Das habe ich nun davon. Nach
einem geruhsamen Leseabend. Einmal bin ich ausnahmsweise früh ins
Bett gegangen und so um zwölf eingeschlafen. Tatsächlich einfach
eingeschlafen, ganz natürlich, ohne irgendetwas wie Tees oder
Baldriparan. Sonst lese ich meistens, bis mir das Buch von den
Knien und die Brille von der Nase rutscht, oder ich sehe fern, bis
ich vor Erschöpfung nur noch auf allen Vieren ins Schlafzimmer
krabbeln kann.
Und
dann das. Der fluoreszierende Wecker zeigt genau vier Uhr
neunzehn. Was soll das? Wofür werde ich bestraft? Dass ich einmal
nichts getrunken habe? Sieht so die Belohnung guter Vorsätze aus,
dass ich hier lebendig begraben in der Dunkelheit liege. Im Sarg, das
ist gar nicht nett, gar nicht berauschend.
Es
war Jänner und noch stockdunkel, aber ich war hellwach wie der
lichte Tag. Bei der ersten Körperregung sprang meine Katze mit
Schwung aus zwei Metern Entfernung auf meinen Berg von Kopfpolstern
und forderte laut schnurrend ihr Frühstück. Ich versuchte zuerst,
nicht zu reagieren, aber man kann keine alt eingessene, vielleicht
keine einzige Katze, überlisten, wenn sie meint, es sei ihr gutes
Recht, hungrig zu sein. Nein, kann man nicht. Sie weiß, sieht oder
riecht alles. Beobachtet sie die ganze Nacht die Falten meiner
Bettdecke und die Bewegungen meiner Körperteile? Was macht eine
Katze sonst in der Nacht, wenn sie ohnedies fast den ganzen Tag
schläft? Ich hasste sie in diesem Moment und schleuderte sie mit den
Beinen in hohem Bogen weg. Sie war unbeeindruckt von meiner
Gefühlsaufwallung, war diese doch nur ein Beweis meiner Wachheit,
und legte sich, das Köpfchen mit weit ausladenden weißen
Schnurrbarthaaren und Pfötchen an Pfötchen geschmiegt,
seelenruhig neben mich und schaute mich mit ihren wagengroßen,
phosphorisierend bernsteingelben Augen so durchdringend an, dass ich
ihren Blick noch unter geschlossenen Lider spürte.
Die
Unschuld in Person. Ein schwarzes Loch mit Schwanz und weißen
Pfoten. Sie konnte den Röntgenblick. Ich sollte sie Medizinern,
Kriminalisten und Personalchefs als Personalizerin anbieten. Nichts
passiert. Ich verweigerte das Füttern und das Lesen und knipste
die Lampe nicht an. Hatte mich doch ausgerechnet das frühe
Abbrechen der Lektüre in diese verdammte Lage gebracht, in die
Büchergruft.
Lesen
als Brauch tut das Bett nicht auf.
Vor
zwölf im Bett macht meschugge und fett.
Wer
mit den Hühnern ins Bett geht, sich besser gleich im Grab umdreht.
Ich
hatte eindeutig keine Affinität mit Hühnern, musste ja auch nicht
jeden Morgen ein Ei legen.
Ich
war wie so oft mit einem Albtraum aufgewacht. Das Herz raste und
hämmerte von der Kehle bis in die Ohren, der Pyjama war im
Nacken feucht. Der ganze Körper zuckte noch von den vergeblichen
Abwehrhaltungen, sich herausdrehen, nach oben wie ein Korken, ein
Messer an der Kehle, eine Hand im Schritt. Mehrere an den Brüsten.
Schlechte Zähne um mich oder gar keine, fauliger Atem aus Fratzen.
Warum sind alle jung. Ich atme kaum mehr, ersticke, bin verloren, so
klar wie kaum einmal. Diesmal wirklich. Es passiert.
Dann
ist es vier Uhr fünfundzwanzig.
