Was der Dichter schafft,
das muss so hingenommen werden, wie er es geschaffen hat… So wie er
die Welt gemacht hat, so ist sie.
J.W. Goethe
1.
Als der sechszehnjährige
Karl Roßmann am Morgen eines Apriltages im Jahre 1912 mit der
„Sibylle“ der Hamburg-Amerika-Line in den Hafen von New York
einfuhr, stand er mit seinem Koffer an der Reling. Wie alle anderen
Auswanderer aus dem Zwischendeck erblickte er zum ersten Mal die
Freiheitsstatue. Eine Göttin mit Schwert, schien sie ihm, so hoch,
staunte er, um sie wehen die freien Lüfte, sagte er sich, so also
riecht Freiheit. Seine Nase witterte eine Mischung aus Rauch,
Diesel, Tang und Fischöl. Er wurde fast ohnmächtig und begann zu
phantasieren. Die Menge schwoll immer mehr an und drückte ihn
gegen das Bordgeländer. Die Männer lüpften Hüte und Mützen, die
Frauen schwenkten Tücher und Regenschirme. Wie ein einziger Schrei
drang Jubel aus tausenden Kehlen, das Ausatmen eines lange
ausgesetzten Einatmens, vereint in einer unartikulierten Sprache,
der Sprache der Hoffnung. Jeder an Deck, auch Karl Roßmann, meinte
richtig gesehen zu haben, dass die Liberty ein Schwert hielt,
glühend wie flüssiges Metall. Aber diese Armen wussten nicht, es
war Aurora, die Morgenröte, die die Fackel in der ausgestreckten
Hand färbte. Schwert oder Fackel – das macht den Unterschied in
den Vorstellungen von der Freiheit aus. Kampf oder Licht? Die
europäische Geschichte kann es durchdeklinieren.
Weil
Karl sich im Augenblick stark fühlte, hob er im Übermut seinen
Koffer auf die Achsel. Er hatte keinen Regenschirm verloren, weil er
keinen bei sich hatte. Ein sechszehnjähriger Provinzler pflegt
keinen Regenschirm mit sich zu tragen, wenn er nach Amerika
verfrachtet wird. Vor der Abreise war ihm zumute gewesen wie einem,
der ins Wasser geht Seine Familie hat ihn verstoßen, wie eine
räudige Katze vor die Tür geworfen, ihn dafür bestraft , die
33-jährige Köchin Johanna Brummer verführt zu haben. Karl glaubt
sich zu erinnern, dass es umgekehrt war. Ist
die schwarze Köchin da? Ja, ja, ja!
Er muss nicht unbedingt von der Reling in den Schiffsbauch zurück
gekehrt sein, nicht seinen Regenschirm vergessen und daher auch
weder den Heizer, noch Franz Butterbaum noch den ungerechten
Kassierer Schubal, keine Köchinnen, Matrosen und Offiziere und auch
keinen Kapitän getroffen haben.
Mit Mühe das Gleichgewicht
haltend und mit dem Koffer auf der Schulter ausbalancierend, wurde er
in der festen Menschenmasse die steile, schwankende Fallreep hinunter
geschoben, vorne und hinter von tausenden tappenden Menschenfüßen
begleitet. Alle diese Körper drängten in einer umgekehrten
Sisyphus-Bewegung in die Tiefe. Glück für die Ordnungshüter, in
dieser Enge konnte niemand umfallen und Unordnung verursachen. Gepäck
und Kleinkinder konnten schon verloren gehen, aber niemand wurde
danach gefragt und niemand beschwerte sich.
Zum
letzten Mal verschmolzen die Auswanderer, die die Hölle des
Zwischendecks überlebt hatten, zu einem einzigen Körper wie die
Sandkörnchen in der brodelnden Glasblase. Das schiffbrüchige
Europa meinte, endlich im Paradies angekommen zu sein.
Bevor sie von der „Sibylle“
den Fuß auf den Boden Amerikas setzten, baumelten die Passagiere
am Fallreep über dem Nichts, eine Ameisenstraße auf einem
Grashalm, auf Trittseilen die Bordwand entlang steil hinunter.
