Freitag, 16. Juni 2017

Der Geiger vom Donskoj-Friedhof

Gewöhnlich ging der alte Mann gegen Mittag aus dem Haus. Unter dem Arm trug er einen alten, abgewetzten Geigenkasten. Gekleidet war er in diesem Herbst in eine Art von Uniform der sowjetischen Rentner. Eine Leninmütze auf dem Kopf, der schwere Tuchmantel mit den aufgesetzten Taschen schlotterte um seinen mageren Körper. Die Schuhe waren alt und abgetreten, aber sie glänzten.
Wenn am Nachmittag die großen Begräbniszüge kamen, stand er schon vor dem Haupttor des Donskoi-Friedhofs, etwas links von der Mitte, damit er niemanden behinderte.
Vier Stufen führen vom Sockel des Denkmals für Wassilji Puschkin hinauf, den Onkel des berühmten Alexander. Oben, zu seinen Füßen, lässt sich der Geiger nieder, öffnet den Geigenkasten und wendet sich dem Platz zu. Er ist eine unscheinbare Figur, aber in der Höhe gut sichtbar, er kann von weitem erkennen, wie prächtig oder arm eine Prozession sein würde, wie viel Volk, Geistliche, Blumen und eigene Musik sie mitbringen würde. Aber er ist nicht für sie da. Kaum hat er seine Geige ausgepackt und den Bogen angesetzt, bleiben schon Menschen stehen in Erwartung der Musik: Kinder, Liebespaare, Käufer am Blumen- und Tabakkiosk oder zur Metrostation Donskaja eilende Passanten. Alle lassen die Zeitungen sinken, verstummen und blicken zu ihm auf. Denn jede Musik tröstet und ist ein Versprechen auf ein besseres Leben. Im offenen Geigenkasten liegt immer ein Apfel und ein Stück Schwarzbrot, damit er, wenn er Hunger bekommt, etwas essen kann.
Sogar wenn nur ein einziger Zuhörer stehen bleibt und einsam lauscht, spielt er die Melodie zu Ende: Russische Weisen, Walzer von Tschaikowski, Tango aus Odessa. Wenn es ein milder Sommer-Nachmittag gewesen wäre, hätten die Zuhörer zu tanzen begonnen.

Er macht das freiwillig, nicht, um Geld zu verdienen. . Das braucht er nicht, er bekommt eine kleine staatliche Rente, von der er leben kann. Wenn er auf Gewinn oder Ruhm aus gewesen wäre, hätte er sich nicht hier, an einem abgelegenen Ort, aufgebaut, sondern im Zentrum, etwa beim großen Alexander-Puschkin-Denkmal auf der Gorki-Straße, wo ein ständiger Menschenstrom auf dem Twerskoj Bulvar hin- und herwallt.
Er ist etwas anderes, kein Bettler. Er spielt auch nicht, um Lob und Dank einzuheimsen. Er will den Menschen etwas Gutes tun, nur darum geht er bei jedem Wetter zum Donskoi- Kloster. Ob der Fiedler mehr als eine Art von Katzenmusik hervorbringt, kann niemand endgültig ausmachen und ist auch nicht wichtig. Er steht da, leicht vorgebeugt, mit einer sich selbst Beifall gebender Miene, die Lippen gespitzt und die Augen in die Ferne gerichtet. Er versucht, mit dem Klopfen des Fußes die Körperbewegungen und den Takt in Einklang zu bringen. Fruchtlos, denn die Klänge seiner Geige erheben sich kaum über den Straßenlärm, flattern in den düsteren Oktober-Himmel empor und senken sich wie leichte Nebelschwaden von oben herab. Meist sind die Töne arg zerrissen, selten setzt sich ein ganzer Klangbogen durch.

