Freitag, 16. Juni 2017

Das Geheimnis in der Bassena

Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts
Franz Kafka. Fürsprecher.


Sie sperrt die Tür auf, durchquert den Gedenkraum und legt zuerst die Blumen auf das Kaminsims. Im Winter sind es Rosen, später, im März und April Tulpen oder Narzissen, im Mai Flieder oder Pfingstrosen. Wasser in die Bassena gießen, frisches einlassen und die neuen Blumen drapieren; flach legen, die Stängel sollen nicht am Boden anstoßen, hat er auf einen der Gesprächszettel geschrieben. Je schwächer er wird, desto mehr Kleinigkeiten nimmt er wahr. Einmal bittet er, eine Biene aus dem Fenster zu lassen oder einen Glasscherben vom Boden aufzuheben.
Links von der Vase stehen die siebzehn Bände des Gesamtwerkes, daneben eine dicke, abgebrannte Kerze. Ein bisschen Altar. Sibylle mag es so. Sie ist streng, eine Pilgerin. Naja, kein Wunder, ist sie doch erst vor kurzem auf ihn gekommen, die heilige Novizin.
Sitzen und Warten. Ins Stiegenhaus horchen. Auf die Glocke unten, die Schritte zwei Stockwerke hoch. Nichts, niemand. Wieder einmal kein einziger Besucher. Die Einsamkeit passt zu ihm. Die Stunden schleichen zäh dahin, sie meint, die Zeit am Stand ticken zu hören, still gestanden seit dem 3. Juni 1924. Es ist aber nur das banale Knistern der Heizung, wenn sie an- und abspringt. Dann von oben ein dumpfes Poltern, Schieben, Kratzen und Rollen über dem Plafond. Die Geister sind immer da und überall. Sie lassen mich niemals in Ruhe und dringen überall ein. Wahrscheinlich verrückt der Hausherr aber nur wieder einmal die Blumenkübel auf seiner Terrasse, als wollte er mit seinen Oleandern und Lebensbäumen das Orakel von Stonehenge nachbauen. Dieser Herr Odradek is a pain in the neck and in the ass. Pia denkt oft auf Englisch. Häufige Reisen nach London, eintauchen ins Theaterleben, nichts geht über Shakespeare, aber für das Leben dort reicht ihr Gehalt nicht. Anglophil ist ein schwacher Ausdruck.
Auf der Hauptstraße, vor den Fenstern, rauscht der Verkehr, unterbrochen von jähem Abbremsen, nervösem Hupen und reifenquietschendem Abbiegen zum Supermarkt. Ein Getöse, bösartig im Ton, aber gestaltlos und ohne Bedeutung. Sie sollten mit Kotflügeln aufeinander schlagen wie mit rauchenden Colts. Dazwischen das Klirren von Einkaufswägen und hysterisches Kindergeschrei.

