Freitag, 16. Juni 2017

Im Schatten des Minaretts

Nur Reisen ist Leben,
wie umgekehrt das Leben Reisen ist.
Jean Paul

Wer sich vor dem Tod fürchtet, geht nicht auf Reisen
J.W. Goethe, Der West-östliche Diwan

I`m not going to die before my time.
Lisl Steiner, Fotografin, mit 88


Seit der Jugend-Lektüre von Sven Hedins „Zu Land nach Indien“ ließ mich die Seidenstraße nicht mehr los.
Ich begann schon früh zu träumen und lernte die Namen der Orte auswendig, als könnte ich sie damit in die Landkarte einnageln. Ich schlug in den zu Hause vorhandenen Lexika nach und sah mir später jede Dokumentation an. Von Kunst und Musik der Seidenstraße wusste ich damals noch nichts. Indessen sagte ich mir die Namen der Wunderorte wie eine Litanei auf. Ich nahm die Namen auseinander, zerteilte sie, schob die Laute in meinem Gaumen herum und setzte sie wieder zusammen, schliff sie glatt wie der lispelnde Demosthenes die Kiesel am Strand gegen die rauschende Brandung und umkreiste sie meditationsartig. Manche Worte waren wie leichter Sand, andere klirrend wie Metall, wieder andere wie das Echo nieder polternder Felsbrocken. Meine beliebteste Einschlafhilfe. Meine Wort- und Klangreisen gingen nach Buchara, Samarkand, Taschkent, Chiwa, Fergana, Aschchabad, Astrachan, Karaganda, Dschambul, Duschanbe, Machatschkala, Urgentsch, Osch, Alma-Ata, in die Wüsten der Kara Kum, Karakul, Ust-Urt, Kysyl Kum, Ust- Urt, Hungersteppe, zu den Flüssen und Seen Amu Darja, Syr Darja, Issyk Kul, Aral-See und zu den Gebirgen von Pamir, Tienschan und Hindukusch. Von einer wirklichen Reise durch den sowjetischen Orient, wie die früher Turkestan genannten später die SS-Republiken Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan, wagte in dieser Zeit niemand zu träumen, sie lagen sternenweit entfernt.

Aus mir wurde kein Cook, kein Humboldt und kein Darwin. Eindeutig herrschte bei mir das literarische Gen vor. Meine Jungendliebe hat sich auf die russische Sprache geschlagen und ist dort geblieben. Aber im Mai 1971 war es so weit. Seit Jahresanfang studierte ich mit einem Stipendium an der Lomonossov-Universität in Moskau und stellte sofort nach meiner Ankunft im OVIR– der Reisestelle für westliche Ausländer- eine KGB-Abteilung - einen Antrag auf eine Reise durch die zentralasiatischen Republiken.

Nach vier Monaten des ständigen Drängens wurde mir und meinen zwei Kolleginnen Lisa und Schanna der Besuch der Städte Taschkent, Buchara und Samarkand genehmigt, mit Ausflügen nach Chiwa-Urgentsch und Fergana-Osch. Das war zwar nur ein kleiner Teil meiner Traumorte, aber mehr war nicht realistisch. Mir war bewusst, dass diese Minimal-Route für eine unbegleitete Individual-Reise schon an ein Wunder grenzte. Es gab in Zentralasien sehr viele gesperrte militärische Geheimorte. Immerhin drei Wochen Studienbefreiung, drei Wochen auf der Seidenstraße!

