Nur
Reisen ist Leben,
wie
umgekehrt das Leben Reisen ist.
Jean
Paul
Wer
sich vor dem Tod fürchtet, geht nicht auf Reisen
J.W.
Goethe, Der West-östliche Diwan
I`m
not going to die before my time.
Lisl
Steiner, Fotografin, mit 88
Seit
der Jugend-Lektüre von Sven Hedins „Zu Land nach Indien“ ließ
mich die Seidenstraße nicht mehr los.
Ich
begann schon früh zu träumen und lernte die Namen der Orte
auswendig, als könnte ich sie damit in die Landkarte einnageln. Ich
schlug in den zu Hause vorhandenen Lexika nach und sah mir später
jede Dokumentation an. Von Kunst und Musik der Seidenstraße
wusste ich damals noch nichts. Indessen sagte ich mir die Namen
der Wunderorte wie eine Litanei auf. Ich nahm die Namen auseinander,
zerteilte sie, schob die Laute in meinem Gaumen herum und setzte
sie wieder zusammen, schliff sie glatt wie der lispelnde
Demosthenes die Kiesel am Strand gegen die rauschende Brandung und
umkreiste sie meditationsartig. Manche Worte waren wie leichter
Sand, andere klirrend wie Metall, wieder andere wie das Echo nieder
polternder Felsbrocken. Meine beliebteste Einschlafhilfe. Meine
Wort- und Klangreisen gingen nach Buchara, Samarkand, Taschkent,
Chiwa, Fergana, Aschchabad, Astrachan, Karaganda, Dschambul,
Duschanbe, Machatschkala, Urgentsch, Osch, Alma-Ata, in die Wüsten
der Kara Kum, Karakul, Ust-Urt, Kysyl Kum, Ust- Urt, Hungersteppe,
zu den Flüssen und Seen Amu Darja, Syr Darja, Issyk Kul, Aral-See
und zu den Gebirgen von Pamir, Tienschan und Hindukusch. Von einer
wirklichen Reise durch den sowjetischen Orient, wie die früher
Turkestan genannten später die SS-Republiken Usbekistan,
Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan, wagte in
dieser Zeit niemand zu träumen, sie lagen sternenweit entfernt.
Aus
mir wurde kein Cook, kein Humboldt und kein Darwin. Eindeutig
herrschte bei mir das literarische Gen vor. Meine Jungendliebe hat
sich auf die russische Sprache geschlagen und ist dort geblieben.
Aber im Mai 1971 war es so weit. Seit Jahresanfang studierte ich mit
einem Stipendium an der Lomonossov-Universität in Moskau und stellte
sofort nach meiner Ankunft im OVIR– der Reisestelle für westliche
Ausländer- eine KGB-Abteilung - einen Antrag auf eine Reise durch
die zentralasiatischen Republiken.
Nach vier Monaten des
ständigen Drängens wurde mir und meinen zwei Kolleginnen Lisa und
Schanna der Besuch der Städte Taschkent, Buchara und Samarkand
genehmigt, mit Ausflügen nach Chiwa-Urgentsch und Fergana-Osch. Das
war zwar nur ein kleiner Teil meiner Traumorte, aber mehr war nicht
realistisch. Mir war bewusst, dass diese Minimal-Route für eine
unbegleitete Individual-Reise schon an ein Wunder grenzte. Es gab
in Zentralasien sehr viele gesperrte militärische Geheimorte.
Immerhin drei Wochen Studienbefreiung, drei Wochen auf der
Seidenstraße!
Die
martialische Militär-Parade zum 1. Mai- wir waren noch mitten im
Kalten Krieg- erlebte ich noch in Moskau und ergatterte einen
ziemlich guten Ort mit Aussicht auf den Roten Platz, gestört
weniger durch die gefährlich drängenden Menschenmassen, als durch
einen blitzschnell aufgezogenen Schneesturm. Durch einen
ungewöhnlich milden April verführt, war ich für diesen
Wintereinbruch zu leicht angezogen.
Auf
dem Flug von Moskau nach Taschkent spürte ich erstmals ein
Halskratzen und Ohrensausen, die ich auf die spartanisch
ausgestattete Tupolew verantwortlich machte und mit vielen Gläsern
Tee zu bekämpfen versuchte. Das hauptsächliche Ablenkungsmittel war
aber die Aufgeregtheit über meine erste große Reise innerhalb der
Sowjetunion. Vorher hatte ich schon Leningrad besucht und die Städte
des Goldenen Rings rund um Moskau. Alles war neu und spannend: Von
der ausgesuchten Hässlichkeit und Ruppigkeit der Frauen,
Lageraufseherinnen ähnlicher als Stewardessen, die auf Fragen
grundsätzlich nicht antworteten oder nur knurrten wie ein gereizter
Hofhund, die Tabletts über die Sitzreihen warfen oder sie auf die
Tischchen knallten, als wären sie beim Nationalzirkus in Schule
gegangen, den ausgemergelten Sitzen, die sich entweder nicht nach
hinten verlagern oder nicht mehr aufrichten ließen, von den 3500
Kilometern unter mir, ob ich die Windungen der Wolga und das
erdölerleuchtete Baku erkennen könnte, den Elbrus, das Kaspische
Meer, den Ural, die Wüsten Kasachstans und die Bergketten des Pamir
und Tienschan. Nach sechs Stunden und vier Zeitzonen sollten wir in
Taschkent landen.Taten wir aber nicht, sondern kreisten mehr als
eine Stunde über der Stadt. Anfangs meinten wir noch gutmütig, dies
sei ein Spezialservice, um uns einen Überblick zu verschaffen.
Erklärungen des Personals gab es nicht, ebenso wenig wie auf
Antworten zu hoffen war. Erst später erfuhren wir von dem Usus,
dass sowjetische Piloten dazu angehalten waren, vor der Landung
ihren gesamten Sprit zu verbrauchen.
Als wir um fünf Uhr dreißig
endlich aus dem Flugzeug entlassen wurden, schlug uns so warme Luft
entgegen, dass es uns den Atmen nahm; hier herrschte schon der
Frühsommer, Rosen blühten, die Bäume standen in üppigstem Grün,
die Frauen trugen bunte, kurzärmelige Kleider und nach hinten
geknüpfte Kopftücher aus Kunstseide - im Zentrum der
Seidenspinnerei eine der vielen sowjetischen Absurditäten. Wir
dagegen schmachteten in unseren Moskauer Wintersachen. Den
Schüttelfrost, der mich beim Verlassen des Flugzeugs erfasste,
führte ich auf diesen Gegensatz zurück. Unser Hotel Inturist lag
direkt am Flughafen neben den Pisten, was wir anfangs spannend
fanden, drei startende und landende Flugzeuge pro Minute aus nächster
Nähe zu beobachten, und praktisch, weil wir von dort gute
Busverbindungen ins Stadtzentrum hatten.