Mir
war schlecht, ich kotzte und bekam Durchfall. Aufschreiben, den
Film, diesmal waren es gleich mehrere. Ich trippelte ein paar Runden
mit kleinen Schritten durch die Zimmer, die Hände am Solarplexus,
bis das Herz an seinem angestammten Platz war und ich wieder
schlucken konnte. Ein Glas Wasser, nocheinsundnocheins, über das
Becken gebeugt, kaltes Wasser in den Nacken und auf die Brust.
Schweres Atmen zuerst, dann leichterundleichter, die Hände auf dem
Bauch ausgebreitet wie Sonnenblumen, Sternschnuppen, Sternspritzer.
Der
Alb-Inhalt tut in diesem Falle nichts zur Sache, hat nichts mit
meiner vor-mitternächtlichen Lektüre zu tun, sie ist unschuldig,
Dorothy Parker mit den New Yorker Geschichten. Mein Traum spielte
in Moskau, in der Gegenwart. Als ich mich in meine Potatoe-Couch
stürzte und den Fernseher einschaltete, zeigte er vier Uhr
siebenunddreißig. Ein uralter Kitzbühl-Krimi aus dem kriminellsten
Dorf Österreichs, wahrscheinlich schon dreimal gesehen.
Alternativen waren eine noch ältere Folge von Rex, der Ur-Rex mit
dem Ur-Moretti, beide auf deutschen Kanälen mit Untertiteln. Als ich
anfing, in Moskau mit meiner jugoslawischen Schäferhündin Laika
spazieren zu gehen, hörte ich von allen Seiten ein Gemurmel, das ich
nicht verstand. Rxrxrx, mal freundlich fragend, mal knurrend. Ich
lebte damals schon durchgehend 15 Jahre im Ausland und kannte die
österreichische Fernsehlandschaft so wenig wie die von Ulan-Bator.
Und dann das Wetter-Alpenpanorama von gestern mit der tödlichen
Dumm-Dumm-Musik, dem Dauerlandler. Leider gibt es diese wunderbaren
Serien der schönsten Eisenbahnstrecken nicht mehr, mit denen ich
schon, im Führerstand und kommentarlos, durch die phantastischsten
indischen Schluchten gefahren bin, durch die trockensten Wüsten der
Welt und die höchsten Berge der Alpen. Ich fand das eine viel
bessere Einschlafhilfe als das künstliche Kaminfeuer oder die
Autofahrten durch öde deutsche Vorstädte.
Die
Eisenbahnfahrten sparten viele Einschlaf- Pillen, Schlaftees und
andere unwirksame Hausmittel. Bei warmer Milch mit Honig habe ich
mich schon als Kind übergeben müssen. Mein russischer Freund
empfahl immer das alte Hausmittel Wodka mit Knoblauch und Pfeffer,
ich konnte mich aber damit nicht anfreunden. Ich schlief zwar
wirklich schnell ein, bekam aber davon nichts mit und fühlte mich am
nächsten Tag wie ein im Winterschlaf aufgeweckter Bär.
Nach einem kurzen Gastspiel
bei Rex und Soko-Kitzbühel kroch ich reumütig in meine dunkle
Schlafhöhle zurück und musterte im Geiste die Stapel der Bücher
auf meinem Nachtkästchen. Auf mehr Dorothy Parker hatte ich keine
Lust, auf die russischen und polnischen Phantasten noch weniger, war
mir doch mein eigener Kopffilm noch viel zu nahe, der stand der
bösen Wirklichkeit sehr viel näher als alle Strugatzkis, Sorokins
und Lems zusammen. Ich war am Wühlen und Wälzen zwischen meinen
Polstern, Daunen- und Kaschmirdecken. Feine Bettwäsche wurde mir
immer wichtiger, sofern die Außenwelt immer unwichtiger wurde. Das
schöne Insel-Bändchen mit jüdischen Weisheiten - in jiddisch und
deutsch- konnte mich um vier Uhr dreiunddreißig nicht befeuern.