Die martialische Militär-Parade zum 1. Mai- wir waren noch mitten im Kalten Krieg- erlebte ich noch in Moskau und ergatterte einen ziemlich guten Ort mit Aussicht auf den Roten Platz, gestört weniger durch die gefährlich drängenden Menschenmassen, als durch einen blitzschnell aufgezogenen Schneesturm. Durch einen ungewöhnlich milden April verführt, war ich für diesen Wintereinbruch zu leicht angezogen.
Auf dem Flug von Moskau nach Taschkent spürte ich erstmals ein Halskratzen und Ohrensausen, die ich auf die spartanisch ausgestattete Tupolew verantwortlich machte und mit vielen Gläsern Tee zu bekämpfen versuchte. Das hauptsächliche Ablenkungsmittel war aber die Aufgeregtheit über meine erste große Reise innerhalb der Sowjetunion. Vorher hatte ich schon Leningrad besucht und die Städte des Goldenen Rings rund um Moskau. Alles war neu und spannend: Von der ausgesuchten Hässlichkeit und Ruppigkeit der Frauen, Lageraufseherinnen ähnlicher als Stewardessen, die auf Fragen grundsätzlich nicht antworteten oder nur knurrten wie ein gereizter Hofhund, die Tabletts über die Sitzreihen warfen oder sie auf die Tischchen knallten, als wären sie beim Nationalzirkus in Schule gegangen, den ausgemergelten Sitzen, die sich entweder nicht nach hinten verlagern oder nicht mehr aufrichten ließen, von den 3500 Kilometern unter mir, ob ich die Windungen der Wolga und das erdölerleuchtete Baku erkennen könnte, den Elbrus, das Kaspische Meer, den Ural, die Wüsten Kasachstans und die Bergketten des Pamir und Tienschan. Nach sechs Stunden und vier Zeitzonen sollten wir in Taschkent landen.Taten wir aber nicht, sondern kreisten mehr als eine Stunde über der Stadt. Anfangs meinten wir noch gutmütig, dies sei ein Spezialservice, um uns einen Überblick zu verschaffen. Erklärungen des Personals gab es nicht, ebenso wenig wie auf Antworten zu hoffen war. Erst später erfuhren wir von dem Usus, dass sowjetische Piloten dazu angehalten waren, vor der Landung ihren gesamten Sprit zu verbrauchen.
Als wir um fünf Uhr dreißig endlich aus dem Flugzeug entlassen wurden, schlug uns so warme Luft entgegen, dass es uns den Atmen nahm; hier herrschte schon der Frühsommer, Rosen blühten, die Bäume standen in üppigstem Grün, die Frauen trugen bunte, kurzärmelige Kleider und nach hinten geknüpfte Kopftücher aus Kunstseide - im Zentrum der Seidenspinnerei eine der vielen sowjetischen Absurditäten. Wir dagegen schmachteten in unseren Moskauer Wintersachen. Den Schüttelfrost, der mich beim Verlassen des Flugzeugs erfasste, führte ich auf diesen Gegensatz zurück. Unser Hotel Inturist lag direkt am Flughafen neben den Pisten, was wir anfangs spannend fanden, drei startende und landende Flugzeuge pro Minute aus nächster Nähe zu beobachten, und praktisch, weil wir von dort gute Busverbindungen ins Stadtzentrum hatten.
Taschkent, Hauptstadt der Usbekischen SSR, mit etwas mehr als 2 Millionen Einwohnern viertgrößte Stadt der SU, die größte Zentralasiens, gelegen in einer Oase des Syr Darja an der Seidenstraße und den Ausläufern des Tienshan (Gottes Gebirge). Seine beschneiten, in blaue Tiefe gestapelten Gipfelketten sind von Taschkent aus nach Nord-Osten ein traumhaft schöner Anblick. Pik Kommunisma und Pik Lenina sind mit ihren 7400 und 7100 Metern kaum niedriger als das Dach der Welt. Was der stalinsche Bebauungsplan von der orientalischen Altstadt übriggelassen hatte, wurde bei dem verheerenden Erdbeben am 26. 4. 1966 fast zur Gänze dem Erdboden gleich gemacht. Nur wenige Straßenzüge mit engen Gässchen und einfachen, einstöckigen Häusern aus Stampflehm und sonnengetrockneten Ziegeln blieben erhalten. Aber sofort nach der Katastrophe setzte der Neubau ganzer Satellitenstädte mit breiten, geometrisch angelegten Straßen ein, sodass Taschkent sich jetzt von kaum von anderen sowjetischen Großstädten unterscheidet. Ich erinnere mich, dass mir die dichten, schattenspendenden Maulbeerbäume und Platanenalleen an den Straßen auffielen, die gepflegten Grünanlagen mit unzähligen Brunnen, Blumenrabatten und Tamariskenhecken und dass die Stadt ausnehmend sauber war - ein Park, in den sich zufällig einige Häuser verirrt haben. Neben den obligaten Bronce-Lenins ließ man offenbar auch Tamerlan-Statuen als Zugeständnis an die Nationalgeschichte zu. Vor dem Theater fiel mir ein Springbrunnen in Form einer überdimensionalen Baumwollknospe, der Nationalpflanze, auf. Im flachen Becken darunter toben halbnackte Kinder durch das Wasser, ein sonderbarer Anblick für uns, die gerade aus dem Schneesturm kamen. Am Vormittag hatte es schon 30 Grad, und wir suchten im Basar nach sommerlicher Kleidung.
Schon am Flughafen war augenfällig geworden, dass die Sowjetunion ein Vielvölkerstaat ist: Usbeken, Tadschiken, Turkmenen Kirgisen, Kasachen, viele davon in ihren malerischen Nationaltrachten, viele Russen natürlich, unauffällig modern gekleidet. Aber in der Stadt stachen noch mehr die Nachkommen der von Stalin verbannten Völker hervor: Tataren, Burjaten, Kalmücken, Karakalpaken, Jakuten, Japaner, blonde Balten und Wolgadeutsche, Griechen und Kaukasusvölker - alle, die Stalin als Kollaborateure mit dem Feind eingestuft hatte. Auch Vertriebene aus den Völkern der sibirischen Ureinwohner wie Jewenken. Jakuten, Anuis, Ewenen, Korjaken, Itelmenen und Tschuktschen, Nomaden, die sich der Kollektivierung widersetzt hatten, wie auch verschleppte Polen und Japaner von den Kurilen, sind dabei, 45 insgesamt Nationalitäten sollen es sein. So hat Stalin aus einem Land einen riesengroßen Vielvölker-Freiluft-GULag geschaffen. Die schönsten Bilder davon erhielten wir auf dem Zentralmarkt, nicht nur von der Vermischtheit und Unterschiedlichkeit der Menschen, sondern auch von der Fülle der landwirtschaftlichen Produkte. Es war für mich der erste orientalische Markt, und ich kannte damals keinen Menschen, der aus eigenem Erlebnis einen solchen hätte schildern können außer Sven Hedin und Scheherazade. Sobald der Schnee im Pamir und Tienschan schmilzt und sich die Flüsse füllen, beginnen sie in der Ebene schon zu ernten. In meinem vom Schüttelfrost vernebelten Blick meinte ich, dass es nirgendwo so viele Geschenke der Erde gab, dass sich hier alle Buntheit und Üppigkeit der Welt mitsamt den entsprechenden Gerüchen versammelt hatte. Es herrscht ein unbeschreiblicher Lärm, alle Verkäufer schreien in höchster Lautstärke und gestikulieren wild, der Oktjabrski Rynok, der Oktober-Markt. Pyramiden von Melonen aller Art, gelbe, grüne, rote, manche groß wie Wagenräder und aufgeschnitten, das fleischige Innere zur Schau stellend. Berge von Salzgurken, Paradeisern, Granatäpfel, Mandeln, Nüsse, Rosinen, Trauben Obst, Gemüse, Gewürze, Zöpfe von vielfarbigen Zwiebeln, Paprika und Knoblauch, vieles kenne ich nicht und alle Worte sind zu wenig für die Pracht; man muss es gesehen, gehört und gerochen haben.