Karl träumte vor sich hin, dass die Menschen Gummibänder an den
Füßen hätten, die sie, wenn sie von der Fallreep herunter
purzelten, wieder hochschnellen ließen. Das könnte man unzählige
Male wiederholen. So ginge niemand verloren, und manche hätten
sogar noch Spaß dabei. Der erste Weg in die Freiheit führte zuerst
einmal in den Abgrund. Seit dem Untergang der Titanic waren erst
acht Wochen vergangen, und die Leichen der Ertrunkenen kamen gerade
bei Neu Fundland angeschwemmt. Die von der Lusithania sollten erste
drei Jahre später an den atlantischen Küsten anlanden. Klein wie
ein Froschteich ist das Mittelmeer dagegen. Was hat Amerika zu
Amerika und groß gemacht?
Amerikanische und jüdische
Fundamentalisten glauben, dass die Arche Noah nicht am Berg Ararat
gestrandet ist, sondern 7000 Meilen weiter westlich, und das wäre
genau in New York, auf die Insel Mana-hata der Algonquin-Indianer,
ihrem „hügeligen Land“, oder in Nieuw Amsterdam der
Niederländer. Da aber bisher keinerlei prähistorische Überreste
gefunden wurden, steht uns die große Flut vielleicht noch bevor.
2.
Die
„Sibylle“ hatte Glück, sie musste keine gelbe Flagge aufziehen,
wie zuvor die Schwesternschiffe „Normannia“, „Moravia“ und
„Riga“. Diese wurden weit draußen, sieben Meilen vor der
Südspitze Manhattens in der Lower Bay vor Anker gesetzt. Gelbe
Flagge hieß Seuchengefahr, Cholera. Eindeutig lautete die Warnung
des Polizeichefs: Wer von Bord geht, wird erschossen. Kriegsschiffe
bewachten die Auswanderer. Je länger sie dort lagen, desto mehr
Passagiere stürzten sich von Bord der arretierten Schiffe. Kaum
einer der Emigranten aus Süd- und Osteuropa konnte schwimmen. In
der Stadt wollten die Bewohner keinen Fisch mehr essen. Trotzdem
starben in New York jeden Tag neun Menschen an der Cholera. Die
Furcht vor Seuchen weitete sich zu einer allgemeinen Hysterie aus.
Wie der Erreger in die Stadt gelangt war, blieb ein Rätsel. Die „New
York Times“ forderten, die „schmutzigen
Italiener,
besoffenen Iren und verlausten Juden“
nicht mehr ins Land zu lassen. Doch wer daran die Schuld trug,
glaubten die Amerikaner zu wissen: Die Ausländer.
Sie
waren arm, krank, lebten in Slums, hatten keine Arbeit und
verpesteten die Stadt. Die alten Amerikaner hassten die Immigranten
aus vollem Herzen, die Presse hetzte offen. Sie sahen in ihnen
minderwertige, halb menschliche Wesen und hielten sie sich möglichst
vom Leib. Schlimmer
als räudige Hunde und Ratten,
druckt die NYT und gab damit die Anregung, wie mit ihnen umzugehen
sei. Vielleicht bringen sie nicht nur Seuchen und Ungeziefer,
sondern auch Unfrieden? Soziale und kulturelle Konflikte waren
vorgeplant. Vor allem den Immigranten aus Süd-Osteuropa wurde
attestiert, nicht assimilierungswillig zu sein und aus Mangel an
Kultur grundsätzlich unfähig, die amerikanische Welt zu verstehen.
Wertekurse wurden damals nicht angeboten. Von allen Immigranten
wurden nur die Deutschen einigermaßen willkommen geheißen, wegen
des ihnen nachgesagten höheren Bildungsniveaus, ihres Arbeitseifers
und strengen Familienzusammenhalts. In der NYT wird ihre
ausgeprägte „Achtung
vor dem Staat und dem Gesetz“ hervorgehoben.
Vor allem im Mittelwesten und in den New Yorker Stadtteilen Bronx
und Queens bildeten sie kompakte Ansiedlungen. Gegen Ende des 19.
Jahrhunderts war die Hälfte der New Yorker Bürger nicht in dieser
Stadt geboren. Donald Trumps Großvater, Friedrich, ein Friseur aus
der Pfalz, kam 1892 mit solch einem Transport an. Eine Schwester
und ihr Mann lebten schon in New York, später noch eine Schwester
mit Mann, Friedrich selbst brachte seine Frau aus Deutschland und
eine dort geborene Tochter ins Land. Die Trumps hatten weitere
familiäre Beziehungen zu den Heinzs und Krafts, die in der
Lebensmittelindustrie Markennamen und Vermögen machen sollten.