Die Bibliotheksarbeit ist schnell erledigt, es gibt nicht allzu viele Neuzugänge, die Mitgliederkartei auf den neuesten Stand gebracht, die Liste der neuen e-mail-Einträge ist kopiert, seit Jahresbeginn ganze sieben. Sie sitzt einige Zeit am Schreibtisch und studiert wie schon so oft die rohe Ziegelwand, da kann sie sich verlieren, ihre eigene Meditation. Einmal sieht sie sich im Raum um zu den Bücherregalen. Englische, französische, koreanische, russische, japanische, chinesische, sogar arabische Übersetzungen, alle interessieren sich für K. Was können sie mit ihm anfangen? Auch so ein Geheimnis. Außer den fremdsprachigen Übersetzungen hat sie alle Bücher von ihm und über ihn gelesen, manche schon mehrmals.
Robert Klopstock - Kafkas letzter Freund oder Dora Diamant - Kafkas letzte Liebe. Auf die reichen Bildbände über Leben, Orte und Werke hat sie gerade keine Lust. Zu oft gesehen, gelesen, studiert, und nie zu Ende gekommen, zu keinem eindeutigen. Gerade heute braucht sie keine fremden Rätsel. Von ihrem Stuhl aus sieht sie auf die großen Porträt-Fotos von Dora und Robert, die beiden Begleiter auf seinem letzten Weg. Dora war schon im Sanatorium Wienerwald und im Allgemeinen Krankenhaus an seiner Seite, Robert kam Anfang Mai nach Kierling geeilt. Er übernahm einen Großteil der medizinischen Betreuung und die Korrespondenz oder verkehrte mit den Ärzten, Dora bekochte und fütterte ihn und versuchte, ihm einige Tropfen von Flüssigkeit einzuflößen. Er litt entsetzlichen Durst und träumte von Heurigen und Biergärten. Sprechen konnten sie nicht mehr miteinander, sein Kehlkopf sollte geschont werden, die Geschwüre bereiteten ihm unsägliche Schmerzen, -
u n s ä g l i c h - sie schrieben einander auf Zettel ihre Mitteilungen.
Pia schüttelt sich in ihrem ganzen Körper und wedelt mit dem Armen, wie um einen Insektenschwarm abzuwehren. Der soll nu mal ne Ruh geben, endlich. Dabei ist sie doch gerade wegen ihm da.

Auf den Boden kommen. Jetzt erst mal nen Kaffee und eine Zigarette auf dem Balkon mit langen Blicken ins Maital. Eigentlich ist nur ein halbes Tal, und auch der Maibach ist nur ein Rinnsal und nicht zu sehen. So vergeht die Zeit. Auf der Tanne sitzen die jungen Zapfen dicht wie Haifischzähne, um den Wipfel herum vergnügen sich Blaumeisen mit ihren Jungen, darüber nörgeln Krähen und die Dohlen üben ihre Kamikaze-Flüge. Warum es gerade in Kierling so viele Dohlen gibt, ist ihr ein Rätsel, sind sie doch eher Alpenbewohner. Unten im Rasen wachsen einige Fliederbüsche mit weißen und violetten Blüten, die Pfingstrosen sind noch nicht aufgeblüht, ihre Stämme alt und knorrig. Ob sie schon zu seiner Zeit hier standen? Dora und Robert haben aus Wien immer frische Sträuße mitgebracht. Franz, riech mal, wie schön. Sie stellten eine Schale mit Erdbeeren und Kirschen auf den Tisch, die liebte er, Dora hielt sie ihm unter die Nase, zuletzt konnte er nur noch ihren Duft genießen, und er zog ihn begierig ein durch die rasselnde Kehle.

Zurück im Zimmer. Es ist dämmrig geworden, der April bringt wieder einmal ein Gewitter ins Tal. Die Regentropfen klatschen wütend an die Scheiben. Endlich verschwimmen die hässlichen Gemeindebauten von gegenüber zu einem dreckigen Strich. Der braune Parkettboden dunkelt in zwei oder drei Schattierungen, und die Wände ziehen sich in weite Ferne zurück. In den Ecken hängen Erinnerungen wie Spinnengewebe. Er hat hier seine Gespenster ausgehaucht und zurückgelassen. Heute ist sie es, die das hütet. Die Pflege von Spinnweben und Todeshauch. Ein schöner Job, aber ich habe ihn mir ausgesucht, und er ist ehrenamtlich. Ohne Amt, nur Ehre.

