Freitag, 16. Juni 2017

Die Kinder vom Sonnberg

Die Auskunftsperson ist der Wirt der Redlingerhütte, der liebenswürdige und redefreudige Johann Steiner, der seit 38 Jahren dieses Gasthaus bewirtschaftet- wahrscheinlich ist es der schönste Platz im Wienerwald. Charlotte und ich waren auf einer Expedition, um Wege, Distanzen, Zeiten und Rastmöglichkeiten für die 2. Kafka-Wanderung am 11. September 2016 zu erkunden.
Wir bekommen eine Lektion Heimatgeschichte. Die Redlingerhütte geht auf eine Arbeitersiedlung der 1780-er Jahre zurück, auf Joseph II. Der Reformator und Praktiker unter den Monarchen holte Wald- und Steinarbeiter, vor allem Böhmen und Tschechen für die Sandsteinbrüche in der Umgebung. Sie stellten Schleifsteine her, die besten in der ganzen Monarchie und exportiert bis nach England. Später kamen die „Gastarbeiter“ für die Westbahn dazu. Ende des 19. Jahrhunderts verwandelten sich die Arbeiterbaracken in einen Wienerwald-Einkehrgasthof, wie sie damals in den Außenbezirken und und rund um Wien aus dem Boden sprossen.

Besonders gefällt uns die Vorstellung, dass, wäre Kafka früher als 1924 in Kierling angekommen, es diesen Ort schon gegeben hatte und der unermüdliche Wanderer sicher auf diese idyllische Waldlichtung gestoßen wäre. Sicher hätte er die halbe Stunde vom Sanatorium auf der Kierlinger Hauptstraße 187 bis zur Redlingerhütte nicht mehr zu Fuß gehen können. Aber vielleicht hat er in dem von Dora gemieteten Einspänner den Maibach entlang führenden Weg genommen, wäre in Gugging nach rechts abgeborgen und ins Marbachtal hinaufgefahren. Wir stellen uns diesen prächtigen Frühlingstag vor, Dora und Franz in die Polster der Kutsche bequem zurückgelehnt. Wahrscheinlich hätte ihn diese Wienerwaldgegend an die Hügel rund um Prag erinnert und die Redlingerhütte an einen der Gastgärten dort, in denen er gern saß und sich mit Freunden traf. Den Schweinsbraten mit Kraut und Knödeln, für den die Redlinger Hütte heute berühmt ist, hätte der frühe Veganer auch bei bester Gesundheit nicht bestellt, aber vielleicht eine Linzertorte, die er trotz seiner strengen Reformkost immer gern mochte.
Ob er vielleicht ein Kafka-Menü auf die Speisekarte setzen soll, fragt der offensichtlich kafkakundige und einfühlsame Wirt mit einem Augenzwinkern. Gebratene Käfer mit Äpfeln? Charlotte lacht aus vollem Hals, als sie sich dieses „Gesundheitsmenü“ vorstellt: Rohkost, Früchte, Nüsse, Honig, ein Krug Milch, Wasser und dann das gebratene Ungeziefer, gespickt mit Äpfeln! Wir bestellen als eine der Nachspeisen Linzertorten für unseren nächsten Kafka-Spaziergang am 11. September. Bei Radler, Gepritztem und Grammelschmalzbrot mit reichlich Zwiebel und anhand einer Wanderkarte für die Kierlinger Umgebung erklärt uns der Wirt die verschiedenen Wege von hier weg in alle Richtungen und auch die Abstiege ins Kierlingbachtal. Der längere Weg führt in einem großen Bogen um den Marbach zum Sonnberg, der mit 420 m höchsten Erhebung in der Umgebung. In einer Senke unter dem Nordhang befand sich einmal ein Steinbruch für den Abbau von Sandstein, Nur noch wenige, fast unsichtbare Steinhänge sind geblieben, dicht überwachsen von Bäumen und Unterholz, von undurchdringlichen Brombeerhecken, Klettensträuchern und mannshohen Brennnesselwäldern. Noch tiefer in der Senke stand einmal eine Burg, von der nicht einmal der Name bekannt ist und auch nicht die geringsten Spuren übrig geblieben sind, erzählt uns der Wirt. Nur eine Legende ist überliefert: Die Burg ist durch ein schreckliches Feuer zerstört worden. Und wer dort - natürlich nur um eine mondhelle Mitternacht - vorbeikommt, kann noch immer das Schreien und Weinen von den in der brennenden Burg gefangenen Kindern vernehmen, so grässlich, dass jedem Wanderer das Blut in den Adern gefriert und er schnellstens das Weite sucht, ohne etwas gesehen oder erfahren zu haben. So hat noch niemand das Rätsel der weinenden Kinder erkunden können. Wer waren die Kinder? Die Sprösslinge der Burgherren? Eine Schule, ein Waisenhaus? Ob dieses traurige Ereignis auf den 30-jährigen Krieg, die Türkenbelagerungen oder die Franzosenzüge zurückgeht, kann uns nicht einmal der ortskundige Wirt sagen.