Trotz seiner augenscheinlichen Schäbigkeit waren Gestalt und Benehmen dazu geeignet, meinen anthropologischen Heißhunger zu reizen. Erst recht die unbesiegbare Heiterkeit bei gleichzeitigem tiefem Ernst. So viel Kunsteifer bei so viel Unbeholfenheit. Aber das Publikum nahm nicht die Lächerlichkeit in dieser Diskrepanz wahr oder verzieh sie ihm. Jeder, der ihm länger zuhörte, konnte feststellen, dass ihm die selbsterfundenen, improvisierten Melodien besser gelangen als die klassischen. Sie waren unverstellte Botschaften aus einer Menschenseele zu einer anderen, sie berührten die Herzen und beflügelten ihre verborgenen Hoffnungen. Die Russen haben für diese ungerichteten Sehnsüchte den Ausdruck „Streben nach dem höheren Leben“. Im sechsten Jahr meines Aufenthaltes hatte ich schon eine Ahnung, dass bei den Russen das Leben in mehreren Etagen angelegt war. Die Zuhörer holten sofort Geld hervor, Kopekenstücke, alle waren mehr oder weniger gleich arm, aber auch 5- und 10-Rubelscheine waren dabei.

Weil er oben auf der vierten Stufe stand, wussten die Leute nicht, wohin sie das Geld legen sollten. Manche versuchten, mit einem kühnen Wurf in den offenen Geigenkasten zu zielen. Andere ließen es einfach auf einer der Stufen liegen, zu Füßen des marmornen Puschkin-Onkels.

Seit das Donskoi-Kloster unter Gorbatschow wieder geöffnet war, wenn auch noch nicht renoviert, kamen vermehrt auch Spaziergänger auf den Friedhof, in einen verwunschenen Park, wo die Zeit stillzustehen schien, wie in einer Zeitkapsel, eine Fliege in einem Bernstein. Unter den Liebhabern des alten, tieferen Moskau immer noch ein Geheimtipp. Jeder kannte den nahen Gorki-Park mit seinen zahlreichen Vergnügungsattraktionen, über die sich das Riesenrad eines Karussels wölbte. Auch der avantgardistische Radioturm von Schukow gleich nebenan war ein unübersehbares Wahrzeichen am südlichen Rand der Moskauer Innenstadt.
Das noch nicht ganz neue Russland im letzten Jahr Gorbatschows hat das Kloster der orthodoxen Kirche zurückgegeben, 73 Jahre nachdem die Bolschewiki Kirchen, Kloster und Friedhof zum Teil zerstört und dann geschlossen hatten. Pferdeställe, Lagerhallen und Jugendklubs, die übliche Bolschewisten-Rache. Es lag verborgen hinter einer 5 Meter hohen, rot-weißen Ziegelmauer in einem schon 73 Jahre andauernden Dornröschenschlaf. Gebaut wurde es 1591 als eine Wehranlage mit zwölf gigantischen Rundtürmen, obwohl gerade im Gründungsjahr die letzte große Gefahr, der Ansturm der Krimtataren, unter Zar Fjodor siegreich und fast opferlos abgewehrt werden konnte. Wie die Legende sagt, mit Hilfe der schwarzen Marien-Ikone von Kazan, so wie schon die Goldene Horde im Jahr 1367.