Pia gähnt und streckt sich in ihrem Sessel, die Arme zurück und die Beine unter dem Tisch. Sie legt den Kopf auf die Seite und lauscht der schwachen, zittrigen Musik aus dem Radio. Sie runzelt die Stirn und weiß nicht, warum ihr Händel heute lästig ist. Weil ihr heute alles auf die Nerven geht, sogar ihr viel geliebter Landsmann aus Halle/Saale? Ihr Gott, der größte Mensch, der je gelebt hat, alle anderen, sogar Mozart und Beethoven sind nur seine Propheten. Händel ist ihre Religion, pflegt sie vor Freunden zu sagen, die einzige, und das hat nichts mit Halle zu tun. Shakespeare ist ein anderer Fall.
Goodman, Benny Goodman. Ein heißes, scharfes Geschmetter, die nervös zerrissenen Sequenzen einer Jam-Session, New Orleans und nicht Kierling. Aber auf Ö1 läuft gerade kein Goodman. Sie dreht das Radio etwas lauter. Vielleicht wären sogar Walzer jetzt besser. Aber seit Wien gestorben ist, sind alle Walzer Schatten. Wien, das absterbende Riesendorf, hat er einmal festgestellt.
Aussichtslos. Vielleicht doch noch das Album mit den Fotografien hernehmen. Die Kinderbilder, mit und ohne Schwestern, als Maturant, der neue Doktor juris, mit der Lieblingsschwester, mit dem Freund und allein auf dem Altstädter Platz. Das alte Katzenkopfpflaster unter den eleganten Schuhen. Hoch gewachsen, schmal trotz dreifacher Schicht von dreiteiligem Anzug, auf dem Kopf einen hohen Hut. Nicht unfreundlich im Ausdruck und leicht zugeneigt, aber nicht wirklich lächelnd. Prag, das einen nicht loslässt, das Mütterchen mit Krallen, schreibt er in sein Tagebuch. Prag prägt. Die Stadt ist eine Heimsuchung. Sie entscheidet sich für den Bildband von Fronius.

Sie streicht sich mit beiden Händen über das straff zurückgekämmte Haar und steckt die Klammer über eine ungehorsame Strähne am Hinterkopf fester. Sie spielt mit der langen, silbernen Uhrkette vor der Brust, die Zeiger im ovalen Ziffernblatt bewegen sich nicht. Sie streicht ihre lange Bluse aus gerippter Seide über den pfirsichfarbenen Knien glatt und betrachtet lange die mit violetten Lotosknospen bestickten Leggings. Die Farbe ihrer Augen, ihr „ absolutes Alleinstellungsmerkmal“, sagt der Therapeut immer, dazu groß, tief liegend und glänzend. Ja der, und sie ballt die Fäuste in der Uhrkette. Der ist ja fast so mager wie Franz.
Aber sie hat sich in ihn verliebt. Das geht nun schon fünf Jahre, dass sie von ihm träumt.

Soll sie vielleicht etwas essen? Ihren Quinoa-Salat mit Avocados und Cherry-Tomaten. Sie sieht ihn geradezu vor sich, die Plastikbox steckt in ihrer Tasche, heute früh mit frischen Kräutern zubereitet für ihren Samstags-Dienst im Gedenkraum. Reiscracker mit Gervais hat sie auch noch mit, dazu die ersten Kirschen des Jahres. Ein Frevel, Import aus Chile. 15 000 Kilometer geflogen. Quinoa kommt ja auch von dort, bei den Avocados und den Cherries hat sie gar nicht drauf geschaut. Aber aus dem Marchfeld kommen die sicher nicht. Nein, es ist noch zu früh, sagt der strenge Kopf, obwohl der lässigere Magen schon etwas aufnehmen könnte. Der Appetit geht immer von Bildern aus, es ist Kopfhunger, nicht Magenhunger. Und überhaupt, in dem Zimmer, wo er verhungert ist, ans Essen zu denken. Ihre Kollegin Sibylle hält das für unmoralisch und ekelt sich davor.
Sie schaut auf den Parkett-Boden und sieht plötzlich, dass hier ein blauer Teppich liegen sollte. Ein Wahrnehmungsanfall- oder Ausfall? Sehen violette Augen andere Farben als braune, blaue oder graue? Dummer Gedanke, aber umgekehrt ist es doch interessant, dass dem Franz fast alle Augenfarben attestiert wurden.
Einen Augenblick zuvor war sie entspannt zurückgelehnt im Sessel da gesessen, und im nächsten stand sie auf den Füßen, absolut ruhig und im Gleichgewicht.
Putzen! Das ist es! Ordnung machen, auch wenn alles in Ordnung ist. Wenn etwas sauber ist, dann ist immer auch alles andere in Ordnung. Das kann nicht falsch sein, nicht in der DDR und auch anderswo nicht. Dreck lässt sich immer noch irgendwo finden. Das gibt Sicherheit.