Taschkent, Hauptstadt der
Usbekischen SSR, mit etwas mehr als 2 Millionen Einwohnern
viertgrößte Stadt der SU, die größte Zentralasiens, gelegen in
einer Oase des Syr Darja an der Seidenstraße und den Ausläufern
des Tienshan (Gottes Gebirge). Seine beschneiten, in blaue Tiefe
gestapelten Gipfelketten sind von Taschkent aus nach Nord-Osten ein
traumhaft schöner Anblick. Pik Kommunisma und Pik Lenina sind mit
ihren 7400 und 7100 Metern kaum niedriger als das Dach der Welt.
Was der stalinsche Bebauungsplan von der orientalischen Altstadt
übriggelassen hatte, wurde bei dem verheerenden Erdbeben am 26. 4.
1966 fast zur Gänze dem Erdboden gleich gemacht. Nur wenige
Straßenzüge mit engen Gässchen und einfachen, einstöckigen
Häusern aus Stampflehm und sonnengetrockneten Ziegeln blieben
erhalten. Aber sofort nach der Katastrophe setzte der Neubau ganzer
Satellitenstädte mit breiten, geometrisch angelegten Straßen ein,
sodass Taschkent sich jetzt von kaum von anderen sowjetischen
Großstädten unterscheidet. Ich erinnere mich, dass mir die dichten,
schattenspendenden Maulbeerbäume und Platanenalleen an den Straßen
auffielen, die gepflegten Grünanlagen mit unzähligen Brunnen,
Blumenrabatten und Tamariskenhecken und dass die Stadt ausnehmend
sauber war - ein Park, in den sich zufällig einige Häuser verirrt
haben. Neben den obligaten Bronce-Lenins ließ man offenbar auch
Tamerlan-Statuen als Zugeständnis an die Nationalgeschichte zu. Vor
dem Theater fiel mir ein Springbrunnen in Form einer
überdimensionalen Baumwollknospe, der Nationalpflanze, auf. Im
flachen Becken darunter toben halbnackte Kinder durch das Wasser, ein
sonderbarer Anblick für uns, die gerade aus dem Schneesturm kamen.
Am Vormittag hatte es schon 30 Grad, und wir suchten im Basar nach
sommerlicher Kleidung.
Schon am Flughafen war
augenfällig geworden, dass die Sowjetunion ein Vielvölkerstaat ist:
Usbeken, Tadschiken, Turkmenen Kirgisen, Kasachen, viele davon in
ihren malerischen Nationaltrachten, viele Russen natürlich,
unauffällig modern gekleidet. Aber in der Stadt stachen noch mehr
die Nachkommen der von Stalin verbannten Völker hervor: Tataren,
Burjaten, Kalmücken, Karakalpaken, Jakuten, Japaner, blonde
Balten und Wolgadeutsche, Griechen und Kaukasusvölker - alle, die
Stalin als Kollaborateure mit dem Feind eingestuft hatte. Auch
Vertriebene aus den Völkern der sibirischen Ureinwohner wie
Jewenken. Jakuten, Anuis, Ewenen, Korjaken, Itelmenen und
Tschuktschen, Nomaden, die sich der Kollektivierung widersetzt
hatten, wie auch verschleppte Polen und Japaner von den Kurilen,
sind dabei, 45 insgesamt Nationalitäten sollen es sein. So hat
Stalin aus einem Land einen riesengroßen Vielvölker-Freiluft-GULag
geschaffen. Die schönsten Bilder davon erhielten wir auf dem
Zentralmarkt, nicht nur von der Vermischtheit und Unterschiedlichkeit
der Menschen, sondern auch von der Fülle der landwirtschaftlichen
Produkte. Es war für mich der erste orientalische Markt, und ich
kannte damals keinen Menschen, der aus eigenem Erlebnis einen
solchen hätte schildern können außer Sven Hedin und Scheherazade.
Sobald der Schnee im Pamir und Tienschan schmilzt und sich die
Flüsse füllen, beginnen sie in der Ebene schon zu ernten. In
meinem vom Schüttelfrost vernebelten Blick meinte ich, dass es
nirgendwo so viele Geschenke der Erde gab, dass sich hier alle
Buntheit und Üppigkeit der Welt mitsamt den entsprechenden Gerüchen
versammelt hatte. Es herrscht ein unbeschreiblicher Lärm, alle
Verkäufer schreien in höchster Lautstärke und gestikulieren wild,
der Oktjabrski Rynok, der Oktober-Markt. Pyramiden von Melonen aller
Art, gelbe, grüne, rote, manche groß wie Wagenräder und
aufgeschnitten, das fleischige Innere zur Schau stellend. Berge von
Salzgurken, Paradeisern, Granatäpfel, Mandeln, Nüsse, Rosinen,
Trauben Obst, Gemüse, Gewürze, Zöpfe von vielfarbigen Zwiebeln,
Paprika und Knoblauch, vieles kenne ich nicht und alle Worte sind zu
wenig für die Pracht; man muss es gesehen, gehört und gerochen
haben.
Auf der anderen Seite des
Basars haben die Handwerker ihre offenen Werkstätten, die Kupfer-
und Silberschmiede, Schlosser, Tischler, Schuster, Sattler, Weber,
Gerber, Schneider und Jurten- und Filzmacher. Ich verliebe mich
sofort in die Stände mit Samowaren, hölzernen Kinderwiegen und
Hochzeitstruhen mit Brandmalereien, alten Schlössern und bei den
Töpfern in die riesengroßen flachen Keramikschüsseln mit
wunderschönen vielfarbigen Dekorationen, das Geschirr für das
Nationalgericht Plov. Fast nicht losreißen können wir uns von
den Porzellan-Werkstätten, in denen das klassische usbekische
Teegeschirr hergestellt wird, die blau-weiß-goldenen Piali, kleine
Schüsselchen ohne Henkel mit Untertassen und Teekannen. Das Kaufen
muss warten bis zu unserer Rückkehr. Das einzige, was wir sofort
erstehen, sind die usbekischen Kopfbedeckungen, die runden, kunstvoll
bestickten Tjubeteikas, obwohl sie nur Männer tragen. Die Haufen von
Pelzmützen aus Biber-, Karakul-, Fuchs-, Otter und Nerz treiben den
Schweiß aus den Poren. Überall, wo wir auftauchen, erregen die
drei Grazien Aufsehen, westliche Touristen gibt es hier kaum. Aber
die Menschen sind höflich und dezent, sie verbergen ihre Neugier.
