Solange
du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter
deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts
Franz
Kafka. Fürsprecher.
Sie sperrt die Tür auf, durchquert den Gedenkraum und legt
zuerst die Blumen auf das Kaminsims. Im Winter sind es Rosen,
später, im März und April Tulpen oder Narzissen, im Mai Flieder
oder Pfingstrosen. Wasser in die Bassena gießen, frisches
einlassen und die neuen Blumen drapieren; flach legen, die
Stängel sollen nicht am Boden anstoßen, hat er auf einen der
Gesprächszettel geschrieben. Je schwächer er wird, desto mehr
Kleinigkeiten nimmt er wahr. Einmal bittet er, eine Biene aus dem
Fenster zu lassen oder einen Glasscherben vom Boden aufzuheben.
Links von der Vase stehen die siebzehn Bände des Gesamtwerkes,
daneben eine dicke, abgebrannte Kerze. Ein bisschen Altar. Sibylle
mag es so. Sie ist streng, eine Pilgerin. Naja, kein Wunder, ist sie
doch erst vor kurzem auf ihn gekommen, die heilige Novizin.
Sitzen
und Warten. Ins Stiegenhaus horchen. Auf die Glocke unten, die
Schritte zwei Stockwerke hoch. Nichts, niemand. Wieder einmal kein
einziger Besucher. Die Einsamkeit passt zu ihm. Die Stunden
schleichen zäh dahin, sie meint, die Zeit am Stand ticken zu
hören, still gestanden seit dem 3. Juni 1924. Es ist aber nur das
banale Knistern der Heizung, wenn sie an- und abspringt. Dann von
oben ein dumpfes Poltern, Schieben, Kratzen und Rollen über dem
Plafond. Die Geister sind immer da und überall. Sie lassen mich
niemals in Ruhe und dringen überall ein. Wahrscheinlich verrückt
der Hausherr aber nur wieder einmal die Blumenkübel auf seiner
Terrasse, als wollte er mit seinen Oleandern und Lebensbäumen das
Orakel von Stonehenge nachbauen. Dieser Herr Odradek is a pain in
the neck and in the ass. Pia denkt oft auf Englisch. Häufige Reisen
nach London, eintauchen ins Theaterleben, nichts geht über
Shakespeare, aber für das Leben dort reicht ihr Gehalt nicht.
Anglophil ist ein schwacher Ausdruck.
Auf
der Hauptstraße, vor den Fenstern, rauscht der Verkehr,
unterbrochen von jähem Abbremsen, nervösem Hupen und
reifenquietschendem Abbiegen zum Supermarkt. Ein Getöse, bösartig
im Ton, aber gestaltlos und ohne Bedeutung. Sie sollten mit
Kotflügeln aufeinander schlagen wie mit rauchenden Colts.
Dazwischen das Klirren von Einkaufswägen und hysterisches
Kindergeschrei.
Die
Bibliotheksarbeit ist schnell erledigt, es gibt nicht allzu viele
Neuzugänge, die Mitgliederkartei auf den neuesten Stand gebracht,
die Liste der neuen e-mail-Einträge ist kopiert, seit Jahresbeginn
ganze sieben. Sie sitzt einige Zeit am Schreibtisch und studiert wie
schon so oft die rohe Ziegelwand, da kann sie sich verlieren, ihre
eigene Meditation. Einmal sieht sie sich im Raum um zu den
Bücherregalen. Englische, französische, koreanische, russische,
japanische, chinesische, sogar arabische Übersetzungen, alle
interessieren sich für K. Was können sie mit ihm anfangen? Auch so
ein Geheimnis. Außer den fremdsprachigen Übersetzungen hat sie
alle Bücher von ihm und über ihn gelesen, manche schon
mehrmals.