Warte, he, paß auf, die Bandscheiben, das ist eine schwere Arbeit. Die paar Krümel von ihrem Quinoa-Salat hat sie schnell weggewischt, ansonsten war alles sauber wie Brokat. Alles ehrenamtlichen Raumwächter waren darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen, weder eigene noch fremde. Aber Pia ist geradezu von einem Putzfimmel besessen, noch das letzte Krümel oder Stäubchen entdeckt sie mit ihren violetten Adleraugen und entfernt sie mit Besen und Wischmopp. Feucht aufwischen ist heute nicht notwendig, das Parkett glänzt ohnedies; wenn sie sich vorbeugt, kann sie sich darin spiegeln. Ein verrutschtes Spiegelbild, genauso wie seine Traumspiegelwelt. Vielleicht hat er zu oft auf seinen Parkettboden gestarrt, geht ihr zum ersten Mal durch den Kopf. Oh Gott, bin ich banal, da mach ich doch gleich etwas ganz Banales. Sie steht auf und holt mit gezielter Geste aus der Abstellkammer ein Staubtuch. Sie kennt dort jeden Millimeter, hat sie sie doch selbst eingerichtet und ausgestattet.
Sie wischt mit dem Staubtuch über die dunklen Holzwände der Sitzecke, dort sammeln sich gern die Fusseln - die Flankerl, wie die Ösis sagen. Als sie sich wieder aufzurichten versucht - vielleicht mit einer zu heftigen Bewegung - stößt sie mit der linken Schulter von unten an das Bücherbrett. Diese kleine Erschütterung bringen die schräg aufgestellten Bildbände ins Rutschen, und wie wie eine Dominoreihe fallen sie um. Ein Buch auf das andere, langsam, wie in Zeitlupe, aber irgendwann haben sie keinen Platz mehr auf dem schmalen Brett und poltern herunter, auf sie, die noch immer halb gebückt vor der Bank steht. Eines trifft den Kopf, eines die rechte Schulter, andere fallen auf den Rücken und gleiten über die Hüften. Wie die Bücher in ihre rechte Kniekehle eindringen konnten, welche Dynamik, welche Drehungen der Physik wirksam wurden, weiß sie nicht. Das große Buch von Kafkas Tagen in Wien, Kafkas Prag, einige Bildbände über das alte Prag, die drei Bände der Biographie von Reiner Stach, ein Prachtband mit Fotos von Kafkas Familie, zwei Ausgaben über Kafkas letzten Freund, Robert Klopstock, einer über Kafkas letzte Liebe Dora Diamant, über Kafka und das Judentum. Welches von denen war ihr in die Kniekehle eingefahren? Prag, Wien, Liebe, Freund, Judentum? Ah, er versucht mir nah zu sein, ein Wink aus dem Himmel. Aber mit welcher Bedeutung? So groß wie ein Taubenschiss auf den Kopf? Sie knickt ein, die Kniee geben nach.
Aber das sind schon Überlegungen von danach, nach allem, als es vorbei war. Sie spürt sich noch am Boden krabbeln, hinaus aus dem ersten Raum, vor die Tür, auf den Korridor.
Gleich links von der Eingangstür befindet sich eine Bassena, ein Wasserbecken auf dem Gang, üblich in alten Wiener Häusern. Was erinnert sie noch? Den Geruch von feuchten Steinen im Hausflur, Putzfetzen und Wischmopp. „Der Geruch von nassen Steinen im Hausflur“, nicht mehr und nicht weniger, die Definition von Literatur nach Hugo von Hofmannsthal. Sie krümmt sich, die Beine gehorchen nicht, das ganze Gewicht hängt in den Armen. Nur nicht alt werden, nicht schwach! Nach mehreren Versuchen bekommt sie mit einer Hand das Rohr unter der Bassena zu fassen und kann sich an ihm hochzuziehen. Sie ist doch kein Ungeziefer wie Gregor, keine Maus wie Josefine, kein Hund, nicht der Affe Rotpeter, keine Ratte und kein Schakal.
Kurz bevor es ihr gelang, sich aufzurichten, gab das Wasserrohr nach, und die Schüssel krachte auf sie herab, Vollmetall der Firma Gerb&Söhne, Wien-Brünn. Die massiven Armaturen aus Edellegierungen prasseln auf sie herunter, das schwere Gitter trifft sie an der Schläfe. Aber bevor sie im Geruch der muffigen Bodenfliesen versinkt, spürt sie etwas um sich, nicht die schweren Bücherbände aus der Ecke, sondern einzelne Blätter, Hefte, Notizbücher, Papier, viele Blätter, ein Berg, eine Decke, weit verstreut über die Steinplatten des zweiten Stockwerkes. Sie riechen noch nach dem Park von Berlin-Steglitz, nach Astern, Laub und feuchter Erde, nach dem Herbst von 1923.