Wir sind uns sicher, dass Kafka, wäre er bei ihm eingekehrt und hätte er diese Geschichte gehört, einen Tagebucheintrag gemacht, einen Brief, eine Karte oder eine Parabel geschrieben hätte.
Die Suche nach der Burg. Das Schloss. Oder wäre Kafka, der passionierte Spaziergänger und Spezialist für Nachtmare, einmal um Mitternacht diesen Weg gegangen, um dem Geheimnis, das ihn sicher angezogen hätte, auf den Grund zu kommen, um etwas ihm entsprechendes "Kafkaeskes" daraus zu machen.
Wir beschlossen, den vom Wirt empfohlenen Wanderweg Nummer 6 durch das Grüntal zurück nach Kierling zu nehmen . Bei der Nennung des Namens wäre Kafka wahrscheinlich Julius Grünthal, ein Rabbiner an der Berliner „Hochschule für die Wissenschaft vom Judentum“, eingefallen, an der er und Dora Diamant im Herbst und Winter 1923 Studien betrieben und Vorlesungen hörten, auch
die Vorzüge der gut bestückten und gut beheizten Bibliothek genossen. Franz und Kafka litten Not und hungerten, manchmal bekamen sie Fresspakete von der Familie in Prag und verteilten die Köstlichkeiten unter darbenden Freunden und Kollegiumsmitgliedern, manchmal mit der Anmerkung koscher, zum Beispiel für Rabbi Julius Grünthal.

Laut Wegweiser sollte der Nummer 6 40 min dauern, wir zwei Vorausgängerinnen brauchten aber viel länger, weil es ständig etwas zu bestaunen, bereden und fotografieren gab. Diese Strecke bietet an jeder Stelle so viel Lieblichkeit, dass einem die Tränen kommen und man niederknien möchte: Zuerst vorbei an einem Teich, ein Stück durch einen Obstgarten mit rotbäckigen Äpfeln und dann bergauf durch alte Buchenwälder, so dicht und hoch, dass sie über dem Weg einen Tunnel bilden, und wir nicht mehr wissen, wer sich vor wem verneigt. Charlotte ist fasziniert von der Ähnlichkeit zu der ihr vertrauten Müritzer Landschaft, wo Kafka im Sommer 1923 seine letzte große Liebe, Dora Diamant, kennenlernte. Genauso ein Wald mit Buchen, rief sie aufgeregt mit roten Wangen, aber stell dir vor, du kommst aus dem Wald raus, und dann sind da Sanddünen und die Ostsee breitet sich vor dir endlos aus. Ich bin überrascht, hatte ich doch beim Müritzer Wald immer an Föhren gedacht. Meine Erinnerungen an die Ostsee verbinden sich mit der großen Wanderdüne der Kurischen Nehrung, die mit Föhren befestigt wird, mit den Föhrenwäldchen rund um Thomas Manns Haus in Nidden und den Strände von Klaipeda mit ihren locker im Sand stehenden Föhren, weiss gesprenkelt von Birken. Auf dem Wanderweg Nr. 6 durch das Grüntal mündet der breite Buchenwaldweg in eine unerwartete Hochebene, eine weite Wiese mit leichten Wellen und einem freien Rundblick auf die Wienerwaldhügel. Gräser und Blumen stehen hüfthoch, sie werden offenbar nicht gemäht, und Margeriten, Glockenblumen, Skabiosen, Hahnenfuß, Storchenschnabel, Schafgarbe, Sonnenauge, Ochsenmaul, Bärenklau, Lupinen, Kuckucks- und Federnelken, Wiesenschaumkraut, Taubnessel, Frauenmantel, Wiesensalbei, wilder Thymian und Wermuth, Habichtskraut, Flockenblume, Giersch, Frauenschuh, Blutweiderich, Beinwell, Pimpernell, Leimkraut, Habichkraut, Waldmeister, Bocksbart, Klappertopf und und fünf Arten von Klee dürfen sich seit dem Frühling ungeschnitten ausbreiten. Sogar zwei Orchideenarten wachsen hier – das Breitblättrige (Dakthyloriza majalis) und das Gefleckte Knabenkraut (Orchis maculata), beides Heilpflanzen. Und wie viele Gräser erst, deren Namen keine von uns beiden nennen kann, vielleicht gerade noch Zittergras und Wollgras.