Robert
Klopstock - Kafkas letzter Freund oder Dora Diamant - Kafkas letzte
Liebe. Auf die reichen Bildbände über Leben, Orte und Werke hat
sie gerade keine Lust. Zu oft gesehen, gelesen, studiert, und nie
zu Ende gekommen, zu keinem eindeutigen. Gerade heute braucht sie
keine fremden Rätsel. Von ihrem Stuhl aus sieht sie auf die großen
Porträt-Fotos von Dora und Robert, die beiden Begleiter auf
seinem letzten Weg. Dora war schon im Sanatorium Wienerwald und im
Allgemeinen Krankenhaus an seiner Seite, Robert kam Anfang Mai nach
Kierling geeilt. Er übernahm einen Großteil der medizinischen
Betreuung und die Korrespondenz oder verkehrte mit den Ärzten, Dora
bekochte und fütterte ihn und versuchte, ihm einige Tropfen von
Flüssigkeit einzuflößen. Er litt entsetzlichen Durst und
träumte von Heurigen und Biergärten. Sprechen konnten sie nicht
mehr miteinander, sein Kehlkopf sollte geschont werden, die Geschwüre
bereiteten ihm unsägliche Schmerzen, -
u n
s ä g l i c h - sie schrieben einander auf Zettel ihre
Mitteilungen.
Pia
schüttelt sich in ihrem ganzen Körper und wedelt mit dem Armen,
wie um einen Insektenschwarm abzuwehren. Der soll nu mal ne Ruh
geben, endlich. Dabei ist sie doch gerade wegen ihm da.
Auf
den Boden kommen. Jetzt erst mal nen Kaffee und eine Zigarette auf
dem Balkon mit langen Blicken ins Maital. Eigentlich ist nur ein
halbes Tal, und auch der Maibach ist nur ein Rinnsal und nicht zu
sehen. So vergeht die Zeit. Auf der Tanne sitzen die jungen Zapfen
dicht wie Haifischzähne, um den Wipfel herum vergnügen sich
Blaumeisen mit ihren Jungen, darüber nörgeln Krähen und die
Dohlen üben ihre Kamikaze-Flüge. Warum es gerade in Kierling so
viele Dohlen gibt, ist ihr ein Rätsel, sind sie doch eher
Alpenbewohner. Unten im Rasen wachsen einige Fliederbüsche mit
weißen und violetten Blüten, die Pfingstrosen sind noch nicht
aufgeblüht, ihre Stämme alt und knorrig. Ob sie schon zu seiner
Zeit hier standen? Dora und Robert haben aus Wien immer frische
Sträuße mitgebracht. Franz, riech mal, wie schön. Sie
stellten eine Schale mit Erdbeeren und Kirschen auf den Tisch, die
liebte er, Dora hielt sie ihm unter die Nase, zuletzt konnte er nur
noch ihren Duft genießen, und er zog ihn begierig ein durch die
rasselnde Kehle.
Zurück
im Zimmer. Es ist dämmrig geworden, der April bringt wieder einmal
ein Gewitter ins Tal. Die Regentropfen klatschen wütend an die
Scheiben. Endlich verschwimmen die hässlichen Gemeindebauten von
gegenüber zu einem dreckigen Strich. Der braune Parkettboden
dunkelt in zwei oder drei Schattierungen, und die Wände ziehen sich
in weite Ferne zurück. In den Ecken hängen Erinnerungen wie
Spinnengewebe. Er hat hier seine Gespenster ausgehaucht und
zurückgelassen. Heute ist sie es, die das hütet. Die Pflege von
Spinnweben und Todeshauch. Ein schöner Job, aber ich habe ihn mir
ausgesucht, und er ist ehrenamtlich. Ohne Amt, nur Ehre.
Pia
gähnt und streckt sich in ihrem Sessel, die Arme zurück und die
Beine unter dem Tisch. Sie legt den Kopf auf die Seite und lauscht
der schwachen, zittrigen Musik aus dem Radio. Sie runzelt die Stirn
und weiß nicht, warum ihr Händel heute lästig ist. Weil ihr
heute alles auf die Nerven geht, sogar ihr viel geliebter Landsmann
aus Halle/Saale? Ihr Gott, der größte Mensch, der je gelebt hat,
alle anderen, sogar Mozart und Beethoven sind nur seine Propheten.
Händel ist ihre Religion, pflegt sie vor Freunden zu sagen, die
einzige, und das hat nichts mit Halle zu tun. Shakespeare ist ein
anderer Fall.