Jeden Tag fünf Worte, nicht einmal das ging sich aus. Alle
hundertmal gelesen, über und über angestrichen, Bemerkungen,
Spuren der Versuche, das Jiddische zu erlernen. Ich habe einfach kein
Talent dafür, vielleicht auch nicht genügend Respekt, um es wie
jede andere Sprache zu erlernen. Ich werde noch einmal an meiner
Wachheit eingehen. Das wird einmal die originellste Todesursache
sein, wenn sie denn festgestellt werden kann. Noch eine Kanne
Gute-Nacht-Sleep-Well-Einschlaf-Tee. Als ich das blass-blaue
Baldrian-Salbei-Gemisch schlürfte, spürte ich einen hasserfüllten
Neid aufkommen auf den Rest Welt, der im Tiefschlaf lag. Und auf die
Freunde, die sich jetzt gerade nach einer lustigen Nacht nach Hause
begaben, sich schlaf-trunken auf die Taxis verteilten, in ihre
Wohnungen torkelten und sich bis Mittag in sanftem Schlummer von der
Welt absonderten. Die Leute dürfen nicht das Gefühl haben, sie
müssten ihre zerstörerischen Angewohnheiten ändern und sich nach
mir richten. Überhaupt nicht, neinneinnein. Ich bin out.
Der
Sturm und Anouilhs Antigone liegen da so wie ein gelbes
Reclam-Heftchen mit der von Sophokles – nicht gerade eine
klassische Gute-Nacht-Lektüre. Aber wegen Grete Weills Buch
Schwester Antigone bin ich an Antigone dran. Schon länger, ohne
gutes Ergebnis. Kombination mit Penelope Livelys Moon Tiger.
Klauklauklau. Aber Shakespeare war auch nur eine große Wurstfabrik.
Auf die Mischung kommt es an.
Wie
klein und dünn und abgegriffen diese Theater-Bändchen immer sind.
Ich könnte sie im Finstern sicher ertasten. Das waren sie auch
schon in der Schultasche, ob Räuber oder Faust.
A
- Anouilh, Antigone – das Alphabet, das wäre ein
Ordnungsprinzip. Baudelairs Les Fleures du Mal sind auch kein
freundliches Ordnungsprinzip für schlaflose vier Uhr zweiundvierzig,
die liegen immer da und verstauben.
Schon
gar nicht Rimbaud und Verlaine, weit hinten im Alphabet. Mir wäre
es angenehm, wenn sie mit ihrem ewigen einander Hinterhersein mich
nicht belästigen würden. Ich kann ihnen da auch nicht helfen.
Überhaupt Männer, überhaupt in meinem Alter. Obwohl angesichts der
Schönheit ihrer Verse beides keine Rolle spielt. Ob sie in
französischen Schulen noch gelesen werden? Ich bin nicht die
Buchhalterin des französischen Schulsystems. Sollen sie doch
selbst sehen, ob sie nur noch verrückt sind nach Mathe-Informatik.
Camus,
Delacroix, Dostojewski, EEE? keiner, ah, Ebner-Eschenbach, kenne
ich zu gut und zu lang, wenn sie auch, endlich, andere entdecken,
Bozena, das Gemeindekind, Krambabuli, Er lässt die Hand küssen,
darüber habe ich schon in meiner Kindheit geweint und die Autorin
geliebt. Flaubert, Hugo, La Rochefoucauld, was geht mich dieser
alte Zyniker an, ich weiß nicht einmal seinen Vornamen und kann
kein einziges Wort zitieren. Das einzige, was ich von ihm kenne, ist
der Spruch von der kleinen Freude, die wir immer verspüren
angesichts der Missgeschicke auch unserer liebsten Freunde.
Mein
Freund Carlo M., 1,95 groß, schlug sich einmal auf der Fähre von
Lipari nach Messina den Kopf an, als er eine Leiter hinunter stieg.