Seinem Sohn Fred konnte Friedrich schon ein Millionenvermögen
hinterlassen, das er in der Immobilienbranche gemacht hatte. Am 8.
November 2016 ist Trump, der III., Donald, zum 45. Präsidenten der
USA gewählt worden. Der tuberkulöse Karl Roßmann hat von seinem
Schicksal weniger Chancen zugemessen bekommen.
3.
Um die Massen nicht
unkontrolliert ins Land strömen zu lassen, richtete man ab 1892 auf
Ellis Island rund 2 Kilometer vor der Spitze von Manhattan auf
einem 11 Hektar großen Areal eine gigantische Selektions- und
Kontrollfabrik ein. Der „Immigration Act“ verfügte, dass
Verbrechern, Kranken und Schwachen die Einreise verweigert wird. Im
Schnitt wurden 20 Prozent dieser Prozedur unterworfen. Sie werden
abgesondert, es folgt tagelanges Warten und die Verfrachtung auf ein
Schiff zurück nach Europa. Die Kosten müssen die Reedereien tragen,
die sie nach Amerika gebracht haben. Manche Familien werden
zerrissen, wenn die Mutter wegen eines kranken Kindes zurück fahren
muss und der Vater in den USA bleiben darf. Wegen dieser ständigen
Tragödien wird Ellis Island auch die Träneninsel genannt.
Galgen-Insel hieß dieser Flecken Land unter den Holländern, weil
hier Piraten aufgehängt wurden. Wie schön noch der Name, den ihr
die indianischen Ureinwohner gegeben hatten: Kiosqu – Möweninsel.
Die
Neue Welt zeigt sich zunächst abweisend. Wer durch die erste
Sortierung kommt, gerät in eine gigantische Maschinerie, in ein
militarisiertes System von Schleusen, Käfigen und Fließbändern.
Er muss in der 1800 m² großen und acht Meter hohen Registrierhalle
auf langen Bänken Platz nehmen und auf den Aufruf seines Namens
warten. Stundenlang, tagelang, immer in Angst, ihren Namen zu
verpassen oder eine Anweisung nicht zu verstehen. Sie wissen nicht,
wie lange sie in dieser Zwischenhölle bleiben müssen und was mit
ihnen geschehen würde. Die Halle ist in Schlangenlinien durch
Eisengitter getrennt und hat einen Galeriengang, von dem aus die
Medizinstudenten das Geschehen beobachten können.
Das System ist brutal und
effizient: Als erstes werden die Geschlechter getrennt, dann Fragen
nach Name, Herkunft, Beruf, Zielort, Unterschrift. Analphabeten
werden sofort beiseite geschafft. Als Intelligenztest – ein neuer
Zugriff der damals noch jungen Disziplin der Psychiatrie - muss der
Immigrant ein einfaches Puzzle aus Klötzen legen können und
allerhand obskure Fragen beantworten: “Wenn ein Junge seine Eltern
aufisst, was ist er dann?“ Nicht Kannibale, sondern Waise, ist die
richtige Antwort. Oder: „Wenn Sie zwei Pferde, drei Kühe und vier
Schafe hätten, wie viele Tiere hätten Sie?“ wird ein
osteuropäischer Bauer gefragt. Er kann zwar nicht zusammenzählen,
gibt aber eine logische Antwort: Wenn ich so reich wäre, hätte ich
nicht auswandern müssen. Der Bericht eines Psychologen bestätigt
den Russen, Italienern und Ungarn zu 80 Prozent „Schwachsinn“.
Wird eine ansteckende
Krankheit festgestellt, kommt er in eine Spezialklinik.
Tuberkulose, Diphtherie,
Keuchhusten und Masern sind am häufigsten. Manch einem Ankömmling
hat die Quarantäne aber auch das Leben gerettet, vor allem Kindern
und Jugendlichen.