Darüber schwebt ein beständiges unbestimmtes Summen, dass wir uns nach möglichen Lautquellen umsehen. Die Hochspannungleitungen vielleicht? Schon mit freiem Blick stellen wir fest, dass man sich auf diesem Wiesenstück keine Sorge über die Bienenbevölkerung machen muss. Darüber zittern Schmetterlinge und surren Insekten, bis ein Flugzeug mit wahrscheinlich braungebrutzelten Pauschalreisenden aus Mallorca im Landeanflug Schwechat ansteuert. Aber ein Glück, dass es die Ballermänner rund um das Mittelmeer noch gibt, nicht auszudenken, wenn sich alle diese Sonnenhungrigen durch das Grüntal wälzen würden. Wir beugen uns über ein Blumengestrüpp am Wegrain und stimmen überein, dass das Blau der Wegwarte noch schöner ist, als das der Kornrade. Doch dann werden wir unsicher, ob nicht der Große Natternkopf doch das noch schönere, tief ins Violett schlagende Blau hat. In zwei Feldern an der linken Hügelflanke ist der Hafer gelb und eigentlich reif für die Ernte. Ob er auch gemäht wird, bezweifeln wir, weil er von Regen und Hagel an vielen Stellen niedergedrückt und von Pflanzen untermischt und überwuchert ist, die die Bauern nicht mögen und Unkraut nennen: Ackerwinde, Ackersenf, Ackerwachtelkraut, Distel, Kletten, Brennnesseln, wilder Hanf, Kornrade, Mohn, Feldstiefmütterchen, Spitzwegerich, Blutweiderich, Beinwurz und Leinkraut, ganz unten an der Erde immer noch Ehrenpreis, Gänseblümchen, Feldstiefmütterchen, Feldsalbei, verblühter Ackermohn, Sommerwurz und Löwenzahn. Langsam ändert sich auch die Sprache, es ist jetzt nicht mehr von Unkraut die Rede, sondern von Wildblumen. Darüber flattern und taumeln viele Schmetterlinge, von denen ich nur den Zitronenfalter kenne und benennen kann. Der Volksmund sagt von ihnen, dass sie die Seelen von Verstorbenen sind oder Hexen. Wie auch immer, sie verbreiten mit ihrem Gelb augenblicklich den Geruch von Zirtronen. Dabei fällt uns auf, dass sich Kafka kaum für Gewächse interessierte, außer wenn sie geeignet waren für seine Rohkost-Mahlzeiten. Zwar suchte er in einer Gärtnereien am Prager Stadtrand Arbeit, auch in Zürau versuchte er sich als Gärtner, es ging ihm dabei aber mehr um seine körperliche Ertüchtigung als um die Pflanzen.
In den Sprechzetteln des Kierlinger Sanatoriums erwähnt er zweimal Blumen, die Pfingstrosen und den Flieder, und gab Anweisungen, wie man sie am besten pflegen sollte.
Am Scheitelpunkt der Wiesenwellen kommen wir an einem Marterl vorbei, dem hölzernen Käferkreuz, umrahmt von einigen Bänken mit der Widmung des Kierlinger Weinbauvereins. Einige große Vögel kreisen darüber, ob es Bussarde oder Falken sind auf der Jagd nach Mäusen und Schlangen? Nur Krähen, Spatzen und Tauben können wir nicht mit Sicherheit ausmachen. Sie sitzen – getrennt nach Arten - so dicht aufgereiht auf den Hochspannungleitungen, flattern und fliegen auf und lassen sich wieder nieder, ein Ballett, dass man meinen könnte, sie mögen den Elektrosmog und rappen dabei Elektrosongs. Es ist eine der wenigen Stellen im ansonsten zersiedelten Wienerwald, an dem man weit und breit kein einziges Bauwerk sieht. Im Blick voraus ragen die Wienerwaldhügel hoch empor wie ein Gebirgszug, was er ja als letzter Ausläufer der Ostalpen geologisch tatsächlich ist. Vielleicht zum ersten Mal verstehen wir, dass der Wienerwald die zärtlichste Umarmung ist, die die Alpen für eine Stadt bereit haben. Eine besonders schöne Wiesen-Waldbucht in einer Mulde mit Baumstämmen und einem Jägerstand am Rand können wir uns als die letzte Station für eine Kafka-Lesung vorstellen.