Wir sprechen ja Russisch, wir könnten auch für schicke
Sowjetbürgerinnen aus einer der beiden Hauptstädte gehalten
werden.
Ich komme kaum aus dem Markt
für die Lebendtiere heraus, meine zwischen Ekel und Faszination
kämpfenden Freundinnen müssen mich von all den zum Verkauf
angebotenen Hühnern wegziehen, von den Ziegen und Schafen. Gleich
angewidert sind unsere zartbesaiteten Seelen von den an den Beinen,
in riesigen Bündeln aufgehängten Hühnern. In geflochtenen Steigen
sehe ich Fasane, Hermeline, Schlagen, Schildkröten und einige mir
unbekannte Vogelarten. Der Lärm, den die Tiere zusammen mit
Händlern und Käufern veranstalten, ist kaum zu beschreiben, der
Gestank noch viel weniger.
Vom Revolutionsplatz, über
die Karl-Marx-Straße stehen in westlicher Richtung bis zur
Leninstraße und zum Lenin-Prospekt viele repräsentative Gebäude:
Das Lenin-Museum, der Stadtsowjet, die Künstlervereinigung, die
Hotels Taschkent und Usebekistan, das Schauspielhaus, das türkische
Bad, das Museum des Erdbebens und das Museum der Völkerfreundschaft.
Ich verschaue mich in das soz-realistische Denkmal für den Schmied
Schachmed Schamachmudow und seine Frau Bachri Agramowa, die im Großen
vaterländischen Krieg 15 Kriegswaisen adoptierten. Das Opern-und
Ballettheater haben nach 1945 japanische Kriegsgefangene erbaut, der
Betonbau ist der einzige, der das Erdbeben völlig unbeschadet
überstanden hat. Die 17 Metrostationen sind von einer Üppigkeit,
die einen die Augen ausschlägt und den Magen übergehen lässt. Sie
zeugen in einer unnachahmlichen Übersteigerung jedes Klischee von
den Schätzen des sowjetischen Orients.
Im Jahr 1971 gab es noch kaum
privaten Autoverkehr, die Straßen waren leer wie ein
Architekturmodell, aber die Stadt war stolz auf ein gut
ausgebautes Metro-Netz.
An die altislamischen
Baudenkmäler kann ich mich nicht erinnern; einerseits waren viele
dem Erdbeben zum Opfer gefallen und fünf Jahre später noch nicht
wieder aufgebaut, andererseits war Taschkent nie die schönste
Perle an der Seidenstraße gewesen.
Anders
als ihre berühmten Schwestern Samarkand und Buchara, in die wir
nacheinander flogen. Die Beschreibung hier überlasse ich den
inzwischen zahlreichen Reiseführern und Kunstbüchern.
Außerdem
ergeht es mir mit den Erinnerungen an diese beiden Städte ein
bisschen so wie mit Kindheitserinnerungen, von denen niemand genau
sagen kann, ob es sich um Selbsterlebtes handelt oder um Erzähltes
oder Gelesenes. Ich erinnere mich, dass dort meine Zweifel begannen,
ob wir nicht überhaupt unsere Kopfbilder vom Orient hierher
einschleppen und dann ständig auf der Suche nach ihnen sind.
Verschärft wird diese Unsicherheit bei mir zusätzlich durch den
ständigen Schleier, den meine aus Moskaus Schneesturm mitgebrachte
Grippe hervorbrachte.
Wieder
zurück in Taschkent, kauften wir Flugtickets nach Fergana und Osch
im Osten, schon sehr nahe der chinesischen Grenze, und Richtung
Westen, nach Nukus, Chiwa und Urgentsch, die Wüstenstädte am
westlichen Unterlauf des Amu Darja in der Kysyl Kum, die nach Gobi
und Sahara die drittgrößte Wüste der Welt. Wie schon mehrmals in
dieser Gegend, bestaunte ich die Selbstverständlichkeit, mit der
sich auch die einfachsten Wüstenbewohner in die Flugzeuge schwangen,
genauso selbstbewusst wie auf ihre Eselskarren am Boden. Ich hatte
damals erst zwei Flüge absolviert, nach der Matura einmal nach New
York und zurück. Das Reisen mit Flugzeugen war für unsereins in
Europa noch keine Alltäglichkeit. Auch in die Sowjetunion war ich
mit der Bahn angereist, im Chopin-Express vom Wiener Ostbahnhof über
Warschau, Brest-Litowsk nach Moskau, Weißrussischer Bahnhof. In
diesen weiten Landschaften Zentralasiens gab es keine
Überlandstraßen und kein Eisenbahnnetz, das Flugzeug war so
selbstverständlich und kaum teurer als die Straßenbahn.
Eingepresst
in die eng stehenden Stühle, vollgestopft mit Binkeln und Bündeln,
Säcken, Körben und Kisten, flog die kleine Tupolew in geringer
Höhe über die Kysyl Kum (Roter Sand), ein leicht rötliches
Sandgelb ohne Erhebungen und Schatten. Der einzige Schatten war der
unseres Flugzeuges, der uns manchmal schneller voraus flatterte,
oder einmal links und rechts auftauchte. Diese optische Täuschung
hat mir noch niemand erklären können, ob das vielleicht eine Form
der fliegenden Fata Morgana ist,
Plötzlich erschien im
kleinen Fenster eine graue Linie, wurde zu einer Schlinge, dann zu
einer zweiten und zu einer Schlange, deren Anfang und Ende man
nicht sehen konnte. Ein Fluss, das musste er sein, der Amu Darja!
Ich presste mein Gesicht ans Fenster. Es ging ganz langsam. Wie ein
Kalaidoskop machte sich ein Bildchen nach dem anderen auf, Bilder,
die ich sah oder seit vielen Jahren im Kopf hatte.
Der
Sehnsuchtsfluss seit meiner Sven Hedin-Lektüre.