Ich kannte das Donskoi wahrscheinlich als einer der wenigen Menschen gut, zumindest aus der Vogelperspektive. Vom Balkon meiner Wohnung im 7. Stock in der Donskaja ulica hatte ich einen direkten Blick in den Friedhof und auf das Kloster. Bald hatte ich einen Mann ausgeforscht, der als Wächter ab und zu auf das Gelände kam. Für ein paar Rubelscheine ließ er mich ins Innere; es war zu sehen, dass er dem Wodka nicht abgeneigt war.
Die Große und die Kleine Kathedrale waren in einem erbärmlichen Zustand. Viele Mauerstücke lagen wüst vermengt mit neuzeitlichem Unrat am Boden, selbst schon wieder bedeckt von der verschlingenden Patina des Efeus, der Farne und des Hollunders. Auch die strenge russische Witterung hat das Ihre zum Zerstörungswerk beigetragen.
Seit der Revolution war nichts renoviert, vielmehr vieles zerstört, gestohlen oder anderweitig verwendet worden.
Teile der 1931 der von Stalin gesprengten Christus-Erlöser-Kirche lagen grotesk verstreut im Schmutz. Wie viele kirchliche Gebäude hat man das Donskoi zweckentfremdet, entweiht und dem Verfall preisgegeben. Grabdenkmäler und Steine waren umgestürzt, manche Figuren geköpft oder anderweitig verletzt, mit abgeschlagenen Armen und Nasen, mit ausgestochenen Augen und zerkratzten Inschriften. Dabei lasen sich die Namen auf den Grabsteinen, sofern man sie noch lesen konnte, wie das Moskauer Who is Who des 18. und 19. Jahrhunderts, fast so viele ehr- und gedenkwürdige wie auf dem größeren und berühmteren Friedhof des Neujungfrauen- Klosters. Der erste Dichter in russischer Sprache Sumarokow war hier begraben.
Auch der erste russische Philosoph Pjotr Tschaadajew fand hier die letzte Ruhe vor den Verfolgungen des Zaren, Sollogub, ein Schriftsteller, Schukowski, ein Mathematiker und Luftfahrtpionier, der Städtemaler Perow.
Der letzte Klosterbewohner war Patriarch Tichon gewesen, ein erklärter Gegner der Revolution, den die Bolschewiken hier bis zu seinem Tod 1925 eingesperrt hielten. Die 28 Mönche hat man umgebracht oder vertrieben.

Wenn die großen Begräbnisse vorüber waren, packte der alte Geiger seine Sachen zusammen. Mit sachten Bewegungen wickelte er die Geige in ein schwarzes Tuch, verstaute den Bogen in einem Sack und setzte sich zu Füßen des Onkel Wassili nieder. Er blickte um sich und verzehrte seine Jause. Die Kopekenstücke und Rubelscheine sammelte er fast achtlos, ohne sie zu zählen auf und steckte sie in die Manteltasche. Ich kann mir vorstellen, dass er sie verschenkte oder dafür Vogelfutter kaufte. Dann verließ er seinen Posten auf den Stufen und stapfte tiefer in den Friedhof hinein.

Lange verstand ich nicht, was der Alte dort suchte.
Er beachtete keine der Kirchen und Kapellen, nicht das Refektorium, keines der Mausoleen, keine der Werkstätten, auch die erste Moskauer Urnenmauer interessierte ihn nicht. Er schlenderte nur, ohne dass ich ein Muster erkennen konnte, wenn ich ihm von Grabstein zu Grabstein, von Baum zu Baum, nachschlich, über die Wege zwischen den Grabsteinen, in unerforschlichen Schlingen. Aber sicher wie ein Schamane auf seinen Traumpfaden. Er interessierte sich offensichtlich nicht für die Architektur, nicht für die halb lesbaren Grabinschriften und die verworrene Natur. Suchte er einen bestimmten Ort, jemand bestimmten? Wollte er sich an etwas oder jemanden erinnern, das und den es nicht mehr gab? Wartete er auf jemanden?

Ich hatte nicht so viel Zeit, ihn öfter und näher zu beobachten, wie ich es gewünscht hätte. Meine Arbeit beanspruchte mich sehr, und ich war oft auf Reisen. Es war für eine Journalistin eine sehr bewegte Zeit, dieses Wendejahr 1990/91.
Eines Tages im späten Oktober setzte das erste große Schneegestöber ein. Ich sah auf meinem Weg vom Büro in die Mittagspause, dass das Haupttor zum Donskoi offenstand. Schnell stellte ich das Auto ab und lief über den Vorplatz auf das Kloster zu.
Der alte Geiger stand wie immer auf der obersten Stufe des Puschkin-Onkels und spielte das letzte, das 24. Lied der “Winterreise“ von Schubert, das traurige Lied vom Leiermann. Die Worte hatte ich im Kopf flogen mir unhörbar zur Melodie zu:

Drüben hinterm Dorfe
steht ein Leiermann
Und mit starren Fingern
dreht er, was er kann.
Es klang etwas kratzig, manche Töne waren schief,
Dur und Moll ware nicht klar geschieden, die Übergänge unscharf, wahrscheinlich waren auch seine Finger schon starr. Der Schneewind pfiff und heulte dazu wie ein archaisches Orchester.
Er hatte jetzt keine Zuhörer; er spielte für sich und vielleicht für die verfrorenen Spatzen. Sie umflatterten ihn zerzaust und hofften auf ein paar Krumen von seinem Schwarzbrot. Ein besonders fürwitziger Spatz sprang in den Geigenkasten und suchte im Schnee selbst nach Brosamen. war schon halb zugeweht.
Als er die letzten Noten beendet hatte, packte er sich schnell zusammen und verschwand im Inneren des Friedhofs. Ich schlich ihm nach, wohl wissend, dass ich nicht mehr zu meinem Mittagessen kommen würde. Weit hinten an der Mauer entdeckte ich den Geiger an einem frischen Grab. Die Grube stand offen, und vor dem Grab stand einsam ein Pope, der Gebete in den langen Bart murmelte, eine violette Stola umgelegt hatte, das Weihrauchfass schwang und aus einer Metallschüssel mit einem Besen freigiebig Weihwasser über die Grube verspritzte. Da verstand ich das Wort „Einsegnung“ zum ersten Mal.
Und auch die Aufgabe, die sich der alte Geiger gestellt hatte: Es sollte kein Mensch ohne Begleitung von dieser Erde gehen müssen. Der Pope war nur ein offizieller Abgesandter, der seinen beruflichen Dienst versah, so wie es die Religion verlangte. Aber ein einsamer Mensch, der allein gestorben war und niemanden hatte, der ihn auf seinem letzten Weg begleitete – der sollte zumindest mit seinem Geigenspiel begleitet werden.
Mehr konnte er nicht tun.
Der alte Mann hatte sich seinen eigenen Dienst ausgewählt und vorgeschrieben. Nicht für Geld, für Ruhm oder Ansehen machte er das, auch nicht zu seinem eigenen Vergnügen. Denn da hätte er auch zu Hause bleiben und in seinem warmen Wohnzimmer spielen können.
Wir müssen den Abschied üben“, sagt Anna Achmatowa in einem Gedicht. Da erst schoss mir die Erkenntnis ein - er machte das in Voraussicht seines eigenen einsamen Todes. Wer würde ihn begleiten, wenn es so weit war? Wie oft würde er spielen müssen, bis er sich seine eigene Auferstehung erspielt hatte? Nach orthodoxem Glauben soll ein Verstorbener einen Begleiter haben, der ihn am Jüngsten Tag aus der Hölle herausführt, um erlöst zu werden.
Endlich verstand ich: Ich hatte die privaten Todes-Vorbereitungen des alten Geigers beobachtet. Das beschämte und berührte mich so sehr, dass es mich in Herz und Hals würgte. Auf dem zerschlagenen Grabstein hockend, verfluchte ich alle grausamen Religionen mit ihren halben Hilfen.

Nach diesem Winter sah ich den alten Mann nie wieder. Zu Ostern wurden die Glocken der Großen Kathedrale am Donskoj-Friedhof neu geweiht und aufgehängt. Als ich sie zum ersten Mal von meiner Wohnung aus läuten hörte, brach so ein Sturm los, dass ich dachte, das Jüngste Gericht sei über die Welt gekommen. Ich hoffe, sie haben auch den alten Geiger erreicht und erlöst.


Veronika Seyr
Christtag, 25.12.16

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