Wir stimmen überein, dass Kafka den Grüntalweg wahrscheinlich gemocht hätte und er ihn immer wieder auf- und abgegangen wäre, bei jeder Tages- und Nachtzeit, um zu ergründen, was ihm daran guttut und was ihn stört, um seine Wirkung in sich eindringen zu lassen. Knapp bevor sich der Weg verengt und steil in ein Tal abfällt, steht am rechten Rand eine Hinweistafel, an der Kafka wahrscheinlich angehalten hätte, um das wilde Gemisch von Weißdorn, Ranken der Brombeerstauden und des Wilden Hopfens zu bewundern, mit denen die Tafel umwachsen ist. Eine lebende Skulptur, in deren Mitte zu lesen ist, dass der Weg bergab nach Kierling noch 20 min dauert, der nach Kritzendorf eine Stunde und der nach Hadersfeld 1/1/2 Stunden. Kurz werden wir in unseren Phantasiegesprächen irritiert von der Gestalt eines enorm großen, braunen Tieres, das an einem Weidezaun entlanggeht. Ein Mammut im Grüntal? Kann nicht sein. Weiter unten kommen wir zu einer Weide, auf der sich eine Kuh mit ihrem Kalb an einem Wassertrog laben. Wahrscheinlich sind sie dicht hintereinander gegangen. Eine Schafherde ist in einem Pferch nebenan untergebracht. Es gibt noch einen richtigen Bauern im Wienerwald, wundern wir uns, Landmaschinen, Strohballen und Säcke mit Futtermittel unter einem Stadel, aber kein Mensch weit und breit. Weiter unten verengt sich der Wiesenweg, gesäumt von Wildkirschen und Edelkastanien, darunter meterhohe Brombeer- und Brennesselwildnis, in eine dramatische Wienerwaldschlucht, an beiden steilen Seiten bewachsen von Laubwald, mit einem mäanderdenen Bächlein tief unten, so klein, dass es auf der Wanderkarte nicht einmal eine Linie oder einen Namen hat. An diesem sonnigen Juli-Tag wird es plötzlich so dämmrig-grün, dass wir nicht mehr den Grund des Tales erkennen können. Als nach einer scharfen Wendung des Weges die ersten Häuser im Licht des sich weitenden Grüntals auftauchen, beginnen wir mit steigender Begeisterung, ein von uns imaginiertes Quartier für Kafkas ideale Sommerfrische auszusuchen.
Dieses Haus, nein jenes, zu groß, zu klein, zu teuer, zu einfach, zu laut, schau, das da hat eine Terrasse nach Südosten, die könnte er mögen, aber der Weg hinauf ist zu steil, denk dir den Winter aus. Dann rechts ein grün-weisses Haus, Villa Frei . geb. 1901, steht in goldenen Lettern über dem Eingang, das wäre das richtige, meinst du nicht auch? In dem Türmchen könnte er sein Schreibzimmer einrichten. Auf dem Balkon könnte er ungestört seinen Müller-Leibesübungen nachgehen und sich nackt sonnen. Würden seine quälenden Kopfschmerzen nachlassen? Könnte er hier die Nächte durchschlafen oder sogar etwas schreiben? Ein Kanapee muss unbedingt hinein, so wie in allen seinen Prager Zimmern. Aber nicht einmal Charlotte weiss mehr über deren Beschaffenheit. Aus Leder, mit Stoff, welchem? Wie lang, wie hoch? Mindestens so hoch, dass sich das Riesenungeziefer namens Gregor Samsa darunter verkriechen hätte können.