Goodman,
Benny Goodman. Ein heißes, scharfes Geschmetter, die nervös
zerrissenen Sequenzen einer Jam-Session, New Orleans und nicht
Kierling. Aber auf Ö1 läuft gerade kein Goodman. Sie dreht das
Radio etwas lauter. Vielleicht wären sogar Walzer jetzt besser.
Aber seit Wien gestorben ist, sind alle Walzer Schatten. Wien,
das absterbende Riesendorf, hat er einmal
festgestellt.
Aussichtslos. Vielleicht doch noch das Album mit den Fotografien hernehmen. Die Kinderbilder, mit und ohne Schwestern, als Maturant, der neue Doktor juris, mit der Lieblingsschwester, mit dem Freund und allein auf dem Altstädter Platz. Das alte Katzenkopfpflaster unter den eleganten Schuhen. Hoch gewachsen, schmal trotz dreifacher Schicht von dreiteiligem Anzug, auf dem Kopf einen hohen Hut. Nicht unfreundlich im Ausdruck und leicht zugeneigt, aber nicht wirklich lächelnd. Prag, das einen nicht loslässt, das Mütterchen mit Krallen, schreibt er in sein Tagebuch. Prag prägt. Die Stadt ist eine Heimsuchung. Sie entscheidet sich für den Bildband von Fronius.
Aussichtslos. Vielleicht doch noch das Album mit den Fotografien hernehmen. Die Kinderbilder, mit und ohne Schwestern, als Maturant, der neue Doktor juris, mit der Lieblingsschwester, mit dem Freund und allein auf dem Altstädter Platz. Das alte Katzenkopfpflaster unter den eleganten Schuhen. Hoch gewachsen, schmal trotz dreifacher Schicht von dreiteiligem Anzug, auf dem Kopf einen hohen Hut. Nicht unfreundlich im Ausdruck und leicht zugeneigt, aber nicht wirklich lächelnd. Prag, das einen nicht loslässt, das Mütterchen mit Krallen, schreibt er in sein Tagebuch. Prag prägt. Die Stadt ist eine Heimsuchung. Sie entscheidet sich für den Bildband von Fronius.
Sie
streicht sich mit beiden Händen über das straff zurückgekämmte
Haar und steckt die Klammer über eine ungehorsame Strähne am
Hinterkopf fester. Sie spielt mit der langen, silbernen Uhrkette vor
der Brust, die Zeiger im ovalen Ziffernblatt bewegen sich nicht. Sie
streicht ihre lange Bluse aus gerippter Seide über den
pfirsichfarbenen Knien glatt und betrachtet lange die mit violetten
Lotosknospen bestickten Leggings. Die Farbe ihrer Augen, ihr „
absolutes Alleinstellungsmerkmal“, sagt der Therapeut immer, dazu
groß, tief liegend und glänzend. Ja der, und sie ballt die Fäuste
in der Uhrkette. Der ist ja fast so mager wie Franz.
Aber
sie hat sich in ihn verliebt. Das geht nun schon fünf Jahre, dass
sie von ihm träumt.
Soll
sie vielleicht etwas essen? Ihren Quinoa-Salat mit Avocados und
Cherry-Tomaten. Sie sieht ihn geradezu vor sich, die Plastikbox
steckt in ihrer Tasche, heute früh mit frischen Kräutern
zubereitet für ihren Samstags-Dienst im Gedenkraum. Reiscracker mit
Gervais hat sie auch noch mit, dazu die ersten Kirschen des Jahres.
Ein Frevel, Import aus Chile. 15 000 Kilometer geflogen. Quinoa
kommt ja auch von dort, bei den Avocados und den Cherries hat sie gar
nicht drauf geschaut. Aber aus dem Marchfeld kommen die sicher nicht.
Nein, es ist noch zu früh, sagt der strenge Kopf, obwohl der
lässigere Magen schon etwas aufnehmen könnte. Der Appetit geht
immer von Bildern aus, es ist Kopfhunger, nicht Magenhunger. Und
überhaupt, in dem Zimmer, wo er verhungert ist, ans Essen zu denken.
Ihre Kollegin Sibylle hält das für unmoralisch und ekelt sich
davor.