In
der Jugend, in der Bibliothek meiner Eltern war Sven Hedin mit vielen
Büchern vertreten. Sie trugen Vorkriegs-Daten und Drucke der
Büchergilde Gutenberg und unzählige Titel aus dem
Brockhaus-Verlag. Im Herzen Asiens, zwei Bände, Abenteuer in Tibet,
Transhimalaya, drei Bände Zu Land nach Indien, zwei Bände,
insgesamt hat es Hedin im deutschsprachigen Raum auf mehr als 200
Titel, die wissenschaftlichen nicht eingerechnet, gebracht. Zu Land
nach Indien - in diesem Buch floss für mich alles Fernweh zusammen,
und es blieb mir am lebhaftesten in Erinnerung. Die Stelle mit der
dramatischen Suche nach Wasser am Amu Darja war im Lesebuch für die
3. Klasse Gymnasium abgedruckt, und ich konnte noch als Lehrerin die
Generation nach mir für Sven Hedin begeistern. Fast noch lieber
vertiefte ich mich in in seine Illustrationen, Aquarelle und
Fotografien. Hedin war auch ein begnadeter Topograf und Kartograf.
Sein asiatischer Atlas in einer Jugendausgabe wurde mein Vademecum.
Am
wildesten Stück der Donau geboren und aufgewachsen, früh bekannt
mit Dimbach, Gießenbach, Enns, Salzach, Fuschler Ache, Inn,
Isar, Rhein, Hudson und Moskwa, habe ich mich jugendlang hin
geträumt zu Nil und Niger, Amazonas und Orinoco, Mississippi,
Colorado und Amu Darja, der sagenhafte Oxus des Alexander-Iskander.
Lisa,
Schanna und ich hatten bei unserer Einreise beschlossen,
unsere Namen zu russifizieren. Die Wiener Liels wurde zu Lisa, die
Kärntner Susi zu Schanna, ich zu Weranika. Schanna ist die
Ernsthafteste unter uns, sie studiert Russisch-Dolmetsch und
Geschichte, Lisa ein bisschen Russisch, Literatur, Anglistik, von
allem etwas, Psychologie und Arabistik, aber nichts wirklich
akademisch. Sie holt sich, wenn sie Lust dazu hat, von allem das
Beste, wie an einem reich bestückten Buffet. Dafür hatte sie in
Talent. Sie war in Wien mit einem Palästinenser verheiratet, der
als Arzt im Elisabeth-Spital angestellt ist, sogar schon mit einer
gemeinsamer Wohnung auf der Hohen Warte. Reden kann sie über alles
und jeden für sich einnehmen. Ganz leicht. Ich musste feststellen,
dass das ein Talent war, über das ich nicht verfügte. Sie hat
recht und es richtig erkannt, worauf es ankommt. Weil sie genau so
aussieht. Im Untergang, die letzte, ultimative Frau der Welt.
-
Als Sven Hedin mit seiner Karawane, nach langer Durststrecke und
völlig erschöpft - ein Begleiter und sieben Kamele waren schon
gestorben - endlich auf den Amu Darja stößt, müssen sie
feststellen, dass dieser vollständig ausgetrocknet ist, ein zwei
Kilometer breites, flaches Band aus Sand und Geröll ohne einen
Tropfen Wasser, nicht für Mensch, nicht für Tier. Hedin hatte sich
bei der Durchquerung der kasachischen Wüste Ust-Urt verspätet und
aus Ungeduld, schnell weiterzukommen, es an der letzten Wasserstelle
verabsäumt, die Schläuche bis zum letzten Wassertropfen zu
füllen. Die Spannung war kaum zu übertreffen zusammen mit den
drängenden Fragen nach der Schuld. Sie gehen in das Flussbett
hinein und drehen jeden Stein um, ob da nicht doch noch in einer
Kuhle ein Flüssigkeit übrig geblieben war. Die Luft flirrt in der
Hitze, sie können das andere Ufer nicht sehen, nur die
Luftspiegelung der Tamarisken. Sie sind am Ende ihrer Kräfte
und ihrer Vorräte. Sie machen Halt im schütteren Schatten eines
Tamarisken-Haines, der ihr Ufer säumt. Er lässt die Kamele
lagern und überlegt mit seinen einheimischen Begleitern, ob sie den
letzten Hahn in ihrem Gepäck schlachten sollen, um sein Blut zu
trinken. Essen oder trinken? Was brauchen sie jetzt mehr, nachdem
auch das letzte Karakul-Schaf aufgegessen war. Dabei wissen sie,
dass das Blut in der Hitze sofort stockt und kaum Flüssigkeit
bringt. Dazu ist der Gestank unerträglich.
Die
Begleiter machen ein mageres Lagerfeuer aus trockenen
Tamarisken-Zweigen. Die andere Möglichkeit wäre, den Urin der
Kamele zu trinken. Das wäre aber noch schrecklicher als das
gestockte Blut des Hahns, im Orient ist das eine Foltermethode.
Außerdem würden sie ihre Lasttiere durch das Urin-Melken schwächen,
weil die Kamele ihren Urin recyceln und sich neu zuführen können.
Die Menschen einander auch. Ein Kreislauf, das sie zu den begehrten
Wüstenschiffen macht. Bei all diesen Abwägungen kauen Sven Hedin
und seine Begleiter an den Blättern der Tamarisken, ungenießbar
bitter, man bekommt eine raue Kehle, es regt den eigenen Speichel
an, vergiftet aber den Magen. Tamariske, Brunnen der Wüste, sagen
die Einheimischen.
Schon
als Dreizehnjährige fieberte ich, wie sie sich entscheiden
würden. Sie braten den letzten Hahn und legen sich halb hungrig
und mit schmerzenden Gedärmen schlafen. Am nächsten Morgen wachen
sie früh unter einem leisen Rauschen auf, und die geübten Ohren
sagen ihnen: Der Amu- Darja ist da, und er hat Wasser! Es ist nur
ein kleines Rinnsal in der gewundenen Mitte des Geröllfeldes, aber
frisches, fließendes Wasser, welch ein Wunder! Sven Hedins
Begleiter meinen, dass irgendwo weiter oben im Hindukusch vielleicht
ein Gletscher abgestürzt und geschmolzen ist. Heute wissen wir,
es war wesentlich unromantischer; in einer Baumwoll-Kolchose hatte
jemand eine Schleuse der unzähligen künstlichen Kanäle geöffnet.