Die Treppen des italienischen Schiffes waren nicht bemessen nach
Menschen von dieser Länge. Carlo taumelte auf eine so komische Art,
knickte in all seinen langen Körperteilen langsam ein wie ein
Kartenhaus aus Zahnstochern, dass ich, die Kurzgewachsene, unten
einen unwiderstehlichen Lachanfall bekam, von dem sich unsere Liebe
nicht mehr erholte. Er hatte nur eine kleine Schramme auf der Stirn,
ließ sich aber das nächste Monat auf Sizilien pflegen wie ein
schwerkrankes Kind. In Trapani ergriff ich letztendlich die Flucht.
Ich konnte ihm das La Rochefoucauld-Prinzip nicht erklären, weil ich
es damals selbst noch nicht kannte.
A
propos, liebste Freunde, jaja, die liegen jetzt irgendwo im
Vollrausch herum, während ich bei aller Nüchternheit in der
Dunkelheit eingehe. La Fontaine. Ich erinnere mich an eine
Buchhändler-Gehilfin in meiner Jugend, die ich nach Fontane fragte.
Wir sollten ein Reclam-Bändchen kaufen, um Effie Briest zu lesen,
vom Deutsch-Lehrer aufgetragen. Meine Eltern hatten natürlich, wie
alles an Klassik, eine Theodor-Fontane-Gesamtausgabe in der
Bibliothek, aber in einer grindigen Gesamtausgabe der Gilde
Gutenberg aus dem Jahre 1937. Aus einer Zeit, als sie unter dem
schrecklichen Professor Nadler deutsche Volksstämme-Literatur
vorgesetzt bekamen. Die Verkäuferin verschwand nach hinten ins
Lager und kam nach langer Zeit achselzuckend zurück: „Tut ma
leid, Tane hamma kaan.“
Die
Buchstaben, Bücher und Titel ziehen vorüber bis zu Tolstoi und
Zola, ohne mich anzumachen. Allerdings, die Neuübersetzung seiner
„Auferstehung“ soll gut sein, wenn auch leider nicht mehr von
Swetlana Geier.
Auf
Dorothy Parker, die ich sehr mag, hatte ich keine Lust, auch nicht
auf ihre ebenso geniale Freundin Carson McCullers, nicht in dieser
Nacht. Ich litt auch schon ohne sie an galoppierender Melancholie.
Vielleicht ist das ja auch meine Stunde Null. Drehen und Wenden in
den Decken und Kissen.
Was
schickt mich zurück in den Schlaf?
Das Aufzählen der offenen
Rechnungen, alle meine manischen Tagebücher, drei Spalten der
to-do-Listen, to call, to buy, to write, das Wirtschaftsjournal, der
Kalender, die Steuererklärung – jetzt gerade alles keine gute
Idee. Allein die Überschriften erhöhen den Blutdruck und rauben
die letzte Chance auf Schlaf. Die guten und schlechten
Freundschaften – das meistens ist nicht leicht zu unterscheiden,
jetzt schon gar nicht. Freund-Feind, eine sehr flüssige Frage.
Was ich wirklich mag,
allerdings ohne eine Wirkung zu spüren, weil ich kein Lotto spiele,
ist das Ausdenken von Lottozahlen. Das birgt gar kein Risiko, weil ja
nichts von mir abhängt. Es führt mich zwar in keinen Schlaf, ist
aber eine angenehme Hirntätigkeit, positiv, beflügelnd, vorwärts
gerichtet: Was werde ich mit dem Millionengewinn machen?
Immer an erster Stelle, meiner
Tochter eine große Wohnung kaufen oder ein Haus, wenn sie das will.
Wen beschenke ich, wie viel behalte ich für mich? Werde ich verrückt
oder bleibe ich normal?