Durch die Hände der
uniformierten Ärzte und Sanitäter gehen täglich bis zu
12
000 Menschen. Brutal und effizient. In der Kinderstation hängen
Schilder an den Wänden „Don`t kiss the patients!“, eine
Warnung, sollten die Krankenschwestern von Mitleid überwältigt
werden. Zur Zeit, als Karl Roßmann von Bord gehen wollte, kamen
jährlich ungefähr 500 000 Immigranten in New York an. In den 30
Jahren der Nutzung von Ellis Island trafen 12 Millionen Menschen
ein. Bis zur großen Krise Ende der 20-er Jahre konnte die
amerikanische Wirtschaft die fremden Arbeitskräfte leicht aufnehmen.
Im 2. Weltkrieg diente Ellis Island als Internierungslager für
enemy aliens, die Staatsbürger der Kriegsgegner.
1954 wurde Ellis Island
geschlossen und ist seit 1965 ein Museum. Die Auslese der Einwanderer
erfolgt seither an den US-Botschaften oder wird ihnen durch ein
Präsidenten-Dekret untersagt. Es gibt wahrscheinlich keine andere
Stadt der Welt, die so sehr von den Einwanderern geprägt ist wie New
York. Der Besuch von Ellis Island mit Hafenrundfahrt zur
Freiheitsstatue gehört zu den beliebtesten Touristenattraktionen am
Big Apple.
4.
Von all dem ahnten die
Passagiere der „Sibylle“ im April 1912 nichts. Karl Roßmann
glaubte bei seiner Ankunft noch, dass er direkt vom Pier von seinem
steinreichen Onkel Jakob abgeholt wird. Seine Eltern, die ihn als
Strafe für eine verwerfliche Tat allein weggeschickt hatten,
wussten nichts von dem unerbittlichen System auf Ellis Island. Vom
Nadelöhr der Quarantänestation hat keiner der Emigranten etwas
gehört und nichts von den undurchdringlichen Gesetzen ihres
Sehnsuchtslandes. Die damaligen Schlepper – die
Schifffahrtsgesellschaften – gaben aus Gründen der
Gewinnmaximierung keine Informationen weiter. Sie füllten ihre
Zwischendecks mit so vielen Passagieren, dass die Schiffe gerade
nicht untergingen.
Karl Roßmann ist jung und
übersteht die Todespassage ohne Schaden, wie er selbst dem Kapitän
versichert. Aber er trifft keinen Heizer, keine Köchinnen, keine
Kehrer, keinen verbrecherischen Kassier Schubal, keinen Franz
Butterbaum, keine Kassierer, keine Schiffsoffiziere, keinen Kapitän
und erst auch recht nicht seinen steinreichen Onkel Jakob, den
selbsternannten Senator Edward Jakob, der vom Jakob Bendelmayer zum
stolzen Amerikaner geworden war. Karl betritt keine von Kafkas
Treppen, keine Gänge, Küchen, Heizräume und Kapitänskajüten. Er
besteigt keinen Kahn mit Matrosen, die ihn im Auftrag des Kapitäns
zusammen mit dem Onkel ans Ufer rudern sollen. Er wird nie in
Jakobs Firma aufgenommen, nie im gigantischen Hotel occidental als
Liftboy dienen, auch nie die perverse Sängerin Brunelda
kennenlernen und in ihre Dienste treten, nie das „Große
Naturtheater von Oklahama“ sehen, nie ein berühmter Hundetrainer
werden und auch kein Engel mit Posaune. „Die Idylle von
Oklahama“, die Arthur Holitscher, in seinem Buch von der Neuen Welt
anführt und von der Kafka die falsche Schreibung von Oklahama
übernimmt, ist in Wirklichkeit eine Fotografie einer
Lynchjustizszene an einem Schwarzen, umringt von vergnügungssüchtigen
Weißen. Weil die Fahrt der „Sibylle“ am Pier von Ellis
Island endet, wird er nie seinen Fuß auf Manhattan setzen. Im
Labyrinth der Träneninsel verliert sich die Spur des Karl
Rossmann. Den Verschollenen können die Verwandten nach einer
bestimmten Frist für tot erklären lassen. Er hat von zu Hause ein
Mitbringsel im Gepäck, die Tuberkulose. Sein unaufhaltsamer Abstieg
von der Fallreep nach Ellis Island wird sein einziger bleiben, und
von Amerika hat er nicht mehr gesehen als das falsche Schwert der
Liberty.
Veronika Seyr
1.6.17
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