Sie führen als erstes die Tiere in das Rinnsal, dann trinken
sie selbst ohne Ende. Nur Hedin gönnt sich das Vergnügen
eines Wasser- Bades, die Einheimischen meiden das Wasser, dafür
füllen sie die Schläuche. Die Kamele werden beladen, und sie
brechen auf, weiter entlang der Seidenstraße nach Osten. Da lese
ich zum ersten Mal von Chiwa, Buchara und Samarkand, Taschkent,
Kokan und Fergana Hedin entdeckt den Issyk-Kul-See, den Bosten und
Lot, die Karawane überquert den Hindukusch, dringt in die Gobi vor,
durchwandert Tibet, immer kartografierend, fotografierend,
illustrierend und notierend - entdeckt er die Quellen des
Bramaputra und Indus und kommt tatsächlich nach Indien.
Wie
sehr Sven Hedin, ein Verehrer der germanischen Rasse und mit
Nazi-Größen von Hitler an abwärts, in das nationalistische
Regime eingebunden war, erfuhr ich erst viel später während des
Studiums. So widersprüchlich das war, hatte er sich auch Verdienste
um die Errettung von Juden und Norwegern aus den Fängen des
Verbrecherregimes gemacht, Ich kann mich nicht erinnern, dass von
Hedins Nazi-Vergangenheit jemals zu Hause oder in der Schule die
Rede war. Mit den Mitteilungen über die Verbrechen der Sowjets war
man nicht so sparsam.
Von
Hedins Forschungsreisen konnte ich mich trotzdem nicht losreißen.
Die Bilder seines Orients hatten mich in ihrem Sog eingefangen, nach
Osten, und immer weiter nach dem Osten. -
Chiwa
unter mir, die alte Tupolew kreist einige male, ich sehe die
Bremsklappen neben mir, dann kommen sie wieder nicht. Wir sacken ab,
streifen die Türme und Minaretts in Kurven und Schlingen, der
Schatten flattert unter uns, wir kommen ihm näher und er saust
schneller als wir. Ein Schlingern in den Gedärmen, Bremsen, Sinken,
es spürte sich an wie eine Faust in den Magen, ein kurzes
Aufwallen wie im Lift. Dann glücklicherweise Sand, kurzes
Holpern, ein kleiner, blinder Schlag, eine sachte Neigung der
Schnauze nach vorne und ich mit ihr, dann Stillstand und Schweigen.
Es gibt keine Nerven, nur Körperempfindungen, direkt. Wir sind
gelandet, weich, aber ich sehe das Fahrgestell nicht, aber auch
keine Flammen, weil ich mir schon lange die Hände vor die Augen
gehalten habe, noch immer das Gesicht an die kleinen Fensterscheibe
gepresst, die Nase so flach wie die Augen. Im Flugzeug war es
sterbensstill. Nur die anglophile Lisa neben mir flüsterte beim
Abschnallen ungeduldig: „Go on, go on, well, there we are, this
is Khiwa, finally.“ Die Grande dame unter uns war wie immer und
überall cool. Die rothaarige Schanna war im Gesicht so bleich,
dass ihre Sommersprossen violett aussahen.
Irgendetwas
kann nicht so gut gelaufen sein bei dieser Landung. Nach langer
Wartezeit ging eine Tür auf und kochend heiße Luft strömte herein
wie aus einem offenen Ofenloch. Nur über eine schmale
Strickleiter konnten wir aussteigen, für die rundliche Schanna
eine extreme Turnübung, für die langbeinige Lisa ein Katzensprung.
Die kleine Tupolew saß mit dem Bauch im Sand, leicht vornüber
gekippt, wie ein Vogel mit gebrochenem Nacken in seinem Sandbad.
Eine Bruchlandung ohne einen Bruch. Die einheimischen Mitreisenden
waren noch cooler als Lisa, sie wunderten sich sichtbar über
nichts, protestierten gegen nichts, holten ihr Gepäck selbst aus
dem Bauch der Maschine und verteilten sich auf wartende Taxis und
Eselskarren. Die einzigen Pflanzen weit und breit waren
niedrige, verkrüppelte Tamarisken, gepflanzt vielleicht als
Begrenzung des Pistenrandes Die vier Propeller glänzten im
knallblauen Himmel, die beiden gesenkten Schwanzsteuer ebenfalls.
Flimmern der heißen Luft darüber wie flüssiges Glas. Von diesem
intensiven Azurblau des Firmaments hatten die Handwerker das Glänzen
und Funkeln der Kacheln abgeschaut. Ansonsten gab es in der Wüste
keine Farbe. Im Süden lugten die Gipfel-Girlanden des
Kopeth-Dagh-Gebirges aus der Wüste, die Grenze zum Iran.
Jetzt noch die Füße in den Sand setzen und die Grenzen von
Geschichte und Geographie überschreiten, im Orient ankommen.
Wenn man es genau nimmt, standen wir in der Wüste Kara Kum, am
linken Ufer des Amu Darja, die Kysyl Kum lag am rechten Ufer, kurz
bevor er sich in ein vielarmiges Delta aufteilt und bei Nukus in den
Aralsee mündet. Dorthin wollte ich ohne Lisa und Schanna einen
illegalen Abstecher wagen, denn näher würde ich vielleicht nie
mehr kommen, so meine Überlegung. Das von Stalin begonnene und
von Chruschtschow fortgeführte Versanden des Wüstensees wollte
ich mit eigenen Augen sehen. Zur Steigerung der Baumwollproduktion
hatte der Diktator die nördlichen Flüsse umleiten lassen und einen
Großteil der Wassermassen zur landwirtschaftlichen Nutzung in Kanäle
gezwängt.
Was
wir noch nicht wussten: Es war nicht Chiwa, wo wir gelandet waren,
sondern der Flughafen von Urgentsch. Man ließ uns keine Zeit, die
im 1. Jahrhundert vor u.Z. gegründeten Handels- und Gelehrtenstadt
an der Seidenstraße zu besichtigen, sondern verfrachtete die nach
Chiwa weiterreisenden Passagiere in einen klapprigen Autobus der
Marke ZIL.
Nur
aus der Ferne konnten wir von den Mauern von Kunja-Urgentsch träumen,
von den Badehäusern, Teehäusern, Mausoleen, Moscheen,
Koranschulen, Minaretten und Palästen, in denen berühmte Gelehrte
wie Al-Biruni, Fachr-ad-Din-Rasi, Al-Khwarizmi und Ibn Sina, der
Medicus Avicenna unter dem Emir Mahmud Gurgandsch gewirkt hatten.