Ein zweites Hirnspiel mag ich
auch sehr gerne: An die schönsten oder lustigsten Ortsnamen zu
denken. Die Traumdestinationen nach Klang. Schon als Kind habe ich
das gespielt. Astrachan, Aschchabad, Aralsee, Ararat, Archangelsk,
Alma-Ata, Taganrog, Trapezunt, Samsun, Samarkand, Popokatepettl,
Taklamakan, Samara, Agrigent, Feodosija, Orenburg, Tschernobyl,
Fukushima, Kilimandscharo, Fujiyama, Kysil-Kum, Amu-Darja,
Hokkaido, Isfahan, Taj Mahal, Sewastopol, Murmansk, Wladiwostok,
Sachalin, Kamtschatka, Marrakesch – alles nach Städten, Flüssen,
Seen, Bergen, Wüsten und Vulkanen ordnen oder einfach nur
alphabetisch. Wenn ich das hinter mir habe, kommen die Kategorien, wo
ich schon war und wohin ich noch fahren möchte. Lustige Ortsnamen
wie Damüls, Nest, Fucking, Mösing, Ameising, Gugging, Obergraus,
Unterstinkenbrunn, Alt- und Neuschmecks. Noch eine andere Kategorie
eignet sich: Komische Familiennamen: Buxtehude, Humperdink,
Aiwasowski, Schoiswohl, Powischer, die rechte Partei PIS in Polen und
die faschistische Schas-Partei in Israel. Das ist neutral oder
macht zumindest lächeln, bringt keine schlechten Gedanken, keine
Angst oder Traurigkeit hervor, wenn man in der Dunkelheit liegt und
in den Ecken die Dämonen lauern. Wenn ich gut drauf bin, spüre ich
die Synapsen flappsen.
Meine
Eltern pflegten es selbst untereinander, vor uns und gaben es an uns
weiter: Das Auswendiglernen und Aufsagen von Gedichten: Schläft ein
Lied in allen Dingen… findest du das Zauberwort. Das Zauberwort.
Die Sprachgläubigkeit meiner Bibel-Eltern. Am Anfang war das Wort
und das Wort war bei Gott. Johannes 1. Oder? Nächsten Morgen
nachschauen. Gelassen stieg die Nacht ans Land. Wie schaurig ists
übers Moor zu gehen wenn. Hat der alte Hexenmeister sich doch
einmal. Walle, walle manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe
und im Schwalle sich ergieße. Sein Blick ist vom Vorübergehen der
Stäbe so müd geworden dass er nichts mehr hält. Fest gemauert in
der Erden steht die Form aus Lehm gebrannt. Zum Kampf der Wagen und
Gesänge. Komm auf mein Schloss mein Leben. Dies Bildnis ist
bezaubernd schön. Ach ich habe sie verloren. In Fried und Freud ich
fahr dahin. Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm.
Der Donner rollt. Ich sei gewährt mir die Bitte in eurem Bunde der
Dritte.
Lässt
sich übrigens auch vorzüglich anwenden, wenn man auf die
Straßenbahn wartet, besser als die berühmte Zigarette, oder eine
Nadel in den Arm gerammt bekommt. Meine Mutter legte noch mit 84
Jahren Schwüre darauf ab, wie wirksam es ist, dass sie sich
Balladen und Rilke- und Mörike-Gedichte aufsagte, um ihr ohnedies
gutes Gedächtnis zu schärfen. Sie las täglich fünf Tageszeitungen
und rief ihre sieben Kinder mehrmals täglich an, um ihnen immer das
Gleiche zu erzählen. Manchmal, wenn sie etwas sehr interessierte
oder aufregte, lernte sie ganze Artikel auswendig, um sie am Telefon
rundum wiederzugeben. Bei Fernsehsendungen schrieb sie mit, um sich
am Telefon über tausende Kilometer darüber ärgern, was die Roten
schon wieder alles verbrochen haben. Sie war eine leidenschaftliche
Anti-Kommunistin, und schon noch so rosaroteste Sozialdemokraten
konnten sie in Wallung bringen. Ihr Ärgern war ihr Lebenselixier,
es hielt sie jung und hirnflüssig. Eine andere, von den Eltern
eingeübte Methode waren die Liedanfänge, manche noch bis zur
zweiten Strophe oder dem Refrain. Sah ein Knab ein Röslein stehn.