Sie schaut auf den Parkett-Boden und sieht plötzlich, dass hier ein
blauer Teppich liegen sollte. Ein Wahrnehmungsanfall- oder Ausfall?
Sehen violette Augen andere Farben als braune, blaue oder graue?
Dummer Gedanke, aber umgekehrt ist es doch interessant, dass dem
Franz fast alle Augenfarben attestiert wurden.
Einen
Augenblick zuvor war sie entspannt zurückgelehnt im Sessel da
gesessen, und im nächsten stand sie auf den Füßen, absolut ruhig
und im Gleichgewicht.
Putzen!
Das ist es! Ordnung machen, auch wenn alles in Ordnung ist. Wenn
etwas sauber ist, dann ist immer auch alles andere in Ordnung. Das
kann nicht falsch sein, nicht in der DDR und auch anderswo nicht.
Dreck lässt sich immer noch irgendwo finden. Das gibt Sicherheit.
Warte,
he, paß auf, die Bandscheiben, das ist eine schwere Arbeit. Die
paar Krümel von ihrem Quinoa-Salat hat sie schnell weggewischt,
ansonsten war alles sauber wie Brokat. Alles ehrenamtlichen
Raumwächter waren darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen,
weder eigene noch fremde. Aber Pia ist geradezu von einem Putzfimmel
besessen, noch das letzte Krümel oder Stäubchen entdeckt sie mit
ihren violetten Adleraugen und entfernt sie mit Besen und
Wischmopp. Feucht aufwischen ist heute nicht notwendig, das Parkett
glänzt ohnedies; wenn sie sich vorbeugt, kann sie sich darin
spiegeln. Ein verrutschtes Spiegelbild, genauso wie seine
Traumspiegelwelt. Vielleicht hat er zu oft auf seinen Parkettboden
gestarrt, geht ihr zum ersten Mal durch den Kopf. Oh Gott, bin ich
banal, da mach ich doch gleich etwas ganz Banales. Sie steht auf und
holt mit gezielter Geste aus der Abstellkammer ein Staubtuch. Sie
kennt dort jeden Millimeter, hat sie sie doch selbst eingerichtet und
ausgestattet.
Sie
wischt mit dem Staubtuch über die dunklen Holzwände der Sitzecke,
dort sammeln sich gern die Fusseln - die Flankerl, wie die Ösis
sagen. Als sie sich wieder aufzurichten versucht - vielleicht mit
einer zu heftigen Bewegung - stößt sie mit der linken Schulter
von unten an das Bücherbrett. Diese kleine Erschütterung bringen
die schräg aufgestellten Bildbände ins Rutschen, und wie wie
eine Dominoreihe fallen sie um. Ein Buch auf das andere, langsam, wie
in Zeitlupe, aber irgendwann haben sie keinen Platz mehr auf dem
schmalen Brett und poltern herunter, auf sie, die noch immer halb
gebückt vor der Bank steht. Eines trifft den Kopf, eines die rechte
Schulter, andere fallen auf den Rücken und gleiten über die
Hüften. Wie die Bücher in ihre rechte Kniekehle eindringen
konnten, welche Dynamik, welche Drehungen der Physik wirksam wurden,
weiß sie nicht. Das große Buch von Kafkas Tagen in Wien, Kafkas
Prag, einige Bildbände über das alte Prag, die drei Bände der
Biographie von Reiner Stach, ein Prachtband mit Fotos von Kafkas
Familie, zwei Ausgaben über Kafkas letzten Freund, Robert
Klopstock, einer über Kafkas letzte Liebe Dora Diamant, über
Kafka und das Judentum. Welches von denen war ihr in die Kniekehle
eingefahren? Prag, Wien, Liebe, Freund, Judentum? Ah, er versucht
mir nah zu sein, ein Wink aus dem Himmel. Aber mit welcher Bedeutung?
So groß wie ein Taubenschiss auf den Kopf? Sie knickt ein, die
Kniee geben nach.
Aber
das sind schon Überlegungen von danach, nach allem, als es vorbei
war. Sie spürt sich noch am Boden krabbeln, hinaus aus dem ersten
Raum, vor die Tür, auf den Korridor.