1221 eroberte Dschingis-Chan die Stadt, ließ die gesamte Bevölkerung
töten und siedelte seine Mongolenheere an. Im Hof der
Juma-Majid-Moschee steht eine 1000 Jahre alte Säule, an die
Dschingis-Chan sein Pferd gebunden hat. Sie hielten sich nur rund
100 Jahre, bis die Sufi-Dynastie unter Emir Kutlug Urgentsch zu
einem Machtzentrum ausbaute. Das einzige Bauwerk, das wir vom Bus aus
wahrnehmen konnten, war das Minarett Kutlug-Timur, mit 62 Metern das
höchste in ganz Zentralasien. Da fällt mir auf, dass das Reiterheer
mit dem größten aller je existierenden Reich in keinem der
eroberten Gebiete staatliche oder architektonische Spuren
hinterlassen haben, nicht einmal in ihrer Urheimat, der Mongolei,
sollte man ihre Grabhügel, die Kurgane, nicht zu Architektur
zählen. Die Mongolen haben fast jede Stadt dem Erdboden
gleichgemacht, und sie dann mit ihren, oft aus China mitgebrachten
Handwerkern wieder aufgebaut. Auch nicht in Russland, wo
sich die Goldene Horde 200 Jahre lang niedergelassen hatte. Das
einzige, was mir dazu einfällt, ist das russische Sprichwort: Kratzt
du an einem Russen, kommt ein Tatar hervor. Es gab also kein
Paarungsverbot zwischen den Besatzern und den christlichen
Untertanen. Alle tatarischen/mongolischen Elemente in der
russischen Architektur und Alltagskultur stammen von den Siegern
über die Goldene Horde als Ausdruck ihres Triumphs. Von der
Basilius-Kathedrale am Roten Platz bis zur neo-mongolischen „Kirche
am Blut“ in St. Petersburg.
Für
den Besuch Chiwa hatten wir nur einen Tag genehmigt bekommen,
wogegen wir im Ovir der Universität nicht protestiert hatten, weil
wir meinten, für diese 30 000 -Einwohner-Stadt nicht mehr Zeit zu
benötigen. Es gab ja in der Sowjetunion dieser Zeit weder
Touristenführer noch Landkarten. Lisa und Schanna waren
ausschließlich meiner literarischen Schwärmerei gefolgt. Beide
waren viel später und eher zufällig zum Russisch-Studium gekommen
als ich. Ich brachte uralte Liebe und schäumende Begeisterung mit.
Schanna war die gelassene Wissenschaftlerin, die die sowjetischen
Verhältnisse unter ihr Mikroskop legte und für alles eine
analytische Erklärung hatte. Lisa, die Diplomatentochter aus
Wien, eine unbarmherzige Kritikerin, verglich alles im Arbeiter-
und Bauernparadies im Russland des Breschnew mit Frankreich, GB und
USA.
Aber
immerhin hatte ich die beiden bis hierher schleppen können. Denn
mir allein hätte das Ovir die Reise nicht genehmigt, obwohl mein
Russisch am besten gefestigt war. Ein Kleeblatt, wie es
unterschiedlicher nicht hätte sein können.
Ich
habe in einem Album ein Foto, das uns drei zeigt,
in
einem unendlichen Sand. Ein Kamel, auf dem die pummelige Schanna
aufrecht sitzt, die rote Lockenpracht ausgebreitet bis auf die
Schultern, daneben Lisa, das Kamel fast überragend, in einem
Minirock mit model-artig vorgestelltem Bein im Sand, die braune Mähne
neckisch an den Hals des Tieres geschmiegt, und ich, fast unter dem
Bauch, eine kleine blonde Figur. Die war am Ziel der Träume. Das
Foto wird wahrscheinlich der Eselführer gemacht haben. Im letzten
Viertel am rechten Rand des Fotos ist eine Formation zu sehen, ein
verwaschener, rötlich-brauner Hügel. Aber ich weiß, dass es eine
Lehmziegel-Burg aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert ist, eine der
wenigen Befestigungen entlang der Seidenstraße aus vorislamischer
Zeit, die noch nahezu vollständig erhalten ist. Was beim Inturist
„Gora“ - Berg – genannt wurde ist der Koj-Krylgan-Kala, eine
Rundstadt mit einem zweistöckigen Tempelmausoleum im Zentrum und
einem einstöckigen Ring von Wohnungen und Wirtschaftsgebäuden.
Diese Anlage diente den Völkern Mittelasiens, den Parthern und
Sassaniden, den Abbasiden und Seldschuken als Vorbild bei der
Errichtung ihrer Städte und Mausoleen. Auch die Kuppelbauten,
militärischen Anlagen und Bewässerungskanäle gehen auf die
Ursiedlung von Chiwa zurück. Schriftliche Dokumente finden sich
schon bei Herodot und Strabos.
Chiwa,
jetzt eine Kleinstadt, hat dreimal mehr Kunstschätze als
Einwohner. „Cheiwak“ - ah, was für ein gutes, wohltuendes
Wasser, oder auch Zufriedenheit, Gott, wie gut, sagen die Legenden.
Andere haben daraus Heureka gemacht, schaut mal, was für ein Wasser!