Ei Veilchen liebes Veilchen. Es liegt ein Schloss in Österreich. Es
saß ein klein Wildvögelein. Auf auf zum fröhlichen Jagen. Die
Anfänge von Kinderbüchern.
Dann
kamen die Kirchenlieder dran und vielleicht noch Zungenbrecher oder
Limericks. Tochter Zion freue dich. Maria durch ein Dornwald ging.
Oh Haupt voll Blut und Wunden. Großer Gott wir loben dich. Eine
feste Burg ist unser Gott. Fischersfritze. Wir Wiener Wäschermädel
und der Friseur vom Schottentor.
Es
wird schon im Vor-Schlummer gewesen sein, als mir die uralte, aber
unsinnige Methode des Schäfchenzählens in den Sinn kommt. Ich hab
mein Lebtag Schafe gehasst, außer auf dem Teller. Was sollen,
wollen sie bei mir, in meinem Zimmer? Das Dümmste, was uns je in
der Kindheit eingeredet wurde. Eine Herde immer wieder von eins bis
hundert. Das grenzt an eine Folter, wenn eines in meinem Zimmer
steht, eins bis hundert und immer wieder von vorne. Sie stinken,
blöken, schnüffeln und scharren auf dem Bettvorleger. Ich zähle
sie ja nur im Kopf, aber wenn eines in meinem Zimmer steht, bin ich
wieder hellwach und denke, dass ich bis zur nächsten Schur im Juli
nicht mehr einschlafen kann. Wie sie riechen von ihren kleinen
Köpfen und vom Fell her, erinnern sie mich an die feuchten,
kratzigen Schafwollpullover unter dem nassen Wetterfleck, wenn wir im
Salzburger Schnürlregen auf den Postbus von St. Gilgen nach Mondsee
warten, sind sie sicher keine Schlafbringer. Aber eines muss ich
zugeben, die Schafe, die mich besuchen, sind durch die britische
Erziehung gegangen, sie treten mir nie zu nahe, sprechen nicht zu
laut und verhalten sich untereinander so dezent wie englische
Parlamentarier vor dem Brexit. Wenn ich je alle die ungezählten
Schafe der Welt aufrufen würde, wäre ich die reichste
Schafzüchterin von England, Schottland, Australien, Neuseeland
zusammen. Die höchste Dichte haben allerdings die Färöer, dort
kommen auf die 50 000 Einwohner 80 000 Schafe. Die Statistik von
Patagonien kenne ich nicht.
Aber
vielleicht habe ich noch nie die richtigen Nacht-Schafe aufgerufen
und gezählt. Ich muss mein bisheriges Wissen über Schafe
vergessen, sie neu verstehen lernen und von vorne zu zählen
beginnen. Aber warum ist noch nie jemand draufgekommen, Schweinchen,
Ziegen oder Murmeltiere zu zählen, in Australien vielleicht
Kanguruhs, Tasmanische Teufel, Possums und Wombats, in Afrika
Gazellen und Löwen, in Lateinamerika Lamas und Krokodile, in den USA
Bären und Büffel?
Damit
komme ich auf mein Lieblingstraumtal in den Colorado-Rockys, wo die
Büffel dichter stehen als die Bäume. Der wilde Fluss rauscht,
darüber segelt lautlos ein Seeadler, und in den Wäldern halten
sich die Grizzleys für den Fischfang bereit. Dort kann ich
verweilen und mich erholen.
Vielleicht
wollen sie ja mit allen diesen Namen von A - Z gefüttert werden.
Nur dann sind sie hilfreich und gut.
Gutgutgut.
Ich werde jetzt das Licht anschalten und mich dumm und dämlich
lesen, bis es zum nächsten Mal Punkt vier Uhr neunzehn schlägt.
Vielleicht sogar den alten Zyniker La Rochefoucauld aufschlagen.
Irgendwo muss es ein noch Reclam-Hefterl geben.
Veronika
Seyr
10.1.17
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