Gleich
links von der Eingangstür befindet sich eine Bassena, ein
Wasserbecken auf dem Gang, üblich in alten Wiener Häusern. Was
erinnert sie noch? Den Geruch von feuchten Steinen im Hausflur,
Putzfetzen und Wischmopp. „Der Geruch von nassen Steinen im
Hausflur“, nicht mehr und nicht weniger, die Definition von
Literatur nach Hugo von Hofmannsthal. Sie krümmt sich, die
Beine gehorchen nicht, das ganze Gewicht hängt in den Armen. Nur
nicht alt werden, nicht schwach! Nach mehreren Versuchen bekommt
sie mit einer Hand das Rohr unter der Bassena zu fassen und kann
sich an ihm hochzuziehen. Sie ist doch kein Ungeziefer wie Gregor,
keine Maus wie Josefine, kein Hund, nicht der Affe Rotpeter, keine
Ratte und kein Schakal.
Kurz
bevor es ihr gelang, sich aufzurichten, gab das Wasserrohr nach, und
die Schüssel krachte auf sie herab, Vollmetall der Firma Gerb&Söhne,
Wien-Brünn. Die massiven Armaturen aus Edellegierungen prasseln auf
sie herunter, das schwere Gitter trifft sie an der Schläfe. Aber
bevor sie im Geruch der muffigen Bodenfliesen versinkt, spürt
sie etwas um sich, nicht die schweren Bücherbände aus der Ecke,
sondern einzelne Blätter, Hefte, Notizbücher, Papier, viele
Blätter, ein Berg, eine Decke, weit verstreut über die Steinplatten
des zweiten Stockwerkes. Sie riechen noch nach dem Park von
Berlin-Steglitz, nach Astern, Laub und feuchter Erde, nach dem
Herbst von 1923.
Liebe Lotte, steht oben auf den Blättern. Du bist
traurig, weil du suchst Deine Puppe. Sie ist nicht mehr da, sie hat
dich verlassen und ist auf eine Reise gegangen. Du bist
traurig, aber sei sicher, sie hat dich lieb! Sie hat jetzt andere
Pläne. Warum ich das weiß? Sie schreibt mir Briefe über ihr
neues Leben. Sie geht in die Schule, weit weg von hier. Es geht ihr
gut und sie denkt oft an dich. Ich erzähle dir ihre Geschichte.
Wenn ich nicht kommen kann, wird dir Dora die Briefe vorlesen.
An einem warmen Tag Anfang November trafen sie im Steglitzer Park
ein kleines Mädchen, das bitterlich weinte, weil es seine Puppe
verloren hatte. Franz erfindet sofort eine tröstliche Geschichte,
dass die Puppe eine Reise macht, er weiß es, weil sie ihm einen
Brief geschickt hat. Drei Wochen lang schreibt Franz nun täglich
im Namen der Puppe an das kleine Mädchen: Von der Reise, der neuen
Heimat, dass sie in die Schule geht, von ihren Abenteuern und wie
sie neue Leute kennen lernt. Die Puppe ist erwachsen geworden und
versichert sie immer wieder ihrer Liebe. Aber sie will nicht mehr
zurückkommen, sie hat jetzt andere Menschen um sich und viele
Verpflichtungen. Er bereitet sie auf den endgültigen Verzicht vor.
Aber wie soll das enden, wie aus diesem Dilemma herauskommen, ohne
ihr Vertrauen zu verlieren? Dora berichtet, wie ernst er dieses
Briefeschreiben genommen hat , es war seine einzige Arbeit in
diesen Novemberwochen. Zuletzt lässt er die Puppe heiraten und
erklärt dem Mädchen, dass sie es jetzt natürlich nicht mehr
besuchen könne.
Franz hat den Konflikt eines Kindes durch die Kunst gelöst, durch
das wirksamste Mittel, über das er persönlich verfügte, um Ordnung
in die Welt zu bringen. Er verwandelt die Lüge in die Wahrheit der
Fiktion. Bei den Puppenbriefen ist er nicht aus dem Leben
ausgewandert, sondern er hat Leben und Literatur in voll
Übereinstimmung gebracht, es ist ihm gelungen, wovon er sein ganzes
Schreibe-Leben geträumt hatte.