Liebe Lotte, steht oben auf den Blättern. Du bist traurig, weil du suchst Deine Puppe. Sie ist nicht mehr da, sie hat dich verlassen und ist auf eine Reise gegangen. Du bist traurig, aber sei sicher, sie hat dich lieb! Sie hat jetzt andere Pläne. Warum ich das weiß? Sie schreibt mir Briefe über ihr neues Leben. Sie geht in die Schule, weit weg von hier. Es geht ihr gut und sie denkt oft an dich. Ich erzähle dir ihre Geschichte. Wenn ich nicht kommen kann, wird dir Dora die Briefe vorlesen.

An einem warmen Tag Anfang November trafen sie im Steglitzer Park ein kleines Mädchen, das bitterlich weinte, weil es seine Puppe verloren hatte. Franz erfindet sofort eine tröstliche Geschichte, dass die Puppe eine Reise macht, er weiß es, weil sie ihm einen Brief geschickt hat. Drei Wochen lang schreibt Franz nun täglich im Namen der Puppe an das kleine Mädchen: Von der Reise, der neuen Heimat, dass sie in die Schule geht, von ihren Abenteuern und wie sie neue Leute kennen lernt. Die Puppe ist erwachsen geworden und versichert sie immer wieder ihrer Liebe. Aber sie will nicht mehr zurückkommen, sie hat jetzt andere Menschen um sich und viele Verpflichtungen. Er bereitet sie auf den endgültigen Verzicht vor. Aber wie soll das enden, wie aus diesem Dilemma herauskommen, ohne ihr Vertrauen zu verlieren? Dora berichtet, wie ernst er dieses Briefeschreiben genommen hat , es war seine einzige Arbeit in diesen Novemberwochen. Zuletzt lässt er die Puppe heiraten und erklärt dem Mädchen, dass sie es jetzt natürlich nicht mehr besuchen könne.
Franz hat den Konflikt eines Kindes durch die Kunst gelöst, durch das wirksamste Mittel, über das er persönlich verfügte, um Ordnung in die Welt zu bringen. Er verwandelt die Lüge in die Wahrheit der Fiktion. Bei den Puppenbriefen ist er nicht aus dem Leben ausgewandert, sondern er hat Leben und Literatur in voll Übereinstimmung gebracht, es ist ihm gelungen, wovon er sein ganzes Schreibe-Leben geträumt hatte.
23 Briefe und vier Postkarten, handgeschrieben, in seiner steilen und doch runden Handschrift, die Buchstaben besonders groß, ohne Korrekturen und Streichungen. Dora hat sie aus Berlin mitgenommen und im Hohlraum unter dem Wasserbecken des Sanatoriums versteckt, eingewickelt in Öltücher. Nachdem Franz im Februar weggefahren war, hatte sie keine feste Bleibe und niemanden, dem sie ihre Schätze anvertrauen hätte können.
Pia verliert das Bewusstsein.