Auf der anderen Seite des Basars haben die Handwerker ihre offenen Werkstätten, die Kupfer- und Silberschmiede, Schlosser, Tischler, Schuster, Sattler, Weber, Gerber, Schneider und Jurten- und Filzmacher. Ich verliebe mich sofort in die Stände mit Samowaren, hölzernen Kinderwiegen und Hochzeitstruhen mit Brandmalereien, alten Schlössern und bei den Töpfern in die riesengroßen flachen Keramikschüsseln mit wunderschönen vielfarbigen Dekorationen, das Geschirr für das Nationalgericht Plov. Fast nicht losreißen können wir uns von den Porzellan-Werkstätten, in denen das klassische usbekische Teegeschirr hergestellt wird, die blau-weiß-goldenen Piali, kleine Schüsselchen ohne Henkel mit Untertassen und Teekannen. Das Kaufen muss warten bis zu unserer Rückkehr. Das einzige, was wir sofort erstehen, sind die usbekischen Kopfbedeckungen, die runden, kunstvoll bestickten Tjubeteikas, obwohl sie nur Männer tragen. Die Haufen von Pelzmützen aus Biber-, Karakul-, Fuchs-, Otter und Nerz treiben den Schweiß aus den Poren. Überall, wo wir auftauchen, erregen die drei Grazien Aufsehen, westliche Touristen gibt es hier kaum. Aber die Menschen sind höflich und dezent, sie verbergen ihre Neugier. Wir sprechen ja Russisch, wir könnten auch für schicke Sowjetbürgerinnen aus einer der beiden Hauptstädte gehalten werden.
Ich komme kaum aus dem Markt für die Lebendtiere heraus, meine zwischen Ekel und Faszination kämpfenden Freundinnen müssen mich von all den zum Verkauf angebotenen Hühnern wegziehen, von den Ziegen und Schafen. Gleich angewidert sind unsere zartbesaiteten Seelen von den an den Beinen, in riesigen Bündeln aufgehängten Hühnern. In geflochtenen Steigen sehe ich Fasane, Hermeline, Schlagen, Schildkröten und einige mir unbekannte Vogelarten. Der Lärm, den die Tiere zusammen mit Händlern und Käufern veranstalten, ist kaum zu beschreiben, der Gestank noch viel weniger.

Vom Revolutionsplatz, über die Karl-Marx-Straße stehen in westlicher Richtung bis zur Leninstraße und zum Lenin-Prospekt viele repräsentative Gebäude: Das Lenin-Museum, der Stadtsowjet, die Künstlervereinigung, die Hotels Taschkent und Usebekistan, das Schauspielhaus, das türkische Bad, das Museum des Erdbebens und das Museum der Völkerfreundschaft. Ich verschaue mich in das soz-realistische Denkmal für den Schmied Schachmed Schamachmudow und seine Frau Bachri Agramowa, die im Großen vaterländischen Krieg 15 Kriegswaisen adoptierten. Das Opern-und Ballettheater haben nach 1945 japanische Kriegsgefangene erbaut, der Betonbau ist der einzige, der das Erdbeben völlig unbeschadet überstanden hat. Die 17 Metrostationen sind von einer Üppigkeit, die einen die Augen ausschlägt und den Magen übergehen lässt. Sie zeugen in einer unnachahmlichen Übersteigerung jedes Klischee von den Schätzen des sowjetischen Orients.
Im Jahr 1971 gab es noch kaum privaten Autoverkehr, die Straßen waren leer wie ein Architekturmodell, aber die Stadt war stolz auf ein gut ausgebautes Metro-Netz.

An die altislamischen Baudenkmäler kann ich mich nicht erinnern; einerseits waren viele dem Erdbeben zum Opfer gefallen und fünf Jahre später noch nicht wieder aufgebaut, andererseits war Taschkent nie die schönste Perle an der Seidenstraße gewesen.
Anders als ihre berühmten Schwestern Samarkand und Buchara, in die wir nacheinander flogen. Die Beschreibung hier überlasse ich den inzwischen zahlreichen Reiseführern und Kunstbüchern.
Außerdem ergeht es mir mit den Erinnerungen an diese beiden Städte ein bisschen so wie mit Kindheitserinnerungen, von denen niemand genau sagen kann, ob es sich um Selbsterlebtes handelt oder um Erzähltes oder Gelesenes. Ich erinnere mich, dass dort meine Zweifel begannen, ob wir nicht überhaupt unsere Kopfbilder vom Orient hierher einschleppen und dann ständig auf der Suche nach ihnen sind. Verschärft wird diese Unsicherheit bei mir zusätzlich durch den ständigen Schleier, den meine aus Moskaus Schneesturm mitgebrachte Grippe hervorbrachte.

Wieder zurück in Taschkent, kauften wir Flugtickets nach Fergana und Osch im Osten, schon sehr nahe der chinesischen Grenze, und Richtung Westen, nach Nukus, Chiwa und Urgentsch, die Wüstenstädte am westlichen Unterlauf des Amu Darja in der Kysyl Kum, die nach Gobi und Sahara die drittgrößte Wüste der Welt. Wie schon mehrmals in dieser Gegend, bestaunte ich die Selbstverständlichkeit, mit der sich auch die einfachsten Wüstenbewohner in die Flugzeuge schwangen, genauso selbstbewusst wie auf ihre Eselskarren am Boden. Ich hatte damals erst zwei Flüge absolviert, nach der Matura einmal nach New York und zurück. Das Reisen mit Flugzeugen war für unsereins in Europa noch keine Alltäglichkeit. Auch in die Sowjetunion war ich mit der Bahn angereist, im Chopin-Express vom Wiener Ostbahnhof über Warschau, Brest-Litowsk nach Moskau, Weißrussischer Bahnhof. In diesen weiten Landschaften Zentralasiens gab es keine Überlandstraßen und kein Eisenbahnnetz, das Flugzeug war so selbstverständlich und kaum teurer als die Straßenbahn.
Eingepresst in die eng stehenden Stühle, vollgestopft mit Binkeln und Bündeln, Säcken, Körben und Kisten, flog die kleine Tupolew in geringer Höhe über die Kysyl Kum (Roter Sand), ein leicht rötliches Sandgelb ohne Erhebungen und Schatten. Der einzige Schatten war der unseres Flugzeuges, der uns manchmal schneller voraus flatterte, oder einmal links und rechts auftauchte. Diese optische Täuschung hat mir noch niemand erklären können, ob das vielleicht eine Form der fliegenden Fata Morgana ist,
Plötzlich erschien im kleinen Fenster eine graue Linie, wurde zu einer Schlinge, dann zu einer zweiten und zu einer Schlange, deren Anfang und Ende man nicht sehen konnte. Ein Fluss, das musste er sein, der Amu Darja! Ich presste mein Gesicht ans Fenster. Es ging ganz langsam. Wie ein Kalaidoskop machte sich ein Bildchen nach dem anderen auf, Bilder, die ich sah oder seit vielen Jahren im Kopf hatte.
Der Sehnsuchtsfluss seit meiner Sven Hedin-Lektüre.
In der Jugend, in der Bibliothek meiner Eltern war Sven Hedin mit vielen Büchern vertreten. Sie trugen Vorkriegs-Daten und Drucke der Büchergilde Gutenberg und unzählige Titel aus dem Brockhaus-Verlag. Im Herzen Asiens, zwei Bände, Abenteuer in Tibet, Transhimalaya, drei Bände Zu Land nach Indien, zwei Bände, insgesamt hat es Hedin im deutschsprachigen Raum auf mehr als 200 Titel, die wissenschaftlichen nicht eingerechnet, gebracht. Zu Land nach Indien - in diesem Buch floss für mich alles Fernweh zusammen, und es blieb mir am lebhaftesten in Erinnerung. Die Stelle mit der dramatischen Suche nach Wasser am Amu Darja war im Lesebuch für die 3. Klasse Gymnasium abgedruckt, und ich konnte noch als Lehrerin die Generation nach mir für Sven Hedin begeistern. Fast noch lieber vertiefte ich mich in in seine Illustrationen, Aquarelle und Fotografien. Hedin war auch ein begnadeter Topograf und Kartograf. Sein asiatischer Atlas in einer Jugendausgabe wurde mein Vademecum.
Am wildesten Stück der Donau geboren und aufgewachsen, früh bekannt mit Dimbach, Gießenbach, Enns, Salzach, Fuschler Ache, Inn, Isar, Rhein, Hudson und Moskwa, habe ich mich jugendlang hin geträumt zu Nil und Niger, Amazonas und Orinoco, Mississippi, Colorado und Amu Darja, der sagenhafte Oxus des Alexander-Iskander.
Lisa, Schanna und ich hatten bei unserer Einreise beschlossen, unsere Namen zu russifizieren. Die Wiener Liels wurde zu Lisa, die Kärntner Susi zu Schanna, ich zu Weranika. Schanna ist die Ernsthafteste unter uns, sie studiert Russisch-Dolmetsch und Geschichte, Lisa ein bisschen Russisch, Literatur, Anglistik, von allem etwas, Psychologie und Arabistik, aber nichts wirklich akademisch. Sie holt sich, wenn sie Lust dazu hat, von allem das Beste, wie an einem reich bestückten Buffet. Dafür hatte sie in Talent. Sie war in Wien mit einem Palästinenser verheiratet, der als Arzt im Elisabeth-Spital angestellt ist, sogar schon mit einer gemeinsamer Wohnung auf der Hohen Warte. Reden kann sie über alles und jeden für sich einnehmen. Ganz leicht. Ich musste feststellen, dass das ein Talent war, über das ich nicht verfügte. Sie hat recht und es richtig erkannt, worauf es ankommt. Weil sie genau so aussieht. Im Untergang, die letzte, ultimative Frau der Welt.


- Als Sven Hedin mit seiner Karawane, nach langer Durststrecke und völlig erschöpft - ein Begleiter und sieben Kamele waren schon gestorben - endlich auf den Amu Darja stößt, müssen sie feststellen, dass dieser vollständig ausgetrocknet ist, ein zwei Kilometer breites, flaches Band aus Sand und Geröll ohne einen Tropfen Wasser, nicht für Mensch, nicht für Tier. Hedin hatte sich bei der Durchquerung der kasachischen Wüste Ust-Urt verspätet und aus Ungeduld, schnell weiterzukommen, es an der letzten Wasserstelle verabsäumt, die Schläuche bis zum letzten Wassertropfen zu füllen. Die Spannung war kaum zu übertreffen zusammen mit den drängenden Fragen nach der Schuld. Sie gehen in das Flussbett hinein und drehen jeden Stein um, ob da nicht doch noch in einer Kuhle ein Flüssigkeit übrig geblieben war. Die Luft flirrt in der Hitze, sie können das andere Ufer nicht sehen, nur die Luftspiegelung der Tamarisken. Sie sind am Ende ihrer Kräfte und ihrer Vorräte. Sie machen Halt im schütteren Schatten eines Tamarisken-Haines, der ihr Ufer säumt. Er lässt die Kamele lagern und überlegt mit seinen einheimischen Begleitern, ob sie den letzten Hahn in ihrem Gepäck schlachten sollen, um sein Blut zu trinken. Essen oder trinken? Was brauchen sie jetzt mehr, nachdem auch das letzte Karakul-Schaf aufgegessen war. Dabei wissen sie, dass das Blut in der Hitze sofort stockt und kaum Flüssigkeit bringt. Dazu ist der Gestank unerträglich.
Die Begleiter machen ein mageres Lagerfeuer aus trockenen Tamarisken-Zweigen. Die andere Möglichkeit wäre, den Urin der Kamele zu trinken. Das wäre aber noch schrecklicher als das gestockte Blut des Hahns, im Orient ist das eine Foltermethode. Außerdem würden sie ihre Lasttiere durch das Urin-Melken schwächen, weil die Kamele ihren Urin recyceln und sich neu zuführen können. Die Menschen einander auch. Ein Kreislauf, das sie zu den begehrten Wüstenschiffen macht. Bei all diesen Abwägungen kauen Sven Hedin und seine Begleiter an den Blättern der Tamarisken, ungenießbar bitter, man bekommt eine raue Kehle, es regt den eigenen Speichel an, vergiftet aber den Magen. Tamariske, Brunnen der Wüste, sagen die Einheimischen.

Schon als Dreizehnjährige fieberte ich, wie sie sich entscheiden würden. Sie braten den letzten Hahn und legen sich halb hungrig und mit schmerzenden Gedärmen schlafen. Am nächsten Morgen wachen sie früh unter einem leisen Rauschen auf, und die geübten Ohren sagen ihnen: Der Amu- Darja ist da, und er hat Wasser! Es ist nur ein kleines Rinnsal in der gewundenen Mitte des Geröllfeldes, aber frisches, fließendes Wasser, welch ein Wunder! Sven Hedins Begleiter meinen, dass irgendwo weiter oben im Hindukusch vielleicht ein Gletscher abgestürzt und geschmolzen ist. Heute wissen wir, es war wesentlich unromantischer; in einer Baumwoll-Kolchose hatte jemand eine Schleuse der unzähligen künstlichen Kanäle geöffnet. Sie führen als erstes die Tiere in das Rinnsal, dann trinken sie selbst ohne Ende. Nur Hedin gönnt sich das Vergnügen eines Wasser- Bades, die Einheimischen meiden das Wasser, dafür füllen sie die Schläuche. Die Kamele werden beladen, und sie brechen auf, weiter entlang der Seidenstraße nach Osten. Da lese ich zum ersten Mal von Chiwa, Buchara und Samarkand, Taschkent, Kokan und Fergana Hedin entdeckt den Issyk-Kul-See, den Bosten und Lot, die Karawane überquert den Hindukusch, dringt in die Gobi vor, durchwandert Tibet, immer kartografierend, fotografierend, illustrierend und notierend - entdeckt er die Quellen des Bramaputra und Indus und kommt tatsächlich nach Indien.
Wie sehr Sven Hedin, ein Verehrer der germanischen Rasse und mit Nazi-Größen von Hitler an abwärts, in das nationalistische Regime eingebunden war, erfuhr ich erst viel später während des Studiums. So widersprüchlich das war, hatte er sich auch Verdienste um die Errettung von Juden und Norwegern aus den Fängen des Verbrecherregimes gemacht, Ich kann mich nicht erinnern, dass von Hedins Nazi-Vergangenheit jemals zu Hause oder in der Schule die Rede war. Mit den Mitteilungen über die Verbrechen der Sowjets war man nicht so sparsam.
Von Hedins Forschungsreisen konnte ich mich trotzdem nicht losreißen. Die Bilder seines Orients hatten mich in ihrem Sog eingefangen, nach Osten, und immer weiter nach dem Osten. -


Chiwa unter mir, die alte Tupolew kreist einige male, ich sehe die Bremsklappen neben mir, dann kommen sie wieder nicht. Wir sacken ab, streifen die Türme und Minaretts in Kurven und Schlingen, der Schatten flattert unter uns, wir kommen ihm näher und er saust schneller als wir. Ein Schlingern in den Gedärmen, Bremsen, Sinken, es spürte sich an wie eine Faust in den Magen, ein kurzes Aufwallen wie im Lift. Dann glücklicherweise Sand, kurzes Holpern, ein kleiner, blinder Schlag, eine sachte Neigung der Schnauze nach vorne und ich mit ihr, dann Stillstand und Schweigen. Es gibt keine Nerven, nur Körperempfindungen, direkt. Wir sind gelandet, weich, aber ich sehe das Fahrgestell nicht, aber auch keine Flammen, weil ich mir schon lange die Hände vor die Augen gehalten habe, noch immer das Gesicht an die kleinen Fensterscheibe gepresst, die Nase so flach wie die Augen. Im Flugzeug war es sterbensstill. Nur die anglophile Lisa neben mir flüsterte beim Abschnallen ungeduldig: „Go on, go on, well, there we are, this is Khiwa, finally.“ Die Grande dame unter uns war wie immer und überall cool. Die rothaarige Schanna war im Gesicht so bleich, dass ihre Sommersprossen violett aussahen.
Irgendetwas kann nicht so gut gelaufen sein bei dieser Landung. Nach langer Wartezeit ging eine Tür auf und kochend heiße Luft strömte herein wie aus einem offenen Ofenloch. Nur über eine schmale Strickleiter konnten wir aussteigen, für die rundliche Schanna eine extreme Turnübung, für die langbeinige Lisa ein Katzensprung. Die kleine Tupolew saß mit dem Bauch im Sand, leicht vornüber gekippt, wie ein Vogel mit gebrochenem Nacken in seinem Sandbad. Eine Bruchlandung ohne einen Bruch. Die einheimischen Mitreisenden waren noch cooler als Lisa, sie wunderten sich sichtbar über nichts, protestierten gegen nichts, holten ihr Gepäck selbst aus dem Bauch der Maschine und verteilten sich auf wartende Taxis und Eselskarren. Die einzigen Pflanzen weit und breit waren niedrige, verkrüppelte Tamarisken, gepflanzt vielleicht als Begrenzung des Pistenrandes Die vier Propeller glänzten im knallblauen Himmel, die beiden gesenkten Schwanzsteuer ebenfalls. Flimmern der heißen Luft darüber wie flüssiges Glas. Von diesem intensiven Azurblau des Firmaments hatten die Handwerker das Glänzen und Funkeln der Kacheln abgeschaut. Ansonsten gab es in der Wüste keine Farbe. Im Süden lugten die Gipfel-Girlanden des Kopeth-Dagh-Gebirges aus der Wüste, die Grenze zum Iran. Jetzt noch die Füße in den Sand setzen und die Grenzen von Geschichte und Geographie überschreiten, im Orient ankommen. Wenn man es genau nimmt, standen wir in der Wüste Kara Kum, am linken Ufer des Amu Darja, die Kysyl Kum lag am rechten Ufer, kurz bevor er sich in ein vielarmiges Delta aufteilt und bei Nukus in den Aralsee mündet. Dorthin wollte ich ohne Lisa und Schanna einen illegalen Abstecher wagen, denn näher würde ich vielleicht nie mehr kommen, so meine Überlegung. Das von Stalin begonnene und von Chruschtschow fortgeführte Versanden des Wüstensees wollte ich mit eigenen Augen sehen. Zur Steigerung der Baumwollproduktion hatte der Diktator die nördlichen Flüsse umleiten lassen und einen Großteil der Wassermassen zur landwirtschaftlichen Nutzung in Kanäle gezwängt.
Was wir noch nicht wussten: Es war nicht Chiwa, wo wir gelandet waren, sondern der Flughafen von Urgentsch. Man ließ uns keine Zeit, die im 1. Jahrhundert vor u.Z. gegründeten Handels- und Gelehrtenstadt an der Seidenstraße zu besichtigen, sondern verfrachtete die nach Chiwa weiterreisenden Passagiere in einen klapprigen Autobus der Marke ZIL.
Nur aus der Ferne konnten wir von den Mauern von Kunja-Urgentsch träumen, von den Badehäusern, Teehäusern, Mausoleen, Moscheen, Koranschulen, Minaretten und Palästen, in denen berühmte Gelehrte wie Al-Biruni, Fachr-ad-Din-Rasi, Al-Khwarizmi und Ibn Sina, der Medicus Avicenna unter dem Emir Mahmud Gurgandsch gewirkt hatten. 1221 eroberte Dschingis-Chan die Stadt, ließ die gesamte Bevölkerung töten und siedelte seine Mongolenheere an. Im Hof der Juma-Majid-Moschee steht eine 1000 Jahre alte Säule, an die Dschingis-Chan sein Pferd gebunden hat. Sie hielten sich nur rund 100 Jahre, bis die Sufi-Dynastie unter Emir Kutlug Urgentsch zu einem Machtzentrum ausbaute. Das einzige Bauwerk, das wir vom Bus aus wahrnehmen konnten, war das Minarett Kutlug-Timur, mit 62 Metern das höchste in ganz Zentralasien. Da fällt mir auf, dass das Reiterheer mit dem größten aller je existierenden Reich in keinem der eroberten Gebiete staatliche oder architektonische Spuren hinterlassen haben, nicht einmal in ihrer Urheimat, der Mongolei, sollte man ihre Grabhügel, die Kurgane, nicht zu Architektur zählen. Die Mongolen haben fast jede Stadt dem Erdboden gleichgemacht, und sie dann mit ihren, oft aus China mitgebrachten Handwerkern wieder aufgebaut. Auch nicht in Russland, wo sich die Goldene Horde 200 Jahre lang niedergelassen hatte. Das einzige, was mir dazu einfällt, ist das russische Sprichwort: Kratzt du an einem Russen, kommt ein Tatar hervor. Es gab also kein Paarungsverbot zwischen den Besatzern und den christlichen Untertanen. Alle tatarischen/mongolischen Elemente in der russischen Architektur und Alltagskultur stammen von den Siegern über die Goldene Horde als Ausdruck ihres Triumphs. Von der Basilius-Kathedrale am Roten Platz bis zur neo-mongolischen „Kirche am Blut“ in St. Petersburg.
Für den Besuch Chiwa hatten wir nur einen Tag genehmigt bekommen, wogegen wir im Ovir der Universität nicht protestiert hatten, weil wir meinten, für diese 30 000 -Einwohner-Stadt nicht mehr Zeit zu benötigen. Es gab ja in der Sowjetunion dieser Zeit weder Touristenführer noch Landkarten. Lisa und Schanna waren ausschließlich meiner literarischen Schwärmerei gefolgt. Beide waren viel später und eher zufällig zum Russisch-Studium gekommen als ich. Ich brachte uralte Liebe und schäumende Begeisterung mit. Schanna war die gelassene Wissenschaftlerin, die die sowjetischen Verhältnisse unter ihr Mikroskop legte und für alles eine analytische Erklärung hatte. Lisa, die Diplomatentochter aus Wien, eine unbarmherzige Kritikerin, verglich alles im Arbeiter- und Bauernparadies im Russland des Breschnew mit Frankreich, GB und USA.
Aber immerhin hatte ich die beiden bis hierher schleppen können. Denn mir allein hätte das Ovir die Reise nicht genehmigt, obwohl mein Russisch am besten gefestigt war. Ein Kleeblatt, wie es unterschiedlicher nicht hätte sein können.
Ich habe in einem Album ein Foto, das uns drei zeigt,
in einem unendlichen Sand. Ein Kamel, auf dem die pummelige Schanna aufrecht sitzt, die rote Lockenpracht ausgebreitet bis auf die Schultern, daneben Lisa, das Kamel fast überragend, in einem Minirock mit model-artig vorgestelltem Bein im Sand, die braune Mähne neckisch an den Hals des Tieres geschmiegt, und ich, fast unter dem Bauch, eine kleine blonde Figur. Die war am Ziel der Träume. Das Foto wird wahrscheinlich der Eselführer gemacht haben. Im letzten Viertel am rechten Rand des Fotos ist eine Formation zu sehen, ein verwaschener, rötlich-brauner Hügel. Aber ich weiß, dass es eine Lehmziegel-Burg aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert ist, eine der wenigen Befestigungen entlang der Seidenstraße aus vorislamischer Zeit, die noch nahezu vollständig erhalten ist. Was beim Inturist „Gora“ - Berg – genannt wurde ist der Koj-Krylgan-Kala, eine Rundstadt mit einem zweistöckigen Tempelmausoleum im Zentrum und einem einstöckigen Ring von Wohnungen und Wirtschaftsgebäuden. Diese Anlage diente den Völkern Mittelasiens, den Parthern und Sassaniden, den Abbasiden und Seldschuken als Vorbild bei der Errichtung ihrer Städte und Mausoleen. Auch die Kuppelbauten, militärischen Anlagen und Bewässerungskanäle gehen auf die Ursiedlung von Chiwa zurück. Schriftliche Dokumente finden sich schon bei Herodot und Strabos.
Chiwa, jetzt eine Kleinstadt, hat dreimal mehr Kunstschätze als Einwohner. „Cheiwak“ - ah, was für ein gutes, wohltuendes Wasser, oder auch Zufriedenheit, Gott, wie gut, sagen die Legenden. Andere haben daraus Heureka gemacht, schaut mal, was für ein Wasser! Ich habs gefunden. Noahs Sohn Sem hat hier schon graben lassen und aus der Quelle getrunken. Im Nordwesten der Altstadt steht immer noch der Itschan Kala. Ich habe aus ihm getrunken und meinen ganzen Kopf darin gekühlt, fast bis zum Ertrinken. Ohne Kenntnisse und Stadtplan taumeln wir drei grünen Europäerinnen durch die Altstadt, unbehelligt, aber wahrscheinlich eine Sensation. Wo immer wir auftauchen, schlüpfen die Frauen in die Häuser zurück, die Männer wenden sich intensiv ihren Pfeifen zu oder gehen in die andere Richtung weiter. Kein Lächeln, aber auch keine Abwehr, keine Zudringlichkeit und auch keine Unterwürfigkeit. Ich würde gerne mehr fotografieren als Wüstensand, Esel und Mauern, aber die Menschen lassen das nicht zu. Es wirkt hier offenbar noch immer das islamische Bilderverbot mit. Vor allem Porträts von den schönen, alten Männern würde ich gerne machen. Aber sie wackeln verneinend mit dem ausgestreckten Zeigefinger und wenden sich ab. Wer ein Bild von einem Menschen macht, dem rauben sie die Seele, heißt das Verdikt. Fenster gibt es keine, die gehören offenbar nicht zu den Errungenschaften des Orients. Wohin wir uns auch wenden, stoßen wir auf Mauern, die Stadtmauern aus Stampflehm und Ziegeln, fast sechs Kilometer Kilometer lang und bis zu 16 Meter hoch. Das habe ich aber erst viel später nachgelesen. Im Flirren der schon aufgeheizten Vormittagssonne sehen sie wie niedrige Gebirge aus, die sich in den Weiten der Wüste verlieren. Die zehn Meter tiefen Stadttore, die begehbaren Bastionen und Schutzwälle zeugen von Chiwas eintausendsechhundert langer Wehrhaftigkeit gegen die Eroberungsgelüste aller Potentaten zwischen dem Kaspischen Meer und China. Chiwa war in seiner Hochzeit die reichste Handelsstadt der Seidenstraße, aber auch ein gefürchtetes Räubernest, der größte Sklavenmarkt in Zentralasien. Als der Zar etwa Mitte des 19. Jahrhunderts Chiwa einnahm, fand sein deutscher General Kaufmann noch 30 000 Sklaven vor, darunter 3000 Russen. Als der Emir Islom Huia knapp vor der sowjetischen Eroberung Elektrizität Telegraph und Telefon einführen wollte, brachte ihn die Geistlichkeit um. Wir betraten die Stadt durch das wunderbar restaurierte doppeltürmige, von zwei Kuppeln gekrönte Ata Darwasa-Tor. Es war so breit, dass wir uns leicht die ganze Phalanx von einmarschierende Reiterheeren und Kamelkarawanen vorstellen konnten. Dahinter breitete sich die vollkommen intakte Altstadt Itschan Kala aus, nach der wir schon so lange dürsteten. Gleich hinter dem Ausgang konnten wir schon einen Blick auf die Amin-Chan-Medrese werfen. Bevor wir hinaustraten, entdeckten wir in einer der Innenmauern ein kleines Büro von Inturist, wo wir uns mit einem Stadtplan, Karten und Broschüren ausstatten wollten. Außer verstaubten Souveniers und einer kleinen Auswahl von vergilbten Ansichtskarten hatte das Inturist nichts Derartiges zu bieten. Der Tourismus hat hier noch viele Entwicklungsmöglichkeiten. Pläne und Führer gab es ja aus Sicherheitsgründen von keiner sowjetischen Stadt zu erhalten. Stattdessen schlug uns der Angestellte hinter der Budel vor, einen Kamelritt in die Wüste hinein zu unternehmen. Er habe ein Tour anzubieten: Mit dem Esel-Taxi ein paar Kilometer nach Westen zu einer Oase mit der Festung Gora, einer Wehranlage an der Seidenstraße aus dem 4. Jahrhundert, Besichtigung mit einem kurzen Kamelritt zu einem Nebenfluss des Amu Darja. Meine Begleiterinnen zweifelten, sie wollten eher die Stadt besichtigen, ich war sofort Feuer und Flamme und brannte lichterloh in den Bildern von Sven Hedins Schilderungen.
Man gab mir nach, und wir buchten die Tour. Sofort tauchte vor dem Tor ein Arba auf, ein zweirädriger Eselskarren mit einem Lenker in einer pittoresken Tracht auf. Auf diesem schwankenden Gefährt fuhren wir in die Wüste hinein, eben und ohne Ende. Das Zeitgefühl geht einem in der Wüste wahrscheinlich auch im besten Gesundheitszustand verloren. Aber wenn man sich in einer Nichtgegend, in der absoluten Leere befindet, beginnt der Raum sich zusammenzuziehen und auszudehnen. War das ein schwarzes Loch? So plötzlich wie beim Umblättern eines Märchenbuches trat ein braungebrannter Mann in langem, weißen Hemd und Tjubetejka aus dem Tamariskenhain heraus, ein einziges Kamel am Zügel mit sich führend. Offenbar das Vorzeige-Kamel zum Abfotografieren. Es war keine Rede mehr von einem Kamel-Ritt an den Nebenfluss, sewodnja nje rabotajut, sie arbeiten heute nicht, sie haben einen sanitarnij djen, einen Gesundheitstag, war die Auskunft. Also machten wir uns daran, das einzige Kamel abzufotografieren. Schanna ließ sich in den Sattel hieven, Lisa schmiegte sich in Model-Pose mit neckisch vorgestelltem Bein an seinen Hals, mir war für beides zu schwindelig, ich blieb am Boden.
Ab da finde ich bei mir kaum Erinnerungen, nur dieses Foto in meinem Album, als man seine Reiseeindrücke noch in Bücher und Mappen klebte. Ein Kamel in einer Ebene ohne Anfang und Ende, ohne Palmenoase und Festung, im Sattel die strahlende Schanna, Lisa an den Hals des Kamels gelehnt, die dieses fast überragte, zu Füßen eine unkenntliche, Erhebung, die sich kaum vom Wüstensand abhob und auch eine Sanddistel gewesen sein könnte, das war ich, die zu diesem Abenteuer verleitet hatte.
Dieses Foto aus einer Schnellbildkamera hat eine ockerfarbene Patina angenommen wie ein sonnengebrannter Ziegel.
Alles Folgende sind verstreute Erzählungen im Nachhinein mit kurzen Öffnungen der eigenen Wahrnehmungen. Der Karren brachte uns offensichtlich zur Stadt zurück und lud uns am Dschuma- Minarett an der Stadtmauer ab. Meine Begleiterinnen lagerten mich bequem in den Schatten einiger Maulbeerbäume, legten mir nasse Tücher auf und labten mich mit Wasser. Unser Eselführer machte den Vorschlag, mich in das Teehaus bei der Amin-Chan-Medrese zu bringen. Er dürfe mit dem Karren nicht in die Altstadt hineinfahren. Wie es meinen Kolleginnen gelungen war, die Ohnmächtige dorthin zu befördern, kann ich nur meiner Phantasie überlassen. Sie waren zu aufgeregt, um sich danach noch genau zu erinnern. Sie durften nicht ins Teehaus, die Männer drängten sie hinaus: Geht nur, alles wird gut, kommt am Abend wieder. Ich als Ohnmächtige hatte offenbar mein Geschlecht verloren. Einmal wache ich auf und sehe mich auf einer Bank liegen. Es ist ein großer, halbrunder Raum, mit einer Bühne in der Tiefe, ein steiles Amphitheater, mit Teppichen und Kissen bedeckte Stufen. Über mir sehe ich Turban bedeckte Männerköpfe und spüre, dass man mir Tee einträufelt, die Piali mit grünem Tee immer wieder an meine Lippen hält, hinten im Hals ein kleines Rinnsal.
Einmal kommt das Bewusstsein so weit zurück, dass ich die goldverzierten Girlanden entlang der Wände wahrnehme und einige auf den Stufen lagernde Männer mit langen Bärten und in langen weißen Wallehemden.
Die Arabesken und Grafiken vermischen sich mit den sowjetischen Transparenten und Parolen, den Tafeln mit den besten Arbeitern und bei den Subotniks ausgezeichneten Genossen, die grün-weiße Majolika-Kacheln auf blauem Untergrund zerfließen mit den Blumenornamenten. Fiebrige Verzerrungen, Traumfetzen, Gefühlsreste, alles strömt ins Surreale zusammen, rauschendes Murmeln, die Luft hängt voller Geschichten, ich höre die Männer in meiner Nähe summen, Kindheitszustand, klingen so usbekische Wiegenlieder?
Sven Hedin zieht mit seiner Karawane durch meinen Kopf, das Wasser im Amu Darja donnert aus den Pamir-Schluchten in die Ebene, im weitverzweigten Fluss treiben kleine grüne Inseln in Spiralen, Ursymbole für Augen, auf dem Wasser Barken mit roten Segeln, an den Ufern weiße Zelte, dazwischen Herden von Karakulschafen, die durstigen Kamele unter den Palmen brüllen, der letzte Hahn kräht um sein Leben, und über den versandeten Aral-See pfeifen die Giftwinde. Innenwelt, Kindheitsbilder und Jenseitsgeographie bevölkert mit den Vorausgegangenen. Die freundliche Macht der Bilder verwischt alle Grenzen und löst die Zeit auf.

Lisa und Schanna buchten bei Inturist eine ungestörte Führung durch die schönste Altstadt des Orients: Sie besichtigten die Koranschulen/Medresen Schigasi-Chan und Islam Chodscha, die Mausoleen Pahlawan-Mahmuds und Sayid Alauddins, den Palast Tasch-Hauli, die Festung Kunja Ark, den Harem, das Badehaus, den Sommer- und Winterpalast und die Dschuma-Moschee, an deren Minarett meine Lebensgeister fast aufgegeben hätten.
Und wieder kam der dünne Rand einer Piali an meinen Lippen; wenn ich sie nicht öffne, netzen sie sie mit einem in grünen Tee getränkten Lappen, einen anderen legen sie mir auf Schweißstirn und Schläfen.
Was ist da drinnen, Absinth, -Baldrian und Tamarisken-Sud? Eine Hand streicht immer wieder über die Haare wie einer viel geliebten Enkelin. Ich kannte nie einen Großvater, aber bei meiner Großmutter war es so. Ich habe das als zärtliche Gesten in Erinnerung, so fieber-vage und flüchtig sie auch sind: angenehm, friedlich, angstfrei. Fühlt es sich so in Abrahams Schoss,, im Paradies an? Eine Versammlung von Gelehrten und Dichtern: Abu Mansur al Saalibij, Abu Sahl al Yasihiy, Abu Nasr Mansur Ibn Irak, Abdullah Muhammad Ibn Muso al Khorezmiy. Orientalische Ur-Ur-Großväter, Patriarchen, auch meine Vorfahren. Angeblich habe ich phantasiert, unverständliche Worte hervorgestoßen und wild um mich geschlagen. Zwei Alte sitzen dicht an meiner Seite wie Grabwächter und bewahren mich vor dem Abstürzen über die steilen Stufen.
Eine eingeschleppte Grippe mit einheimischem Sonnenstich, ziemlich viel auf einmal. Seither habe ich mich oft gefragt, ob es sie große Überwindung gekostet haben mochte, gegen ihre Kultur, obwohl die gleichmachende Sowjetunion damals schon 64 Jahre gewährt hat. Bedingungslose Gastfreundschaft in Oasen lässt sich nicht so schnell austreiben. Den heimlichen Ausflug an den Aral-See musste ich vergessen, und den Rückflug nach Taschkent hat mein Gedächtnis nicht behalten.