Bellende Hunde, krähende Hähne, kreischende Sägen, heulende Rasenmäher, schreiende Kinder, Schritte der Nachbarn, Husten, Lachen, Gespräche, fast alles störte den extrem lärmempfindlichen, an Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen leidenden Kafka. Schau, hinter dem Haus, ein Stapel Holz und eine Wiese, da könnte er dem Holzhacken, dem Heuen fröhnen und nackt auf der Wiese herumlaufen. Die Hecken sind hoch, niemand würde ihn beim Müllern und Nacktbaden stören. Im Natursanatorium Jungborn am Harz braucht er im Juli 1912 eine Woche, um die Scham und die Badehose abzulegen. Ihm wird übel beim Anblick der alten Männern mit Spitzbauch und Glatze, die nackt mit der Sense hantieren, über Heuhaufen hüpfen, Fussball spielen, miteinander boxen oder nackt über die Wiese stürmen und sich bei Regen im nassen Gras wälzen. Im Tagebuch vom Juli 1912 macht er ausführliche Notizen von dieser Szenerie. Kuck mal, Veronika, in diese Ecke des Garten, unter dem alten Kirschbaum ließe sich leicht ein „Luftlichthäuschen“ bauen, da müßte er nicht einmal auf der Leiter in die obersten Äste steigen, sie fallen ihm direkt in den Mund. Eines war sicher, er würde hier keine Köchin brauchen, ob Vermieterin oder Schwester. Er könnte fast zur Gänze Selbstversorger sein und seiner Angewohnheit des „Fletcherns“ ungestört nachgehen, dem stundenlangen Kauen der Nahrung. Ein Jungborn für sich allein, ideal! Nicht ganz, gibt Charlotte zu bedenken, denn im Grunde liebte er Gesellschaft, er unterhielt sich gerne mit den Gästen der Sanatorien und Pensionen. Immer fand er dort praktischerweise unter ihnen Vorbilder für seine Gestalten. Etwa den christlichen Landvermesser Hilster, der ihn mit der Bibel missionieren wollte. Er ging als Josef. K. in veränderter Form in „Das Schloss“ ein.
Wenn es ihn aus seiner Klause im Grüntal unter Menschen zieht, könnte er zur Redlingerhütte hinauf spazieren und dort mit dem Wirt, seinen Kindern und Angestellten plaudern, vielleicht auch nur schweigend in einer Ecke sitzen, mit dem Hut auf dem Kopf, und mit dem zutraulichen Hund spielen. Er hätte sich amüsiert über diesen freundlichen, dicken Fuchs-Dackel-Schäferhund mit zu kurzen Beinen vom Format und Farbe einer nur leicht angebratenen Rindsroulade, der sich bis heute gern zu Füßen der Gäste im Kies wälzt. Wahrscheinlich hätte er ihn- trotz extremer Unähnlichkeit – Max genannt und mit dem Hundemax gesprochen. Vielleicht eine Karte nach Prag in die Postdirektion geschrieben mit lieber Max, du in deinem Anzug, in der Hitze….. Schreiben oder Notizen machen würde er dort nicht, denn seine Schreibzeit waren die einsamen Nächte. Eine Schwimmgelegenheit müßte man für ihn ausforschen, denkt Charlotte weiter, denn ohne das Schwimmen würde es kein guter Ort für Kafka sein. Aber die Wienerwaldbächlein reichen nicht einmal einer jungen Forelle zum Schwimmen. Wir überlegen, ob er wohl den 50 min-Weg über den Weissen Hof nach Kritzendorf an der Donau in Kauf nehmen würde? Wir glauben, ja, war er doch ein geübter, ausdauernder Wanderer. Donau oder Strombad, beide hätten Wasser genug für den leidenschaftlichen Schwimmer. Im stillen Donauarm von Kritzendorf könnte er sogar ein Boot mieten, so eines, wie er es in Prag an der Moldau besaß, wo er flußaufwärts runderte und sich dann nackt flußabwärts treiben ließ. Wir würden auch den Wirt der Redlingerhütte nach einem einem Pferd für Kafkas Reitlaune befragen. Ein Ritt zum Sonnberg, zur Sandsteinmine oder zur geheimnisvollen Burg der Kinder, bei Mond oder Sonne. Wir waren sicher, dass der Wirt ihn wahrscheinlich bei sich würde gärtnern lassen, wenn es ihn überkam, und ihn vielleicht dafür mit Obst und Gemüse entlohnte.

Wie in allen Gärten des Grüntales blühen um die grün-weisse Villa Frei gerade die Rosen, Oleander, Gladiolen und Hortensien in vielen Farben, die Hauswand entlang ziehen sich volle Ranken mit Him- und Brombeeren, und im Vorgarten warten übermannshohe Ribislbüsche und Hollerstauden aufs Geerntetwerden. Kafka würde hier ankommen können. Die vorbeiwandernden Quartiermacherinnen sind zufrieden.
Veronika Seyr
22.7.2016

Keine Kommentare: