Zentralbahnhof noch Bratislava kannte.
Gleich beim Eintreten ins Büro überreichte mir eine strahlende
Jana die Hypo-Gabe und ich nahm sie glücklich an mich. Es regnete
nicht in Bratislava an diesem Tag, in Wien auch nicht, und niemand
brauchte einen Regenschirm.
Zurück
am Wiener Hauptbahnhof wollten wir einen Kaffee trinken, aber
meiner Freundin gefiel hier nichts, mir auch nicht, nirgends durfte
man rauchen, alles sah steril und abstoßend aus. Wieder oben, über
den Gürtel und die schrecklich verünglückte Kreuzung und den
verlotterten Südtirolerplatz konnten wir uns auf kein Lokal
einigen. Ich sehnte mich nach den alten Lagerhallen der Baumärkte
zurück - ich hatte sie so lange gesehen, dass sie mir schon vertraut
waren, heimisch. Nun - Übergangsstadium, hoffe ich - ein absolutes
Nichts an Stadt, eine Unstadt.
Die
Freundin und ich zogen immer weiter auf der Suche nach einem
gemeinsam gewünschten Kaffeehaus, alles lehnte sie ab, da und dort
wars nicht gut, dann und damals, böse Erinnerungen an schlechte
Erfahrungen mit dummen, unhöflichen oder unaufmerksamen Kellnern
marschierten wir die Favoriten- und die Wiedner Hauptstraße fast im
Zickzack der Gassen und ihre Lokale hinunter, so lange, bis wir uns
endlich auf das Cafe Worthner auf der Wiedner Hauptstraße einigen
konnten, mein seit 41 Jahren meiner Wohnung vorgelagertes Wohnzimmer
. Wie originell, stellten wir beide fest und mussten kichern darüber,
wie beharrlich und konservativ wir Menschen sind - immer wollen wir
in den selben Stall zurück, genauso wie das Vieh oder Fiakerpferde.
Irgendwann trennten wir uns, meine Freundin fuhr mit der U1 nach
Hause, ich ging ein paar Schritte weiter zu mir nach Hause.
Aber
der so mühsam errungene Schirm war nicht da, stellte ich fast im
Schock fest, als die die Bratislavaer Einkäufe sichtete und
verstaute. Aber kein Schirm. Wo war der Schirm?
Der
Hypo-Über-Alles-Rettungsschirm?
Meine
Freundin Helga vermutete, dass ich ihn im Zug, in der S-Bahn, mit
der wir um 9h früh nach Bratislava, und um 16h nach Wien zurück
gefahren waren. Ja, das war das Wahrscheinlichste.
Perdu,
der Rettungsschirm von Hypo-Alpe-Adria, dachte ich, das ist die
Strafe für das unrechtlich angeeignete Eigentum. Die Fundstelle
der ÖBB traute ich mich nicht anzurufen, wegen der zweifelhaften
Vorgeschichte. Und sicher hatte sich schon der ursprüngliche
Besitzer aus dem 256-er Bus gemeldet. Außerdem hatte ich die
Erfahrung gemacht, in einem anderen, ganz anders gelegenen Fall, auf
der hotline ewiglange warten zu müssen, das Tonband einem auf
aggressive Weise die „Kleine Nachtmusik“ ins Ohr plärrte und
dann, wenn man endlich durchgedrungen war, keine Auskunft oder eine
falsche bekommt. Außerdem hatte die ÖBB jetzt sicher Wichtigeres
zu tun haben, da sie sich daranmacht, die griechischen Staatsbahnen
umsonst zu kaufen.
Die
Cafees rund um den Hauptbahnhof abzuklappern, naja, das war mir das
geklaute, verlorene, wieder gefundene und endgültig verlegte Hypo-
Ding auch wieder nicht wert.
Kurz
danach sitze ich, wie so oft, auf dem Platzerl vor dem Worthner mit
dem plätschernden Teufelsbrunnen, genieße den Ort unter den
Bäumen, wo die wunderbaren Wiener Gärtner aus Blumen bunte Rondeus
zaubern, ich lese Zeitungen und schreibe ein bißchen was auf,
ärgere mich über die zu lauten Straßenbahnen auf der Wiedner
Hauptstrasse, den 1-er, den 62-er, die Badener Bahn, die Busse, ich
denke, die Ampeln sind etwas zu kurz geschaltet, aber vor allem aber
die Autos, die vor den Ampeln immer zu schnell, zu laut bremsen und
starten.
Da
kommt ein plötzlicher Regenguss mit Wind über die untere Wiedner
Hauptstrasse herein, zerrt an Bäumen und am rot-weißen
Coca-Cola-Dach, die Kellner und Kellnerinnen laufen, kurbeln am
Coca-Cola, was das Zeug hält, bringen aus dem Inneren des Cafes
Stöße von Fliesdecken heran und umgeben die Gäste fürsorglichst
damit.
Dabei
mussten sie fliegende Menükarten, Blumenstöcke, Servietten und
Besteckkörbchen einsammeln und die Gäste mit Regenschirmen
beschützen, obwohl sie unter den flatternden Dächern einigermaßen
grotesk aussahen, so wie die meisten Besucher des Cafe Worthner.
Kinder, Frauen und Alte - immer zuerst, wie auf der Titanic.
Auf
dem Weg zurück von der Toilette kam ich wie immer an der
Gardarobennische rechts vor der Eingangstür vorbei. Ich war entweder
zu wenig alt, zu wenig Kind, zu wenig Mann oder gut konsumierender
Kunde - ich sitze ja schon zwei Stunden mit einem einzigen Drink -
genannt Hugo-Drink- da.
Noch
einmal gebe ich etwas zu, weil ich doch ein bisschen verletzt war,
durch alle Rettungskategorien des Cafe Worthner, oder überhaupt
demnächst durch alle durchzufallen, schaute ich genauer in den
Regenschirmständer hinein. Da lehnten fünf vergessene Exemplare,
unter den ich einen wählen wollte. Aber was glänzte mir da
entgegen,
So
ist er, stolz und demütig, heimgekehrt, mit all seinem Stoff, der
Aufschrift und dem silbrigen Griff, zusammengeklappt im Eimer. Ein
Jammer, leider es hat seit damals nie mehr geregnet. Aber
Hauptsache, er ist wieder da, der Hypo-Alpe-Adria- Regenschirm!
Veronika
Seyr
27.7.
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