Gefunden hat sie Herr Odradek, der Hausherr. Sie weiß nicht, wie lange sie so dagelegen war. An den Samstagen mit dem open door im Gedenkraum hat er ja immer die Ohren am Boden. Kaum sperrt sie auf, steht er schon da und bietet einen Kaffee an, in einer geblümten Schale und mit einem Kekserl auf der Untertasse. So etwas von Quasi-Kaffee aus dem neumodischen Hausautomaten von N., brrr. Sieht freundlich aus, ist aber sein samstäglicher Kontrollgang. Vielleicht hat er schon den Krach gehört, mit dem die Bücherkaskade auf sie niedergegangen war. Er sieht sie da wie einen Lurch am Boden kriechen und ruft die Rettung, keine zehn Minuten später ist sie zur Stelle und bündelt sie auf eine Bahre. Mit Martinshorn ins Krankenhaus Klosterneuburg.
Es geht glimpflich aus für sie, keine Spätfolgen, eine kleine Gehirnerschütterung und eine klaffende Wunde auf der Stirn, einige Stiche, links über die Augenbraue kommt ein Klebeverband. Die Blutergüsse und Schrammen am Rücken sieht niemand, am wenigsten sie selbst. Nur die Innenseite ihres rechten Knies schmerzt noch lange und lässt sie humpeln, wahrscheinlich eine Prellung. Die Toten haben schon recht eigenartige Formen, sich bemerkbar zu machen.
Wohin die Papiere gekommen sind, kann Pia nicht herausfinden. Das Ehepaar Odradek hat unterschiedliche Erinnerungen und kann sich nicht einigen. Sicher war das eine große Aufregung für diese alten Leutchen. Und der Gedenkraum war ihnen nie ganz recht gewesen, die vielen fremden Leute im Haus, man weiß ja nie. Herr Odradek meint, die Rettung hat das ganze Zeugs mitgenommen, auf die Bahre gepackt, weil die Frau so geschrien hat: Die Briefe, die Briefe, bitte, rettet die Briefe! Frau Odradek erinnert sich nur daran, dass sie danach die Treppen gesäubert hat. So viel Blut, eine Sauerei war das, alles durcheinander, die Bassena heruntergerissen, die Mauer offen und rundherum das viele alte Papier. Pah, Briefe, welche Briefe, lauter Fetzen sind auf dem Gang herumgelegen. Und wer zahlt mir den Schaden, fragt Herr Odradek in Hausbesitzerlogik. Den Mist hat sie hinunter getragen, eine Plackerei, und in den Containern vor dem Haus entsorgt – e n t s o r g t. Die Eimer mit Mauerwerk in den Restmüll, das Altpapier in den so bezeichneten Kübel. Alles muss seine Ordnung haben. Wer kann da widersprechen.

Pia selbst hat keine gesicherten Erinnerungen, nur das „Liebe Lotte“ steht ihr für immer eingebrannt vor den Augen. Kein körperlicher Schmerz kann so tief sein wie der um den zweiten Verlust der Puppenbriefe. Dora hat gelogen, als sie Brod versicherte, Franz`s letzte Schriften seien in Berlin verloren gegangen, als die SS im Juni 1933 ihre Wohnung durchsuchte.

Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.
Franz Kafka. Blaue Oktavhefte


Veronika Seyr, Wien, zwischen 13. und 25.5.17

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