Ich habs gefunden. Noahs Sohn Sem hat hier schon graben lassen und
aus der Quelle getrunken. Im Nordwesten der Altstadt steht immer
noch der Itschan Kala. Ich habe aus ihm getrunken und meinen ganzen
Kopf darin gekühlt, fast bis zum Ertrinken. Ohne Kenntnisse und
Stadtplan taumeln wir drei grünen Europäerinnen durch die
Altstadt, unbehelligt, aber wahrscheinlich eine Sensation. Wo immer
wir auftauchen, schlüpfen die Frauen in die Häuser zurück, die
Männer wenden sich intensiv ihren Pfeifen zu oder gehen in die
andere Richtung weiter. Kein Lächeln, aber auch keine Abwehr, keine
Zudringlichkeit und auch keine Unterwürfigkeit. Ich würde gerne
mehr fotografieren als Wüstensand, Esel und Mauern, aber die
Menschen lassen das nicht zu. Es wirkt hier offenbar noch immer das
islamische Bilderverbot mit. Vor allem Porträts von den schönen,
alten Männern würde ich gerne machen. Aber sie wackeln verneinend
mit dem ausgestreckten Zeigefinger und wenden sich ab. Wer ein Bild
von einem Menschen macht, dem rauben sie die Seele, heißt das
Verdikt. Fenster gibt es keine, die gehören offenbar nicht zu
den Errungenschaften des Orients. Wohin wir uns auch wenden,
stoßen wir auf Mauern, die Stadtmauern aus Stampflehm und
Ziegeln, fast sechs Kilometer Kilometer lang und bis zu 16 Meter
hoch. Das habe ich aber erst viel später nachgelesen. Im Flirren
der schon aufgeheizten Vormittagssonne sehen sie wie niedrige Gebirge
aus, die sich in den Weiten der Wüste verlieren. Die zehn Meter
tiefen Stadttore, die begehbaren Bastionen und Schutzwälle zeugen
von Chiwas eintausendsechhundert langer Wehrhaftigkeit gegen die
Eroberungsgelüste aller Potentaten zwischen dem Kaspischen Meer und
China. Chiwa war in seiner Hochzeit die reichste Handelsstadt der
Seidenstraße, aber auch ein gefürchtetes Räubernest, der größte
Sklavenmarkt in Zentralasien. Als der Zar etwa Mitte des 19.
Jahrhunderts Chiwa einnahm, fand sein deutscher General Kaufmann noch
30 000 Sklaven vor, darunter 3000 Russen. Als der Emir Islom Huia
knapp vor der sowjetischen Eroberung Elektrizität Telegraph und
Telefon einführen wollte, brachte ihn die Geistlichkeit um. Wir
betraten die Stadt durch das wunderbar restaurierte doppeltürmige,
von zwei Kuppeln gekrönte Ata Darwasa-Tor. Es war so breit, dass
wir uns leicht die ganze Phalanx von einmarschierende Reiterheeren
und Kamelkarawanen vorstellen konnten. Dahinter breitete sich die
vollkommen intakte Altstadt Itschan Kala aus, nach der wir schon so
lange dürsteten. Gleich hinter dem Ausgang konnten wir schon einen
Blick auf die Amin-Chan-Medrese werfen. Bevor wir hinaustraten,
entdeckten wir in einer der Innenmauern ein kleines Büro von
Inturist, wo wir uns mit einem Stadtplan, Karten und Broschüren
ausstatten wollten. Außer verstaubten Souveniers und einer kleinen
Auswahl von vergilbten Ansichtskarten hatte das Inturist nichts
Derartiges zu bieten. Der Tourismus hat hier noch viele
Entwicklungsmöglichkeiten. Pläne und Führer gab es ja aus
Sicherheitsgründen von keiner sowjetischen Stadt zu erhalten.
Stattdessen schlug uns der Angestellte hinter der Budel vor, einen
Kamelritt in die Wüste hinein zu unternehmen. Er habe ein Tour
anzubieten: Mit dem Esel-Taxi ein paar Kilometer nach Westen zu einer
Oase mit der Festung Gora, einer Wehranlage an der Seidenstraße
aus dem 4. Jahrhundert, Besichtigung mit einem kurzen Kamelritt zu
einem Nebenfluss des Amu Darja. Meine Begleiterinnen zweifelten, sie
wollten eher die Stadt besichtigen, ich war sofort Feuer und Flamme
und brannte lichterloh in den Bildern von Sven Hedins Schilderungen.
Man
gab mir nach, und wir buchten die Tour. Sofort tauchte vor dem Tor
ein Arba auf, ein zweirädriger Eselskarren mit einem Lenker in einer
pittoresken Tracht auf. Auf diesem schwankenden Gefährt fuhren wir
in die Wüste hinein, eben und ohne Ende. Das Zeitgefühl geht einem
in der Wüste wahrscheinlich auch im besten Gesundheitszustand
verloren. Aber wenn man sich in einer Nichtgegend, in der absoluten
Leere befindet, beginnt der Raum sich zusammenzuziehen und
auszudehnen. War das ein schwarzes Loch? So plötzlich wie beim
Umblättern eines Märchenbuches trat ein braungebrannter Mann in
langem, weißen Hemd und Tjubetejka aus dem Tamariskenhain heraus,
ein einziges Kamel am Zügel mit sich führend. Offenbar das
Vorzeige-Kamel zum Abfotografieren. Es war keine Rede mehr von einem
Kamel-Ritt an den Nebenfluss, sewodnja nje rabotajut, sie arbeiten
heute nicht, sie haben einen sanitarnij djen, einen Gesundheitstag,
war die Auskunft. Also machten wir uns daran, das einzige Kamel
abzufotografieren. Schanna ließ sich in den Sattel hieven, Lisa
schmiegte sich in Model-Pose mit neckisch vorgestelltem Bein an
seinen Hals, mir war für beides zu schwindelig, ich blieb am Boden.
Ab
da finde ich bei mir kaum Erinnerungen, nur dieses Foto in meinem
Album, als man seine Reiseeindrücke noch in Bücher und Mappen
klebte. Ein Kamel in einer Ebene ohne Anfang und Ende, ohne
Palmenoase und Festung, im Sattel die strahlende Schanna, Lisa an
den Hals des Kamels gelehnt, die dieses fast überragte, zu Füßen
eine unkenntliche, Erhebung, die sich kaum vom Wüstensand abhob und
auch eine Sanddistel gewesen sein könnte, das war ich, die zu
diesem Abenteuer verleitet hatte.
Dieses
Foto aus einer Schnellbildkamera hat eine ockerfarbene Patina
angenommen wie ein sonnengebrannter Ziegel.
Alles
Folgende sind verstreute Erzählungen im Nachhinein mit kurzen
Öffnungen der eigenen Wahrnehmungen. Der Karren brachte uns
offensichtlich zur Stadt zurück und lud uns am Dschuma- Minarett an
der Stadtmauer ab. Meine Begleiterinnen lagerten mich bequem in den
Schatten einiger Maulbeerbäume, legten mir nasse Tücher auf und
labten mich mit Wasser. Unser Eselführer machte den Vorschlag, mich
in das Teehaus bei der Amin-Chan-Medrese zu bringen. Er dürfe mit
dem Karren nicht in die Altstadt hineinfahren. Wie es meinen
Kolleginnen gelungen war, die Ohnmächtige dorthin zu befördern,
kann ich nur meiner Phantasie überlassen. Sie waren zu aufgeregt, um
sich danach noch genau zu erinnern. Sie durften nicht ins Teehaus,
die Männer drängten sie hinaus: Geht nur, alles wird gut, kommt am
Abend wieder. Ich als Ohnmächtige hatte offenbar mein Geschlecht
verloren. Einmal wache ich auf und sehe mich auf einer Bank
liegen. Es ist ein großer, halbrunder Raum, mit einer Bühne in der
Tiefe, ein steiles Amphitheater, mit Teppichen und Kissen bedeckte
Stufen. Über mir sehe ich Turban bedeckte Männerköpfe und spüre,
dass man mir Tee einträufelt, die Piali mit grünem Tee immer
wieder an meine Lippen hält, hinten im Hals ein kleines Rinnsal.
Einmal
kommt das Bewusstsein so weit zurück, dass ich die goldverzierten
Girlanden entlang der Wände wahrnehme und einige auf den Stufen
lagernde Männer mit langen Bärten und in langen weißen
Wallehemden.
Die
Arabesken und Grafiken vermischen sich mit den sowjetischen
Transparenten und Parolen, den Tafeln mit den besten Arbeitern und
bei den Subotniks ausgezeichneten Genossen, die grün-weiße
Majolika-Kacheln auf blauem Untergrund zerfließen mit den
Blumenornamenten. Fiebrige Verzerrungen, Traumfetzen,
Gefühlsreste, alles strömt ins Surreale zusammen, rauschendes
Murmeln, die Luft hängt voller Geschichten, ich höre die Männer in
meiner Nähe summen, Kindheitszustand, klingen so usbekische
Wiegenlieder?
Sven
Hedin zieht mit seiner Karawane durch meinen Kopf, das Wasser im
Amu Darja donnert aus den Pamir-Schluchten in die Ebene, im
weitverzweigten Fluss treiben kleine grüne Inseln in Spiralen,
Ursymbole für Augen, auf dem Wasser Barken mit roten Segeln, an den
Ufern weiße Zelte, dazwischen Herden von Karakulschafen, die
durstigen Kamele unter den Palmen brüllen, der letzte Hahn kräht
um sein Leben, und über den versandeten Aral-See pfeifen die
Giftwinde. Innenwelt, Kindheitsbilder und Jenseitsgeographie
bevölkert mit den Vorausgegangenen. Die freundliche Macht der Bilder
verwischt alle Grenzen und löst die Zeit auf.
Lisa
und Schanna buchten bei Inturist eine ungestörte Führung
durch die schönste Altstadt des Orients: Sie besichtigten die
Koranschulen/Medresen Schigasi-Chan und Islam Chodscha, die
Mausoleen Pahlawan-Mahmuds und Sayid Alauddins, den Palast
Tasch-Hauli, die Festung Kunja Ark, den Harem, das Badehaus, den
Sommer- und Winterpalast und die Dschuma-Moschee, an deren Minarett
meine Lebensgeister fast aufgegeben hätten.
Und
wieder kam der dünne Rand einer Piali an meinen Lippen; wenn ich
sie nicht öffne, netzen sie sie mit einem in grünen Tee getränkten
Lappen, einen anderen legen sie mir auf Schweißstirn und Schläfen.
Was ist da drinnen, Absinth,
-Baldrian und Tamarisken-Sud? Eine Hand streicht immer wieder über
die Haare wie einer viel geliebten Enkelin. Ich kannte nie einen
Großvater, aber bei meiner Großmutter war es so. Ich habe das als
zärtliche Gesten in Erinnerung, so fieber-vage und flüchtig sie
auch sind: angenehm, friedlich, angstfrei. Fühlt es sich so in
Abrahams Schoss,, im Paradies an? Eine Versammlung von Gelehrten
und Dichtern: Abu Mansur al Saalibij, Abu Sahl al Yasihiy, Abu Nasr
Mansur Ibn Irak, Abdullah Muhammad Ibn Muso al Khorezmiy.
Orientalische Ur-Ur-Großväter, Patriarchen, auch meine Vorfahren.
Angeblich habe ich phantasiert, unverständliche Worte hervorgestoßen
und wild um mich geschlagen. Zwei Alte sitzen dicht an meiner Seite
wie Grabwächter und bewahren mich vor dem Abstürzen über die
steilen Stufen.
Eine
eingeschleppte Grippe mit einheimischem Sonnenstich, ziemlich viel
auf einmal. Seither habe ich mich oft gefragt, ob es sie große
Überwindung gekostet haben mochte, gegen ihre Kultur, obwohl die
gleichmachende Sowjetunion damals schon 64 Jahre gewährt hat.
Bedingungslose Gastfreundschaft in Oasen lässt sich nicht so schnell
austreiben. Den heimlichen Ausflug an den Aral-See musste ich
vergessen, und den Rückflug nach Taschkent hat mein Gedächtnis
nicht behalten.
Noch
weitere drei Tage lag ich weggetreten im Hotel Inturist neben dem
Flughafen, nur Fetzen von Bildern blieben im Gedächtnis hängen.
Ab und zu kam ein weiß gekleideter Kartoffelsack mit hoher, weißer
Mütze und verabreichte mir einen gehäuftenTeelöffel Chinin, eine
Büffel-Dosis, war das die Küchenchefin? Die dreimal am Tag
startenden und landenden Flugzeuge flogen ausgerechnet immer durch
meine
Träume.
Darüber wunderte ich mich schon sehr. Noch mehr, als ich einmal
beim Taumeln durch die Gänge, auf der Suche nach einer Toilette, an
offenen Türen vorbei kam, hinter denen weiß gekleidete, alte
Männer mit weißen Bärten und weißen Turbanen im Schneidersitz
auf weißen Matratzen saßen, rauchten Pfeife und Tee tranken aus
weißen Schalen. Der liebe Gott hatte sich vervielfältigt. Also
war ich gestorben, lag auf den Wolken im Himmel mit Sven Hedin.
Meine
Freundinnen flogen währenddessen nach Fergana und ließen sich
drei Tage in der sagenhaften Oase von Osch den Wind vom Hindukusch
um die Nase wehen.
Ich
hatte auch ohne den Aralsee und das Fergana-Tal wahrlich viel
gesehen und erfahren auf dieser Reise nach Zentralasien, die
beharrlichsten und buntesten Eindrücke vom Orient kamen aber aus dem
Teehaus von Chiwa.
Veronika
Seyr
4.3.15
- 2.2.17
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