Noch weitere drei Tage lag ich weggetreten im Hotel Inturist neben dem Flughafen, nur Fetzen von Bildern blieben im Gedächtnis hängen. Ab und zu kam ein weiß gekleideter Kartoffelsack mit hoher, weißer Mütze und verabreichte mir einen gehäuftenTeelöffel Chinin, eine Büffel-Dosis, war das die Küchenchefin? Die dreimal am Tag startenden und landenden Flugzeuge flogen ausgerechnet immer durch meine
Träume. Darüber wunderte ich mich schon sehr. Noch mehr, als ich einmal beim Taumeln durch die Gänge, auf der Suche nach einer Toilette, an offenen Türen vorbei kam, hinter denen weiß gekleidete, alte Männer mit weißen Bärten und weißen Turbanen im Schneidersitz auf weißen Matratzen saßen, rauchten Pfeife und Tee tranken aus weißen Schalen. Der liebe Gott hatte sich vervielfältigt. Also war ich gestorben, lag auf den Wolken im Himmel mit Sven Hedin.

Meine Freundinnen flogen währenddessen nach Fergana und ließen sich drei Tage in der sagenhaften Oase von Osch den Wind vom Hindukusch um die Nase wehen.
Ich hatte auch ohne den Aralsee und das Fergana-Tal wahrlich viel gesehen und erfahren auf dieser Reise nach Zentralasien, die beharrlichsten und buntesten Eindrücke vom Orient kamen aber aus dem Teehaus von Chiwa.

Veronika Seyr
4.3.15 - 2.2.17

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