23 Briefe und vier Postkarten, handgeschrieben, in seiner steilen und
doch runden Handschrift, die Buchstaben besonders groß, ohne
Korrekturen und Streichungen. Dora hat sie aus Berlin mitgenommen und
im Hohlraum unter dem Wasserbecken des Sanatoriums versteckt,
eingewickelt in Öltücher. Nachdem Franz im Februar weggefahren
war, hatte sie keine feste Bleibe und niemanden, dem sie ihre
Schätze anvertrauen hätte können.
Pia verliert das Bewusstsein.
Gefunden
hat sie Herr Odradek, der Hausherr. Sie weiß nicht, wie lange sie
so dagelegen war. An den Samstagen mit dem open door im Gedenkraum
hat er ja immer die Ohren am Boden. Kaum sperrt sie auf, steht er
schon da und bietet einen Kaffee an, in einer geblümten Schale und
mit einem Kekserl auf der Untertasse. So etwas von Quasi-Kaffee aus
dem neumodischen Hausautomaten von N., brrr. Sieht freundlich aus,
ist aber sein samstäglicher Kontrollgang. Vielleicht hat er schon
den Krach gehört, mit dem die Bücherkaskade auf sie niedergegangen
war. Er sieht sie da wie einen Lurch am Boden kriechen und ruft
die Rettung, keine zehn Minuten später ist sie zur Stelle und
bündelt sie auf eine Bahre. Mit Martinshorn ins Krankenhaus
Klosterneuburg.
Es
geht glimpflich aus für sie, keine Spätfolgen, eine kleine
Gehirnerschütterung und eine klaffende Wunde auf der Stirn, einige
Stiche, links über die Augenbraue kommt ein Klebeverband. Die
Blutergüsse und Schrammen am Rücken sieht niemand, am wenigsten
sie selbst. Nur die Innenseite ihres rechten Knies schmerzt noch
lange und lässt sie humpeln, wahrscheinlich eine Prellung. Die Toten
haben schon recht eigenartige Formen, sich bemerkbar zu machen.
Wohin
die Papiere gekommen sind, kann Pia nicht herausfinden. Das Ehepaar
Odradek hat unterschiedliche Erinnerungen und kann sich nicht
einigen. Sicher war das eine große Aufregung für diese alten
Leutchen. Und der Gedenkraum war ihnen nie ganz recht gewesen, die
vielen fremden Leute im Haus, man weiß ja nie. Herr Odradek
meint, die Rettung hat das ganze Zeugs mitgenommen, auf die Bahre
gepackt, weil die Frau so geschrien hat: Die Briefe, die
Briefe, bitte, rettet die Briefe! Frau Odradek erinnert sich
nur daran, dass sie danach die Treppen gesäubert hat. So viel
Blut, eine Sauerei war das, alles durcheinander, die Bassena
heruntergerissen, die Mauer offen und rundherum das viele alte
Papier. Pah, Briefe, welche Briefe, lauter Fetzen sind auf dem Gang
herumgelegen. Und wer zahlt mir den Schaden, fragt Herr Odradek in
Hausbesitzerlogik. Den Mist hat sie hinunter getragen, eine
Plackerei, und in den Containern vor dem Haus entsorgt – e n t s
o r g t. Die Eimer mit Mauerwerk in den Restmüll, das Altpapier in
den so bezeichneten Kübel. Alles muss seine Ordnung haben. Wer kann
da widersprechen.
Pia
selbst hat keine gesicherten Erinnerungen, nur das „Liebe
Lotte“ steht ihr für immer eingebrannt vor den Augen. Kein
körperlicher Schmerz kann so tief sein wie der um den zweiten
Verlust der Puppenbriefe. Dora hat gelogen, als sie Brod versicherte,
Franz`s letzte Schriften seien in Berlin verloren gegangen, als die
SS im Juni 1933 ihre Wohnung durchsuchte.
Von
einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist
zu erreichen.
Franz
Kafka. Blaue Oktavhefte
Veronika
Seyr, Wien, zwischen 13. und 25.5.17
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